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Entwicklungen der politischen Sozialisation Erforschung und Bedeutung für die Politische Bildung | APuZ 35-36/1984 | bpb.de

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APuZ 35-36/1984 Wer wählt grün? Zum Profil der neuen Linken in der Wohlstandsgesellschaft Zukunftsängste und pluralistische Demokratie Entwicklungen der politischen Sozialisation Erforschung und Bedeutung für die Politische Bildung Betriebliche Vermögensbeteiligung. Zum Beitrag von Hans-Cünter Guski /Hans J. Schneider, Betriebliche Vermögensbeteiligung — ein Ausweg?, B 28/84, S. 3— 14

Entwicklungen der politischen Sozialisation Erforschung und Bedeutung für die Politische Bildung

Bernhard Claußen

/ 32 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Den Beitrag eröffnen eine Definition der politischen Sozialisation sowie eine Darlegung ihrer gesellschaftlichen Funktion und ihres Stellenwertes als Forschungsgegenstand in den Sozialwissenschaften mit Querverbindungen zur Didaktik der Politischen Bildung. Die wesentlichsten Traditionslinien der bisherigen Forschung und deren Fruchtbarmachung für Politische Bildung werden nachgezeichnet und vom derzeitigen Kenntnisstand aus betrachtet Daran schließt sich eine an drei Beispielen (neuer Sozialisationstypus, kognitive Entwicklung sowie Technologisierung der Informations-und Kommunikationsweisen) aufgezäumte Diskussion von aktuellen Forschungsschwerpunkten an, die in Hinweise für die Gestaltung Politischer Bildung mündet Des weiteren werden die charakteristischen Elemente zweier Trends in der zeitgenössischen Fachdidaktik (schülerorientierter Sozialkunde-Unterricht und politische Rationalität als Leitkategorie für den Politikunterricht) darauf befragt, ob sie den Folgerungen aus den Forschungen zur politischen Sozialisation genügen. Abschließend führt ein knappes Resümee zur Bezeichnung verbleibender Aufgaben.

„Erziehung zu politischer Reife setzt voraus, daß sich Denken von Tabus befreit und Vorurteilsbefangenheit überwunden wird. Dies kann keiner kommandieren; Einengung des Denkens und Befangenheit in Vorurteilen sindja selbst Ergebnisse des Lernund Cewissensgehorsams. (...) Das in autoritären Erziehungsstilen kollektiv verhängte Verbot, außerhalb der offenen, zugelassenen Problemfelder zu suchen, zu zweifeln, zu fragen, erweckt im Fragenden Angst, wenn er jene Forderungen introjiziert hat; sogar Abweichungen von einer etablierten Methodik machen ihm Unruhe. Hier endet die Bildung und beginnt der soziale Gehorsam.“ Peter Brückner

I. Problemzusammenhänge

Als politische Sozialisation wird die Gesamtheit aller gesellschaftlich vermittelten Lernprozesse bezeichnet, die Politisches zum Gegenstand haben und den Menschen als mehr oder weniger mündigen Staatsbürger im weitesten Wortsinne konstituieren. Sie hat spätestens seit der Ausdifferenzierung des modernen Staates mit seiner durch zunehmende Abstraktion und Universalisierung von Herrschaft gekennzeichneten besonderen Sphäre der Politik beständig an Bedeutung für die Genese von Einzelpersonen und sozialen Gebilden gewonnen. Denn sie ist einer der Faktoren für die Aufrechterhaltung oder Veränderung von Systemen der verbindlichen Regelung des Zusammenlebens von Menschen einerseits sowie für die Stellung des einzelnen und seiner sozialen Bezugsgruppe als Objekt oder Subjekt der Handlungsvollzüge in eben diesem System andererseits. Die Aufmerksamkeit gegenüber der Erforschung politischer Sozialisation wächst parallel zur Ausdehnung der Verwissenschaftlichung aller Lebensbereiche und ist an erkenntnisleitende Interessen gebunden, die entweder mehr auf Verfügungswissen für die Aufrechterhaltung von Herrschaftsverhältnissen oder mehr auf die Aufklärung von Praxis über sich selbst in die Absicht der Durchschaubarmachung und Überwindung von rational unbegründeter Herrschaft abzielen. Einen Beitrag zur Demokratisierung von Staat und Gesellschaft leistet sozialwissenschaftliche Erforschung politischer Sozialisation, wenn sie die Ursachen, Verlaufsformen und individuellen Konsequenzen der Reproduktion un-oder anti-demokratischer Elemente der (Welt-) Gesellschäft durch die Subjekte hindurch sowie die demokratiegefährdenden Effekte politischen Lernens als eine Tendenz des Geschichtsverlaufs aufdeckt oder brachliegende Stimulanzen, Vermittlungsweisen und Lern-bzw. Persönlichkeitskapazitäten innerhalb der politischen Kultur als ein Potential für eine lebenswerte demokratische Zukunft freilegt

Einer Didaktik der Politischen Bildung muß an den Ergebnissen der Erforschung politischer Sozialisation zwecks Einsicht in ihre eigene Reichweite und Wirksamkeit sowie in die Voraussetzungen und Begleitumstände der von ihr anzuleitenden Handlungsvollzüge besonders gelegen sein. Denn immerhin prägt sie jenen Spezialfall des manifesten politischen Lernens maßgeblich mit, der sich durch Intentionalität und Planmäßigkeit auszeichnet. Und sie hat es bei ihren Adressaten stets mit Lernenden zu tun, deren Biographie erworbene politische Einstellungsmuster, Bewußtseinsstrukturen und Handlungsfähigkeiten aufweist Unter der Option für Demokratisierung hat „Politische Bildung... die Aufgabe, die Menschen ihren Standort und ihre Interessen in der hochindustrialisierten Gesellschaft erkennen zu lassen. (...) Ziel Politischer Bildung ist die Schaffung eines kritischen Bewußtseins und die Befähigung zu selbständi3 gern Urteil. Beides soll in politisches Engagement einmünden. (...) Politische Bildung muß mehr sein als Vermittlung von Faktenwissen. Kenntnisse über Institutionen, Organisationen, Gesetze und Verfassungen sind ... notwendig, um die Struktur politischer Prozesse und... Mechanismen der Herrschaft zu erkennen. (...) Indem die kritische Sonde an Theorie und Praxis angelegt wird, ist Politische Bildung zugleich Kritik des Kapitalismus, der sozialistischen Systeme und der parlamentarischen Demokratie. Politische Bildung ... fordert zu Entscheidungen auf, stellt Traditionen, Autoritäten und überkommene Ordnungen in Frage." Programmsätze dieser Art implizieren, daß die in ihnen angesprochenen Persönlichkeitsdimensionen nicht automatisch wachsen. Sie dürfen aber keineswegs davon ablenken, daß nicht alles als Politische Bildung Bezeichnete solchen Zwecken dient. Wenn eine andere Aufgabenbeschreibung, deren Konsensfähigkeit bis heute nicht ernsthaft in Abrede gestellt wurde, Politische Bildung als „eine ... korrigierende, systematisierende, differenzierende kritische ... Dienstleistung" bezeichnet wird darin zum Ausdruck gebracht, daß außerhalb der Politischen Bildung angesiedelte politische Lernprozesse vom Demokratiegebot her fehlgeleitet oder doch zumindest stark defizitär sind. Die Gewißheit, mit der die Didaktik der Politischen Bildung solche Mängel voraussetzt, ist bereits ein Resultat der sorgfältigen Rezeption von älteren Studien zur politischen Sozialisation

