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Zukunftsängste und pluralistische Demokratie | APuZ 35-36/1984 | bpb.de

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APuZ 35-36/1984 Wer wählt grün? Zum Profil der neuen Linken in der Wohlstandsgesellschaft Zukunftsängste und pluralistische Demokratie Entwicklungen der politischen Sozialisation Erforschung und Bedeutung für die Politische Bildung Betriebliche Vermögensbeteiligung. Zum Beitrag von Hans-Cünter Guski /Hans J. Schneider, Betriebliche Vermögensbeteiligung — ein Ausweg?, B 28/84, S. 3— 14

Zukunftsängste und pluralistische Demokratie

Heinz Theisen

/ 24 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Flut negativer Zukunftsprognosen seit dem ersten Bericht des Club of Rome 1972 hat Wirkung gezeigt. Mehr noch als die schon gegenwärtigen Krisen unserer Zeit tragen die prognostizierten Krisen der Zukunft zur Entstehung weitverbreiteter Ängste bei. Diese Zukunftsängste werden von neuen politischen Bewegungen zum Teil vehement artikuliert, wodurch bei vielen wiederum Ängste um den Bestand der freiheitlichen Demokratie ausgelöst werden. Diese doppelten Ängste drohen sich wechselseitig zu verfestigen und damit einer konstruktiven Bewältigung der Krisen im Wege zu stehen. Es wäre aber fatal, wenn die Ängste um das „Schicksal der Erde" und die Ängste um den Bestand der Demokratie kollidierten, weil nur eine selbst-sichere pluralistische Demokratie die nötige Lernkapazität für innovatorische Lösungen hat Diese grundsätzliche Lernfähigkeit gilt es allerdings auch zu nutzen. Wenn es nicht zu einer Aufspaltung unserer Gesellschaft in zwei feindliche Kulturen kommen soll, muß zunächst ein Konsens über die vordringlichen Gefahren von Gegenwart und Zukunft hergestellt werden. Da es bei Überlebensfragen keine sinnvollen Interessenkonflikte geben kann, handelt es sich hierbei primär um eine intellektuell-politische Aufgabe, der sich auch der Staat als Mitakteur nicht entziehen kann. Dieser noch zu schaffende Problemkonsens in Überlebensfragen wäre ein Ausgangspunkt für das Bemühen um eine aussichtsreichere Zukunftsbewältigung.

I. Gefühlsgeleitete Angst und lebenserhaltende Furcht

Die zahlreichen prognostizierten Gefährdungen unserer Zivilisation haben Angst vor der Zukunft erzeugt. Diese Angst kann lähmend wirken und Extremismus hervorbringen, sie kann aber auch zum konstruktiven Denken und Handeln anregen. Es ist ein Politikum geworden, die den Gefahren und ihrer Bewältigung angemessene Form der Angst zu finden. Existentielle Ängste gehören zur Grund-befindlichkeit des Menschen. Bei den politischen Tod Ängsten geht es aber nicht oder Zerstörung an sich, sondern um Tod und Zerstörung, die von Menschen verursacht werden.

Zunächst gilt es, zwischen Angst und Furcht zu unterscheiden, wobei die Angst als unbestimmtes Gefühl, die Furcht als gegenstandsgebunden gilt. Das unbestimmte Gefühl der Angst kann sich auf die allgemeine existentielle Situation des Menschen, aber auch -zu nehmend auf die unüberschaubare komplexe Welt des Politischen beziehen. Die besondere Brisanz der heutigen Angststimmung liegt wohl in einer Vermischung und Addierung dieser Ängste, zu der sich noch die konkrete Furcht vor einzelnen Bedrohungen der wissenschaftlich-technischen Welt gesellt.

Im heutigen politischen Sprachgebrauch werden die Begriffe Angst und Furcht meist synonym gebraucht, weil die Tatbestände, auf die sie sich beziehen, oft ineinander übergehen und eine strikte Unterscheidung deshalb nicht mehr möglich ist. Die gefühlsgeleitete allgemeine Angst kann durchaus konkrete Ursachen haben und rational sein. Sie ist als Vorstufe der notwendigen konkreten Furcht vor den Zukunftsgefahren bedeutsam.

In der Antike wurde zwar die Furcht thematisiert, nicht aber die Angst. Das Ganze der Welt, der Kosmos, galt als vom Guten getragen, so daß ein grundlegendes Weltvertrauen eine unbestimmte Weltangst nicht aufkom-

men ließ. Weltangst trat erst mit dem Früh-christentum auf. Den Frühchristen galt die Welt als vom Göttlichen abgefallen, so daß das Dämonische und Dunkle herrsche. Diese Angst konnte aber durch den Glauben über-

wunden werden. Da es noch keine stabilen Gewaltmonopole gab, war die Unsicherheit des einzelnen vor dem anderen weitaus größer als heute. Die Abhängigkeit von der Natur wurde fatalistisch ertragen.

In späteren Zeiten der Entwurzelung, etwa bei der Entwicklung einer Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft oder der Kolonisierung urwüchsiger Bevölkerungsgruppen griffen Angst und Unsicherheiten dagegen allgemein um sich Es konnte Generationen dauern, bis Anpassung und neue Identitätsfindung gelangen.

Mit der Säkularisierung und Aufklärung trat das christliche Angstbewußtsein in den Hintergrund Der Glaube an Vernunft und Fort -schritt der Menschheit prägte zunehmend das Denken der Menschen. Schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde allerdings das unbedingte Vertrauen in Vernunft, Wissenschaft und Fortschritt vereinzelt in Frage gestellt. Die Problematisierung des Fortschritts ging oft mit tiefgründigem Pessimismus einher und erzeugte mitunter apokalyptische Ängste, die durch den religiösen Glauben immer weniger aufgefangen werden konnten.

