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Ist die EG noch zeitgemäß? Zur Tragfähigkeit der Integrationspolitik | APuZ 23-24/1984 | bpb.de

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APuZ 23-24/1984 Was ist die Idee Europas? Ist die EG noch zeitgemäß? Zur Tragfähigkeit der Integrationspolitik Europa ohne Grenzen Artikel 1

Ist die EG noch zeitgemäß? Zur Tragfähigkeit der Integrationspolitik

Beate Kohler

/ 21 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In diesem Beitrag werden zwei Modelle entwickelt, die unterschiedliche Vorstellungen über die Rolle und politische Zielsetzung der Gemeinschaft enthalten: Zum einen die Europäische Gemeinschaft als „Insel der Stabilität in einer turbulenten Welt" und zum anderen die Europäische Gemeinschaften als „Wertegemeinschaft". Das erste Modell beruht auf der Vorstellung, daß man den europäischen Raum als „Sicherheitszone" gestaltet, der den Mitgliedstaaten eine größere Unabhängigkeit von den internationalen Geschehnissen verschafft und zu einer ökonomisch vorteilhaften Arbeitsteilung führt. Das Modell der EG als „Wertegemeinschaft" ist dagegen an die Vorstellung geknüpft, daß eine Europäische Gemeinschaft nicht nur funktional der Erfüllung bestimmter Aufgaben dient, sondern daß es eine europäische Gemeinsamkeit gibt, der durch entsprechende Formgebung Ausdruck zu verleihen wäre. Mit anderen Worten, es gibt eine Substanz, die spezifisch europäisch ist und die es durch den Zusammenschluß zu wahren und gegen andere Staaten zu verteidigen gilt. Im Unterschied zu anderen politischen Beobachtern, die die Aufgabe der Neubestimmung von Sinn und Inhalt der Europäischen Gemeinschaft den Staats-und Regierungschefs der Mitgliedstaaten überlassen möchten bzw.den Verfassungsentwurf des Europäischen Parlamentes als geeigneten Lösungsansatz sehen, hält die Autorin die Fraktionen des Europäischen Parlamentes für am besten geeignet, die Debatte um die Zukunft der Gemeinschaft zu entfachen.

Die Wahlen zum Europäischen Parlament stehen vor der Tür, und wie schon im Vorfeld der ersten Direktwahl 1979 bemühen sich die Medien darum, ihren Beitrag zur Mobilisierung der Wählerschaft zu leisten. Nicht nur die Kenntnisse über die EG und das Europäische Parlament sind aufzufrischen, sondern es gilt vor allem, der wachsenden Europamüdigkeit — vielleicht sollte man sogar sagen: dem Europaverdruß — entgegenzuwirken.

In dem Bemühen erneut die Attraktivität der EG unter Beweis zu stellen, liefert man eindrückliche Schilderungen, in welchem Umfang deutsche Unternehmen von den Export-möglichkeiten, die der Gemeinsame Markt zu bieten hat, profitieren. Der wirtschaftliche Nutzen wird immer wieder als das schlagkräftige Argument in die Diskussion eingebracht, wenn es um die Existenzberechtigung der EG geht. Damit soll begründet werden, warum es für die Bundesrepublik lohnend sei, finanzielle Opfer zu bringen, die zur Finanzierung einer Agrarpolitik aufgebracht werden müssen, die zumindest weder die Verbraucher noch die Steuerzahler in dieser Form wollen.