Die zunehmende Bedeutung politikbezogener Lernprozesse sowie die erweiterte Arbeitsteilung und Verästelung der Sozialwissenschaften während der zurückliegenden Jahre machen erklärlich, daß die politische Sozialisation heute auf mehr als nur marginales Forschungsinteresse stößt und, inner-wie interdisziplinär bearbeitet, längst einen herausragenden Platz innerhalb des mittlerweile breiten Spektrums der Sozialisationstheorie und darauf zielender Untersuchungen einnimmt Konnte noch vor wenigen Jahren eine Über-sicht über das auch bis dahin schon respektable verstreute Schrifttum als Einführung konzipiert werden ist nunmehr bereits eine in die Breite und Tiefe gehende kompendienartige Ordnung angezeigt Denn immerhin gilt es, unzählige facettenreiche Veröffentlichungen aufzuarbeiten, in denen sich (kaum) die normativ-ontologischen, (hauptsächlich) die empirisch-analytischen und (gelegentlich) die dialektisch-historischen Ansätze der jeweiligen sozialwissenschaftlichen Bezugsdisziplin wieder-und konkret zur Anwendung gebracht finden. Eine konsistente und umfassende Theorie der politischen Sozialisation gibt es gegenwärtig freilich noch nicht. Nachweisbar sind allenfalls Baustein-Sammlungen für unterschiedliche Forschungsparadigmen. Sie lassen sich der — nicht vergröbernd gemeinten, sondern unüberbrückbare Differenzen verdeutlichenden — Dichotomie von traditioneller (systemimmanent abbildender, funktionalistisch erklärender und positivistisch realitätsverdoppelnder) und kritischer (systemskeptisch analysierender, Ideologien anprangernder und unentdeckte utopische Elemente aufzeigender) Theorie zuordnen. Gerade die jüngsten Neuerscheinungen belegen aber eindringlich, daß die Erforschung politischer Sozialisation, was die Konzepte, Untersuchungsstandards und Argumentationsqualitäten anbelangt, durchaus als etabliert und vielseitig gelten kann Didaktik der Politischen Bildung und Konzepte zu ihrer Transformation auf kompromißhafte Curricula haben es in dieser Situation schwer, mit den neueren Entwicklungen Schritt zu halten und die Wissensakkumulation angemessen zu rezipieren. Das gilt zumal seit den Anfängen der entpolitisierenden Gegenreform mit ihrem tendenziellen Irrationalismus, zu dem auch eine Abkehr von der zaghaft eingeleiteten Verwissenschaftlichung von Fachdidaktik und Unterrichtspraxis gehört Mit der Wiederbelebung beispielsweise von Institutionenkunde und Gesinnungserziehung, Faktenvermittlung und Wertetradierung sowie deren jeweiliger Elaboration ist es vermacht, daß man die Leistungen anderer Sozialisationsinstanzen wenig erfragt und eine Bereitschaft zur Kompensation ihrer Defizite nicht entwickelt. Denn die Selbstgewißheit, mit der dadurch invariant interpretierte Sachverhalte instruktionsartig anstelle einer Auseinandersetzung mit realen politisch-gesellschaftlichen Konflikten und ihrer kontroversen sozialwissenschaftlichen Abbildung propagiert wird, braucht auf den sozialisatorisch erworbenen Bewußtseinsstand der Lernenden kaum Rücksicht zu nehmen. Im Zuge der herausgeforderten Analyse und Kritik der hauptsächlichen Elemente und Funktionen gegenreformerischen sozialkundlichpolitischen Unterrichts etwa gehen der Fach-didaktik vielfach jene Energien verloren, die für die Adaptation von Studien zur politischen Sozialisation vonnöten wären. Dadurch wiederum fehlt es ihr aber ausgerechnet an Argumenten und Einsichten, die für Zurückweisungen und erst recht für die Erarbeitung alternativer Entwürfe benötigt werden. Für eine Re-Intensivierung des fruchtbaren Dialogs zwischen Didaktik der Politischen Bildung und Sozialisationsforschung könnte es daher nützlich sein, vor allen Anregungen zu unabdingbaren systematisch-monographischen Arbeiten an ausgewählten typischen Aspekten exemplarisch und knapp darzulegen, welcher Traditionsbestand noch heute als bewährt gelten kann und ob neuere Diskussionen zur politischen Sozialisation die Politische Bildung künftighin zu verbessern, oder aber ob aktuelle Akzentsetzungen der Fachdidaktik dem Erkenntnisstand und Problembewußtsein der Sozialisationsforschung standzuhalten vermögen

II. Traditionslinien aus gegenwärtiger Sicht

Eine Bündelung der einzelnen Forschungseinrichtungen und -arbeiten, die in den zurückliegenden Jahrzehnten bis weit in die siebziger Jahre bei teilweiser Ausstrahlung auch noch in die Gegenwart dem Problem-komplex der politischen Sozialisation gewidmet waren, läßt sich typologisierend mit dem Identifikations-oder Legitimationskonzept, dem Interaktions-oder Identitätskonzeptund dem Kognitions-oder Koqperationskonzept bewerkstelligen Im ersten Fall dominiert »eine ... vorrangige ... Orientierung an solchen sozialisatorischen Prozessen, die den Bestand des politischen Systems ... und eine weitere Fortentwicklung systemfunktionaler Strukturen und Institutionen gewährleisten. Dabei beruht die Grundvoraussetzung auf den Loyalitätsbindungen der Individuen an das System,... auf einem Paradigma also, das eher auf die affektiven Potentiale der Unterstützungsfunktion von Systemen abzielt." Demgegenüber sind im zweiten „Modell... idealtypisch mehrfache Stränge traditioneller wie auch neuerer interaktionistischer Rollen-theorie und identitätstheoretischer Vorstellungen miteinander verknüpft. (...) Das Hauptaugenmerk liegt auf interpersonalen Prozessen und erst sekundär auf gesellschaftlichen Strukturen; vermittelt sind beide durch ein System sozialer Normen und Regeln. Politische Lernprozesse vollziehen sich durch Interaktion zwischen generalisierten Rollenträ-gern oder Sozialisationsagenten im Kontext allgemein anerkannter und nachvollziehbarer Symbolbedeutungen sowie durch Konsensus auf häufig genug normativ bestimmter Lebensgrundlage." Bei der dritten Variante schließlich liegt „die zentrale Aussage... in der zunehmenden entwicklungslogischen Differenzierung subjektiver Fähigkeiten zu kognitiven und, damit verknüpft, sozialen Kompetenzen durch die interaktive Auseinandersetzung des Individuums mit seiner Umwelt. (...) In Phasen-bzw. Ebenenkonzepten... wird ein Gesamtentwicklungstrend deutlich, der zu zunehmender Abstraktionsfähigkeit des operationalen Denkens und zur Differenzierung von Rollenhandeln und -Übernahme sowie der Fähigkeit zum Perspektivwechsel... führt. (...) Relativ unberührt von empirischen Gültigkeitserwägungen ist... das Modell einer hierarchischen Abfolge von kognitiven Entwicklungsstufen, verknüpft mit Bewußtseinsqualifikationen zunehmender Rationalität und moralisch-autonomer Kompetenz, für politische Sozialisationsansätze reizvoll und anregend ... Dies ist nicht zuletzt... Zusammenhängen von Moralstufen, die Individuen innehaben, und unterschiedlichen Präferenzen für politische Richtungen wie auch... Handlungsalternativen ... zu verdanken." Jede dieser Typen enthält selbstredend zahlreiche Diversifikationen; und daneben gibt es noch einige mehr auf punktuelle Probleme des politischen Lernens, namentlich auf die Ergebnisse einzelner Sozialisationsinstanzen und/oder deren Niederschlag hinsichtlich der Bedeutung von Lebensalter-Phasen bzw. als kollektives Erscheinungsbild ausfindig zu machender Sozialcharaktere, konzentrierte Forschungsbeiträge. Sie alle haben wie die umfassenderen Typen sozialpsychologisch-psychoanalytische, soziökonomische und gesellschaftstheoretisch fundierte Untersuchungen mit unterschiedlichen Akzentsetzungen und Kombinationsweisen zur Grundlage

Trotz des geschärften Problembewußtseins bezüglich der eminenten Wichtigkeit empirischer Sozialforschung für die Gestaltung Politischer Bildung ist die Fachdidaktik während der Vergangenheit, abgesehen vielleicht von wenigen bedeutungslos gebliebenen naiv-praktizistischen Rezeptionskapriolen, nicht der skeptisch eingeschätzten Versuchung erlegen, „pädagogische Ziele aus empirischen Befunden abzuleiten''oder ihre Maßgaben und Maßnahmen daraus zu deduzieren Sie hat vielmehr stets Ausfilterungen und Uminterpretationen gemäß ihrer genuinen Aufgabenstellung vorgenommen. Zutreffend ist gewiß die Beobachtung, daß dabei vor allem Elemente der Interaktions-und Identitätskonzepte „in Konflikt-, Kommunikationsund Handlungsparadigmata der Konzeptionen zur Politischen Bildung eingegangen" sind Zwar läßt sich deswegen keinesfalls ein gewisser Adaptationsmonismus behaupten oder gar der absurde Vorwurf rechtfertigen, demzufolge „sich die um ihre Anerkennung als Sozialwissenschaft bemühte Pädagogik, indem sie statt Bildung und Erziehung Sozialisation zu ihrem Thema machte,... in den Fallstricken der Sozialisationsforschung verfing“ Man wird aber auch nicht ausschließen dürfen, daß zuweilen Befunde und Erklärungen über das Zustandekommen und die Qualität von politischen Lernprozessen nicht unbedingt als ein Instrument fachdidaktischer Selbstkritik und Bescheidenheit benutzt, sondern in Einzelfällen verkürzend und beliebig als willkommene Legitimationshilfe für didaktisch-methodische Vorentscheidungen verwendet wurden.