Alle modernen Denker, für die die Angst ein Grundproblem darstellt, gehen zunächst von gegenstandsloser Weltangst aus. Mehr und mehr jedoch wird die Angst als Furcht konkretisiert, verweben sich existentielle Ängste etwa mit der Furcht vor der Atombombe. Für Kierkegaard, Heidegger, Sartre und Jaspers ist Angst ein Hauptthema. Kierkegaard deutet die Weltangst als Angst vor der Freiheit der selbstverantwortlichen Lebensgestaltung, Heidegger stellt die Angst als Angst des „Inder-Welt-Seins" überhaupt heraus und konkretisiert sie als Angst vor dem Tode. Für Sartre ist die Angst Auslöser des verantwortlichen Handelns und kann nur durch Handeln überwunden werden. Sie gilt als Durchgangsstation zu einer zu erringenden Geborgenheit im Sein. Jaspers hält die Angst für einen Grundzug des erwachten Menschen; das Dasein scheine überhaupt nichts als Angst zu sein Vor allem Rationalisierung und Universalisierung der Daseinsordnung macht er verantwortlich für ein Bewußtsein der Angst vor dem Ende, worum zu leben es sich lohnt Uns müsse aber die Angst bleiben, die sich in „aktive Sorge" umsetzt

Bis in die siebziger Jahre hinein blieb es weitgehend Einzelgängern Vorbehalten, politische Ängste zu thematisieren. Erst mit der Flut düsterer Zukunftsprognosen, die 1972 mit dem ersten Club-of-Rome-Bericht einsetzte, griffen die Ängste immer weiter um sich, vor allem bei der politischen Linken. Aufgrund der Zukunftsgerichtetheit linken, progressiven Denkens mußte der Umbruch vom Fortschrittsglauben zu Katastrophenerwartungen besonders weitgehende Konsequenzen haben: Das bisherige Denken der radikalen Linken, welches nach dem Ende der zu besonderen Schrecken gesteigerten Form der alten Gesellschaft die Heraufkunft der vollkommenen Gesellschaft erwartete, mußte angesichts der nun möglich gewordenen neuen Schrekken absurd wirken.

Wahrscheinlich war der Pessimismus vieler Linker besonders groß, weil ihre vormaligen Hoffnungen besonders überzogen waren. Von der erhofften perfekten Gesellschaft wandte man sich jetzt der perfekt düsteren Vision zu malte negative Utopien aus und vergaß dabei oft wieder die unauflösbaren Widersprüchlichkeiten und Widerstände, die einem einseitigen Trendverlauf entgegenstehen.

Gesamtgesellschaftlich breitete sich zunehmend das Gefühl aus, an Grenzen zu stoßen. Die Erfahrung der Grenze scheint im übrigen zu einem Grunderlebnis unserer Zeit zu werden; sie ist gleichbedeutend mit der Erfahrung vom Ende zwangsläufigen Fortschritts. Wenn man an eine Grenze stößt, kann es kein Weiterschreiten auf diesem Gebiet mehr geben. Schreitet man dennoch voran, so erweckt dieses Handeln massive Ängste vor seinen Folgen. Insofern ist es nur folgerichtig, daß ausgerechnet im Augenblick ihrer größten Ausdehnung die Industriegesellschaften das Vertrauen in ihre Zukunft verlieren.

Die weitverbreitete Annahme vom Ende der Möglichkeit weiteren Fortschreitens muß in einer Gesellschaft, deren Grundprinzip immerwährendes Fortschreiten war, zu einer völligen Umorientierung führen, hinter der angstvoll Instabilität, Chaos und Zusammenbruch gesehen wird. Die Ängste der Gegner des quantitativen Fortschreitens richten sich einerseits gegen die Ergebnisse des Fortschritts, entstehen aber andererseits aus der verlorenen Gewißheit eines wertorientierten Fortschritts zum Besseren hin. Hier fällt eine Hoffnung, ja sogar oft der Glaube an ein sinn-gebendes Prinzip der Geschichte fort, die dem einzelnen nun die Komplexität und zunehmende Bedrohlichkeit der Welt ohne strukturierendes Prinzip aufbürdet Diese Entstrukturierung wurde im sozialen Bereich zusätzlich durch den Empanzipationsprozeß forciert, der die Menschen zwar aus fesselnden gesellschaftlichen Strukturen befreite, zugleich aber dazu tendierte, Strukturen und Bindungen überhaupt zu zerstören. Der Prozeß der sozialen Modernisierung war immer auch ein Prozeß der Entstrukturierung. Strukturen stellen aber nicht nur Behinderung und Zwang dar, sondern auch Schutz

Die soziale und geistige Entstrukturierung erzeugt massive Unsicherheit über die eigene Identität, über Sinn und Wert des Handelns ohne vorgegebene Werte. Der Verlust des Gottes-und des Fortschrittsglaubens, der die Verantwortung für alle Handlungen uns selbst überläßt und der das Ende des individuellen Lebens zwangsläufig als das Ende aller Zeiten erscheinen läßt, verurteilt den Menschen in einer offenen Gesellschaft dazu, frei zu sein Dieses Bewußtsein erhebt das Ziel des Überlebens zur Grundforderung der Existenz überhaupt, was vorher nicht der Fall sein mußte. Doch wo Leben im biologischen Sinne alles bedeutet und mit dem Tod alles zu Ende ist, wird das überleben zur letzten und nicht mehr hinterfragbaren Kategorie, ein Sachverhalt, der der Auseinandersetzung um den möglichen Untergang eine zusätzliche Brisanz verleiht. Der apokalyptische Ton heutiger Ängste gewinnt seinen Pathos und seine Dramatik daraus, daß im Atomzeitalter nicht mehr nur einzelne Menschen, Länder oder Kulturen, sondern die gesamte Menschheit als sterblich gilt Nach der heutigen Apokalypse wartet weder das Reich Gottes noch die Verwirklichung einer weltlichen Utopie auf die Geängstigten. Die Menschheit ist erstmals konfrontiert mit einer „nackten Apokalypse," die im reinen Untergang besteht

Angesichts dieser dramatischen Perspektive ist es eher verwunderlich, daß die Angst noch keine größeren Ausmaße angenommen hat. Günter Anders führt dies darauf zurück, daß die Gefahr verharmlost wird. Zudem überschreite die reale Bedrohung die mögliche Kapazität unserer Auffassung; die Gefahr bleibe gerade aufgrund ihrer Universalität kontrast-und gestaltlos Wir müssen, so Dieter E. Zimmer, erst unsere Phantasie anstrengen, um das ganze Ausmaß der Gefahr eines Atomkrieges uns vergegenwärtigen zu können, um zu einem realistischen Angstverhalten zu finden. Wenn nämlich die Balance zwischen Angst und Gefahr nicht mehr gegeben ist, wird der Untergang möglicher und wahrscheinlicher. Die Evolution hat Angst als zweckmäßig hervorgebracht Sie soll als Schutz vor Gefahren dienen