Wie bedeutsam ist der Gemeinsame Markt für die deutsche Volkswirtschaft aber nun wirklich? Ein Blick auf die Handelsbilanz liefert ein beeindruckendes Bild: rund 50% des deutschen Außenhandels werden mit den Ländern der Gemeinschaft abgewickelt. Aber hilft diese statische Betrachtungsweise weiter? Schließlich kann man Märkte nur erhalten, wenn man wettbewerbsfähig bleibt. Und unter diesem Gesichtswinkel relativiert sich die Bedeutung des Gemeinsamen Marktes: Der Kampf um die langfristige Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft findet nämlich nicht zwischen den europäischen Wirtschaftspartnern statt. Die technologische Herausforderung kommt aus den USA und Japan, und im Kampf um den Markt standardisierter Produkte geht die Konkurrenz von den Schwellenländern der Dritten Welt aus. Hinzu kommt, daß nicht auf europäischer Ebene entschieden wird, nach welchen Regeln dieser internationale Wettkampf stattfindet-, das Management der internationalen Interdependenz ist vielmehr global organisiert. Die Regeln des internationalen Handelsverkehrs werden im GATT (Multilaterales Zoll-und Handelsabkommen) festgelegt, Abweichungen werden dort eingeklagt oder auch — wie beim Multifaserabkommen — in diesem Kreis vertraglich ausgehandelt. Regelungsinstanz des internationalen Währungssystems ist der IWF (Internationaler Währungsfond), der in Zusammenarbeit mit BIZ (Bank für Internationalen Zahlungsausgleich) und Zehnergruppe die internationale Verschuldung zu steuern sucht. Und die international tätigen Großbanken haben sich mit dem Institute of International Finance eine Art Evidenz-Zentrale geschaffen, um ihrerseits die Länderrisiken besser abschätzen zu können. Um den weltweiten Zahlungsverkehr reibungslos abwickeln zu können, haben sich die Wirtschaftsakteure schon viel früher mit der Internationalen Handelskammer in Paris ein Forum geschaffen, das ihren Bedürfnissen entspricht. Die Absprache über die wünschenswerte Ausgestaltung der internationalen Wirtschaftspolitik findet auf den Weltwirtschaftsgipfeln und den Treffen der Big Four statt. Mit der UNCTAD (Welthandels-konferenz) hat die Dritte Welt einen Rahmen geschaffen, um über eine Revision der weltwirtschaftlichen Ordnungsprinzipien in ihrem Sinne zu verhandeln, etc. In all diesen Gremien geht es um Politik, d. h. um Regeln, mit deren Festlegung die Verteilung von Vor-und Nachteilen verbunden ist. Entsprechend sucht man sich Bündnispartner, werden Interessenkoalitionen geschmiedet, um Mehrheiten für die eigene Position zustandezubringen. Soweit es bei diesen internationalen Verhandlungen um Handelsfragen geht, ist die Bundesrepublik durch die EG vertreten. Eine Zehnergemeinschaft kann sicher wirkungsvoller auftreten als ein einzelner Nationalstaat. Trotzdem ist diese Vertretung nicht unproblematisch, denn in der Frage der internationalen Wirtschaftspolitik laufen die Konfliktlinien quer durch die EG: die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft haben höchst unterschiedliche Auffassungen über die Vor-B und Nachteile eines freien Welthandels, die Rolle des Staates bei der Förderung technologischer Innovationen etc. Was den Kampf gegen den um sich greifenden Protektionismus angeht, so ist die Bundesrepublik als „Freihändler" innerhalb der EG inzwischen in einer Minderheitsposition. Wenn es aber richtig ist, daß die Bundesrepublik ihre eigenen wirtschaftspolitischen Ordnungsvorstellungen und damit ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen nicht mehr innerhalb der EG durchsetzen kann, und wenn die Gemeinschaft insgesamt aufgrund der internen Meinungsverschiedenheiten immer weiter ihre Handlungsfähigkeit verliert, wäre es da nicht klüger, gleich die OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit) als Abstimmungsforum zu wählen? In ihr treffen sich alle relevanten westlichen Industrieländer, es könnten sich im größeren Rahmen die Koalition zwischen Freihändlern und Protektionisten bilden. Ein marktwirtschaftlich orientiertes Land wie die Bundesrepublik könnte sich mächtigen Koalitionspartnern wie der USA zugesellen, wohingegen sie in der EG lediglich noch Unterstützung von den Niederlanden, Dänemark und (begrenzt) von Großbritannien erfährt.

Unter diesem Gesichtswinkel betrachtet muß man sich fragen, ob es nicht an der Zeit wäre, daß die Verantwortlichen in der Bundesrepublik kritisch Bilanz ziehen, ob die eigenen langfristigen wirtschaftlichen Interessen in der EG wirklich noch gewahrt sind, oder ob nicht vielmehr Kooperationsformen außerhalb der EG bzw. die Beschränkung der europäischen Zusammenarbeit auf einen Partner innerhalb der EG der Bewältigung der anstehenden Probleme angemessener wäre? Die Diskussion um eine „abgestufte Integration" oder wie Mitterand es Anfang Februar 1984 in Den Haag nannte: um ein Europa mit „variabler Geometrie" ist entfacht. Bemerkenswert ist aber, daß Alternativen zur EG nicht im Gespräch sind.

Man hält an der Gemeinschaft fest, obwohl auch in anderen Politikbereichen — wie in dem der Agrarwirtschaft, der Entwicklungspolitik, der außenpolitischen Koordinierung — die Bilanz keineswegs positiv ist.

Es gibt ein nicht näher definiertes pro-europäisches Bekenntnis, dem sich in der Bundesrepublik alle großen Parteien verpflichtet fühlen; europäische Zusammenarbeit wird als Wert an sich begriffen, der weder offen in Zweifel gezogen noch auch konkret begründet wird. Diese Geisteshaltung ist Bestand deutscher Politik und wirkt ebenso wie die Tatsache der faktischen Mitgliedschaft in der EG als konstante Rahmenbedingung bei der Formulierung außenpolitischer Optionen. Solche Randbedingungen verbürgen Kontinuität, in Krisenzeiten können sie jedoch als Hemmnis wirken. Politik als Reflex einer nur vage zu beschreibenden Grundhaltung mag ausreichen zur Verwaltung des Status quo. In einer historischen Phase jedoch, in der Reformentscheidungen zur Veränderung von Strukturen anstehen — und in einer solchen Phase befinden wir uns gegenwärtig in der EG — sind klare Zielvorstellungen von Nöten.

Eine solche Zielvorstellung muß über reine Nützlichkeitserwägungen hinausgehen. Schon im nationalen Kontext kann man mit einer Politik, die sich auf das Bilanzieren von Vor-und Nachteilen der EG-Mitgliedschaft — und das vielleicht auch noch nach einzelnen Wirtschaftssektoren getrennt —, keine öffentliche Unterstützung mobilisieren. Sie dient eventuell der Beruhigung kritischer Gemüter, beflügelt aber zu keiner Europa-Begeisterung. Auf europäischer Ebene gleicht der Versuch, zu einem Austarieren der jeweils nationalen Kosten-Nutzen-Bilanzen zu kommen, der Quadratur des Kreises. Jede Regierung ist von ihren nationalen Interessengruppen auf eine kompromißlose Verteidigung der eigenen Vorteile festgelegt; ihr Handlungsspielraum wird so auf ein Minimum beschränkt. Unter diesen Bedingungen läßt sich die EG nicht aus der Krise herausführen: seit Jahren nun sind die Probleme benannt, Lösungsvorschläge liegen auf dem Tisch, konkrete Aufträge für weitere Verhandlungen wurden erteilt; trotzdem: in Stuttgart wurde verschoben, in Athen zerredet, und in Brüssel scheiterte man wieder an der Finanzfrage.

