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Vorrang für Vertragspolitik. Zum Problem von Nuklearwaffen in Europa | APuZ 38/1983 | bpb.de

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APuZ 38/1983 Artikel 1 Die Bundesrepublik Deutschland und das Nordatlantische Bündnis Vorrang für Vertragspolitik. Zum Problem von Nuklearwaffen in Europa Warum Nachrüstung? Rückblick und Ausblick auf Abschreckungspolitik

Vorrang für Vertragspolitik. Zum Problem von Nuklearwaffen in Europa

Karsten D. Voigt

/ 24 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der NATO-Doppelbeschluß ist ein Kompromiß. Dieser Beschluß kann für unterschiedliche politische Konzeptionen genutzt werden. x Es gibt seit 1979 Politiker und Militärs, die die Stationierung von Pershing-II-Raketen und Cruise Missiles für militärisch unverzichtbar hielten. Auf der anderen Seite gab es Politiker und Militärs, die die Nachrüstung zwar für eine der möglichen Reaktionen auf die sowjetische SS-20-Rüstung hielten, die aber zum Teil daran zweifelten, ob landgestützte Raketen und der Waffenmix von Pershing II und Cruise Missiles politisch sinnvoll seien. Sie zweifelten auch, ob die Nachrüstung wirklich militärisch zwingend erforderlich sei. Sie stimmten dem verteidigungspolitischen Teil des NATO-Doppelbeschlusses vor allem deshalb zu, weil sie auf diese Weise die Sowjetunion und die USA zu Verhandlungen zum Bereich der nuklearen Mittelstreckenwaffen zu bewegen hofften. Sie haben bereits damals und seitdem immer wieder jeden Automatismus bei der Stationierung abgelehnt. Diejenigen, die heute eine engere Verknüpfung der Genfer INF-Verhandlungen mit den Genfer START-Verhandlungen fordern, knüpfen damit an rüstungskontrollpolitische Überlegungen an, die bereits zum Zeitpunkt des NATO-Rats-Beschlusses von 1979 bestanden. Eine inhaltliche Verknüpfung der Genfer INF-Verhandlungen mit den Genfer START-Verhandlungen könnte im übrigen auch eine direkte oder indirekte Berücksichtigung oder Kompensation der britischen und französischen Systeme erleichtern. Die Genfer INF-Verhandlungen haben erst zwei Jahre später begonnen, als es 1979 zu hoffen war. Aus der Tatsache des relativ späten Verhandlungsbeginns und der Analyse des bisherigen Verhandlungsverlaufs ergibt sich die Überlegung, falls die Genfer Verhandlungen bis zum Herbst dieses Jahres zu keinen Vereinbarungen geführt haben, dann die Verhandlungen fortzuführen, ohne mit der Stationierung zu beginnen. Diese Überlegungen ergeben sich aus einem sicherheitspolitischen Konzept, in dem Bemühungen um ausgewogene Vereinbarungen zwischen Ost und West der politische Vorrang eingeräumt wird.

I.

Die wichtigste militärstrategische Begründung für den verteidigungspolitischen Teil des NATO-Doppelbeschlusses vom 12. Dezember 1979 lautet, es sei notwendig, durch die Entwicklung und Stationierung neuer amerikanischer Mittelstreckenwaffen die Fähigkeit zur kontrollierten nuklearen Eskalation wieder herzustellen.

Mit der Stationierung der Pershing II und der Cruise Missiles will die NATO Mittel für selektive Einsätze gegen militärische Ziele in der Tiefe des Warschauer Pakt Gebietes gewinnen. Durch die geringe Zahl der Einsätze, durch die Begrenzung der Reichweiten und durch möglichst geringe ungewollte Neben-schäden soll für den potentiellen Gegner erkennbar sein, daß im Konfliktfalle militärische Begrenzungen eingehalten werden. Dafür ist eine hohe Funktionssicherheit, Eindringfähigkeit und Treffgenauigkeit der neuen Mittelstreckenwaffen erforderlich.

Die Befürworter im Westen überschätzen die zusätzliche Abschreckungswirkung der neuen Waffen und den damit verbundenen zusätzlichen Schutz vor politischer Erpressung. Denn auch Erpressungen mit Mittelstreckenwaffen können nur dann erfolgsversprechend sein, wenn glaubhaft wäre, daß die vorhandenen Drohmittel notfalls auch militärisch eingesetzt würden. Dies aber ist unglaubwürdig, weil ihr Einsatz nach wie vor ein für den Erpresser untragbares globales Kriegsrisiko einschlösse. Dieses globale Kriegsrisiko wird auch durch das Bestehen der ungefähren Gleichgewichte im Bereich der strategischen Waffen nicht völlig neutralisiert. Es ist zugleich ein Schutz davor, daß die mit den neuen Waffenentwicklungen in Ost und West verbundenen selektiven Kriegführungsfähigkeiten in die Planung regional begrenzter Nuklearkriege oder entsprechende Drohungen oder aus glaubhaften militärischen Drohungen in politisch wirksame Erpressungen umgesetzt werden können. Tatsächlich sind mit der atomaren Artillerie, atomaren Gefechtsfeldwaffen oder nuklearen Kurzstreckenwaffen größere Risiken in bezug auf die Möglichkeit begrenzter nuklearer Kriege verbunden, als mit nuklearen Mittelstreckenwaffen. Das Risiko der neuen Waffenentwicklungen besteht vor allem darin, daß die aus der Weiterentwicklung der Abschreckungsdoktrin, also einer Kriegsverhütungsstrategie, abgeleiteten Waffenentwicklungen sich in Ost und West technologisch immer weniger von Kriegführungsfähigkeiten unterscheiden lassen. Die mit der Weiterentwicklung der Abschreckungsfähigkeiten verbundenen defensiven Absichten müssen, da die Entwicklung neuer Waffentechnologien in Ost und West vertraglich bisher nicht blockiert ist, zunehmend politisch vermittelt werden. Hierzu ist die Entspannungspolitik und insbesondere die Rüstungskontrollpolitik ein geeignetes, aber auch ein unabdingbares Mittel. Regierungen, die keine aktive Entspannungsund Rüstungskontrollpolitik betreiben, werden immer wieder aufs Neue zweifelnde Fragen beantworten müssen, ob ihr Ziel der Kriegsverhinderung auch mit den objektiven Ergebnissen ihrer politischen Praxis übereinstimmt. Schon aus diesem Grunde sollte der Westen einer befriedigenden Vereinbarung mit dem Ziel der Verringerung der nuklearen Rüstungen in Europa den politischen Vorrang vor der Stationierung neuer Mittelstrecken-waffen einräumen. >>II.