Abseits dessen läßt sich aber festhalten, daß eine vermittelnde Gesamtinterpretation der typenmäßig variierenden, einander teilweise ergänzenden und außerhalb der Typen produzierten Erkenntnisse über politische Sozialisation einen Standardset von Grundlagenwissen zutage fördern konnte, aus dem sich einige mehr oder weniger ernsthafte Konsequenzen für die Politische Bildung ergaben, vor allem im Kontext der Bildungsreformen seit dem Ende der sechziger Jahre. In ihren wichtigsten Dimensionen lassen sie sich thesenartig etwa folgendermaßen fixieren — Politisches Lernen beginnt in frühester Kindheit und ereignet sich selbst noch im hohen Lebensalter; unter den vorherrschenden Lebensbedingungen verkrustet, akkumuliert und verlangsamt es sich freilich relativ frühzeitig. Daraus folgt: Politische Bildung muß im Kindesalter einsetzen und die Erwachsenen-bis hin zur Altenbildung einschließen; dabei muß es ihr um die Ermöglichung von Offenheit und Flexibilität zu tun sein. — Frühe politische Lernprozesse sindlangfristig stabil und prägewirksam, sofern sie nicht in späteren Lebensphasen aufgearbeitet oder in angemessener Weise durch neuartige Erfahrungen neutralisiert werden; d. h. sie bedeuten eine relative Determination von Grundstrukturen der Wahrnehmung, Deutung und Integration von politisch-gesellschaftlichen Phänomenen, kulminieren als Selektionsfilter und schaffen Grundvoraussetzungen für späteres politisches Denken, Fühlen und Handeln. Daraus folgt: Politische Bildungmuß Auseinandersetzung mit Lebensgeschichteleisten und diese in einen Zusammenhang bringen mit der Analyse von politisch-gesellschaftlichen Strukturen und historischen Hintergründen; perspektivenentwikkelnd kann das nur geleistet werden als behutsame Auflösung von Befangenheit in ein-geschliffenen Verhaltensmustern und Einführung von reflektierbaren Kontrasterlebnissen mit unterschiedlichsten sinnlichen Gehalten. — Politisches Lernen ist grundsätzlich vielseitig,wobei allerdings unter den Existenzbedingungen in hochindustrialisierten Massen-gesellschaften zunehmende Partikularisierungs-und Isolationstendenzen auszumachen sind; so kommt es, daß irrationale Momente wie beispielsweise klischeehafte Gesellschaftsbilder, Furcht und Realitätsverluste, Passivitätsanteile bis hin zur politischen Lethargie oder massive Aggressivität als Handlungsmuster gegenüber intellektuell redlicher Umweltverarbeitung, Partizipationsneigungen und kommunikativer Konfliktbewältigung überwiegen. Daraus folgt: Politische Bildungmuß eine Integration verschiedener Persönlichkeitssektoren begünstigen und dabei jene Subjektmerkmale zu verstärken helfen, die im Alltag unterrepräsentiert bleiben; Erweiterung des Denkvermögens, Sensibilisierung für Betroffenheit, Erarbeitung von* Analyse-und Deutungsschemata, Auflösung von Ohnmachtsgefühlen und Verunsicherung von Saturiertheit sowie Einübung von Konsensfindungs-Handeln und Interessenartikulation sind darum aufgegeben. — Infolge materiellen Zwangs und struktureller Gewalt besteht die Gesamtleistung politischer Sozialisation selbst im demokratischen Staat überwiegend in einer reflexhaften Anpassungdes einzelnen an die nicht immer eindeutigen und vernünftigen Systemimperative; diffuse Loyalität und Konformität bei gleichzeitiger Ungewißheit und Gleichgewichtsstörungen zwischen stumpfen, verinnerlichten Gehorsam und exzessiver Ausschöpfung der materiellen und immateriellen Konsumgüter sind häufig die Folgen. Daraus folgt: Politische Bildung muß die Selbständigkeit des Urteilens und Entscheidens der einzelnen Staatsbürger sowie deren Verantwortungsbewußtsein gegenber dem gesellschaftlichen Ganzen in Gegenwart und Zukunft fördern;dazu zählen die Befähigung zum Denken in Alternativen, die Problematisierung von Lebensweisen und Ordnungssystemen samt der dahinter verborgenen Interessen, Legitimitäts-und Legalitätsprüfungen sowie eine Stärkung von individuellen Kompetenzen und Solidaritätsvoraussetzungen. — Politisches Lernen erfolgt als Interaktion in kommunikativen Zusammenhängen; in der Regel überwiegen allerdings Rezeptivität und Reproduktion der vorfindlichen Zustände in struktureller Hinsicht, so daß Tradierung oder bestenfalls Erschließung des Sinns des politisch-gesellschaftlichen Systems im Vordergrund stehen. Daraus folgt: Politische Bildungmuß Diskussionen, Debatten und Fähigkeiten des öffentlichmachens von Meinungen, Überzeugungen und Anliegen herausfordern;sie hat deshalb Aktivitäten in der Beschäftigung mit brisanter sozialer Lebensumwelt anzuregen, die Versäumnisse der Geschichte zu thematisieren und das Augenmerk auf Möglichkeitsmodelle von Wirklichkeit in Prozessen der Sinnstiftung anstatt auf die bloße Abbildung von positiv gegebenen Teiltatsachen zu lenken.

In zahlreichen Konzepten emanzipatorischer Politischer Bildung, die für die Erhaltung und Erweiterung von politischer und individueller Selbstverfügung engagiert sind, lassen sich die skizzierten Konsequenzen auf der Ebene von Lernzielangaben, Unterrichtsthemen, Methoden und Lehrmaterialien, wenn auch kategorial manchmal anders gefaßt und für unterschiedliche Adressatengruppen differenziert ausbuchstabiert, wiederfinden Die variantenreiche Formulierung einer Politischen Bildung vom Lernenden aus und um seinetwillen hat eines ihrer Bestimmungsmomente gewiß in der Einsicht sowohl in die allen systematisch organisierten Lernprozessen voraufgegangene Präfabrikation politischen Alltagsbewußtseins als auch in die vielfältigen Störungen und Schädigungen des Aufbaus stabiler politischer Persönlichkeit. Sie drückt zugleich jene durch Sozialisationsforschung nahegelegte Skepsis aus, mit der einer simplen linearen Vermittlung überzeitlicher Bildungsgüter zu begegnen ist.

Das Volumen der sozialisationstheoretischen Erkenntnisse über Inhalte, Strukturen und Resultate politischen Lernens auf das die Fachdidaktik einen Teil ihrer Konstruktionsversuche gründet, ist — soweit derzeit ersichtlich — durch das insgesamt der seit der Rezeption älterer Abhandlungen vorgelegten Studien zum politischen Lernen nicht widerlegbar und auch nicht prinzipiell zu bezweifeln. Immerhin ruht die Dysfunktionalität politischer Sozialisation im Hinblick auf eine begriffsgemäß praktizierte und also nicht bloß professionellen Politikern mehr oder minder gut kontrolliert überlassene Demokratie ja auch auf verbesserungsbedürftigen und -fähigen Strukturdefekten des politischen Systems (wie z. B. Suprabürokratisierung, Mitbestimmungsbeschränkungen, Effizienzdefizite), die in den letzten Jahren nicht merklich an Prägekraft verloren oder wesentlich neuartige Modalitäten der Sozialisation hervorgebracht haben Zur Disposition stehen muß sicher, zumal angesichts der kaum übersehbaren Wirkungsgrenzen bisheriger Politischer Bildung, ob die Konsequenzdefinition bislang zu den geeigneten Maßnahmen und Maßgaben geführt hat. Auf Grund der Forschungsergebnisse zur politischen Sozialisation läßt sich aber nicht in Abrede stellen, daß Politische Bildung in den geschilderten Konturen erforderlich ist. Die Wahrnehmung von Korrektivfunktionen gegenüber dem alltäglichen politischen Lernen, wenn auch vielleicht nach neu zu überdenkenden Verfahrensweisen mit einem stärkeren Gewicht auf der Unterrichts-methodik, ist demnach gleichsam als eine Traditionslinie programmatisch-konzeptioneller Art in die Zukunft zu verlängern, um den faktischen Traditionssträngen der Behinderung kollektiv folgenreicher demokratischer Persönlichkeiten nachdrücklich zu begegnen. Die bisherige Geschichte der Rezeption von Sozialisationstheorie durch die Didaktik der Politischen Bildung markiert in ihren seriösen und fortgeschrittensten Ausprägungen einen Entwicklungsstand, hinter dem künftige Einlassungen zur Politischen Bildung ohne Schaden für die Sache nicht Zurückbleiben können. Und das heißt auch: Anderslautende Entwürfe für den sozialkundlich-politischen Unterricht sind vom sozialisationstheoretischen Standpunkt aus fragwürdig und ungeschützt, so daß vermutlich einzig die ihnen zugrundeliegenden Interessen ihren Rechtfertigungsgrund abliefern. Diesbezüglich ließe sich durchaus sagen, daß ihnen offensichtlich die Kompensation von demokratiegefährdenden Sozialisationseffekten, ggf. entgegen verbaler Bekundungen, einerlei ist oder daß sie gar auf deren Verstärkung spekulieren.

III. Aktuelle Akzentsetzungen und ihre Reichweite

Politische Sozialisation ist trotz der generellen Gültigkeit älterer Theoriebausteine nicht ahistorisch zu denken. Mit der Bestätigung oder Unangetastetheit früherer Annahmen und Befunde gehen im gegenwärtigen Schrift-tum auch Beobachtungen einher, welche die Vermutung einer Entwicklungsgenese politischenLernens im zeitlichen Längsschnitt stützen. An der Herauskristallisation einer Abfolge sogenannter politischer Generationen, mit denen zeit(geist) geprägte, besonders hervorstechende Manifestationen der Aggre-gation von individuellen Persönlichkeitsmerkmalen kodifiziert werden ist das ablesbar. Signum der Gegenwart scheint danach eine Protestgeneration mit tendenziell post-materialistisch ausgerichteten Wertüberzeugungen in neuen sozialen Bewegungen zu sein. Weil sie allerdings kein mehrheitliches Erscheinungsbild ist und zahlreiche Irrationalismen gerade dessen reproduziert, wogegen sie mehr oder weniger vordergründig gerichtet sein will kann sie wohl günstigstenfalls nur als ein Indikator für Widersprüchlichkeiten, unbefriedigte Bedürfnisreste und schlummernde Potenzen interpretiert werden. Keinesfalls aber darf sie als ein Beweis für eine dem Wesen nach strukturell veränderte politische Sozialisation herhalten.