Unser Angstverhalten ist deshalb unrealistisch, weil wir uns etwas, was im Rahmen unserer Möglichkeiten liegt nicht vorstellen wollen. Daß hierbei weder der Egoismus des einzelnen noch das Gefühl der Zusammengehörigkeit einer Gruppe eine Rolle spielt, ist ein so ungewöhnliches Phänomen, daß es als ein bedeutsames Element der durch die atomare Bedrohung geschaffenen Situation betrachtet werden muß Jonathan Schell sieht die Verdrängung der gewichtigsten Realität unserer Zeit als Krankheit; die Normalität offenbare sich als eine Art Massenwahn Wenn die instinktive Angst und die kalkulierende Furcht nicht mehr ausreichen, muß das Wissen um die Möglichkeiten zu einem Ab-* schreckungsmittel werden. Das Wissen um das „Gleichgewicht des Schreckens" hat uns lange Zeit vor einer Katastrophe bewahrt. Das Gleichgewicht des Schreckens war ein System der balancierten Angst. Das Wissen um die zweifelhafte Möglichkeit einer dauernden Stabilisierung dieses Gleichgewichts muß unser Nachdenken auf neue Optionen ausrichten. „Mit der Bombe leben“ ist auf Dauer kein Programm für angstfähige Wesen.

Es geht daher heute um ein realistisches Maß an gefühlsgeleiteter Angst und damit auch um eine der Bedrohung angemessene lebens-erhaltende Furcht. Unnötige Ängste zu erzeugen, wie es in Wahlkämpfen aus vergleichsweise nichtigen Anlässen üblich ist, ist verantwortungslos. Der Verweis auf Sachzwänge, der die Suche nach Auswegen allzuschnell unterbindet, führt, ebenso wie unterdrückte, nicht artikulierte Ängste zur Verzweiflung. Eine öffentliche Angstverdrängung züchtet neurotische Ängste und führt zu irrationalen privaten Bewältigungsversuchen der Angst.

Wir können unterscheiden zwischen einem pessimistischen, passiven, privatistischen und damit unpolitischen Angstverhalten, welches immer tiefer in die Verzweiflung führt und gerade von unseren jüngeren Dichtern seit einigen Jahren kultiviert wird, und einem politischen und damit prinzipiell hoffnungsvollen Verhalten. Die bewußte Kenntnisnahme der düsteren Zukunftsprognosen verleitet nicht zu Passivität und Fatalismus. Vielmehr zeigen gerade diejenigen Jugendlichen ein starkes Engagement, die die Bewältigung der Zukunftsfragen als fast aussichtslos einschätzen. Diese existentialistische Wendung läßt die übliche Zuordnung von Pessimismus und Passivität und Optimismus und Aktivität im politischen Bereich als zu vordergründig erscheinen. Den geforderten „Mut zur Zukunft“ im aktiven, gestalterischen Sinne scheinen eher die sogenannten Pessimisten aufzubringen

Optimismus bezüglich des Verlaufs der Ereignisse findet man heute vornehmlich in konservativ-technokratischen Kreisen, die den traditionellen Pessimismus des Konservatismus abgelegt haben. Diese Vertauschung der Rolle mit den vordem optimistischen Linken resultiert aus der veränderten Bewertung des Fortschrittsprozesses Die konservativ-technokratischen Kräfte halten den wissenschaftlich-technischen und ökonomischen Selbstlauf des Fortschritts weiterhin für notwendig, möglich und vertretbar und wollen nur in vergleichsweise geringem Maße in diese Prozesse steuernd eingreifen. Sie sehen, außer im kulturellen Bereich, keine ernste Krise des Fortschritts.

Krisen-und Kataströphendenker argumentieren dagegen damit, daß die Fortschrittsprozesse weitgehend ungesteuert verlaufen und sehen als Ergebnis dieser Prozesse Katastrophen auf uns zukommen. Schon der Kulturpessimismus der Zwischenkriegszeit gründete auf der Annahme, daß aus dem Hin und Her des Entwicklungsprozesses nicht weiterer Fortschritt, sondern Niedergang hervorgeht. Die angenommene Zwangsläufigkeit dieses Verlaufs durch den Kulturpessimismus ist zu recht oft kritisiert worden, weil sie das unberechtigte Gefühl von Ausweglosigkeit erzeuge.

Das heutige Katastrophendenken wendet sich fast immer gegen jedwede Annahme von Zwangsläufigkeit. Es basiert vornehmlich auf der grundlegenden Einsicht von der Ambivalenz des Fortschritts. Die Neben-und Spätfolgen des Fortschritts werden nicht nur als störende Randerscheinungen der Entwicklung, sondern als bedrohliche, diesen Tendenzen inhärente Widersprüche gesehen. Dabei wird positiven eine Unterscheidung nach und negativen Fortschritten immer schwieriger. In der hoffnungsvollen Wendung gegen die Zwangsläufigkeit liegt eine Chance. Je ungünstiger die Prognose, desto stärker ist in der Regel der Appell an die Hoffnung, die keine Einschätzung der Zukunft darstellt, sondern den Willen, diese trotz allem zu bestimmen

Eine pluralistische Demokratie muß von verbreiteter Angst und Furcht besonders betroffen sein, weil die Stimmungen und Erwartungen der Bürger entscheidenden Einfluß auf die Gestaltung der Politik haben. In Demokratien darf Angst artikuliert werden. Der beständige innere Wandel einer Demokratie erzeugt eine latente Unsicherheit. Zudem versuchen die Parteien, ihre Gegner durch die Mobilisierung von Ängsten ins Unrecht zu setzen, um Mitarbeit für ihre eigenen Zielsetzungen zu erreichen und vergrößern dadurch das Angstpotential.

Die in Diktaturen übliche positive Selbstdarstellung des Systems ist in den unabhängigen Medien der Demokratie eher die Ausnahme, da hier die Medien dazu tendieren, zu betonen, was nicht normal ist. Die allgemeine Informationsflut zwingt fast zur Dramatisierung, wenn man für bestimmte Anliegen noch Aufmerksamkeit erreichen will Gleichwohl ist dieser Dauerkritizismus der Medien in einer freien Gesellschaft nicht nur unvermeidbar, sondern auch unverzichtbar, wenn neue Wege und Möglichkeiten gefunden werden sollen. Dabei ist es jedoch wichtig, daß auch die wirklichen Gefahren der Zukunft thematisiert werden. Falsch hingegen wäre es, durch ein oberflächliches Gemäkel an diesem und jenem ein diffuses Unbehagen an der Demokratie zu erzeugen, welches sich gewöhnlich vor allem gegen die liberalen Komponenten des Staates zu richten pflegt Ein dumpfes, undeutlich artikuliertes Unbehagen gefährdet lediglich die Freiheit, trägt aber nicht zur Lösung der Probleme bei. Nur die freiheitliche Demokratie aber besitzt die nötige Lernkapazität für innovatorische Lösungen. Keinesfalls darf eine „Furcht vor der Freiheit" oder gar ein Gefühl der Ausweglosigkeit erzeugt werden Nötig scheint es dagegen,konkrete Furcht vor den wirklichen Zukunftsgefahren zu wecken.