Rüstungskontrollabkommen haben bisher selten dazu geführt, daß bereits stationierte Waffensysteme reduziert wurden. Darüber hinaus befindet sich die Rüstungskontrollpolitik in einer Krise, seitdem das SALT-II-Abkommen gescheitert ist und die Ost-West-Beziehungen sich auch generell verschlechtert haben. Insbesondere in der Friedensbewegung wird deshalb nach neuen und erfolgversprechenderen Wegen gesucht, die zur Reduzierung der Rüstungen in Ost und West führen sollen.

In der Friedensbewegung wird ein solcher Weg in einseitigen substantiellen, aber zeitlich begrenzten Vorleistungen gesehen. Einseitige Vorleistungen der westlichen Seite wären mit der Aufforderung an die östliche Seite zu verbinden, ihrerseits vergleichbare Schritte nachzuvollziehen. Hierauf aufbauend sollen dann in Verhandlungen überprüfbare Abmachungen zu einem weiteren Rüstungsabbau führen.

Einseitige Vorleistungen können unter bestimmten Voraussetzungen, soweit sie die Verteidigungsfähigkeit nicht gefährden, Abrüstungsverhandlungen und Vereinbarungen fördern. Diese politischen Voraussetzungen sind bei den Genfer Verhandlungen über Mittelstreckenwaffen zur Zeit leider nicht gegeben.

Bei den Genfer Verhandlungen behauptet die Sowjetunion, es bestünde ein Gleichgewicht zwischen NATO und Warschauer Pakt im Bereich der nuklearen Mittelstreckenwaffen. Die USA haben zur Zeit keine landgestützten Mittelstreckenwaffen in Westeuropa stationiert. Die NATO spricht deshalb von einem sowjetischen Monopol bei den landgestützten nuklearen Mittelstreckenwaffen. Beide Behauptungen sind Ausdruck von bisher unvereinbaren einseitigen Definitionen von Sicherheit und Gleichgewicht. Was für die NATO Nachrüstung ist, ist nach sowjetischer Darstellung Vorrüstung.

Bei solcher Ausgangslage würde ein endgültiger einseitiger — also nicht auf ausgewogenen Kompromissen und vertraglichen Vereinbarungen beruhender — Verzicht der NATO auf die von ihr geplante Stationierung neuer US-Mittelstreckenraketen von der Sowjetunion nicht als Vorleistung, sondern als Bestätigung des bisherigen sowjetischen Stand-punktes angesehen werden. Mit der Zusage Andropows, für den Fall eines Verzichts auf die Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen seinerseits eine größere Zahl von SS-20-Raketen zu verschrotten, revidiert die Sowjetunion ihre bisherige Behauptung, daß ein Gleichgewicht in dem Bereich dieser Waffen-kategorien bereits bestünde. Dies ist ein wichtiger und positiver Schritt. Er reicht für eine Einigung aber noch nicht aus. Neuerdings kündigt die Sowjetunion für den Fall einer Stationierung von Pershing-II-Raketen und Cruise Missiles die Stationierung von neuen Raketen in Osteuropa an.

Mit dieser Ankündigung unterstreicht die Sowjetunion ihre Behauptung, es handele sich bei der geplanten Stationierung neuer US-Mittelstreckenwaffen um eine Vorrüstung. Wahrscheinlich handelt es sich hierbei um den Versuch, die seit langem geplante Modernisierung der FROG-, SCUD-und SCAL-BOARD-Raketen durch Raketen der neuen Generation SS-21, SS-23 und SS-22 als Reaktion auf die geplante westliche Stationierung zu. legitimieren. Gegen diese Vermutung spricht aber, daß die Sowjetunion mir gegenüber auf hoher politischer Ebene erklärt hat sie würde für den Fall eines westlichen Verzichts auf Pershing II und Cruise Missiles keine SS-21, SS-23 und SS-22 in Osteuropa einführen. Ohne die sowjetische Interpretation von Vor-und Nachrüstung zu übernehmen, sollte der Westen die Sowjetunion offiziell auffordern, klarzustellen, unter welchen Voraussetzungen sie darauf verzichtet, die SS-21, SS-23 und SS-22 und künftige ähnliche Raketentypen einzuführen.

Der Westen würde auch dann noch ein ausreichendes Potential zur nuklearen Abschreckung der Sowjetunion besitzen, wenn die USA einseitig darauf verzichten würden in Westeuropa neue landgestützte Mittelstreckenwaffen zu stationieren. Aber aus primär politischen Gründen sollte die NATO gegenüber der Sowjetunion erst dann vertraglich auf die Stationierung landgestützter Mit-B telstreckenwaffen verzichten, wenn die Sowjetunion ihrerseits zur adäquaten Reduzierung ihrer nuklearen Rüstungen bereit ist.

Wer auf Dauer konstruktivere und stabilere Beziehungen zwischen Ost und West anstrebt, kann nicht daran interessiert sein, daß eine Seite einseitig die Bedingungen gemeinsamer Sicherheit definiert. Stabile Beziehungen erfordern den Willen zur gemeinsamen Definition von Sicherheitsinteressen auch zwischen potentiellen Gegnern. Eine solche gemeinsame Definition setzt auf beiden Seiten die Bereitschaft zum Interessenausgleich voraus. In Genf ist sowohl von der Sowjetunion als auch von den USA eine größere Kompromißbereitschaft als bisher erforderlich. Welches Ausmaß von sowjetischen Reduzierungen für einen endgültigen Verzicht auf die Stationierung der geplanten Systeme der USA ausreichend ist, muß in den Verhandlungen geklärt werden: Ist die Sowjetunion nur zur geringen Reduzierung der SS-20-Rüstung bereit, so müßte sie das durch größere Reduzierungen im Bereich der Nuklearsysteme kürzerer Reichweiten oder durch relevante Zugeständnisse im Bereich der strategischen Nuklearsysteme kompensieren. Bei drastischer Reduktion der SS-20 sollten die USA vertraglich auf die Stationierung von Pershing II und Cruise Missiles verzichten.