Wahrscheinlicher ist es, daß sich in Protest-mentalitäten als spektakuläre Stellvertreterschaft für mancherlei andere Expressionen des Verhältnisses der — vor allem heranwachsenden — Bürger zu ihrem Staat lediglich Zuspitzungen und Verschärfungen jener Befunde kundtun, die vor wenigen Jahren bereits so resümiert wurden: „Im Ausschluß von breiten Bevölkerungsschichten aus dem zwischen gesellschaftlichen und politischen Oligarchien aufgespannten Prozeß politischer Kommunikation liegt die maßgebliche Schwäche von politischer Sozialisation, welche durch die Sozialisationsagenten ... ausgeübt wird. Dies hat Folgen in mehrfacher Hinsicht: einmal für das politische System selbst, zum anderen aber auch für die Sozialisanden, d. h. für den Großteil der von politischer Kommunikation ausgeschlossenen Bürger, und nicht zuletzt für den politische Herrschaft legitimierenden Kommunikationsprozeß zwischen politischem und gesellschaftlichem System... und damit für die politische Demokratie“

Mit den Stichworten Lern-und Reformunfähigkeit sowie Immobilismus des politischen Systems einerseits und zunehmende politische Entfremdung sowie schwindende politische Identität der Staatsbürger andererseits wird ein diesen Tatbestand erfassendes Spannungsfeld bezeichnet, das als ein Eskalationsverhältnis zwischen Legitimations-und Persönlichkeitskrise Gegenstand der Sozialisationsforschung war, ist — und vorläufig bleiben wird.

Tatsächlich läßt sich zumindest das Gros der neueren Veröffentlichungen zum Thema trotz aller Eigentümlichkeiten wie eine Erhärtung dieser Vermutung lesen. Dabei ist es übrigens ein Indiz für die allgemeine Verlagerung der Forschungsperspektive von der Produkt-zur Prozeßorientierung, daß jüngst die Zugriffs-weisen durch die Politische Psychologie sich häufen Denn sie konzentriert sich vor allen soziologischen und politologischen Betrachtungen mit ihrer Thematisierung der innerpersonalen Kosten und Zugewinne vermittels der Auswirkungen sozialer Umwelt auch auf die intrasubjektiven Vorgänge der Entstehung politischer Persönlichkeit. Nützlich ist es gewiß, wenn im Zusammenhang damit sogar zu wissenschafts-didaktischen Bemühungen vorgestoßen wird, die in eine für die Praxis der Politischen Bildung diskutierbare Synopse diverser Forschungsleistungen münden und Hilfen für die Gestaltung von Lernarrangements bieten problematischer sind demgegenüber Versuche der Begründung einer . neuen'Theorie der Politischen Bildung von einem einzigen Paradigma der Sozialisatiorisforschung aus, das weder an die Vielfalt anderer Ansätze noch an den — vor allem auch gesellschaftskritischen — Grundbestand der Fachdidaktik rückgekoppelt wird -Als Hinweis auf aktuelle materialeAkzentsetzungen müssen einige wenige von vielen möglichen Beispielen genügen: 1. Neuer Sozialisationstypus?

Daß im Gefolge von abgewandelten Familien-gefügen, Verkehrsformen im öffentlichen Leben, Arbeitsplatzsituationen, Konsumweisen u. ä. m.seit dem Zweiten Weltkrieg eine Modifikation der Bedingungen politischer Sozialisation eingetreten ist, läßt sich keineswegs leugnen. Nachweislich beherrschen denn auch nicht mehr überall physischer Zwang, Befehlsprinzipien und übermächtige Bezugs-personen als Mittel der Durchsetzung gesell-schaftlicher Anpassungserwartungen die Strukturierung von Lernprozessen; hingegen haben die Ausbreitung subtiler, nämlich psychischer Formen der Selbstdisziplinierung, der Orientierung an den Normstandards der Gleichaltrigen und die konsumentenhafte, ein Leben nach dem Lustprinzip suggerierende Teilhabe an den Erzeugnissen der industriellen Produktion zumal auf dem Sektor des Kulturbetriebs beständig zugenommen, wobei allerdings die Verfügbarkeit materieller Güter bei zunehmenden Überflüssen und Sinnentleerungen durchaus ein Gemenge aus Saturiertheit, Ohnmachtsgefühlen, Wünschen nach kurzzeitiger Bedürfnisbefriedigung und diffusem Überdruß begünstigt Den damit einhergehenden Auflösungen herkömmlicher Sozialbeziehungen und Formen symbolischer Kommunikation durch differenzierte Begriffs-sprache im Angesicht eines parallel zu rasch wachsenden Komplexionsgrade der Welt anschwellenden gesamtgesellschaftlichen Infantilisierungsdrucks ist bereits seit einiger Zeit nachgegangen worden Dabei haben sich Anzeichen für die tendenzielle Herausbildung eines im Erscheinungsbild vieler Jugendlicher augenfälligen narzißtischen Sozialcharakters ergeben, der als im Gegensatz Zum ehemals dominanten autoritären Sozial-charakter neuer Sozialisationstypus gewürdigt wird: politisch wenig oder partikularistisch und ohne Ausdauer interessiert zwar, aber immerhin sanft und mit sich selbst beschäftigt, abgewandt von puritanischer Leistungsethik oder überzogenen Gehorsamkeitsforderungen. Politische Bildung wäre sicherlich falsch beraten, wenn sie nun mit dem Syndrom des Autoritarismus nicht mehr rechnen würde oder sich aus Motivationsgründen mit der häufigen Illusions-und Konzentrationslosigkeit vieler Jugendlicher arrangieren würde. Denn: Zum einen darf nicht übersehen werden, daß die Neuartigkeit dieses Sozialisationstypus vorrangig darin liegt, daß der Aufbau von Subjektqualitäten basal gestört wird, während einstmals regressionistische Subjektschädigungen den Ausschlag gaben; Konfliktscheu und Manipulierbarkeit sowie eine gewisse (Gruppen-) Egozentrik aber mit einem Hang „zu bedingungslosem Machtglauben und einem kollektivistischen Führerideal" sind auch dem narzißtischen Sozialcharakter noch eigen, weil Ich-Schwäche ihn kennzeichnet Schließlich ist er nur Anpassungsreflex an modernisierte Herrschaftsformen im Stile der Kolonisierung menschlichen Bewußtseins durch gesellschaftliche Zwänge, nicht aber das Produkt einer von Irrationalität und Barbarei bereits befreiten Gesellschaft. Zum anderen muß es als gefährlich angesehen werden, wenn Politische Bildung sich modischer, Leistungsforderungen verweigernder Präsentationsformen bedient und auf punktuelle Behandlung äußerlich attraktiver Themen ausweicht oder — beflügelt durch den Boom von Jugendstudien während der letzten Jahre — sich ihre Adressaten nur oder überwiegend noch unter Jugendlichen sucht; sie gibt damit nämlich den durchschaubar zu machenden Zwängen nach, beteiligt sich an der Verödung von Geisteskultur und neutralisiert ihre eigentliche Aufgabe gegenüber Staatsbürgern in allen Lebensaltern. Eine all dem gegenüber angemessenere Konsequenz aus dem . neuen Sozialisationstypus'ist es, wenn sich die Einsicht durchsetzt, daß viele Menschen vor aller Politischen Bildung einer verbesserten Lebenssituation bedürfen, daß Politische Bildung auf vorbereitende oder flankierende Maßnahmen zur Persönlichkeitsförderung angewiesen ist und daß die Themenstellungen Politischer Bildung sowohl den Erwartungsund Erfahrungshorizont der Lernenden ernst zu nehmen als ihn auch zugleich durch Aufzeigen der großen Zukunftsprobleme, Schwierigkeiten der politischen Weltgestaltung und Verantwortung der einzelnen für sich und ihre Mitmenschen beispielhaft immer zu erweitern hat. 2. Kognitive Entwicklung!

Etlichen Forschungsleistungen der allerjüngsten Vergangenheit ist es zu danken, wenn nunmehr mit sicherer Gewißheit davon ausgegangen werden kann, daß qualitativ anspruchsvolle politische Tatsachen-und Werturteile, Vorurteils-, Stereotypie-und ideologiefreie politische Entscheidungen sowie realitätsgerechte, moderate, problembewußte und konfliktaushaltende politische Hand-lungsmuster zu ganz wesentlichen Teilen von der Entfaltetheit kognitiver Kapazitäten des Wahrnehmens, Denkens und persönlichkeitsformenden Verarbeitens politischer Phänomene und Erlebnisse abhängen; und unbestreitbar sind derartige Kapazitäten im Bereich der in sukzessiven Lernprozessen erworbenen Subjektstrukturen zuzurechnen Damit erfahren zugleich all jene Konzepte Politischer Bildung eine argumentative Stütze, die in Vergangenheit und Gegenwart unbeirrbar auf der Behandlung realer politischer Problemkonstellationen sowie auf deren gedankliche Durchdringung mit Hilfe von Analysen, theoretisierenden Einordnungsversuchen, Schlüsselbegriffen und sachlichem Abwägen anstelle von appellhafter Gesinnungsschulung oder aktionistischem Verhaltenstraining insistiert haben.