Leider stoßen die primären Ängste, wie etwa die vor der Kernenergie, und die sekundären Ängste, — z. B. vor den Aktionen gegen die Kernenergie — beständig aufeinander Auf diese Weise droht sich die Angst im innenpolitischen Kontext ähnlich zu stabilisieren, wie es bereits im internationalen Rahmen geschehen ist In der Wirkung fatal aber ist es, wenn die Ängste um den Erhalt der Welt und die Ängste um den Bestand der Demokratie kollidieren. Ein neuer Problemkonsens muß daher vor allem auch einen Konsens über die Berechtigung, die . Rangskala'der Ängste und schließlich konkrete Furcht vor den vordringlichen Gefahren hervorbringen. Aus allgemeiner, gefühlsgeleiteter Angst muß dann konkrete und konstruktive Furcht werden, die die von der Angst erzeugte Nachdenklichkeit in konkrete politische Arbeit umzusetzen weiß und damit die Grundlage für eine angemessene Gegensteuerung gegen die befürchteten Bedrohungen schafft.

II. Fundamentalpolarisierung oder neuer Problemkonsens?

Für die klassischen Konfliktursachen der Positions-, Status-und Rollendifferenzen in den sozialen Bezügen, d. h. für unterschiedliche Interessen und Ziele sozialer Akteure, Knappheit von Mitteln und gesellschaftliche Strukturen ist ein Konsens nicht entscheidend. Nötig ist vor allem ein Problemkonsens hinsichtlich der Überlebensprobleme der Zukunft, die den nötigen Fundamental-konsens über Werte und Spielregeln der Demokratie nicht ausideologischen und interessengeleiteten Motiven, sondern vielmehr aufgrund von inhaltlichen Differenzen bezüglich einzelner, als dramatisch empfundener Gefahren in Frage stellen. Bezüglich solcher Probleme muß ein inhaltlicher Minimalkonsens (Problemkonsens) vorhanden sein, weil existenzbedrohende Handlungen oder Nicht-handlungen nicht durch den bei geringfügige-ren Konflikten tragfähigen Mechanismus des Mehrheitsverfahrens und des materiellen Kompromisses allein bewältigt werden können. Der Konflikt über unterschiedliche soziale Interessen und Ziele der Akteure kann nicht mit einem Konflikt etwa über atomare oder nicht-atomare Verteidigung verglichen werden. Diese Art von Überlebenskonflikt hat eine andere Dimension. Er spitzt sich zu in Ja-Nein-Alternativen. Im Grenzfall der Ja-Nein-Alternative bemißt sich ein sozial produktiver und politisch positiver Kompromiß am Prinzip der Zumutbarkeit. Der Kompromiß muß in einem solchen Fall der unterliegenden Minderheit zumutbar sein.

Selbst materielle Probleme können angesichts der ökologischen Frage nicht mehr nur'nach dem Prinzip des Ausgleichs, der lange Jahre in einem Mehr für alle Konfliktparteien bestand, bewältigt werden. Angesichts der quantitativen Grenzen des Wachstums und der Weltwirtschaftskrise, vor allem aber angesichts unserer Macht, auch die Interessen künftiger Generationen (die ihre Interessen aber z. Zt. nicht artikulieren können) zu beschädigen, ist. sowohl innerstaatlich als auch im internationalen Rahmen eine neue Kompromißethik erforderlich.

In dieser Argumentation geht es nicht um das klassische Konsensprinzip, denn die neuen Inhalte können nur aus den gesellschaftlichen Konflikten hervorgehen. Das Gemeinwohl ist nicht vorgegeben, sondern ein Produkt der gesellschaftlichen Kräfte. In dem Wunsch nach einem vorgegebenen Konsens zeigt sich Vertrauen in überlieferte Wertsetzungen oder sogar in die Rationalität staatlicher Wertsetzungen. Für ein solches Vertrauen läßt sich kein Grund finden, zumal die neuen Probleme und Herausforderungen primär im gesellschaftlichen und nicht im staatlichen oder halbstaatlichen Bereich aufgegriffen worden sind. Für die Bewältigung der Zukunftsprobleme scheint daher „mehr Demo-kratie" in Form gesellschaftlicher Aktivitäten geboten

Die grundlegende Unterscheidung der pluralistischen Theorie nach einem kontroversen und einem nicht-kontroversen Sektor in der Gesellschaft (Ernst Fraenkel) gewinnt allerdings bezüglich der Zukunftsprobleme eine neue Bedeutung. Überlebensfragen können nicht in gleicher Weise als kontroverser Sektor betrachtet werden wie etwa Verteilungsprobleme, weil es hierbei sinnvollerweise keine Zielkonflikte geben kann. Auch im Streit um den Grad der Bedrohlichkeit und um die einzuschlagenden Wege können keine Interessengegensätze, sondern lediglich rationale Abwägungen gewichtet werden. Das pluralistische Modell wird bezüglich dieser Fragen zunehmend auf seine Funktion als Erkenntnismodell zurückverwiesen Die Vernunft als das erwünschte Ergebnis des Wettstreits der Gedanken und Positionen wird in nie gekanntem Ausmaß gefordert sein. Der pluralistischen Gesellschaft stellt sich die Aufgabe, einen neuen Minimalkonsens bezüglich der Überlebensprobleme zu finden. Dieser Minimalkonsens ist aber nicht mit der konservativen Sehnsucht nach der „Gemeinsamkeit des Wollens" zu verwechseln. Hier geht es vornehmlich nur um einen Problemkonsens. Bezüglich einiger Probleme muß man sich darüber einig werden, was man auf keinen Fall will. Daß sich an der Mitarbeit an diesem neuen Problemkonsens viele Individuen und Gruppen unserer Gesellschaft beteiligen, muß als Chance begriffen werden, vorausgesetzt, der Pluralismus wird ernst genommen. Was aber macht die Erzielung dieses Problemkonsenses so schwierig? Obwohl die Gemeinsamkeit des Ziels, in Würde zu überleben, doch praktisch unumstritten ist, drohen die akuten Herausforderungen und Gefährdungen keineswegs zu einem Minimalkonsens bezüglich dieser Probleme zu führen, sondern unsere Gesellschaft in zwei zunehmend unversöhnliche Lager zu zerreißen.