Sollte die Sowjetunion — was zur Zeit unwahrscheinlich ist — durch die Ankündigung eines einseitigen Reduzierungsschrittes anerkennen, daß sie ihre SS-20-Rüstung weitaus überzogen hat, so sollte der Westen je nach Umfang einer solchen einseitigen sowjetischen Reduzierung auch seinerseits gegenüber der Sowjetunion ganz oder teilweise seine Bereitschaft zum einseitigen Verzicht auf eine Stationierung erklären.

Die Chancen für eine Vereinbarung, die als Ergebnis einer drastischen Reduzierung der SS 20 die Stationierung neuer landgestützter US-Mittelstreckenwaffen politisch überflüssig macht, sind aus politischen Gründen minimal. In den Genfer Verhandlungen sind die strittigen Punkte bereits klar und eindeutig definiert worden. Aber sie sind im wesentlichen strittig geblieben.

Die Sowjetunion beharrt auf einer Berücksichtigung der britischen und französischen Systeme. Die USA beharren auf ihrem gegenteiligen Standpunkt. Wird diese Kontroverse nicht behoben, so ist auf absehbare Zeit in Genf keine Vereinbarung zu erwarten, die zum völligen vertraglichen Verzicht auf die Stationierung von Pershing II und Cruise Missiles führen könnte.

Das Ergebnis der „talks in the woods" ist sowohl in Moskau als auch in Washington auf Widerspruch und Ablehnung gestoßen. Das Ergebnis war zwar nicht voll befriedigend, aber immerhin enthielt dieser Kompromiß die sowjetische Zusage einer substantiellen Reduzierung der SS-20 und die Zusage der USA auf den Verzicht der Pershing II und die Reduktion der geplanten Cruise-Missiles-Stationierung und wäre damit akzeptabel gewesen. Sowohl die USA als auch die UdSSR wären bereit, weiter über diesen Kompromißvorschlag zu verhandeln, falls er von der jeweiligen anderen Seite am Genfer Verhandlungstisch vorgelegt würde. Keine Seite aber ist gegenwärtig bereit, diesen Kompromißvorschlag als ihren eigenen Vorschlag in Genf einzubringen. Weder die USA noch die Sowjetunion scheinen ernsthaft an die Kompromißbereitschaft der jeweils anderen Seite zu glauben. Beide warten zur Zeit mit substantiell neuen und konstruktiveren Vorschlägen und versuchen zugleich die Schuld für die Krise der Verhandlungen gänzlich der anderen in die Schuhe zu schieben. Die USA haben bisher auf die Vorschläge Andropows nicht konstruktiv genug geantwortet. Die knappe Zeit für ein befriedigendes Verhandlungsergebnis verstreicht weitgehend ungenutzt.

Als voll befriedigend könnte bei den Genfer Verhandlungen ein Ergebnis angesehen werden, bei dem sich die Sowjetunion zu einer so drastischen Reduzierung der SS-20 bereit erklärt, daß der Westen völlig auf die Stationierung von Pershing II und Cruise Missiles verzichtet.

Bis zum Beginn der Stationierung liegt ein solches Verhandlungsergebnis im Bereich des Möglichen. Es ist pure Augenwischerei zu behaupten, auch nach dem Beginn einer westlichen Stationierung bestünden noch Chancen für ein derartiges Verhandlungsergebnis. Die Vermutung, die Sowjetunion wäre anschließend noch zu wesentlich größeren Zugeständnissen bereit, als zum gegenwärtigen Zeitpunkt, ist reine Spekulation. Wenn es als Vorbedingung für ein befriedigendes Verhandlungsergebnis ausreichen würde, daß die Sowjetunion fest mit einer Stationierung rechnen muß, dann müßten die Chancen für ein befriedigendes Abkommen gegenwärtig ideal sein. Offensichtlich aber sind sie es nicht.

Es widerspräche allen politischen Erfahrungen, wenn der Westen noch nach Beginn der Stationierung zum völligen Abzug dieser eben stationierten neuen Waffensysteme bereit wäre. Ist mit der Stationierung erst einmal begonnen worden, dann bestehen realistisch gesehen zukünftig bestenfalls noch Chancen für ein Abkommen, das die Zahl landgestützter Mittelstreckenwaffen in Ost und West zahlenmäßig begrenzt, nicht aber mehr auf ein Verhandlungsergebnis, das den völligen Verzicht auf die geplante westliche Stationierung zum Inhalt hat.

Im übrigen darf nicht vergessen werden, daß von Anfang an führende westliche Politiker und Militärs gegen einen völligen Verzicht auf die geplante westliche Nachrüstung waren. Sie stimmten der Null-Lösung nur deshalb zu, weil sie von der Ablehnung dieses Vorschlages durch die Sowjetunion überzeugt waren.

III.

Im Wahlkampfjahr 1980 war es in den USA umstritten, ob der Westen versuchen sollte, die Überlegenheit der Sowjetunion in den einzelnen nuklearen Waffenkategorien (wobei häufig die Überlegenheit des Westens in anderen Waffenkategorien nicht erwähnt wurde) primär durch Rüstungskontrollverhandlungen oder vorrangig durch eigene Rüstungsentscheidungen auszugleichen. Dieser Streit hielt nach dem Amtsantritt Präsident Reagans an. Es wurden in der Reagan-Administration sogar Stimmen laut, die überhaupt bezweifelten, ob Rüstungskontrollverhandlungen in der gegenwärtigen Phase fortgesetzt werden dürften.

Durch den Wahlkampf und die lange Anlauf-phase hat die rüstungskontrollpolitische Glaubwürdigkeit der Reagan-Administration gelitten. Neben der Sowjetunion sind auch die USA mitverantwortlich, daß kostbare Zeit verlorenging, die für Verhandlungen hätte genutzt werden können. Die Rüstungsprogramme in Ost und West liefen währenddessen ungehindert weiter.

Durch seine Bereitschaft, den Beginn der Stationierung nunmehr zu verschieben, kann der Westen demonstrativ klarstellen, daß für ihn ein befriedigendes Verhandlungsergebnis politischen Vorrang vor der Stationierung neuer US-Mittelstreckenwaffen besitzt. Dieser Schritt könnte die rüstungskontrollpolitische Glaubwürdigkeit des Westens erhöhen und so den sicherheitspolitischen Konsensus innerhalb der Mitgliedstaaten der NATO fördern. Als ernsthaftes Indiz für eine sich abzeichnende Einigungsmöglichkeit könnte eine Bereitschaft der Sowjetunion ausgelegt werden, für den Fall einer Verschiebung des Beginns der geplanten westlichen Stationierung die Zahl ihrer SS-20 einseitig zu reduzieren. Die Handlungsfähigkeit der NATO wird nicht dadurch in Frage gestellt, daß die NATO in eigener Autonomie entscheidet, sich mehr Zeit für Verhandlungen zu nehmen. 1979 wurde kein Automatismus in Gang gesetzt der spätere politische Entscheidungen der NATO überflüssig macht. Da die Rüstungskontrollverhandlungen in Genf erst mit erheblichem Zeitverzug begonnen haben, sollte die NATO auch bereit sein, den Ende 1979 beschlossenen Zeitplan zu ändern.