Wie aber gewinnt man die notwendige Handlungsfreiheit zurück? Wie gelingt es, sich als Regierung von den Fesseln partikularer Forderungen von Interessengruppen zu befreien, breite Unterstützung für eine Politik zu finden, die keine befriedigende Antwort auf alle anstehenden Probleme gibt, die sogar mit Opfern verbunden ist?

Vielleicht hilft ein Blick zurück in die Vergangenheit: Schließlich hat sich auch die Europa-Politik der fünfziger und sechziger Jahre nicht im Paradies abgespielt. Auch in der Bundesrepublik wurde die Gründung der Montanunion und später der EWG sowie der Europäischen Atomgemeinschaft keineswegs von allen Beteiligten als vorteilhaft und sinnvoll erachtet. Warum ist die Gründung der Europäischen Gemeinschaften trotzdem gelungen; was war das Geheimnis ihres Erfolges und warum bleibt dieser nun so hartnäckig aus?

Um es vorweg zu sagen: Entstehung und Entwicklung der EG ist die Geschichte einer politischen Idee, die an übergreifenden Wertvorstellungen orientiert war und gemäß der spezifischen historischen Bedingungen der damaligen Zeit in der konkreten Form der drei Europäischen Gemeinschaften verwirklicht wurde. Aber wir leben noch heute mit den Erscheinungsformen dieser Idee, nämlich den Europäischen Gemeinschaften, obwohl sich inzwischen die Wertvorstellungen gewandelt haben, und die historischen Bedingungen der 80er Jahre überdies nur noch wenig mit denen der fünfziger Jahre gemein haben. Eine Anpassung der Idee an die sich wandelnde Realität ist nicht erfolgt, und hierin liegt die Crux der europäischen Zusammenarbeit.

Die Idee der europäischen Einigung wurde nach dem 2. Weltkrieg getragen von der Hoffnung, eine zukünftige kriegerische Auseinandersetzungen vermeiden zu können. Frieden war der überragende Wert, der in der Bevölkerung eine breite Unterstützung fand; dies kam in der Popularität der damaligen europäischen Bewegung zum Ausdruck. Die Idee der europäischen Einigung war verknüpft mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen über ihre politische Umsetzung; ihre Konkretisierung in Form der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl erhielt sie nach der Logik der Funktionalisten: für sie war nicht die nationalstaatliche Zersplitterung Europas als solche, sondern die daraus folgende Abschottung der jeweiligen nationalen Volkswirtschaften Ursache von Konflikten. Wirtschaftliche Zusammenarbeit würde zu einer besseren Nutzung der knappen Ressourcen und damit zu einer umfassenderen Befriedigung sozialer Bedürfnisse führen; statt ruinöser wirtschaftlicher Konkurrenz würde Zusammenarbeit und wirtschaftliche Verflechtung ein Netz wechselseitiger Interessen schaffen, das immer wieder dazu anhalten würde, Konflikte friedlich zu regeln und den Bestand an Kooperation nicht zu gefährden, weil er eben im gemeinschaftlichen Interesse liegt.

Diese Idee des „Gemeinschaftsinteresses" wurde zum Angelpunkt der gesamten EG: Die innereuropäische Friedenssicherung war einer der Eckpfeiler, Wohlfahrtssteigerung durch wirtschaftliche Zusammenarbeit ein zweiter, und die Optimierung zwischenstaatlicher Zusammenarbeit durch die Gründung supranationaler Institutionen ein weiterer.

Die Einsicht in übergreifende gemeinschaftliche Interessen, der Konsens in Werthaltungen und Zielvorstellungen hätte jedoch nicht ausgereicht, um die Idee in die Wirklichkeit umzusetzen. Der hierzu vorgelegte Schumann-Plan war vielmehr deshalb von Erfolg gekrönt, — weil er eine konkrete Antwort auf konkrete Probleme enthielt (akute Versorgungsprobleme im Energiebereich, Vermeidung ruinöser Konkurrenz beim Aufbau der Grundstoffindustrien, Aufhebung der internationalen Kontrolle der Ruhr, Regelung der Souveränitätsbeschränkungen der Bundesrepublik, politische Einbindung und Kontrolle eines wiedererstarkten Westdeutschlands)

— weil die Lösungsvorschläge auf einem als gerecht empfundenen Interessenausgleich beruhten und — weil die politischen Kräfte, die in den einzelnen Mitgliedstaaten über eine Mehrheit verfügten, diese Europa-Politik als Absicherung ihres innenpolitischen Kurses nutzen konnten.

Auch zur Zeit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wurde das Ziel einer innereuropäischen Friedenssicherung immer noch als Wert begriffen. Aber angesichts der funktionierenden europäischen Zusammenarbeit und der Stabilität der bipolaren internationalen Strukturen als Folge des Ost-West-Konfliktes war seine politische Mobilisierungskraft verlorengegangen. Trotz des Verweises auf die politische Finalität in der Präambel des EWG-Vertrages hat sich der Zweck der europäischen Zusammenarbeit auf Wohlfahrtssteigerung als übergreifendes Ziel reduziert. Zu seiner Verwirklichung wurde ein Gemeinsamer Markt mit ungehindertem Wettbewerb konzipiert; Agrarpolitik und die Beziehungen zu den ehemaligen Kolonien bildeten eine systemwidrige Anpassung an politische Sonderwünsche einiger Beteiligter. » Vertrag und EWG-Politik der sechziger Jahre entsprachen voll dem Zeitgeist:

— eine Vorherrschaft der materiellen Werte, — ein ungebrochener Glaube an Wachstum als Garant von Wohlfahrt, und — das Vertrauen in die Optimierungsfunktion des freien Wettbewerbs.