Einen Erklärungsversuch hierfür liefert Karl Dietrich Bracher. Danach resultiert das Besondere und zugleich Paradoxe der gegen-wärtigen Auseinandersetzungen daraus, daß zwei verschiedene Zeitgeschichten nahezu gleichstark unmittelbar auf unser politisches Bewußtsein einwirken. Die Erfahrungen der Zwischenkriegszeit seit 1917/18 und der Nachkriegszeit seit 1945 bzw. 1949/50 hätten, so Bracher, eine Doppelbödigkeit des politisehen Bewußtseins geschaffen, die sich besonders in den unterschiedlichen Erfahrungen und Anschauungen der Generationen wiederfindet Während die ältere Generation von den Ängsten vor totalitären Systemen, vor der Zerstörung der Demokratie, vor Mangel, Armut und oft sogar Hunger getrieben wird, nimmt die jüngere Generation vorwiegend die tatsächlichen oder auch möglichen Zerstörungen der Lebenswelt durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt wahr. So entspricht konkret der Angst vor dem Kommunismus bei der älteren Generation die Angst der jüngeren vor der Eigendynamik des Rüstungswettlaufs und der möglichen Zerstörungskraft moderner Waffen Man findet hier geradezu eine Spezialisierung auf bestimmte Ängste bei den Generationen vor. Der Konflikt zwischen „Realpolitik" und Jugendprotest ist in dieser Spezialisierung und dem daraus folgenden Krisenbewußtsein angelegt. Auf seinen Kern reduziert geht der Streit oft nur darüber, wessen Ängste nun die vordringlicheren sind. Sind es die Ängste um die Stabilität der Demokratie, vor der sowjet-kommunistischen Bedrohung, vor Mangel und Armut oder sind es die Ängste vor der Eigendynamik des Rüstungswettlaufs, vor den Grenzen des Wachstums und vor den Grenzen der Belastbarkeit der Ökosphäre? Betrachtet man sich die Ängste der älteren Generation näher, so verliert die beliebte Kennzeichnung der Friedensbewegung als Angstbewegung an Glaubwürdigkeit Hierbei stehen vielmehr Ängste gegen Ängste, wobei längst die herkömmlichen Ängste eine politische Umsetzung erfahren haben und daher weniger herausgestellt werden. Die neuen Ängste kämpfen dagegen noch um ihre Anerkennung. Sie fordern aber auch neue Lösungen, die mit den bisherigen Lösungen kolli-dieren, wie beispielsweise eindeutig beim Streit um die Priorität von Ökonomie oder Ökologie, aber auch beim Streit um die Rüstungspolitik. Gerade diese Kollision verleitet dazu, die Ängste des anderen nicht ernst zu nehmen. Es kommt zu einer Spezialisierung auf bestimmte Ängste, während die des Gegners als Ursache der Steigerung der Bedrohung gedeutet werden. So werden die Umweltzerstörung auf den Wachstumsfetischismus, das Wettrüsten auf den Antikommunismus, umgekehrt die Wachstumsschwächen auf den Umweltfetischismus und die Steigerung der sowjetischen Bedrohung auf den mangelnden Verteidigungswillen zurückgeführt. Die Ambivalenz des Fortschritts findet ihre politische Entsprechung in der Zuspitzung in Ja-Nein-Alternativen und in der Aufspaltung unserer Gesellschaft in zwei Kulturen, wodurch ein Kompromiß immer schwieriger wird. Diese Polarisierungstendenzen sind auch ein Ausdruck des wachsenden Unwillens, gegensätzliche Gesichtspunkte geistig zu verarbeiten und zu integrieren. Das offenkundige Dilemma, in das die Fortschrittsentwicklung uns gebracht hat, wird auf diese Weise nicht zur Kenntnis genommen, sondern verdrängt. So muß sich dann z. B. eine Partei, die sich den neuen Herausforderungen in ihrer ganzen Dimension, d. h. in ihrer Ambivalenz stellt und gegensätzliche Positionen zu integrieren versucht, als „zerstritten“ oder gar als „schizophren“ abqualifizieren lassen.

Angesichts derart komplexer Probleme erweisen sich vereinfachende Positionen wahl-taktisch gesehen als wirkungsvoller. Eine falsch stabilisierte Umwelt scheint populärer zu sein als das Eingeständnis der Ratlosigkeit, wodurch die angesichts der oft unlösbar erscheinenden Krisen bedeutsame geistige Offenheit und damit die Lernfähigkeit der Gesellschaft gefährdet wird.

Die grundlegende Ambivalenz aller Handlungen und Ziele erfordert gerade bei Handlungen und Zielsetzungen mit besonders weitreichenden Folgen eher ein Sowohl-Als-Auch als ein Entweder-Oder. Dies gilt sowohl für die Spannung zwischen Gegenwartsbewältigung und Zukunftsvision als auch für die Spannung zwischen den Werten und den Mitteln. Diese Ambivalenz erfordert einen neuen Problemkonsens auf der Grundlage des nicht mehr hinterfragbaren Wertes des Uberlebens.,Im Grunde müßte einsehbar sein, daß sowohl die alten als auch die neuen Ängste ihre Berechtigung haben. Gerade in der Verschränkung und nicht in der Abgrenzung dieser verschiedenartigen und dennoch zusammenhängenden Bedrohungen scheint aber das eigentliche Dilemma der heutigen Situation zu liegen.