Es ist besser, durch die Änderung eines vor mehreren Jahren beschlossenen Zeitplans mehr Zeit für voll befriedigende Verhandlungsergebnisse zu gewinnen als gegen den Widerstand großer Teile der Bevölkerung, gegen große politische Parteien und relevante gesellschaftliche Gruppierungen mit der Stationierung zu beginnen. Die dadurch provozierte innenpolitische Polarisierung in mehreren Mitgliedstaaten der NATO wäre ein schlechter Auftakt für den Versuch, einen neuen, breiten Konsens über die künftige Sicherheits-und Abrüstungspolitik des Bündnisses zu erarbeiten.

Es war ein politischer Fehler, im NATO-Doppelbeschluß ausgerechnet für die Bundesrepublik Deutschland neben einer größeren Zahl von Cruise Missiles auch noch die Stationierung von Pershing-II-Raketen vorzusehen. Der Hinweis, daß die Pershing II mit erweiterter Reichweite an die Stelle von bereits stationierten Pershing I a mit kürzerer Reichweite treten sollte, erklärt die politische Fehlentwicklung. Sie entschuldigt diesen Fehler, der intern in der Bundesrepublik bereits 1979 heftig kritisiert wurde, nicht.

Die Pershing II ist aufgrund ihrer im NATO-Doppelbeschluß verbindlich festgelegten Reichweite und Stückzahl im Gegensatz zu der Befürchtung der Friedensbewegung keine Waffe, die für einen entwaffnenden Erst-schlag geeignet ist. Aber sie ist aufgrund ihrer technologischen Eigenschaften zum Einsatz gegen ortsfeste Ziele von hohem strategischen Wert, wie z. B. Brücken, Flugplätze, Befehls-und Kommunikationszentren, geeignet Diese Ziele sind zum Teil zeitkritisch, d. h.der Angriff auf sie müßte je nach Kriegsverlauf relativ frühzeitig erfolgen, wenn er militärisch wirkungsvoll sein soll. Daraus aber ergäbe sich ein militärischer Anreiz zu einem relativ frühen Einsatz der Pershing II und unter bestimmten Umständen auch zu einem nuklearen Ersteinsatz von Seiten der NATO.

Gegen die Ziele, die künftig von der Pershing II abgedeckt werden sollen, ist zwar auch heute bereits der Einsatz von Nuklearwaffen vorgesehen. Aber es ist anzustreben, daß zeitkritische Ziele im Rahmen einer weitreichenden Abriegelung in Zukunft möglichst durch konventionelle Waffen der NATO abgedeckt werden. Die NATO sollte sich zunehmend vom Ersteinsatz von Nuklearwaffen unabhängig machen. Für eine nukleare Vergeltung oder Eskalation auf einen bereits erfolgten Ersteinsatz von Nuklearwaffen durch die Sowjetunion bedarf es nicht der Pershing II.

Die USA sollten in den Genfer Verhandlungen die Option auf die Stationierung der nuklearen Pershing-II-Raketen auch unabhängig vom völligen Verzicht auf Cruise Missiles zur Disposition stellen. Ein wesentlicher Einwand der USA gegen die „talks in the woods" bezog sich auf den in diesem Kompromißvorschlag vorgesehenen Verzicht auf den Waffen-Mix von Pershing II und Cruise Missiles. Die Reagan-Administration sollte diesen Einwand fallenlassen. Die Pershing II mag als bargaining-chip für die Verhandlungen eine gute Option gewesen sein. Aber es wäre nicht das erste Mal, daß bargaining-chips ein Eigenleben entwickeln. Im Verlauf von Rüstungskontrollverhandlungen wird dann plötzlich entdeckt, es sei aus politischen und militärischen Gründen unverantwortlich, auf diese spezifische Option zu verzichten. Die Option auf die Pershing II ist verzichtbar.

Einige Politiker sprechen inzwischen davon, daß die Pershing II aufgrund ihrer spezifischen Waffentechnologie im Gegensatz zur Cruise Missile wirklich ein geeignetes Gegengewicht zur SS-20 darstellt. Der Verzicht auf die Pershing II sei deshalb unzumutbar, solange die Sowjetunion die SS-20-Raketen besitze. Diese auf die Waffentechnologie der Pershing II fixierten Hoffnungen sind genauso überzogen wie die spiegelbildlich dazu vorgetragenen Ängste aus der Friedensbewegung, soweit diese mit waffentechnologischen Argumenten begründet werden.

Militärisch gesehen kann die NATO auf die Stationierung der Pershing II verzichten. Ob die USA in den Genfer Verhandlungen diesen Verzicht ’ anbieten, ist weniger eine militärische als eine politische Frage. Diese Frage positiv zu beantworten, ist weniger als Rücksichtnahme auf die Sowjetunion als im Interesse der Bundesrepublik Deutschland geboten. Im übrigen würde ein solches Angebot die rüstungskontrollpolitische Glaubwürdigkeit der USA in der Bundesrepublik erheblich erhöhen. Es muß in den Verhandlungen ausgelotet werden, ob die Sowjetunion diesen qualitativen Unterschied, auf den ihre Vertreter in Westeuropa öffentlich hinweisen, auch rüstungskontrollpolitisch zu honorieren bereit ist. >>IV.

Es ist problematisch, daß die START-und INF-Verhandlungen nicht eng miteinander verknüpft sind. Dieser „START-Fehler" der INF-Verhandlungen sollte sobald wie möglich behoben werden.

Im Wortlaut des NATO-Doppelbeschlusses wird das SALT-II-Abkommen ausdrücklich begrüßt. In der dem NATO-Doppelbeschluß zugrundeliegenden Konzeption wird rüstungskontrollpolitisch das SALT-II-Abkommen vorausgesetzt. Die Begrenzungen von amerikanischen und sowjetischen Mittelstreckenwaffen (damals noch LRTNF genannt) sollten „Schritt für Schritt bilateral im Rahmen von SALT II verhandelt werden".