Nicht unproblematisch sind aber viele entwicklungspsychologische Stufenmodelle, weil sie unter anderem das Durchlaufen von niederen bis zu höheren Phasen kognitiver Kapazitäten für unabdingbar erklären und die Stimulusrelevanz politisch-sozialer Umwelt zugunsten von altersbedingten Reifungsvorgängen häufig ausblenden bzw. politische Konfliktsituationen vielfach auf moralische Dilemmata verkürzen Deren fachdidaktische Rezeption hat denn auch schon zu solch fragwürdigen Konstrukten geführt, nach denen Politische Bildung so zu gestalten ist, daß ein allmähliches Voranschreiten von einer qualitativ minderwertigen zur nächsten, etwas besseren, nicht aber eine behutsame Ausdehnung von vornherein qualitativ hochwertiger kognitiver Kapazitäten gewährleistet ist.

Unreflektiert wird dabei den Lernenden, quasi als Verdoppelung von gesellschaftsbedingt eingeengten Entwicklungsmöglichkeiten, zugemutet, * nacheinander all jene durch kognitive Qualitäten minderer Art charakterisierbaren Phasen politischen Bewußtseins zu durchlaufen, die durchaus nicht zwingend an bestimmte Lebensalter gebunden sein müssen, sondern einer vordemokratischen Stufe menschlicher Gesellschaft angehören, auf der aber Individuen und Gruppen auch in demokratisch verfaßten Staaten aufgrund anachronistischer materieller, sozialisationsrelevanter Lebensverhältnisse sich einzurichten genötigt werden Konventionalistischautoritätsfixiert und dichotomisierend beispielsweise verfahren Kinder und Jugendliche eben nicht, weil sie einer bestimmten Altersgruppe mit natürlichen Kompetenzgrenzen angehören, sondern weil sie unter Bedingungen leben, die ihnen entsprechendes Denken und Handeln vorführen oder abverlangen.

Selbstverständlich muß Politische Bildung gleichwohl als eine mögliche empirisch gegebene Lernvoraussetzung kalkulieren, daß ihre Adressaten unverschuldet ein kognitives Niveau mitbringen, welches deskriptiv den Qualitäten einer bestimmten Phase des Stufenmodells nahekommt. Demgegenüber kann die grundsätzlich höchste Stufe, politisches Denken und Handeln nach universalistischen Prinzipien auf der Grundlage humaner Vernunft etwa, als ein Maßstab für Defizitanzeigen und Differenzausdehnungen geeignet sein. Bei der Überbrückung der Unterschiede durch Politische Bildung, als Korrektur politischer Sozialisation, kommt es dann aber nicht darauf an, Zwischenphasen anzupeilen, mit denen übergangsweise weiterhin demokratiefremde Kognitionsmuster festgeschrieben werden. Vielmehr besteht die didaktisch-methodische Aufgabe in einem Brückenschlag zwischen den empirisch gegebenen Voraussetzungen und den begründeten Intentionen. Dafür ist es ermutigend, wenn andere als stufenmodellhaft-entwicklungspsychologisch ausgerichtete Beiträge zur Sozialisationsforschung darauf hinweisen, daß Erkenntnisfähigkeiten, Kompetenzen der Informationsverarbeitung und Interpretationsvermögen nicht zwingend das Klettern von einer Stufe auf die nächste als Überwindung und Aufbau von inhaltlich differierenden Kognitionsmustern bedeuten muß,. sondern vielmehr den Charakter der Verfeinerung, Verbreiterung und Verzweigung von Kognitionspotentialen haben kann, die latent unterhalb der Ebene gemessener Manifestationen angesiedelt sind Um die Potentiale überhaupt entdekken zu können und sich entfalten zu lassen, kommt es unter anderem auf eine Variation des üblichen Sozialisationsmilieus an, die sicherstellt, daß in angstfreier Atmosphäre politische Lebenserfahrung, kontrastierende Erlebnisinhalte, erprobte Erklärungsmodelle und Erkenntnismethoden zur Sprache gebracht werden können. Wenn Politische Bildung als ein kontinuierlicher, systematischer, intensiver und diskursiver Prozeß der Reflexion angelegt wird, innerhalb dessen die Manifestationen kognitiver Entwicklung zur Disposition stehen, Kategorien zur Aufschließung vergangener, realer und möglicher Wirklichkeit erarbeitet und angewandt werden, Dissonanzen zu Selbstgewißheiten intellektuelle Suchbewegungen in Gang setzen und bewährte Analyseverfahren an konkreten Fällen verfügbar werden, leistet sie dazu einen nicht unerheblichen Beitrag. 3. Technologisierung der Informations-und Kommunikationsweisen Mit der Erweiterung und Beschleunigung der Technologisierung der Informations-und Kommunikationsweisen tritt die bislang schon den Massenmedien zugeschriebene politische Manipulation von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in ein neues Stadium ein. Denn mit ihr werden nicht allein nur die Formen und Inhalte einer Abbildung politischer Wirklichkeit und folglich sekundäre Erlebnisse schlagartig multipliziert, sondern auch das Kommunikations-und Informationsverhalten monopolistisch überformt und weitgehend eindimensional strukturiert. Was wie eine neue Möglichkeit der Demokratie angepriesen wird, weil Raum und Zeit verkürzt oder vielfältigere Daten zugänglich gemacht werden können, ist tatsächlich eher eine Gefährdungindividueller Intaktheit und auf diesem Wege ein Erschwernis für Demokratie:

Mit der Von Spezialisten zunehmend zentralistisch geleisteten Erhebung und Verbreitung von zumindest teilweise unübersichtlichen, disparaten und unverständlichen Informationsfluten geht eine Befähigung zur Bewältigung von Daten nicht einher. Die Verfügung über Datenerhebungen und -aufbereitungen ist lückenhaft selektiv und nicht jedermann in gleicher Weise möglich. Der Sozialisationseffekt und dessen politische Relevanz sind im großen und ganzen bereits jetzt ablesbar: Beständig geringer werden «die Chancen, sich nicht medial vermittelt zu artikulieren und zu organisieren ... Die medial vermittelten Möglichkeiten, zu kommunizieren, nehmen aber zu. (...) Diese Art der Kommunikation ... baut auf der Vereinzelung des Individuums auf und verstärkt sie. (...) Eindeutig läßt sich... feststellen, daß die Entwicklungsrichtung und die Entwicklungsdynamik der Information, ihrer Medien und der vielerlei Kommunikationsformen ... nicht an der sozialen Organisation der einzelnen, deren Bedürfnissen und Möglichkeiten anknüpfen, sondern einer ökonomischen Verwertungslogik folgen. Eindeutig ist auch, daß hier nicht eine ökonomische List der Vernunft am Werke ist, deren Erfindungen dem geselligen Zusammenhang dienen. Vielmehr zerstört diese Art der Entwicklung ... die Integrität sozialer Räume und der Individuen selber. Der einzelne besitzt keine Kontrollkriterien und Kontrollkommunikationen; er kann die Komplexität der Informations-und Kommunikationsfülle ... nur reduzieren, indem er ihr vertraut. Das ist ihr herrschaftlicher Sinn." Politische Bildung verfehlt ihre Absichten, wenn sie darauf mit Technologieverachtung oder Technologisierung bzw. Ausdehnung ihrer Informationsangebote reagiert. Nach solchen sozialisationstheoretischen Überlegungen bestimmt sich ihr Ort nämlich als Hilfestellung bei der Ordnung von Informationsmengen und Hinterfragung ihrer Zwecke, als Komplexitätsreduktion im Sinne der problematisierenden Erschließung von Strukturzusammenhängen, als gegenöffentlichkeits-ähnliche Verschaffung von Zugängen zu ansonsten ausgegrenzten Alternativinformationen und als Anbahnung oder gar Einübung von personaler Kommunikation, bei der in Rede und Gegenrede Geltungsansprüche überprüft und der Erkenntniswert begrifflich prägnanten Sprechens erfahren wird.