Das Krisensyndrom der heutigen Zeit hat seine Ursache nicht zuletzt darin, daß neue dramatische Gefahren sichtbar werden, ohne daß die alten Gefahren schon bewältigt sind. Die Konzentration der Generationen auf alte erfahrene Krisen und Ängste und auf neue prognostizierte muß daher überwunden werden, zumal sich diese Bedrohungen wechselseitig bedingen und verstärken. Der Komplexität der Situation werden weder die reaktive und situationsbezogene Vorgehensweise des Krisenmanagements, noch kompromißlose Alternativmodelle gerecht. In dieser Situation die Polarisierung, schließlich die Konfrontation voranzutreiben, ist ein törichtes Unterfangen. Die politische Steuerungskrise unserer Gesellschaft zeigt sich gegenwärtig darin, daß der traditionelle Kompromiß-und Mehrheitsfindungsmechanismus bezüglich der Zukunftsprobleme nicht ohne weiteres anwendbar ist. Der Grundkonsens in unserer Gesellschaft ist nicht mehr umfassend genug, um abweichende Minderheiten zu einem Verzicht auf die Durchsetzung ihrer Anliegen zu bewegen. Angesichts der Ängste dieser Gruppen vor bestimmten Gefahren reicht der Verweis auf die demokratischen Spielregeln nicht aus. Es kann nicht Aufgabe einer klugen Politik sein, sich auf den Austrag der Konfrontation der Werte und Ängste vorzubereiten und zu konzentrieren. Vielmehr müssen die nicht mehr akzeptanz-und nicht mehr konsensfähigen Mittel und Wege, selbst wenn sie noch mehrheitsfähig sind, zugunsten dritter Wege, zugunsten eines Ausgleichs zwischen den Ängsten ernsthaft zur Diskussion gestellt werden. Auch wenn die Demokratie die Staatsform des geregelten Konflikts durch Mehrheitsentscheidung ist, so ist sie erst recht in Überlebensfragen die Staatsform von Kompromiß und Ausgleich.

Welche Anzeichen für die Möglichkeit einer Konsensbildung zeichnen sich in der politischen Landschaft der Bundesrepublik Deutschland ab? Der unaufhebbare Konflikt zwischen denen, die eine vollkommene Ordnung anstreben, und denen, die mit einer graduellen Verwirklichung ihrer Werte zufrieden sind, scheint in der politischen Auseinandersetzung keine dominante Rolle mehr zu spielen. Damit ist Raum geschaffen für die für eine Konsensbildung unabdingbare Einsicht in die Relativität menschlicher Erkenntnisfähigkeit sowie politischer Möglichkeiten.

Bei kritischen Geistern ehemaliger Heilsgläubiger hat die Überlebensproblematik zu einer bemerkenswerten Kompromißbereitschaft geführt. Stellvertretend für diesen Umdenkungsprozeß soll hier Rudolf Bahro angeführt werden, der den Sinn eines historischen Kompromisses in der Verhinderung des allgemeinen Unterganges durch eine Umorientierung von den Klassen-zu den Lebensinteressen sieht Das alttestamentarische Auge-um-Auge, Zahn-um-Zahn müsse bei der Auseinandersetzung um die soziale Frage ausgeklammert werden. Das Heil könne nicht mehr in der Zuspitzung der Widersprüche gesucht werden, weil die Widersprüche untrennbar seien von der neuen Weltsituation. „Widersprüche müssen ausgetragen werden, nach wie vor. Aber man muß den Modus und die Regeln neu überdenken. Man muß in Zukunft im Gegner außenpolitisch wie innenpolitisch immer auch den Partner sehen. Man muß sich nicht weniger, sondern noch mehr auf ihn einlassen, man muß noch mehr mit ihm kämpfen ... Und man muß sich zu dieser Auseinandersetzung auch zusammensetzen, nämlich an einen Tisch, weil tatsächlich mit allen um eine Neuformulierung der Probleme, um die es in unserer Gesellschaft geht, gerungen werden muß. Ohne eine Politik rechtzeiti-gen historischen Kompromisses auf breitester Basis, so Bahro, sei die im klassischen Marxismus unvorhergesehene reale Katastrophen-perspektive unabwendbar Noch die Studentenbewegung habe sich an einer heute nicht mehr aktuellen Form des Kampfes orientiert, nämlich primär am politischen Umsturz, anstatt sich primär auf kulturelle Umwälzungen zu konzentrieren. Damit habe sie einen politischen Kurzschluß begangen, an dem sie gescheitert sei Die Möglichkeit eines historischen Kompromisses bestehe heute darin, daß man sich noch nie so einig gewesen sei über die Existenz der Probleme, vor denen die Menschheit stehe. „Sollten die Geister auch nicht darin konvergieren, wie man sie lösen kann und wie man demnach handeln und leben muß?"

Bei den GRÜNEN, so Bahro, sei das gesamte politisch-psychologische Spektrum vertreten; wertkonservativ denkende Menschen, demokratische Christen, alternative Liberale, demokratische Sozialisten -In der Ökologiebewegung scheinen sich demzufolge die meisten Motive zu überschneiden, zu addieren, tendenziell zu integrieren. Die ökologische Krise werde zum neuen Generalnenner aller sozialen Widersprüche

Zwar kann die weitgehende Gleichsetzung liberaler und marxistisch geprägter Ideen und Systeme, wie sie Bahro vornimmt, aus liberaler Sicht nicht akzeptiert werden; dennoch ist die Hinwendung von Marxisten zu einem immerhin neutralen, systemübergreifenden Standpunkt, ist der Abschied von den Feindbildern ein Fortschritt. Beispielsweise wird in der Ökologie-bzw. Alternativbewegung nicht das Proletariat oder sonstwer zum Geschichtshelden erklärt. Sie „arbeitet grundsätzlich mit allen zusammen, punktuell und begrenzt auch mit ausgesprochenen Gegnern. Antagonistische Kooperation. Anders sind tragfähige Mehrheiten heute nicht zustande zu bekommen." Von den alternativen Minderheiten muß andererseits die Praktizierung konsensbildender Verhaltensweisen gegenüber der Mehrheit verlangt werden. Tenden-zen zu einem solchen Verhalten sind erkennbar und müssen umgekehrt von der Mehrheit durch tolerantes Verhalten bestärkt werden. Dies ist primär eine. Frage der politischen Kultur, d. h.des Bereichs, in dem die Spielregeln des Konfliktaustrags nicht kodifiziert sind. Zur politischen Kultur eines Landes zählen in besonderem Maße die informellen Verfahren im politischen Prozeß, insbesondere spezifische Konflikt-und Problemlösungsstrategien, politische Traditionen und Identifikationen, vor allem das politische Verhalten der verschiedenen sozio-kulturellen, religiösen und ethnischen Gruppen

Bezüglich dieser Faktoren ist ein Bewußtseinswandel, so allgemein diese Kategorie auch sein mag, noch wichtiger als konkrete politische Maßnahmen. Dieser Bewußtseinswandel ist aber nicht nur der gesellschaftlichen Entwicklung zu überlassen, sondern sollte vom Staat bewußt gefördert werden. Die pluralistische Gesellschaft bedarf der Ordnungsleistung eines Staates besonders dann, wenn es sich um Probleme und Fragen von höchster Brisanz handelt. Der Staat soll die Grundwerte und den Konsens nicht beschaffen, sondern ein Verhalten der Toleranz und des Hinwirkens auf einen größeren Konsens fördern. Er muß um den nötigen Konsens werben. Hierbei kann er sich nicht zurückziehen, weil er etwa in der Energie-und Sicherheitsproblematik der Hauptakteur ist und durch Vorfinanzierung nuklearer Forschung und Abdeckung des überhöhten Risikos auch in privatwirtschaftliche Bereiche eingreift.