Die auf U-Booten der USA stationierten Atomraketen des Typs Poseidon sind dem NATO-Oberkommandierenden in Europa (SACEUR) operativ unterstellt. Sie sind von ihrer militärstrategischen Funktion her Bestandteil des NATO-Potentials an Mittelstreckenraketen. Wenn die NATO mit ihrem Doppelbeschluß 1979 der Sowjetunion ein Verhandlungsangebot machte, das als unmittelbares Ziel eine Vereinbarung über landgestützte Mittelstrekkenwaffen angab, so konnte dies Angebot nur unter der Voraussetzung als seriös angesehen werden, daß die Sowjetunion und die USA sich über die Einbeziehung der SACEUR unterstellten U-Boote im SALT-II-Vertrag geeinigt hatten.

Ein vom Gleichgewicht des strategischen Nuklearsystems losgelöstes eurostrategisches Gleichgewicht im Bereich landgestützter Mittelstreckenwaffen würde erneut Befürchtungen der europäischen NATO-Partner über eine Entkoppelung der USA vom europäischen Risiko beflügeln. Die europäischen NATO-Partner unterstützen bei den Genfer INF-Verhandlungen ein rüstungskontrollpolitisches Ziel, dessen Verwirklichung sie verteidigungspolitisch gar nicht wünschen können. Dieser Widerspruch kann am besten durch eine Verknüpfung der Genfer INF-Verhandlungen mit den Genfer START-Verhandlungen — wie sie auch in der Freeze-Resolution des Repräsentantenhauses der USA vorgesehen ist — aufgehoben werden.

Bei einer Verknüpfung der INF-mit den START-Verhandlungen könnte die Berücksichtigung der Nuklearsysteme von soge-nannten Drittstaaten erleichtert werden.

Frankreich und Großbritannien sind als Mitglieder des nordatlantischen Bündnisses zur politischen und militärischen Solidarität gegenüber einem eventuellen Angriff des War-schauer Paktes verpflichtet. Sie sind europäische Staaten. Insofern sind ihre Nuklearraketen eurostrategische Systeme. Aber die britischen und französischen Nuklearraketen sind überwiegend auf U-Booten stationiert. Nur Frankreich verfügt über einige landgestützte Raketen. Seegestützte Nuklearraketen wurden bisher aber im Zusammenhang mit den interkontinentalen strategischen Nuklearsystemen verhandelt.

Verglichen mit der Gesamtzahl der nuklearen Sprengköpfe im Besitz der USA und der UdSSR verfügen Großbritannien und Frankreich nur über eine relativ geringe Zahl von Nuklearwaffen. Würden die überwiegend seegestützten französischen und britischen Nuklearsysteme dagegen zu den nuklearen Mittelstreckenwaffen gerechnet und — wie die Sowjetunion es fordert — rüstungskontrollpolitisch in Relation zu den ausschließlich landgestützten SS-20-Raketen gerechnet, dann hätte dies erhebliche Konsequenzen: Angesichts des schnellen Aufwuchs der auf U-Booten stationierten französischen nuklearen Sprengköpfe könnte eine unveränderte Übernahme der sowjetischen Forderung dazu führen, daß die Sowjetunion die geplante Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen vertraglich verhindern könnte, ohne ihrerseits zur drastischen Reduzierung ihrer SS-20-Rüstung gezwungen zu werden.

Die Forderung nach Berücksichtigung der britischen und französischen Systeme im Rahmen eines nuklearen Gesamtgleichgewichts zwischen Ost und West ist eine legitime sowjetische Forderung. Die Sowjetunion weist zu Recht darauf hin, daß sie für die Bedrohung durch die Nuklearwaffen der Mitgliedstaaten des Nordatlantischen Bündnisses Frankreich und Großbritannien in ihr Kalkül einbeziehen muß. Sollte der Westen die Berücksichtigung dieser Waffensysteme bei den INF-Verhandlungen für unangemessen halB ten, so sollte er dies für die START-Verhand-lungen verbindlich anbieten.

Zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt bestehen geographische und militärstrategische Asymmetrien. In der NATO sind Nordamerika und Westeuropa durch den Atlantik getrennt. Ausdruck dieser NATO-spezifischen geographischen Situation ist die Problematik der Risikoverkoppelung zwischen den USA und Westeuropa. Folge der militärstrategischen Asymmetrie zwischen NATO und Warschauer Pakt ist eine im Vergleich zur Sowjetunion größere Zahl seegestützter 'Nuklearsysteme bei den USA und. auch bei Frankreich und Großbritannien. Trotz des Baus einer neuen Generation sowjetischer atomarer Unterseeboote besteht diese militärstrategische Asymmetrie auf absehbare Zeit fort. Auch sie ist rüstungskontrollpolitisch ebenso wie die geographische Asymmetrie am besten durch die Kombination von gemeinsamen Obergrenzen und innerhalb von vereinbarten Bandbreiten frei variablen Untergrenzen zu stabilisieren.

Bei integrierten Rüstungskontrollverhandlungen über land-und seegestützte Nuklearsysteme könnte die NATO ohne Preisgabe ihrer Position gegenüber der Sowjetunion intern erneut prüfen, ob — statt die geplanten land-gestützten INF zu stationieren — die bereits SACEUR zugeordneten seegestützten Nuklearsysteme modernisiert und z. T. durch andere seegestützte Optionen ergänzt oder ersetzt werden sollen. Die Argumente, die 1979 in der High Level Group bei der Vorbereitung des NATO-Doppelbeschlusses den Ausschlag gegen seegestützte Optionen gaben, waren politisch nicht überzeugend und sind aufgrund der inzwischen vollzogenen Entwicklungen waffentechnologisch nicht mehr ausreichend begründet.

Eine „graue Zone", in welcher nukleare Rüstungen bisher nicht durch Abkommen begrenzt und verringert werden, besteht auch Bereich kürzerer Reichweiten. In dieser im «grauen Zone“ durch Vereinbarungen zwischen Ost und West einen Rüstungswettlauf zu beenden, ist für die Bundesrepublik militärisch mindestens ebenso wichtig wie befriedigende Verhandlungsergebnisse im Bereich der Mittelstreckenwaffen.