Die Krise der europäischen Zusammenarbeit war somit vorprogrammiert:

— die Reduktion auf wirtschaftliche Nutzen-erwägungen verhinderte eine politische Identifizierung; — die Erwartung, die Europäische Gemeinschaft garantiere Wachstum, hat zur Folge, daß jede Wachstumsminderung zur Legitimationskrise der EG entarten muß;

— die ideologische Überhöhung der Wohlfahrtseffekte einer Marktwirtschaft führten zur Vernachlässigung notwendiger Korrekturmechanismen — wie Sozial-und Regionalpolitik —, mit der eine als ungerecht empfundene Lastenverteilung hätte korrigiert werden können.

Dies bedeutet aber auch, daß die Krise der siebziger und achtziger Jahre nicht eine Krise der europäischen Idee oder des Prinzips europäische Zusammenarbeit ist, sondern eine Krise der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft die — zum einen systeminhärent ist, d. h. sie basiert auf Fehlentwicklungen infolge von Konstruktionsschwächen des EWG-Vertrages; dies kam in der Entwicklung regionaler Disparitäten innerhalb der Gemeinschaft am deutlichsten zum Ausdruck;

— zum anderen wurde sie provoziert durch externe Veränderungen wie — die Wirtschaftskrise der siebziger Jahre infolge des weltwirtschaftlichen Umverteilungskampfes (Rohstoffpreiserhöhung) und — infolge veränderter Werthaltungen innerhalb der europäischen Gesellschaft.

Vollends in die Sackgasse geriet die europäische Politik schließlich, als weder eine Korrektur dieser systeminhärenten Widersprüche, noch eine Anpassung an die veränderten Umweltbedingungen erfolgte.

Die Europa-Politik der siebziger Jahre war nicht ohne Bewegung, jedoch wurden Veränderungen ohne ausreichende Reflexion von Zielen und Instrumenten vorgenommen. Im Gegenteil: man verfolgte eine in sich widersprüchliche Politik:

1. Man strebte eine Wirtschafts-und Währungsunion an, um dem Verlust wirtschaftlicher Handlungsfähigkeit auf nationaler Ebene infolge der zunehmenden Verflechtung des Gemeinsamen Marktes entgegenzuwirken; 2. man befürwortete die Erweiterung der Gemeinschaft, um neue Absatzmärkte zu gewinnen und das außenpolitische Gewicht der Gemeinschaft in der Welt zu erhöhen;

3. man strebte nach einer politischen Festigung der EG nach innen (Politische Union) und nach außen (EPZ), um den europäischen Zusammenhalt langfristig zu sichern;

4. man verlieh dem Europäischen Parlament zusätzliche Kompetenzen und beschloß, es künftig von den Wählern direkt wählen zu lassen, um die politische Integration an der Basis zu fördern und dem Anspruch demokratischer Kontrolle gerecht zu werden.

Jedes einzelne dieser politischen Ziele ist legitim und steht für sich genommen in einem rationalen Ziel-Mittel-Verhältnis. Untereinander aber sind diese Ziele und die ihnen zugeordneten Maßnahmen inkompatibel: Eine Erweiterung der EG erhöht zwangsläufig deren strukturelle Heterogenität, verschärft bereits bestehende innere Gegensätze. Eine Wirtschafts-und Währungsunion dagegen ist ebenso wie eine politische Union auf die Angleichung ökonomischer und politischer Strukturen, auf einen Gleichklang der wirtschaftlichen Entwicklung und eine Paralellität politischer Interessen angewiesen. Die Durchführung der Erweiterung hat die Beschlüsse zur Vertiefung der EG, nämlich Wirtschafts-und Währungsunion und Politische Union zum Scheitern gebracht; sie hat sogar die Chancen ihrer zukünftigen Verwirklichung weiter gemindert.

Eine Gemeinschaft, die infolge ihres großen Mitgliederkreises geprägt ist von erheblichen Strukturunterschieden und Interessendivergenzen wird zwangsläufig ihren supranationalen Charakter verlieren; die einzelnen Mitgliedstaaten werden eifersüchtiger als zuvor darüber wachen, daß der gemeinschaftliche Entscheidungsprozeß unter nationaler Kontrolle bleibt. Diese faktische Entwicklung steht im Widerspruch zu der Verleihung zusätzlicher Rechte an das Europäische Parlament und läßt seine Bemühungen um vermehrten politischen Einfluß ins Leere laufen. Ähnlich ist es mit der Wirkung der Direktwahl: in einer Gemeinschaft der Zehn oder zukünftig sogar der Zwölf ist die soziale Distanz (wie Umfragen des Euro-Barometers ergeben haben) zu groß, um jenes notwendige Maß an Verbundenheit herzustellen, welches Voraussetzung für eine funktionierende repräsentative Demokratie ist. Damit ist aber auch die Legitimität europäischer Politik, die nicht von den Nationalstaaten kontrolliert wird, in Frage gestellt.