Vielmehr obliegt ihm gerade daher in besonderem Maße die Förderung eines neuen Konsenses über die Entwicklungsrichtung der industriellen Gesellschaft.

Für die Erzielung eines neuen Konsenses ist es nötig, daß nicht nur die verschiedenen Interessen und Gruppen, sondern auch die verschiedenen Denkweisen von Minderheiten zu den grundlegenden Fragen berücksichtigt werden. Vor neue weitreichende Probleme gestellt, gilt es, unversöhnliche Positionen abzubauen und vorhandene Konflikte nicht eskalieren zu lassen

Konsensfähigkeit darf sich nicht lediglich in der Anerkennung des Mehrheitsprinzips zeigen. Phantasie, Mut und Lernfähigkeit sowie Bereitschaft zu Selbstbeschränkung und Toleranz auf beiden Seiten werden nötig sein, um eine drohende gesellschaftliche Fundamentalpolarisierung zu vermeiden und einen neuen Problemkonsens bezüglich der Über-lebensfragen zu finden. Der Versuch des Brückenschlags zwischen den Kulturen darf den Vermittlern nicht mehr zum Nachteil gereichen. Nicht die sofortige Parteinahme, sondern das wechselseitige Verstehen der Position der anderen muß eingeübt werden, Problemorientierung ist wichtiger als Konflikt-orientierung. In der Auseinandersetzung um Wege in und Wege aus der Gefahr stehen sich nicht letzte und höchste Werte gegenüber. Es geht hierbei lediglich um ein allgemeines Interesse — um das überleben. Eine Vereinseitigung und Überspitzung bestimmter Werte ist angesichts der Ambivalenz aller Werte und Handlungen unangemessen. Sie muß stets zum deutlichen Nachteil anderer Wertsetzungen ausschlagen und zerstört damit Konsensfähigkeit. Werte müssen nicht relativiert, sondern relationiert, d. h. aufeinander bezogen werden, wodurch neue Handlungsspielräume entstehen Dem Entstehen von Ja-Nein-Alternativen in Überlebensfragen könnte damit vorgebeugt werden.

In früheren Zeiten ließ sich ein breiter Konsens vorwiegend für Kriege mobilisieren. Er muß nun für das überleben mobilisiert werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. A. Gehlen, Anthropologische Ansicht der Technik, in: H. Freyer u. a. (Hrsg.), Technik im technischen Zeitalter, Düsseldorf 1965, S. 111.

  2. Ich folge hier W. Schulz, Das Problem der Angst in der neueren Philosophie, in: H. von Ditfurth (Hrsg.), Aspekte der Angst, Stuttgart 1965, S. 4ff.

  3. K. Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, Berlin 1931, S. 58.

  4. Ders„ Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1963, S. 40.

  5. Vgl. E. Köhler, Einige zaghafte Einwände gegen linken Pessimismus, in: DIE ZEIT, (1979) 36.

  6. R. Dahrendorf, Was kommt nach dem Konsensus der bürgerlichen Wachstumsgesellschaft?, in: H Glaser (Hrsg.), Fluchtpunkt Jahrhundertwende. Ursprünge und Aspekte einer zukünftigen Gesellschaft, Bonn 1979, S. 52.

  7. J. -P. Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Hamburg 1972, S. 370. „Das Bewußtsein, seine eigene Zukunft zu sein in der Weise, sie nicht zu sein, das ist genau das, was wir Angst nennen."

  8. G. Anders, Endzeit und Zeitende. Gedanken über Je atomare Situation, München 19722, S. 220.

  9. Ebd„ S. 184.

  10. D. E Zimmer, Deine Angst und meine Angst Hen Schrecken vor atomarer Vernichtung hat uns 47 Natur nicht beigebracht in: DIE ZEIT, (1981)

  11. J. Schell, Das Schicksal der Erde. Gefahr und folgen eines Atomkriegs, München-Zürich 1982,

  12. Ebd„ S. 172.

  13. Vgl. die entsprechenden Umfragedaten des Jugendwerks der Deutschen Shell AG (Hrsg.), Jugend 81, Lebensentwürfe, Alltagskulturen, Zukunftsbilder, Hamburg 1981; vgl. besonders S. 382: „Jedoch manchmal ist der optimistisch, der die schreckliche Kunde noch nicht vernommen hat Und manchmal sieht der die Zukunft düster, der verzweifelt und — noch — aussichtslos einen Weg nach vorne sucht."

  14. Wahrscheinlich steht die Entstehung des Begriffes „Pessimismus" mit dem Aufkommen des Fortschrittsdenkens in engem Zusammenhang. Der Pessimist glaubt nicht an den Fortschritt der Menschheit. Fällt aber sowohl der Glaube an die ordnende Hand Gottes als auch an den Fortschritt weg, so bleiben kaum noch nennenswerte Hoffnungsmomente über. Mit der Verbreitung der Fortschrittsskepsis nahm daher auch der Pessimismus zu. Vgl. dazu L. Marcuse. Pessimismus — Ein Stadium der Reife, Hamburg 1953, S. 15.

  15. W. Dirks, Abstrakt über Zukunft konkret, in: Frankfurter Hefte, (1978) 4, Sonderheft Zukunft konkret, S. 13.

  16. Vgl. dazu ausführlich L. Haman, Die öffentliche Meinung und die Zukunft der demokratischen Institutionen, in: G. Arfe u. a„ Die verlorenen Inseln. Hat die europäische Demokratie noch eine Zukunft?, Baden-Baden 1977, S. 83 ff. und O. B. Roegele, Massenmedien und Regierbarkeit, in: Regierbar keit (hrsg. von Wilhelm Hennis u. a.), Bd. 2, Stuttgart 1979, S. 177 ff.

  17. H. Kremendahl, Das Unbehagen an der pluralistischen Gesellschaft, in: H. Oberreuter (Hrsg.), Pluralismus, Opladen 1980, S. 209.