Helmut Schmidt hat in seiner Rede vor dem 1ISS in London zu Recht darauf hingewiesen, daß zwischen den Wiener MBFR-Verhandlungen und den Vereinbarungen über strategische Nuklearsysteme eine „graue Zone" rüstungskontrollpolitischer Lücken besteht. In dieser „grauen Zone“ insgesamt die nukleare Rüstung zu begrenzen und zu verringern, liegt im Interesse der Europäer. Dies kann schrittweise erfolgen, wenn die einzelnen Schritte durch eine sicherheitspolitische und rüstungskontrollpolitische Gesamtkonzeption aufeinander bezogen sind. Ich kann nicht erkennen, daß die NATO derzeit eine derartige überzeugende und konsensfähige Gesamt-konzeption hätte.

Das Territorium der Bundesrepublik kann trotz der kürzeren Reichweite dieser Nuklearraketen auch durch SS-21, SS-23 und SS-22 bedroht werden. Die in der Bundesrepublik zur Zeit stationierten „Lance“ zielen heute bereits auf die Territorien der östlichen Nachbarn der Bundesrepublik; die Pershing la kann die Volksrepublik Polen erreichen.

Die geplante Stationierung von Pershing II und Cruise Missiles würde weniger Polen, die CSSR und die DDR, allerdings aber die Führungsmacht des Warschauer Paktes, die Sowjetunion, zusätzlich bedrohen. Angesichts der bereits vorhandenen Bedrohung durch FROG, SCUD und SCALEBOARD ist die zusätzliche Bedrohung durch die SS-20 für die Bundesrepublik weniger relevant als zum Beispiel für Großbritannien, Italien, Portugal und auch Frankreich.

Andererseits: Die SS-21, SS-23 und SS-22 würden die Bundesrepublik auch dann weiterhin bedrohen, wenn die Sowjetunion ihr SS-20-Potential reduzieren oder sogar völlig darauf verzichten würde. Angesichts der strategischen Nuklearwaffenpotentiale der Sowjetunion einerseits und ihrer nuklearen Kurzstreckenpotentiale andererseits liegt die Relevanz eines Abkommens über nukleare Mittelstreckenpotentiale für die Bundesrepublik ebenso wie für ihre östlichen Nachbarn erheblich mehr im Politischen als im Militärischen.

Erst bei einer drastischen Verringerung oder einem völligen Verzicht der Sowjetunion auf Nuklearsysteme kürzerer Reichweite würde die Sprengkraft der SS-20-Raketen für das Territorium der Bundesrepublik eine quantitativ relevante zusätzliche militärische Bedrohung beinhalten. Andererseits: Die durch die Sowjetunion angekündigte Einführung von SS-21-, SS-23-und SS-22-Raketen in Osteuropa stellt nur dann keine militärisch relevante zusätzliche Bedrohung dar, wenn man die Stationierung ihrer Vorläufer FROG, SCUD und SCALEBOARD und die Stationierung von SS-20-Raketen voraussetzt. Die Verhandlungen über Mittelstreckenwaffen sollten schrittweise mit künftigen Verhandlungen über Nuklearsysteme mit kürzeren Reichweiten verknüpft werden. Dies wäre auf längere Sicht ein Pendant zur bereits aktuell erforderlichen engeren Verknüpfung von INF-und START-Verhandlungen. Ein erster positiver Schritt in diese Richtung würde die Vereinbarung eines Moratoriums für nukleare Kurzstreckensysteme bei den Genfer INF-Verhandlungen bedeuten.

Die NATO sollte noch in diesem Jahr entscheiden, die Zahl der in Europa gelagerten nuklearen Gefechtsfeldwaffen einseitig erheblich zu reduzieren.

Auch unter der Voraussetzung der gegenwärtig geltenden NATO-Doktrin der flexible response ist diejenige Zahl von Nuklearwaffen in Westeuropa ausreichend, die genügt, um für den Fall eines Angriffs des Warschauer Paktes die Gefahr einer nuklearen Eskalation deutlich zu machen. Es widerspricht der inneren Logik der flexible response, in Westeuropa so viele Atomwaffen zu stationieren, daß damit allein ein eventueller sowjetischer Vormarsch zu stoppen wäre.

Da ihr Einsatz überdies die nukleare Eskalation in Gang setzen würde, sind an die nuklearen Gefechtsfeldwaffen und an die nuklearen Kurzstreckensysteme dieselben Kriterien anzulegen wie an die umstrittenen Mittelstreckenwaffen: Im existenziellen Interesse Westeuropas ist zu fragen, ob sie die Gefahr einer Regionalisierung des Konfliktes erhöhen (Abkoppelung von den USA) oder ob sie den Verbund der USA mit den europäischen Risiken hinreichend sicherstellen.

Isoliert gesehen, bringen die nuklearen Gefechtsfeldwaffen und Kurzstreckensysteme sicherlich die Gefahr einer Abkoppelung; theoretisch wäre eine Kriegssituation Mitteleuropas vorstellbar, in der konventionell und mit Nuklearwaffen kurzer und kürzester Reichweite ohne größere Eskalationsgefahr bis zur Verwüstung Mitteleuropas gekämpft wird. Unter dem Gesichtspunkt der Abschreckung bringen die nuklearen Sperrmittel (ADMs) und die nukleare Artillerie wenig für das militärische Potential der NATO. Ihre selbstabschreckende Wirkung ist vergleichsweise größer. Die Sowjetunion kann aufgrund der technologischen Entwicklung zunehmend auch durch konventionelle Waffen gezwungen werden, ihre Verbände aufzulockern. Die Zahl der in Mitteleuropa gelagerten nuklearen Gefechtsfeldwaffen sollte um mehr als 2 000 Stück einseitig reduziert werden. Anzustreben ist die Vereinbarung einer von nuklearen Gefechtsfeldwaffen freien Zone, so wie sie die Palme-Kommission empfiehlt. Die Palme-Kommission schlägt die Vereinbarung einer atomwaffenfreien Zone von rund 150 Kilometern beiderseits der Grenzen von NATO und Warschauer Pakt vor. Die Einhaltung einer derartigen Vereinbarung wäre zwar, vor allem auch im Spannungsfall, schwierig zu kontrollieren. Auch verändert die Verwirklichung dieses Vorschlages die grundlegenden militärstrategischen Bedingungen in Europa nicht. Doch überwiegen die Vorzüge weitaus die Risiken:

Der Vorschlag der Palme-Kommission würde dazu führen, daß nukleare Gefechtsfeldwaffen nicht an den Grenzen der beiden Bündnissysteme gelagert werden. Er würde die Wahrscheinlichkeit verringern, daß Nuklearwaffen bereits bei grenznahen Konflikten eingesetzt werden. Er führt dazu, die militärische Relevanz von nuklearen Gefechtsfeldwaffen zu verringern. Er könnte den Trend zur Entwicklung neuer, immer kleinerer Atomwaffen stoppen und damit indirekt die Vereinbarung eines umfassenden Atomteststoppabkommens begünstigen. Außerdem vermindert dieser Vorschlag die Risiken eines auf Zentral-europa beschränkten Nuklearkrieges.