IV. Fachdidaktische Trends im Lichte der Sozialisationsforschung

In wenigen Sätzen läßt sich die Entwicklung der Didaktik für die Politische Bildung seit dem Einläuten der Gegenreform gewiß nicht ausdrücken. Einige Eckdaten lassen sich gleichwohl benennen: Die alten Kontroversen sind nicht beigelegt und auch nicht einfach nur vertagt; teilweise in andere Fragestellungen transponiert schwelen sie fort, wobei die Auseinandersetzung mit den jeweiligen Kontrahenten auf der Suche nach einem Minimal-konsens auch ein Stück Preisgabe von Theorieterrain bedeuten kann. Eine Art Trend nach zwei Richtungen wird mit der Diagnose auf den Begriff gebracht, es wirke sich auf die Konkretisierung allgemeiner Intentionen, auf die Methoden-und Medienwahl und insbesondere „auch auf Entscheidungen über Inhalte ... aus, ob sich Unterricht überwiegend an Interessen und Bedürfnissen der Schüler orientieren solle ... oder ... stärker durch ... verallgemeinerungswürdige Interessen bestimmt sein soll“ In die Differenz zwischen den damit benannten Polen wird derzeit der verbliebene Unterschied zwischen einigen der einflußreichen systemkritischen und systemimmanenten Didaktikern der Politischen Bildung übersetzt:

— Für die eine Position stehen Entwürfe, die zwar nicht völlig der Sozialwissenschaften als ein materiales Konstitutivum des sozialkundlichen Unterrichts entsagen, die aber doch ein eindeutiges Primat formulieren: „Wir möchten den Wissenschaftsbezug einbinden in ... konsequente Schüler-, Erfahrungs-und Handlungsbezogenheit" Als Modifikation der klassischen schülerorientierten Politischen Bildung sind sie bereits eine Reminiszenz an die Persönlichkeitskrise von Jugendlichen. Denn man läßt sich hauptsächlich auf eine Klientel ein, die bei einem Konglomerat aus Orientierungsmangel und -suche, Minderwertigkeitsgefühlen und Streben nach Anerkennung auf der Grundlage einer inneren Beziehungslosigkeit zur etablierten Umwelt primär an ihrer dem eigenen alltäglichen Leben nahen Sache — alternativ genannte Lebensweise, Zuflucht in gefühlsbetonte Gleichaltrigen-Gruppen, Mythologieerfahrung, Pflichtabstinenz u. a. m. — interessiert ist und sinnlich-vitale Bedürfnisse — nach Zärtlichkeit, Musikerleben, Streßfreiheit usw. — bevorzugt.

Nicht von ungefähr lauten die Themenvorschläge für den Unterricht denn auch ausschließlich auf solche allemal wichtigen, aber keineswegs die Gesamtheit der Komplexion und Konflikthaftigkeit des Politischen repräsentierenden Gegenstände, derer sich die sozialen Bewegungen partikularistisch angenommen haben und bei denen sich viele Jugendliche beheimatet wähnen: Zukunft, Frieden, Datenschutz und Okologie Auch wenn man dem jugendlichen Streben nach hedonistischer Lebensweise mit Sympathie begegnen mag, weil darin die Auswüchse der Zivilisation negiert und ein befriedetes Dasein unter Ausschöpfung verfügbarer Möglichkeiten antizipiert wird, ist eine allein oder überwiegend daran anknüpfende Schüler-orientierung problemgeladen, bei der mit der Einbindung von Wissenschaft bzw. nur der an sie angelehnten Verfahrenswege die Gefahr einer Instrumentalisierung von theoretischem Halbwissen für sozialisatorisch erworbene Scheinbedürfnisse, -erfahrungen und -handlungsweisen nicht begegnet wird. Konsequente Schülerorientierung leistet einem tendenziell irrationalismusanfälligen SubjektivismusVorschub. Denn „nicht die objektive, von Menschen ... gestaltete ... Praxis, die sich in ihren gesetzmäßigen Prozessen nur systematisch und wissenschaftlich erschließen läßt, ist hier Ausgangspunkt der Erkenntnis, sondern die individuelle oder auch gruppen-spezifische Erfahrung“ Und überdies droht eine narzißtische Selbstbespiegelung von Emotionen dazu zu führen, daß man über einen räumlich und sozial begrenzten geistigen Erfahrungsschatz nicht hinauslangt, zumal die Materialvorschläge fast nur alltagsnahe Primärquellen-Collagen sind. Es kann zwar sein, daß auf diesem Wege Schüler für Politische Bildung motiviert werden; nicht auszuschließen ist aber auch, daß Politische Bildung sich dadurch selbst depotenziert. Dem durch die Befunde der Sozialisationsforschung naheliegenden Hinweis auf die erforderliche Förderung kognitiver Kapazitäten, zu der eben auch Abstraktion, Deduktion, Schemaaneignung gehören, wird nicht nachgegangen: Differenzierung von bloßen Wahrnehmungsmu-Stern und Vernunft nur als Absichtserklärung reichen nicht aus — Symptomatisch für die andere Position sind einer Überlegungen zu Verpflichtung der Politischen Bildung auf eine praktische politische Rationalität, wobei Wissenschaftlichkeit fast nur noch Verfahren als der Begründung dieser Prioritätensetzung beansprucht wird. Als Kriterium der Bestimmung von politischer Rationalität gelten zunächst Elemente einer formalen Logik, wie sie in Form von zur Widerspruchsfreiheit oder Fähigkeit Unterscheidung Wert-und Sachurteilen auch schon älteren Konzeptionsskizzen inhärent waren. Daneben tritt noch „eine zweite Quelle von Rationalitätskriterien ... Diese ... wird gespeist aus Tradition, geltenden Konventionen und eigener Erfahrung handelnder Menschen und liefert in der Regel Entscheidungsgründe für unser Verhalten. (...) Auf Politikverständnis und politische angewandt bedeutet dies ..., Bildung induktiv und hermeneutisch aus der Tradition unseres philosophisch-politischen Denkens, aus den geschichtlich-politischen Grundlagen unserer Verfassung, aus dem wissenschaftlichen und öffentlich-politischen Gespräch über unsere heutigen politischen Grundprobleme die leitenden Fragestellungen und Wertorientierungen herauszufiltern .... die als ... Kategorien ... Unterricht... strukturieren können... In ein Ensemble solcher Kategorien gehen ... Ansätze ...der sozialwissenschaftlichen Theorie ein, soweit sie didaktisch auf unterrichtlich verwendbare Elementarfragen reduziert werden können. Die Kategorien transzendieren jedoch ... Wissenschaftsorientierung, indem sie ... grundlegende Wertorientierungen in sich aufnehmen. Ihre didaktische Grundfunktion ist die Reduktion von ... Komplexität in einer Weise, die ... vernünftig ist im Sinne einer verallgemeinerungsfähigen politischen Ethik, die schließlich dem Schüler ... bewußt gemacht und von ihm ... nachvollzogen werden kann“ Es gerät genau mit der „einseitigen Entscheidung für letztere ...freilich der . subjektive Faktor'aus dem Blick, der sich seit Anfang der 80er Jahre im Verhalten von Jugendlichen und Jugendgruppen nachdrücklich Geltung verschafft“ Wegen der Destillation einer verallgemeinerungsfähigen politischen Ethik bei gleichzeitiger Hintansetzung des Schülers in der Rolle eines aktiven Objekts als letztem Glied in einer langen Reduktionskette gerät die Konzeption zu einem subjektivitätsentratenden Objektivismus.

Er ist um so fragwürdiger, als das Reduktionsprodukt eigentlich etwas Strittiges in dem zu Reduzierenden ausmacht Zudem bedeutet Reduktion auf politische Ethik in letzter Konsequenz einen moralisierenden Unterricht, weil sie nahelegt, nur nach der Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu fragen oder Gesinnungen zu Leicht adaptieren. kommt dabei die Ergründung von ursächlichen Interessen und ihres materiellen Substrats sowie die Anbahnung von konkretem Handlungswissen zu kurz. Die nötige Förderung kognitiver Kapazitäten wird somit auf einer niederen Stufe eingefroren, und eine aufarbeitende Thematisierung von Sozialisationserlebnissen ist nicht systematisch vorgesehen. Als Lernvoraussetzungen die Politische Bildung tangierende Anpassungsleistungen werden nicht verunsichert, sondern ausgedehnt und günstigenfalls auf eine immanent höhere Qualitätsstufe gehoben.

Es zeigt sich, daß die in fast allen Details divergierenden Konzeptideen demokratisch-sozialistisch gemeinter Art einerseits und liberal-konservativer Provenienz andererseits angesichts der Alternativen zwischen Subjektivismus und Objektivismus in einem Punkt konvenieren: Sie sind kaum tauglich für eine Korrektur der politischen Sozialisation im Sinne eines Ausgleichs zentraler Defizite der Entstehung demokratiefähiger politischer Persönlichkeit und des sie konstituierenden politischen Bewußtseins. Im ersten Falle gerät die Distanz zur subjektivistisch-emotionalen Befindlichkeit zu kurz; es fehlt eine zielgerichtete Vermittlung mit theoretisch geklärten objektiven Bedingungen politischer Existenz; im zweiten Falle bleibt die objektivistisch-rationale Basis unrelativiert; es gelingt keine Rückkoppelung an die individuelle politische Lebenslage und Emotionalität

V. Aussichten

Eine späte industrielle Massengesellschaft wie diejenige der Bundesrepublik Deutschland ist eine Gesellschaft im Übergang von der Dominanz materialistischer Lebensweise zur Ausgestaltung einer postmaterialistisch organisierten Gemeinschaft Der ihr adäquate bürgerliche Verfassungsstaat mit seinem formal-demokratischen politischen System stellt das Bindeglied dar zwischen seinen autoritären Vorläufern und einer entwickelteren Form demokratischer politischer Kultur. Progression ist potentiell zu erwarten, Regression kann tendenziell nicht ausgeschlossen werden. Manches spricht für ein Beharren im Stadium des Übergangs auf unbestimmte Dauer. Progression, Stagnation und Regression sind abhängig von den gestaltenden Eingriffen konkreter Subjekte in die objektiven Gegebenheiten. Sie wiederum haben Lernleistungen spezifischer Art zur Grundlage. Politische Sozialisation in der Gegenwart sieht sich vor ein zweifaches Dilemma gestellt, das aus dem Übergangsstatus der Gesellschaft erwächst: Allgemeinverbindliche Werte, die das Handeln strukturieren und dem Einzelnen wie dem Ganzen Sinn verleihen, gibt es nicht mehr und noch nicht wieder; dieser Zustand reproduziert sich in massenhaft auftretenden widersprüchlichen und nur eingeschränkt identischen Persönlichkeiten, wobei rückwärtsgerichtete Subjektmuster relikthaft wiederkehren, status-quo-orientierte Verhaltensweisen bestandssichernd produziert werden und vorwärtsweisende Persönlichkeitsdimensionen perspektivenreich als Negation aufkeimen. Progression, Stagnation und Regression sind damit gleichermaßen ungewiß.