  18. Vgl. E. Fromm, Die Furcht vor der Freiheit Frankfurt/Main 1966; vgl. auch K. D. Bracher, Zeit der Ideologien. Eine Geschichte politischen Denkens im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1982, S. 326. Bracher fühlt sich angesichts der zeitgenössischen Katastrophenliteratur an das Gefühl der Ausweglosigkeit der Zwischenkriegszeit erinnert, welche viele Intellektuelle anfällig für die Ideologisierung des Denkens werden ließ.

  19. D. Mieth, Angst vor der Angst, in: Publik Forum, (1981) 12.

  20. C. F. von Weizsäcker, Angst, in: ders., Der Garten des Menschlichen, Frankfurt/Main 1980, S. 92. von Weizsäcker hält unsere Ängste für begründet: . Der Grund aber, der sie rechtfertigt, liegt gerade darin, daß alle Menschen aus Angst handeln. Die Angst selbst erzeugt die Zustände und Geschehnisse, vor denen wir mit Recht Angst haben. Das System der Angst stabilisiert sich selbst. ”

  21. G. Lehmbruch, Strukturen ideologischer Konflikte bei Parteienwettbewerb, in: Politische Vierteljahresschrift, (1969) 2— 3, S. 291f. Lehmbruch unterscheidet nach Problemkonsens, Fundamental-konsens, Autoritätskonsens und mehrdimensionalem Konsens als komplexen Konsensbegriff, der die ersten drei Konsensobjekte umfaßt. Ein Minimum an „issue-consensus” wäre für die Demokratie funktionsnotwendig.

  22. Vgl. dazu A. Schwan, Grundwerte der Demokratie. Orientierungsversuche im Pluralismus, München 1978, S. 26 und H. Kremendahl, Pluralismus-theorie in Deutschland. Entstehung, Kritik, Perspektiven, Leverkusen 1977, S. 301ff.

  23. Vgl. H. Spinner, Pluralismus als Erkenntnismodell, Frankfurt/Main 1974.

  24. K. D. Bracher, Die doppelte Zeitgeschichte — zwei gegenwärtige Vergangenheiten, in: ders, Geschichte und Gewalt. Zur Politik im 20. Jahrhundert, Berlin 1981, S. 233 ff.

  25. Vgl. H. Theisen, Friedensbewegung und Kom munismus-Kritik. Ein Vorschlag zur Güte, in: Frankfurter Hefte, (1982) 8, S. 7ff.; vgl. auch ders Jugendbewegung und Krisenbewußtsein, in: liberal, (1982) 3, S. 198ff.

  26. R. Bahro, Elemente einer neuen Politik. Zum Verhältnis von Ökologie und Sozialismus, Berlin 1980; vgl. auch ders., Überlegungen zu einem Neuansatz der Friedensbewegung in Deutschland, in: Entrüstet Euch. Analysen zur Atomaren Situation. Wege zum Frieden (hrsg. vom Bundesvorstand der Grünen), Bonn 1981, S. 52ff. Zu erwähnen ist hierbei auch E. P. Thompson, Exterminismus’ als letztes Stadium der Zivilisation, ebd., S. 30ff. Unter „Exterminismus" versteht Thompson den Drang zur Auslöschung, der beiden Systemen innewohne. Die Waffeninnovation sei ein aus sich selbst lebender Prozeß. Die heutige Militärtechnologie lösche jedes Element von Politik aus. Wir hätten es mit der kumulativen Logik eines Prozesses zu tun. Was ursprünglich Reaktion gewesen sein mag, werde zur Zielrichtung. Was von der einen oder anderen Macht als rationales Eigeninteresse gerechtfertigt werde, geriete im Aufeinanderprallen beider zu Irrationalem. Der Schub zum Krieg sei tief in die Strukturen der einander entgegengesetzten Mächte eingebettet. Die Gedanken Thompsons, die in marxistischen Kreisen großes Aufsehen erregten, waren in anderen Denkschulen — wie etwa in der C. F. von Weizsäckers — seit langem gängig. Dennoch stimmt eine solche — wenn auch reichlich späte — Lernfähigkeit hoffnungsvoll.

  27. R. Bahro (Anm. 26), Elemente einer neuen Politik, S. 111.

  28. Ebd., S. 118.

  29. Ebd., S. 137.

  30. Ebd., S. 60.

  31. Ebd., S. 162. Wie bei der Ökologiebewegung ist auch bei der Friedensbewegung das überleben der kleinste gemeinsame Nenner, der ehemalige CSU-Mitglieder, Ex-Generäle, GRÜNE und Kommunisten etc. eint.

  32. Ebd., S. 199.

  33. J. Huber, Wer soll das alles ändern. Die Alternativen der Alternativbewegung, Berlin 1980, S. 110.

  34. P. Reichel, Politische Kultur in der Bundesrepublik, Opladen 1981, S. 26.

  35. K. W. Deutsch, Gesellschaftspolitische Aspekte der Ökologie (IIVG reprints), Wissenschaftszentrum Berlin 1979, S. 23: „Man kann Konflikte hoch-spielen oder herunterspielen. Man kann sie eskalieren und unversöhnlich machen, oder nach Lösungen suchen. Aber diese Fragen des Denkstils, diese Fragen des Arbeitens mit der Natur und des

  36. Zur Relationierung von Werten vgl. A Brecht, Politische Theorie, Tübingen 1961, S. 308 ff. und S. 363 ff.; vgl. auch M. Gralher, Freiheit und Freiheitsverständnis, in: liberal, (1981) 12, S. 923: „Zum Entweder gehört das Oder, aber nicht in der sich ausschließenden Auffassung, sondern als mit zu bedenkender Alternative, woraus sich möglicherweise ein Gemeinsames finden läßt."

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a Heinz Theisen, Dr. Phil, M. A, geb. 1954; Studium der Politikwissenschaft, Geschichte, Soziologie und Psychologie an der Universität Bonn; zur Zeit freie publizistische Tätigkeit Veröffentlichungen u. a.: Krisenpolitologien, in: liberal, (1981) 4; Jugendbewegung und Krisenbewußtsein, in: liberal, (1982) 3; Zur Dialektik von Schwäche und Stärke des demokratischen Staates, in: Die Mitarbeit, (1984) 2; Die Theorie der Wahrscheinlichkeit des dritten Weltkrieges bei Carl Friedrich von Weizsäcker, in: Frankfurter Hefte, (1984) 8; Katastrophenstimmung und freiheitliche Demokratie. Gefährdungen, Grenzen und Möglichkeiten freiheitlicher Politik in den prognostizierten Bedrohungsfeldern unserer Zukunft, Köln 1984 (erscheint demnächst).