Die Abhängigkeit der NATO vom frühen Kernwaffeneinsatz muß beseitigt werden, ohne daß die Versuchung zur konventionellen Kriegführung wächst. Die Verringerung der Zahl der in Europa gelagerten Atomwaf-B fen und die Schaffung atomwaffenfreier Zonen verringert das Risiko von konventionellen Kriegen nicht. Ein längerer, mit konventionellen Waffen geführter Krieg wird an den Grenzen von NATO und Warschauer Pakt ähnliche Verwüstungen wie ein kurzer mit nuklearen Gefechtsfeldwaffen geführter Krieg anrichten. Damit ein konventioneller Krieg zwischen Ost und West in Europa nicht wahrscheinlicher wird, sollte die Verringerung der Zahl und der militärischen Relevanz der in Europa gelagerten Atomwaffen durch rüstungskontrollpolitische Vereinbarungen und verteidigungspolitische Maßnahmen in bezug auf konventionelle Rüstungen ergänzt werden.

Schlagwortartig ließe der rüstungskontrollpolitische Zusammenhang zwischen nuklearer Abrüstung und konventioneller Stabilität in Europa sich am besten durch die Kombination der Forderung nach atomwaffenfreien Zonen in Europa mit der nach panzerfreien Zonen darstellen. Rüstungskontrollpolitisch und militärisch sind Lösungen komplizierter, als es mit solchen schlagwortartigen Forderungen ausgedrückt werden kann.

Politisch gebührt rüstungskontrollpolitischen Vereinbarungen und Maßnahmen zur militärisch relevanten Vertrauensbildung der Vorrang. Erstrebenswert wäre vor allem, die MBFR-Verhandlungen aus der Sackgasse der jetzigen Datendiskussion herauszuführen, indem jeweils etappenweise verringerte Obergrenzen festgelegt und verläßliche Kontrollmechanismen vereinbart werden, die die Einhaltung der reduzierten Höchststärken möglich machen. Dabei könnte man sich auf die Einigung über die jeweils für die Kontrolle der Reduktion notwendigen Daten beschränken. Verhandlungen mit dem Ziel einer vereinbarten Stabilität durch annäherndes konventionelles Gleichgewicht zwischen NATO und Warschauer Pakt sollten nach den ersten Ergebnissen bei den MBFR-Verhandlungen diese ergänzen und erweitern. Auch die geplante Konferenz über Abrüstung in Europa (KAE) könnte zur militärisch relevanten Vertrauensbildung beitragen.

Eine Konventionalisierung der NATO-Strategie kann realistischerweise „nur" eine konventionelle Verteidigungspolitik zum Ziel haben, die ausreicht, einen Angriff des Warschauer Paktes abzuschrecken, ohne auf die Androhung eines Ersteinsatzes von Nuklearwaffen angewiesen zu sein.

Sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Europa hat die kritische Diskussion über die Möglichkeit von Nuklearkriegen und die verheerenden Folgen eines Einsatzes von Nuklearwaffen zu einer veränderten Bewertung der moralischen Legitimität und der mi»litärischen Zweckmäßigkeit der Androhung eines Ersteinsatzes von Nuklearwaffen geführt. Die Verluste an moralischer Legimitität und militärischer Zweckmäßigkeit stehen in einem engen Zusammenhang:

Die Glaubwürdigkeit der westlichen Vergeltungsdrohung leidet, wenn ihr der demokratische Konsens fehlt, und die Akzeptanz in demokratischen Gesellschaften wird brüchig, wenn die Abschreckung als unangemessen im Verhältnis zur äußeren Bedrohung wahrgenommen wird.

Eine Konventionalisierung der NATO-Strategie könnte dazu führen, Nuklearwaffen mit der militärischen Konzeption zurückzudrängen. Dies wäre ein positiver Schritt weg vom strategischen Denken in Kategorien der nuklearen Kriegführung. Die nukleare Abschreckung würde zwar nicht aufgegeben, aber die Trennung zwischen konventionellen und nuklearen Waffen verdeutlicht. Dies erscheint angesichts der moralischen Legitimationskrise der nuklearen Abschreckung geboten.

In den letzten Jahren haben waffentechnologische Entwicklungen stattgefunden, die die Möglichkeiten einer Konventionalisierung quantitativ und qualitativ erheblich verbessert haben. Es sollte aber bedacht werden: auch im Zuge einer Konventionalisierung muß neben dem Vorrang der Rüstungskontrolle das Primat der Politik und der Strategie vor der Technologie zur Geltung gebracht werden. Die Fragestellung muß lauten, welche Möglichkeiten die waffentechnologische Entwicklung für die Stärkung der defensiven Verteidigungsstrategie bietet, und nicht, wie die Strategie und Politik den neuen Waffen angepaßt werden kann. Nicht alles, was technologisch machbar erscheint, ist notwendig oder gar wünschenswert. Auch aufgrund finanzieller Beschränkungen wird die Umrü17 stung von nuklearen auf konventionelle Waffen nur Ergebnis eines längerfristigen, schrittweisen Prozesses sein.

über die abschreckungsstrategischen Implikationen einer Konventionalisierung ist ein unzweideutiges Urteil nicht möglich. Aufgrund der Dilemmata einer Abschreckungsstrategie ergeben sich theoretisch sowohl hinsichtlich des Kriegsverhinderungs-wie hinsichtlich des Kriegsbeendigungsziels stabilisierende und destabilisierende Folgen. Es gibt keine Doktrin, die sowohl die Kriegsverhütung durch Abschreckung stärkt als auch gleichzeitig im Kriegsfall eine Konfliktbeendigung und Schadensbegrenzung erleichtert. Die Nuklearwaffen erhöhen die Kriegsschäden und wirken dadurch abschreckend, aber sie stellen die Aussicht auf eine Konfliktbeendigung und Schadensbegrenzung in Frage. Bei der konventionellen Abschreckung verhält es sich genau umgekehrt. Letztlich müssen die Anteile von nuklearen und konventionellen Waffen einer Abschreckungsstrategie im Rahmen einer politischen Risikoabwägung festgelegt werden.