Auch wenn sicher nicht geleugnet werden kann, daß die Sozialisationsrelevanz des politischen Systems zunimmt, während die politische Relevanz des Sozialisationssystems schwindet sind deswegen Unterrichtsveranstaltungen nicht zu vernachlässigen. Forschungen über politische Sozialisation können „auf den politischen Unterricht ... anregend ... wirken. Die mit ihrer Hilfe genauer auslotbaren Möglichkeiten und Aufgaben politischer Bildung wären aber verfehlt, wenn, die politische Pädagogik ihren Begriff der politischen Bildung aufgäbe, statt ihn genauer zu bestimmen.“ Die Begriffsbestimmung kann erleichtert werden durch theoretische Rekonstruktion. Bei ihr kommt heraus, was zugleich Praxis profiliert: Politische Bildung ist Widerspruch zur überflüssigen Herrschaft und Kontrolle noch notwendiger Herrschaft — indem sie Herrschaft gedanklich zur Disposition stellt, ihr mißtraut, ihre Legitimation und Angemessenheit prüft, und indem sie der Reproduktion von Herrschaft in den Subjekt-strukturen entgegenwirkt.

Die Sozialisationstheorie lehrt, daß sich Herrschaftsreproduktion subjektiv als politischer Alltagsverstand mit Ausstrahlungen auf alle Persönlichkeitsbereiche niederschlägt. Dieser ist zu verstehen „als Produkt populärphilosophischer Ablagerungen .., fossilartiger Über-reste vergangener und gegenwärtiger kultureller Strömungen und Traditionsbestände. Er ist oft nach unkontrollierbaren Mustern zusammengesetzt und mit Spontanerfahrungen verbunden; er ist unkritisch, unhistorisch, eklektizistisch, inkohärent, aber auch labil und widersprüchlich. Sein wesentliches Merkmal ist das Denken in naturhaft-ontologischen Kategorien und die Unfähigkeit, . universal'zu denken und Bezüge innerhalb einer gesellschaftlichen Totalität herzustellen.“

Realitätsblindheit, Orientierungslosigkeit, Perspektivenmangel und Kompetenzeinschränkungen sind es, die das Subjekt über solchen Alltagsverstand beherrschen. Korrektur von politischer Sozialisation heißt dann Aufbrechen von verkrustetem Alltagsverstanddurch Aktualisierung seiner Widersprüche, Bewußtmachung seiner Funktionen und Hintergründe, Stimulanz intellektueller Reserven, Anleitung zur Reflexion sowie inhaltliche und formale Angebote von Erkenntnissammlungen und -verfahren. Sie läuft letztlich auf eine für den Emotionshaushalt und das Handlungsvermögen relevante Differenzierungder individuellen kognitiven Struktur hinaus und macht Vermittlungsprozesse erforderlich, bei denen sich Lernende aktiv mit ihrer Umwelt, ihren eigenen Beziehungen dazu, mit anderen Lernenden und Lehrenden sowie mit sozialwissenschaftlich geronnenen Wirklichkeitsreduktionen auseinandersetzen. Überlegungen zu einer solchen Kultivierung des politischen Lernens gibt es als fachdidaktischen Argumentationszusammenhang Die bei ihrer Geltendmachung auftretenden praktischen Probleme müssen später in Fragestellungen an die Forschung im Bereich der politischen Sozialisation überführt werden. Sie wiederum dürfte erheblich hinzugewinnen, wenn das Modell des produktiv realitätsverarbeitenden Subjektsaus der allgemeinen Sozialisationsforschung auf ihren Gegenstandsbereich ausgedehnt wird. Politische Bildung kann eine Hilfestellung für produktive Realitätsverarbeitung sein — sofern sie dem Rückzug auf Subjektives und der Verdoppelung von Objektivationen widersteht. Nur in der Versenkung in Problemstrukturen, im durchaus nicht immer nur vergnüglichen Aufklärungswillen, in harter intellektueller Leistung und phasenweiser Zurückstellung von Zerstreuungswünschen liegt eine minimale Chance für die Verhinderung von Stagnation oder gar Regression der Gesellschaft. Wenn für Progression engagierte Politische Bildung darauf insistiert und gleichfalls berechtigte Unterhaltungsbedürfnisse anderen Einrichtungen der Gesellschaft überläßt, dann ist sie auf merkwürdige Weise konservativ, ohne einer blinden Tradition das Wort zu reden. Nicht herkömmliche Lernerfolgskontrollen, sondern Lebenslaufanalysen, den biographischen Methoden der Sozialisationsforschung verwandt, und die Entwicklung der politischen Kultur selbst werden darüber Auskunft geben, ob sie damit in nennenswerter Weise erfolgreich ist

Fussnoten

Fußnoten

  1. P. Brückner, Zerstörung des Gehorsams. AufSätze zur Politischen Psychologie, Berlin 1983,

  2. In diesem Sinne siehe B. Claußen, Politische Sozialisation in Theorie und Praxis. Beiträge zu einem demokratienotwendigen Lernfeld, München — Basel 1980.

  3. F. Neumann, Politische Bildung, in: H. Drechsler u. a. (Hrsg.), Gesellschaft und Staat. Lexikon der Politik, Baden-Baden 19846, S. V—VI.

  4. H. Giesecke, Die Schule als pluralistische Dienstleistung und das Konsensproblem in der politischen Bildung, in: S. Schiele/H. Schneider (Hrsg.), Das Konsensproblem in der politischen Bildung, Stuttgart 1977, S. 56— 69, hier S. 60; Kursivdruck wurde nicht übernommen.

  5. Zu den bekannten früheren Vertretern einer Indienstnahme von Befunden und Überlegungen zur politischen Sozialisation für die Belange Politischer Bildung, deren Aktualität auch heute noch nicht verblaßt ist, zählen P. Ackermann (Hrsg.), Politische Sozialisation, Opladen 1974; G. C. Behrmann, Soziales System und politische Sozialisation. Eine Kritik der neueren politischen Pädagogik, Stuttgart u. a. 1 9753; B. Claußen (Hrsg.), Materialien zur politischen Sozialisation. Zur sozialwissenschaftlichen Fundierung politischer Bildung, München — Basel 1976. Als Dokumentation entsprechend intendierter internationaler Fachtagungen siehe zudem G. C. Behrmann (Hrsg.), Politische Sozialisation in entwickelten Industriegesellschaften, Bonn 1979, und G. Schmitt (Bearb.), Individuum und Gesellschaft in der politischen Sozialisation, Tutzing

  6. Beachte etwa C. Kulke, Politische Sozialisation, in: K. Hurrelmann/D. Ulrich (Hrsg.), Handbuch der Sozialisationsforschung, Studienausgabe, Wein-heim — Basel 1983, S. 745— 776.

  7. Vgl. A. Görlitz, Politische Sozialisationsforschung. Eine Einführung, Stuttgart u. a. 1977; P. Pa welka, Politische Sozialisation, Wiesbaden 1977; L. Kißler, Politische Sozialisation. Eine Einführung, Baden-Baden 1979.

  8. Als ersten und bislang einmaligen Versuch io deutschsprachigen Raum siehe B. Claußen/K. Was münd (Hrsg.), Handbuch der politischen Sozialisation, Braunschweig 1982.

  9. Über die wichtigsten Werke berichtet B. Claußen, Politische Sozialisation: Konsolidierung und Differenzierung eines Forschungsparadigmas, in: Neue Politische Literatur, 29 (1984), S. 91- 116 und S. 166- 186.

  10. Vgl. V. Briese u. a. (Hrsg.), Entpolitisierung der Politikdidaktik? Politische Bildung zwischen Reform und Gegenreform, Weinheim — Basel 1981, und G. Steffens, Der neue Irrationalismus in der Bildungspolitik. Zur pädagogischen Gegenreform am Beispiel hessischer Rahmenrichtlinien, Frankfurt/Main 1984.

  11. Die diesbezüglichen weiteren Ausführungen schließen an Überlegungen des Verfassers in den vorstehend und weiter unten nachgewiesenen Abhandlungen bei summarischer Auslegung der dort und in diesem Beitrag verzeichneten Literatur an. Aus Platzgründen können dabei nicht alle Gedankengänge oder die darin ausgewerteten Studien akribisch rekapituliert und aufgelistet werden, aus denen sich die Gesichtspunkte für die hier getroffene Auswahl ergeben.