Das Dilemma der heutigen EG ist, daß wir mit den Ergebnissen einer widersprüchlichen Politik konfrontiert sind, die durch einzelne Entscheidungen im Verlauf der siebziger Jahre angelegt wurden. Sie kamen zustande nach dem Prinzip des „muddling-through"; was fehlte, war eine klare Zielvorstellung über den Sinn und das Wesen der Gemeinschaft, die man haben wollte. Diese Unklarheit über politische Ziele wird besonders am Beispiel der Entscheidung über die Süderweiterung der EG deutlich. Sie impliziert eine politische Weichenstellung, ohne daß hierzu eine politische Debatte stattfand. Statt sich auf eine Kontroverse über den Sinn und die politischen Implikationen der Aufnahme der drei südeuropäischen Länder in die Gemeinschaft einzulassen, verschanzte man sich hinter Rechtspositionen: Zum einen bringt man den Verweis, daß nach der Präambel des EWG-Vertrages die Gemeinschaft allen europäischen Staaten offensteht; zum anderen erklärt man, daß der Prozeß der Eingliederung eindeutig geregelt sei, nämlich durch die einseitige Übernahme des acquis communautaire seitens der Beitrittsstaaten. Mit anderen Worten: auch wenn industrielle Schwellenländer wie Spanien und vor allem Portugal, aber auch schon Griechenland und Irland noch so wenig in eine Wettbewerbsgemeinschaft von hochindustrialisierten Staaten hineinpassen mögen, so soll doch die Konstruktion des Gemeinsamen Marktes davon unberührt bleiben; es kann nur akzeptiert werden, daß durch entsprechend lange übergangsfristen eine einseitige Anpassung seitens der Beitrittsländer erfolgt.

Wie wenig realistisch diese Annahmen sind, zeigt das griechische Beispiel. Das Memorandum der griechischen Regierung hat de facto einen Prozeß der Neuverhandlung der Beitrittsbedingungen eingeleitet und Griechenland ist in den zwei Jahren seiner Mitgliedschaft sowohl im Rat der EG wie in der EPZ stets durch seine Sonderrolle aufgefallen. Am Beispiel Griechenlands wie auch schon am Beispiel Großbritanniens wird deutlich, daß die Einbeziehung eines Landes in die Gemeinschaft ein höchst komplexer sozio-ökonomischer Prozeß ist, der auch politisch getragen werden muß bzw. in dem neuen Mitgliedsstaat eine eigene politische Dynamik entfaltet. „Anpassung" ist weder technokratisch zu planen noch zu implementieren.

Zum anderen gestaltet ein neues Mitgliedsland vom Augenblick der Vollmitgliedschaft an die zukünftige Entwicklung der Gemeinschaft mit. Die von den Beitrittsländern unterschriebene „Übernahme des gemeinschaftlichen Besitzstandes" legt zwar bestimmte Spielregeln fest, doch an deren inhaltlichen Ausgestaltung haben die neuen Staaten ebenso Anteil wie die Altmitglieder der EG. Auch sie versuchen verständlicherweise, diese EG nun nach ihren Interessen zu formieren. Somit ist es vielleicht nur noch eine Frage der Zeit bzw.der Aufnahme weiterer Mitgliedsstaaten, ob der Gemeinsame Markt, der einst als wettbewerbsintensiver Binnenmarkt mit liberalem Außenschutz konzipiert war, sich nicht allmählich in eine „Entwicklungsgemeinschaft" verwandelt, die mit interventionistischen Gemeinschaftseingriffen versucht, das regionale Entwicklungsgefälle auszugleichen und durch protektionistischen Außenschutz die strukturschwachen Industrien am Leben zu erhalten.

Statt sich bewußt diesen politischen Optionen zu stellen und eine rationale politische Wahl zu treffen, hat man sich bei seinen Entscheidungen an vorgegebene Formen und Verfahren der Zusammenarbeit gehalten und offensichtlich erwartet, daß die etwas verschwommenen Zielvorstellungen widersprüchlichster Art damit in Einklang zu bringen sind.

Mit jeder Erweiterung wird es schwieriger, die Grundprinzipien des Gemeinsamen Marktes aufrecht zu erhalten. Der damit verbundene Qualitätswandel der EG mag für die einen willkommen, für die anderen — wie beispielsweise die deutsche Industrie — höchst unerwünscht sein. Darüber mag man sich politisch streiten. Für jeden kritischen Beobachter aber muß es bedenklich erscheinen, daß ein solcher Qualitätswandel als quasi implizite Folge einer Entscheidung stattfindet, deren Für und Wider nicht öffentlich diskutiert wurde. Sucht man nach den Motiven für die Einbeziehung der südeuropäischen Länder in die EG, so stößt man auf Erklärungen, die — setzt man sie in ein Ziel-Mittel-Verhältnis mit dem Beitritt — leerformelhaft und diffus bleiben: Festigung der Demokratie in Griechenland, Spanien und Portugal, Stabilisierung des Mittelmeerraumes, Stärkung der europäischen Einigung — sind diese Ziele durch eine Ausdehnung des europäischen Binnenmarktes, durch die Aufnahme der Mittelmeerregion in die gemeinsame Agrarpolitik, durch eine zusätzliche Er-B Weiterung des Mitgliederkreises in der außenpolitischen Kooperation zu erreichen?

Einzelne Wissenschaftler haben sich Gedanken gemacht, welche Rolle die EG für die sozio-ökonomische und politische Entwicklung der Südländer spielen könnte; ob dies den politischen Entscheidungsträgern überhaupt zur Kenntnis gelangt ist, kann bezweifelt werden. Eine umfassende Analyse darüber, welche Folgen die erneute Erweiterung für die Entwicklung der EG haben wird, in welcher Weise sich der Charakter verändern wird und ob eine solche Veränderung überhaupt für wünschbar erachtet wird, gibt es selbst im Bereich der Wissenschaft nicht. Welche Gemeinschaft man in Zukunft haben wird oder haben will, ist eine Frage, die erst noch gestellt werden muß.