Die Ambivalenz einer Konventionalisierung der NATO-Strategie ist waffentechnologisch bestenfalls zu verringern, nicht aber völlig zu . beseitigen. Eine Konventionalisierung der NATO-Strategie enthält für Europa andere Risiken als für die USA Aber das Problem der Risikoabwägung und Risikokoppelung zwischen den Partnern des westlichen Bündnisses ist eine primär politische und psychologische Frage. Einzelne Waffentechnologien können eine zwischen Europa und den USA ausgeglichene Risikoverteilung und Risiko-koppelung bestenfalls glaubwürdiger machen, nie aber sie außenpolitisch garantieren.

Politisch hat Henry Kissinger mit seiner Rede in Brüssel am 1. September 1979 — am 40. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges — die nukleare Verkoppelung der USA mit den europäischen Risiken in Frage gestellt. Der Beschluß der NATO am 12. Dezember 1979 am gleichen Ort sollte die Verkoppelung militärisch und rüstungskontrollpolitisch glaubhaft unterstreichen. Politische Entkoppelung kann im Verhältnis zwischen den USA und Westeuropa nicht durch die Stationierung neuer Nuklearwaffen in Europa ausgeglichen werden. Ein automatischer Vollzug einer 1979 unter anderen politischen Bedingungen geplanten Stationierung könnte heute auf beiden Seiten des Atlantiks politi.sehe und psychologische Reaktionen mit langfristig entkoppelnder Wirkung provozieren. Die Menschheit wird mit der Fähigkeit, sich selbst vernichten zu können, leben müssen. Trotz aller Abrüstungsbemühungen wird bis in das kommende Jahrzehnt hinein die Drohung mit der wechselseitigen nuklearen Vernichtung weiterhin zur Realität des Ost-West-Konfliktes gehören. Politisch möglich und geboten ist es, die Kernwaffen schrittweise in die Rolle von strategischen Abschreckungswaffen zurückzuversetzen und sie auf das zur Minimalabschreckung erforderliche Maß zu reduzieren. Hierzu ist eine Verringerung der Zahl und der militärischen Relevanz von Nuklearwaffen in der flexible response ein sinnvoller Beitrag.

Kriegsverhütung durch Abschreckung ist ein ambivalentes Konzept. Seine Begründung enthält ein Paradoxon. Es enthält zu viele Risiken, als daß es zur dauerhaften Sicherung des Friedens ausreichte. Insbesondere demokratische Gesellschaften können es nicht auf Dauer für legitim halten, daß die Drohung mit der Vernichtung der Menschheit Vorbedingung für eine Friedenserhaltung sei. Die Bevölkerung erwartet zu Recht, daß der Größe der Gefahr bei Versagen der Abschreckung das Maß des politischen Bemühens um Frieden und um Überwindung dieser Gefahr entspricht. Die Doktrin der Abschreckung kann nur als Konzept des Übergangs zu weniger risikoreichen Strategien der Friedenssicherung akzeptiert werden.

Die Doktrin der Abschreckung will den Frieden vorrangig durch das beim potentiellen Gegner Furcht und Schrecken verbreitende eigene Militärpotential sichern. Die Konzeption der Sicherheitspartnerschaft strebt ohne Vernachlässigung der eigenen Sicherheitsinteressen eine zunehmende Kooperation mit dem potentiellen Gegner an, um Sicherheitsprobleme möglichst gemeinsam zu lösen. Die Abschreckung voreinander soll durch die gemeinsame Sicherheit miteinander ergänzt und schließlich ersetzt werden. Die Konzeption der Friedenssicherung durch wechselseitige Abschreckung kann nicht mit den Methoden der Doktrin der Abschreckung überwunden werden. Wer die Risiken der Doktrin der Abschreckung beseitigen will, muß deshalb das System der Abschreckung schrittweise überwinden. Deshalb ist es das Ziel der Konzeption der Sicherheitspartnerschaft, durch die Zusammenarbeit miteinander die Furcht voreinander zu verringern. Dazu ist der Abbau des Willens und der Fähigkeit zur wechselseitigen militärischen Bedrohung erforderlich.

Die Sicherheitspolitik wird insbesondere in bezug auf Entscheidungen über Nuklearwaffen in den kommenden Jahren weiterhin öffentlich umstritten sein. Erst im Rahmen eines politischen Gesamtkonzepts des Westens für seine Beziehungen zur Sowjetunion und Osteuropa kann sich wieder ein sicherheitspolitischer Konsens herausbilden. Das entspannungspolitische Konzept der siebziger Jahre, das auf dem Harmel-Bericht von 1967 beruhte, scheint mir für die Entwicklung einer solchen gemeinsamen Konzeption des westlichen Bündnisses für die achtziger Jahre eine geeignete Ausgangsbasis zu bilden. Auch Entwicklungen außerhalb der unmittelbaren Ost-West-Beziehungen in den Ländern der Dritten Welt müßten dabei berücksichtigt werden.

Im Vergleich zu den sechziger Jahren ist ein größeres Maß an Gleichberechtigung und Mitbestimmung der europäischen NATO-Partner gegenüber den USA angebracht. Mehr Mitbestimmung und ein gesundes und unverkrampftes Selbstbewußtsein gegenüber den USA und ihrer jeweiligen Administration könnte viele Europäer aus ihrem Schwanken zwischen devoter Anpassung und irrationaler Kritik der westlichen Führungsmacht befreien. Wie dieses Mehr an Mitberatung und Mitbestimmung bei Entscheidungen über Nuklearstrategie und nukleare Rüstungskontrolle noch wirksamer als bisher auch institutionell abgesichert werden kann, sollte in den nächsten Monaten zusätzlich zur Frage nach der Rolle der Nuklearwaffen für die Sicherheit Westeuropas diskutiert werden.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Karsten D. Voigt, geb. 1941; Studium der Geschichte, Germanistik und Skandinavistik in Hamburg, Kopenhagen und Frankfurt; Obmann der SPD-Bundestagsfraktion im Auswärtigen Ausschuß des Bundestages. Veröffentlichung u. a.: Wege zur Abrüstung, Frankfurt 1981.