  12. So die plausible Einteilung von C. Kulke (Anm. 6), S. 751 ff.

  13. Ebd., S. 753.

  14. Ebd., S. 754.

  15. Ebd„S. 757.

  16. Vgl. ebd., S. 761 ff., und P. Pawelka (Anm. 7), S. 108ff.

  17. Siehe stellvertretend für andere U. Andersen, Die Bedeutung empirischer Analysen für die politische Didaktik, in: G. Schmitt (Anm. 5), S. 158— 164.

  18. G. C. Behrmann, Die . Systemrelevanz'politischer Sozialisation: Zur Revision der politischen Theorie politischer Sozialisation, in: G. Schmitt (Anm. 5), S. 16— 48, hier S. 48.

  19. C. Kulke (Anm. 6), S. 754.

  20. G. C Behrmann, Politik — Zur Problematik des sozialkundlich-politischen Unterrichts und seiner neueren Didaktik, in: G. C. Behrmann u. a., Geschichte und Politik. Didaktische Grundlegung eines kooperativen Unterrichts, Paderborn 1978, S. 109— 222, hier S. 1551.

  21. Ergänzend siehe B. Claußen, Kritik und didaktische Konsequenzen neuerer Überlegungen zur politischen Sozialisation, in: B. Claußen, Aspekte politischer Pädagogik. Beiträge zur Wissenschaftstheorie, Fachdidaktik und Praxisbezug, Frankfurt/Main 1979, S. 285- 307; B. Claußen, Sozialisationsforschung, in: E. Lippert/R. Wakenhut (Hrsg.), Handwörterbuch der Politischen Psychologie, Opladen 1983, S. 298-308.

  22. Vgl. W. Hilligen, Politische Bildung, in: W. W. Mickel/D. Zitzlaff (Hrsg.), Handlexikon zur Politikwissenschaft, München 1983, S. 362— 369.

  23. Siehe auch die lexikalisch prägnante Übersicht bei G. Behrmann, Politische Sozialisation, in: W. Mickel/D. Zitzlaff (Anm. 22), S. 410— 415.

  24. Zahlreiche Aufschlüsse darüber entwickelt M. Erdheim, Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozeß, Frankfurt/Main 1982, insbes. S. 368ff.

  25. Vgl. H. Fogt, Politische Generationen. Empirische Bedeutung und theoretisches Modell, Opladen 1982.

  26. Siehe dazu H. Klages/W. Herbert, Wertorientierung und Staatsbezug. Untersuchungen zur politischen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt/Main — New York 1983.

  27. L Kißler (Anm. 7), S. 107.

  28. Am Beispiel der Heranwachsenden bei W. Behr, Jugendkrise und Jugendprotest, Stuttgart u. a.

  29. Vg. z. B. H. -D. Klingemann u. a. (Hrsg.), Politische Psychologie, Opladen 1982, vor allem S. 37 ff„ und zahlreiche Abhandlungen in den bisherigen Ausgaben der Schriftenreihe von H. Moser (Hrsg.), Fortschritte der Politischen Psychologie, Bd. 1 ff., Wein-heim — Basel 1981 ff.

  30. Mustergültig: S. Preiser, Sozialpsychologische, entwicklungspsychologische und lernpsychologische Voraussetzungen politischen Unterrichts, in: V. Nitzschke/F. Sandmann (Hrsg.), Neue Ansätze zur Methodik des politischen Unterrichts, Stuttgart 1982, S. 99— 128.

  31. Zuletzt H. -J. Asmus, Politische Lernprozesse bei Kindern und Jugendlichen. Eine sozialisationstheoretische Begründung, Frankfurt/Main — New York 1983, besonders S. 131 ff.

  32. Illustratives Material und vorläufige Deutungsversuche dazu finden sich bei U. Preuß-Lausitz u. a, Kriegskinder — Konsumkinder — Krisenkinder. Zur Sozialisationsgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg, Weinheim — Basel 1983.

  33. Zu den Auslösern entsprechender Diskussionen zu rechnen ist T. Ziehe, Pubertät und Narzißmus. Sind Jugendliche entpolitisiert?, Frankfurt/Main — Köln 19782.

  34. H. -G. Trescher, Anpassung an den autoritären Charakter?, in: H. Häsing u. a. (Hrsg.), Narziß. Ein neuer Sozialisationstypus?, Bensheim 19814, S. 87 bis 99, hier S. 97.

  35. Stellvertretend für das vielfältige Schrifttum siehe W. Hagemann u. a. (Hrsg.), Kognition und Moralität in politischen Lernprozessen. Theoretische Ansätze, Forschungsergebnisse, Anwendungsmodelle, Opladen 1982.

  36. Zu den Einzelheiten und ihrer Kritik siehe B. Claußen, Wie entwickelt sich moralisches Bewußtsein und welche Bedeutung hat es für die Bewertung des Politischen?, in: B. Claußen/K. Was“ und (Anm. 8), S. 399— 439.

  37. Vgl. dazu partiell B. Claußen, Intentionaler und funktionaler Konservatismus als Regression und systemimmanente Modernisierung des sozialkundlich-politischen Unterrichts: über den affirmativreformistischen Gehalt der fachdidaktischen Wende zur Werteerziehung und moralisch-kognitiven Entwicklung, in: B. Claußen (Hrsg.), Texte zur politischen Bildung, Bd. 1: Konzeptionen, Sachanalysen und Unterrichtsmedien als fachdidaktisches Problem, Frankfurt/Main 1984, S. 43— 93.

  38. Direkte wie indirekte Hinweise darauf bieten in übersichtlicher Form J. -U. Sandberger, Gesellschaftsbild, in: E. Lippert/R. Wakenhut (Anm. 21), S. 112— 124, und T. Leithäuser, Politisches Bewußtsein, in: E. Lippert/R. Wakenhut (Anm. 21), S. 239 bis 254.

  39. W. -D. Narr, Hin zu einer Gesellschaft bedingter Reflexe, in: J. Habermas (Hrsg.), Stichworte zur . Geistigen Situation der Zeit', Bd. 2: Politik und Kultur, Frankfurt/Main 1979-, S. 489— 537, hier S. 503.

  40. w. Hilligen (Anm. 22), S. 366; Kursivdruck wurde nicht übernommen.

  41. A. Holtmann u. a„ Sozialkunde 7— 10, Weinheim -Basel 1984 S. 25.

  42. Vgl. ebd. S. 73ff.

  43. So bereits die Kritik an einem Vorläufer der Konzeption von K. Priester, . Struktur'und . Konflikt'— Bemerkungen zu zwei didaktischen Grundkategorien der politischen Bildung, in: Demokratische Erziehung, 1 (1975) 4, S. 18— 30, hier S. 22.

  44. A. Holtmann u. a. (Anm. 41), S. 41 ff. und S. 59. Ebd. verwahrt man sich gar noch gegen den Eindruck, das Gebotene könne wie ein kognitiver Überhang wirken.

  45. B. Sutor, Neue Grundlegung politischer Bildung, Bd. 2: Ziele und Aufgabenfelder des Politikunterrichts, Paderborn u. a. 1984, S. 52f.

  46. W. Hilligen (Anm. 22), S. 366.

  47. Ergänzend siehe auch W. Hilligen, Zwischen Emotionalität und Vernünftigkeit. Anmerkungen zu einer (neuen) Kontroverse in der politischen Bildung, in: B. Claußen/G. Koch (Hrsg.), Lebensraum Schule und historisch-politische Erfahrungsweit, Frankfurt/Main 1984, S. 91— 102.

  48. Siehe dazu G. C. Behrmann (Anm. 18), S. 16 ff, und L Kißler, Politische Sozialisation und politisches System, in: G. Hartfiel/L. Kißler (Hrsg.), Soziou'e der Erziehung, Freiburg u. a. 1977, S. 125 bis

  49. G. C. Behrmann, Politische Sozialisationsforschung, politische Kultur und politische Bildung, in: G. C. Behrmann (Anm. 5), S. 9-— 33, hier S. 33.

  50. K. Priester, Zur Geschichte konservativer Gesellschaftsbilder in der Politischen Bildung, in: F. Haug u. a. (Red.), Dreißig Jahre Bildungspolitik in der Bundesrepublik, Berlin 1979, S. 171— 185, hier S. 171.

  51. Siehe die Darstellung und Weiterführung bei B. Claußen, Politische Bildung und Kritische Theorie. Fachdidaktisch-methodische Dimensionen emanzipatorischer Sozialwissenschaft, Drucklegung 1984.

  52. vgl. K. Hurrelmann, Das Modell des produktiv realitätsverarbeitenden Subjekts in der Sozialisationsforschung, in: Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie, 3 (1983), S. 91 bis 103.

Weitere Inhalte

Bernhard Claußen, Dr. phil, Dipl. -Päd., geb. 1948; Professor im Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg sowie Lehrbeauftragter für Politikwissenschaft und Sozialkunde an der Hochschule Lüneburg. Veröffentlichungen u. a.: Kritische Politikdidaktik. Zu einer pädagogischen Theorie der Politik für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit, Opladen 1981; Methodik der politischen Bildung. Von der pragmatischen Vermittlungstechnologie zur praxisorientierten Theorie der Kultivierung emanzipatorischen politischen Lernens (Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Forschung, Bd. 16), Opladen 1981; (als Hrsg, zusammen mit Klaus Wasmund), Handbuch der politischen Sozialisation, Braunschweig 1982.