Die Antwort kann sich nicht aus einem ökonomischen Kosten-Nutzen-Kalkül oder gar aus der Addition der Vorteile ergeben, die man in den einzelnen Bereichen der Gemeinschaftspolitik — der Agrarwirtschaft, der Regionalpolitik, dem Binnenmarkt etc. — zieht, sondern aus einer Gesamtschau politischer Prozesse, in denen internationale Kooperation und Integration einen spezifischen Stellenwert einnimmt. Es sind unterschiedliche Modellvorstellungen denkbar, in denen sich spezifische politische Leitideen ausdrücken und die unterschiedliche politische Wertvorstellungen verkörpern. Deshalb muß die Aufgabe des Wissenschaftlers sich darauf beschränken, verschiedene Modellentwürfe idealtypisch darzustellen und sie in die Diskussion einzubringen. Es ist dann Aufgabe von Politikern, die Auswahl und damit die Wert-entscheidung zu treffen.

Im Folgenden sollen zwei Modelle mit jeweils unterschiedlichem Wesensgehalt skizziert werden, wobei zur Verdeutlichung eine etwas grobe Typisierung vorgenommen wird.

Europäische Gemeinschaft als „Insel der Stabilität in einer turbulenten Welt"

Diese Vorstellung beruht auf einem Minimal-konsens, der darin besteht, daß man den westeuropäischen Raum als „Sicherheitszone" gestalten möchte, die intern nach den Vorstellungen der beteiligten Staaten auszubauen ist und damit auch zum bevorzugten Handlungsraum würde, und die nach außen eine größere Unabhängigkeit verschafft, weil die einzelnen Nationalstaaten dann nicht mehr unmittelbar mit den weltpolitischen Veränderungen konfrontiert sind.

Stabilität, Kontinuität und Berechenbarkeit wären die obersten Leitprinzipien für eine solche Gemeinschaft.

ökonomisch betrachtet ginge es um die Schaffung eines großen Wirtschaftsraumes, in dem die Prinzipien von Freizügigkeit gewährleistet sind, und in dem störende wirtschaftspolitische Eingriffe der Nationalstaaten auf ein Minimum beschränkt sind, so daß sich dauerhaft eine funktionierende Arbeitsteilung entwickeln kann. Der Preis für die Offenhaltung dieses großen Binnenmarktes für die wettbewerbsfähigeren Anbieter im Innern wird eine stärkere Abschottung gegenüber der Konkurrenz von außen sein und — je nach dem Kreis der Beteiligten — eine gezielte innergemeinschaftliche Entwicklungspolitik. Im politischen Bereich wären die Ziele Herstellung von Systemisomorphie und Garantie politischer Stabilität; mit anderen Worten: Angleichung der gesellschaftlichen und politischen Verfassungssysteme, wobei die Verwirklichung von Demokratie gleichzeitig als Garant stabiler politischer Verhältnisse begriffen wird: Sie erleichtert den friedlichen Wandel und fördert die Herausbildung eines gesellschaftlichen Grundkonsenses. Sie verhindert somit soziale und politische Eruptionen, in deren Folge es zur Machtübernahme beispielsweise ausländisch gesteuerter politischer Kräfte kommen könnte, deren Interessen nicht mit denen der übrigen Westeuropäer zu vereinbaren sind.

Politische Stabilität ist nicht nur eine innergemeinschaftliche Wertgröße, sondern auch aufgrund ihrer möglichen Außenwirkungen von Interesse. Sprunghafte politische Veränderungen, ungeklärte Machtverhältnisse, gesellschaftliche Umbrüche wirken als Unsicherheitsfaktoren in einer Region wie beispielsweise der des Mittelmeerraumes, die ohnehin aufgrund des Nahost-Konfliktes zu einer der heikelsten Konfliktzonen in unmittelbarer Nachbarschaft Westeuropas zählt.

Im internationalen Zusammenhang ermöglicht ein solcher Regionalverband eine kollektive Interessendurchsetzung seiner Mitglieder. Vorbild wäre hier die EPZ, die sich als wirksames Instrument erwiesen hat, um die Positionen, auf die man sich im Kreis der EG-Partner einigen konnte, mit größerem Gewicht nach außen zu vertreten. Für einige Mitgliedsstaaten dient sie zudem als eine Art „Schutzschirm", der es erlaubt, politische Haltungen zu vertreten, die als einzelstaatliche Außenpolitik auf massiveren inneren (z. B. Rüstungsexporte) oder internationalen (z. B. Nahost-Politik) Widerstand stoßen würden.

Eine solche Vorstellung der EG als „Insel der Stabilität" entspricht eher klassischen Konzepten zwischenstaatlicher Konzertierung als denen einer „Politischen Union". Der Zweck der Zusammenarbeit ist formal bestimmt und wird gewährleistet durch die Einigung auf bestimmte Strukturen und Verfahren: wünschenswertes Ergebnis der außenpolitischen Konzertierung ist es, mit einer Stimme zu sprechen; was diese Stimme jedoch sagen wird, bleibt offen. Der Inhalt ist Ergebnis des politischen Prozesses. Eine gewisse Parallelität der Interessen ist wünschenswert, um die Wirksamkeit des Verfahrens sicherzustellen; worin die Interessenübereinstimmung besteht, braucht jedoch nicht inhaltlich festgelegt zu werden. Das Gemeinschaftsinteresse reduziert sich auf den Bestand an Regeln, die für einen reibungslosen Wirtschaftsaustausch und eine effiziente politische Absprache erforderlich sind. Die Verfahren der Entscheidungsfindung sind im wesentlichen zwischenstaatlicher Natur, wohingegen die Implementierung politischer Vereinbarungen supranationalen Charakter haben kann, d. h. die unmittelbare Bindungswirkung europäischen Rechts und der Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor nationalem Recht bleiben erhalten. Eine politische Integration findet nicht statt. Das Europäische Parlament hätte in einem solchen System lediglich die Funktion eines zusätzlichen Indikators politischer Strömun-. gen und Tendenzen innerhalb der Mitglieds-staaten, eines „braintrusts" für europäische Handlungsoptionen sowie eines Multiplikators, der europäische Politik einer breiteren Öffentlichkeit nahebringt und verständlich macht.

Der Vorteil dieses Modells aus der Sicht der Mitgliedsstaaten bestünde darin, daß es die Handlungsfreiheit seiner Mitglieder weniger beschneidet und es damit eine größere Eigenständigkeit und auch Vielfalt der beteiligten Staaten und Gesellschaften erlaubt. Die Gefahr einer solchen Konstruktion läge darin, daß jeder Mitgliedsstaat verleitet sein wird, die europäische Zusammenarbeit als Mittel zur Vergrößerung seiner eigenen wirtschaftlichen und außenpolitischen Handlungsoptionen zu nutzen; eine solche instrumentale Auffassung der Gemeinschaft unterminiert langfristig ihre politische Handlungsfähigkeit und damit auch ihren Nutzen für die Beteiligten. Bei genauerem Hinsehen wird man feststellen, daß dieses Modell der Realität der EG recht nahe kommt.

Die Europäische Gemeinschaft als „Werte-gemeinschaft“

Eine ganz andere Vorstellung von Gemeinschaft ist an die Idee geknüpft, daß sie nicht nur funktional der Erfüllung bestimmter Aufgaben dient, sondern daß es eine europäische Gemeinsamkeit gibt, der durch entsprechende Formgebung Ausdruck zu verleihen ist. Mit anderen Worten: es gibt eine Substanz, die spezifisch europäisch ist, und die zu wahren und gegen gegenläufige Interessen anderer Staaten zu verteidigen das eigentliche Gemeinschaftsinteresse ausmacht.

Worin diese europäische Gemeinsamkeit liegt, hängt vom Standpunkt des Betrachters ab; ihre Interpretation ist notwendig weltanschaulich gebunden. Wenn Adenauer in Zusammenhang mit europäischer Gemeinschaftsbildung von der Sicherung „abendländischer Kultur" sprach, so war dies nicht lediglich eine wahltaktisch geschickte Leerformel, als die sie häufig diskreditiert wurde, sondern eine Sinngebung der europäischen Integration aus seiner Sicht. Vom Standpunkt des oppositionellen SPD-Führers Schumacher wurde eben diese Gemeinschaftsbildung als „klerikales, kapitalistisches Klein-Europa" verworfen. Beide Politiker traten für eine engere europäische Zusammenarbeit ein, aber die unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Positionen trennten sie, wenn es um den Kreis der Beteiligten und die Organisationsform der Kooperation ging. Auch in der Gegenwart kann kein neutrales Konzept entwickelt werden; jede Definition der spezifisch europäischen Interessen ist Parteinahme, ist geprägt von einem gesellschaftspolitisch gefärbten Grundverständnis von Politik. An zwei Beispielen soll dies verdeutlicht werden:

Seit einiger Zeit ist die Diskussion um eine bessere Wahrung der besonderen europäischen Sicherheitsinteressen im Gange. Worin aber liegt die europäische Gemeinsamkeit in Sicherheitsfragen? Technokratisch betrachtet ist die komplexe Verflechtung unseres technologisch hochentwickelten Wirtschaftssystems sowie die hohe Importabhängigkeit von produktionsnotwendigen Rohstoffen und Energie bestimmendes Merkmal aller westeuropäischen Länder. Aus dieser Sicht sind internationale Konflikte auch fernab von Europa für unsere ökonomische Sicherheit un-B mittelbar relevant, und es liegt im gemeinschaftlichen Interesse, die Störanfälligkeit der europäischen Volkswirtschaften infolge ausländischer Einflüsse geringzuhalten. Konkret heißt dies, daß der Bedrohung der wirtschaftlichen Sicherheit durch eine Lieferunterbrechung oder sprunghafte Verteuerung von Rohstoffen wie im Fall des OPEC-Kartells durch die Entwicklung gemeinsamer Sanktionsinstrumente und deren koordinierten Einsatz bis hin zur Entsendung von militärischen Eingreiftruppen Paroli zu bieten ist Eine ganz andere Sichtweise von europäischer Gemeinsamkeit in Sicherheitsfragen wird offenkundig, wenn man sich unter Verweis auf die Grundidee funktionalistischer Integration darauf beruft, daß nicht Macht, insbesondere nicht die Verfügung über militärische Gewaltmittel der beste Weg zur Sicherung des Friedens ist, sondern der Abbau von Konfliktpotentialen im Wege friedlichen Wandels sowie die Förderung internationaler Verflechtung, die wechselseitige Abhängigkeit und damit auch gemeinsame Interessen schafft. In eine solche Konzeption fließen typisch europäische Erfahrungen ein; einmal die der europäischen Einigungspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg, die in erster Linie eine Friedenspolitik war, und zum anderen die historische Erfahrung eines engen Zusammenlebens mit Nachbarstaaten, die nicht die eigenen Werte teilen und mit denen trotzdem ein friedliches — oder zumindest gewaltfreies — Nebeneinander organisiert werden muß. Zugrunde liegt ein soziologisches Verständnis von Sicherheit, das Konflikte nicht als Ausdruck politischer Machtkämpfe, sondern als Ergebnis komplexer sozialer Prozesse begreift. Entsprechend wird nicht eine Sanktionspolitik, sondern die internationale Kooperation als angemessenes Mittel der Sicherheitspolitik begriffen, wobei es weltweit um die Befriedigung sozialer Grundbedürfnisse und die gerechte Verteilung von Entwicklungschancen geht.

Es ist unschwer zu erkennen, daß sich diese beiden Interpretationen von europäischen Sicherheitsinteressen parteipolitischen Positionen zuordnen lassen. Die Frage nach der europäischen Besonderheit, nach dem Gemeinschaftsinteresse ist eben nur politisch kontrovers zu diskutieren. Dies gilt auch für ein zunächst so unpolitisch erscheinendes Thema wie die technologische Herausforderung.

Wird sie begriffen als ein Problem von wissenschaftlich-technischer und wirtschaftli19 eher Effizienz, dann gilt es, die traditionell hohe Leistungsfähigkeit Europas zu bewahren und dementsprechend jene Hemmnisse zu beseitigen, die durch die geringe Größe der nationalen europäischen Forschungshaushalte, die Beschränkungen öffentlicher Auftragsvergabe und die mangelnde Abstimmung auf beschränkten Absatzmärkten bedingt sind.

Wird sie hingegen als sozio-ökonomische Herausforderung betrachtet, die mit Problemen sozialer Akzeptanz, gesellschaftlicher Strukturveränderung und einem Wandel politischer Rahmenbedingungen verbunden ist, so wird man die Gemeinsamkeit in der europäischen Tradition bei der Bewältigung solcher Aufgaben im Sinne sozialer Verantwortung sehen — eine Tradition, die durch Humanismus, Liberalismus und eben auch eine 100 Jahre alte Arbeiterbewegung und auch obrigkeitsstaatliche Sozialgesetzgebung geprägt ist, die ihren Niederschlag in gesellschaftlichen Strukturen und Wertvorstellungen gefunden hat, die weder mit denen der USA noch Japans vergleichbar sind.

Auch hier sind offenkundig die unterschiedlichen Positionen modellhaft überzeichnet. Dies ist jedoch erforderlich, um bewußtzumachen, daß eine neue Zielbestimmung europäischer Zusammenarbeit in einer politischen Auseinandersetzung gefunden werden muß. Damit sind die politischen Kräfte der Mitgliedsstaaten aufgerufen, Vorstellungen über den Sinn und Inhalt einer Europäischen Gemeinschaft zu entwickeln; es müssen neue Ziele und Methoden der Zusammenarbeit festgelegt und auch der Kreis der Beteiligten neu bestimmt werden. Wer aber ist am besten geeignet, diese Aufgabe zu erfüllen?

In einem seiner jüngsten Artikel vertritt H. Stadlmann die Auffassung, daß diese Aufgabe den Staats-und Regierungschefs zukäme. Verfolgt man die Verfassungsinitiative des Europäischen Parlamentes, so ist dieses offensichtlich der Überzeugung, daß das Parlament als rechtlich aufgewertetes Verfassungsorgan der EG diese Rolle zu erfüllen hätte. Beide Ansätze sind nicht erfolgversprechend. Am besten geeignet erscheinen vielmehr jene Kräfte, die die drei folgenden Eigenschaften aufweisen: — die ein Eigeninteresse daran haben, den Bereich europäischer Gemeinsamkeiten abzustecken; — die es gleichzeitig gewohnt sind, angesichts weltanschaulich bestimmter Optionen Partei zu ergreifen und übergreifende Wertvorstellungen programmatisch umzusetzen; — deren berufliches und persönliches Schicksal daran gebunden ist, daß sie auch eine öffentliche Resonanz für ihre Ideen finden. Mit anderen Worten: Die Fraktionen des Europäischen Parlamentes. Sie sind aufgerufen, die Debatte um die Zukunft der Europäischen Gemeinschaft zu entfachen. Sie müssen diese Debatte in die Parteien und in die politische Öffentlichkeit in den einzelnen Mitglieds-staaten hineintragen, denn nicht juristische Kompetenzen, sondern der breite politische Konsens der europäischen Bevölkerung ist Grundlage dafür, daß die europäische Gemeinsamkeit — wie immer sie definiert wird — auch in politischem Handeln ihren Ausdruck findet.

Um auf die Ausgangsfrage zurückzukommen, ob die EG noch zeitgemäß ist: Eine Europäische Gemeinschaft ist höchst zeitgemäß, EG und EPZ in ihrer gegenwärtigen Verfassung sind es dagegen nicht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. H. Stadlmann, Die Zukunft der Europäischen Gemeinschaft nach dem Fehlschlag von Athen, in: Europa-Archiv, (1984) 2, S. 35— 42.

Weitere Inhalte

Beate Kohler, Dr. rer. pol., geb. 1941; Studium der Wirtschaftswissenschaften und Politikwissenschaft an den Universitäten Köln und Kansas, USA; 1969 bis 1972 Leiterin des Instituts für Europäische Politik; seit 1972 Professor für Politikwissenschaft an der Technischen Hochschule Darmstadt, 1977/78 Gastprofessor an der Johns Hopkins University, Centre for Advanced International Studies, Bologna. Veröffentlichungen u. a.: Die europäische Gemeinschaft: Die EG vor der Süderweiterung, in: Die Internationale Politik, München 1982, S. 163— 177; Decisionmaking in an enlarged Community, in: Southern Europe and the Enlargement of the EEC, Lissabon 1982; Political Forces in Spain, Greece and Portugal, London 1982; Handlungsspielräume der Europäischen Gemeinschaft im Lichte aktueller innergemeinschaftlicher und weltwirtschaftlicher Probleme, in: H. J. Petersen (Hrsg.), Die Beziehungen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und Lateinamerika, Baden-Baden 1983, S. 179— 196.