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„Ach, Schnucki ..." — Humor in der Politik | APuZ 1/1985 | bpb.de

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APuZ 1/1985 „Ach, Schnucki ..." — Humor in der Politik Tanze, Kanzler, tanze — oder: Was bleibt, sind die Politiker Alles Theater? Auf jeden Fall viel Theater in Bonn Sport und Politik im Olympiajahr — Ein Rückblick Kabarettisten als Hofnarren der Demokratie?

„Ach, Schnucki ..." — Humor in der Politik

Christian de Nuys-Henkelmann

/ 31 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In einer Zeit, in der im Volksmund der politische Witz blüht, liegt der Humor in der deutschen Politik darnieder. Die vorliegende Collage spürt dem Humor in der Politik nach, verfolgt dabei, qhhne das humoristische Element zu vernachlässigen, in synchronem Weg die Fähigkeit der Politiker gestern und heute, mit dem Geist des Witzes und des Lachens im politischen Leben umzugehen.

Unverblümtes Flick - -Werk

Kampf um Profilierung Jupp Wolter, aus: Augsburger Allgemeine

In einer Zeit, wo sich Politik nur noch als „Flick-Werk" darbietet, in der nicht mehr die Politik den Charakter verdirbt, sondern manche Charaktere die Politik verderben, blüht der Humor(Scherz, Spaß, Spott, Witz) über die Politik.

Walter Hanel, aus: FAZ

Andererseits wird allerorten, auch von Politikern, der Niedergang des Humors in der Politik beklagt, der Verlust der Fähigkeit der Politiker, auch in schwierigen Situationen eine politisch gespannte Atmosphäre mit Esprit und Witz zu entschärfen und über sich selbst und andere zu lachen. Der sibyllinische Spruch, den am 24. November 1949 der Parlamentsabgeordnete der Nationalen Rechten, Leuchtgens, tat: „Wenn sie, meine Herren, weiter nichts können als lachen, dann will ich Ihnen nur zurufen: Sie wissen ja, wen man am Lachen erkennt“, scheint beantwortet: auf jeden Fall nicht den Politiker der achtziger Jahre.

Daß den Volksvertretern das Lachen abhanden gekommen ist, zeigt auch ein Blick auf die 520 Abgeordnetenphotos. Die große Mehrheit der Bundestagsabgeordneten, genau 273 nämlich, haben sich mit ernstem Blick ablichten lassen. Knappe 100 von ihnen, darunter Bundeskanzler Helmut Kohl, Innenminister Friedrich Zimmermann wie auch Rainer Barzel, konnten sich zu einem „halben Lächeln" durchringen. Nur wenig mehr als ein Dutzend Abgeordnete, davon die meisten weiblich, lachen . richtig', nämlich breit, offen und ungezwungen. So stellt sich auf den ersten Blick die Gemütslage der Abgeordneten des 10. Deutschen Bundestages als überwiegend ernst, aber nicht hoffnungslos dar.

Die Ausnahme

Mit ernstem Gesicht auch die humorig-rühmliche Ausnahme: der um Schlagfertigkeit nie verlegene Arbeitsminister Norbert Blüm, we--------------------------------------------------------------------Der Autor bedankt sich bei allen genannten Politikern für die Aussprüche, die als Grundlage für diesen Beitrag verwendet worden sind, und hofft, daß die betroffenen Personen auch nach Lektüre des Textes auf ein Dementi verzichten. gen seiner „Länge" oft als „Wadenbeißer von Helmut Kohl" und von SPD-Wirtschaftssprecher Wolfgang Roth gar als „sozialer Tanga der CDU" verdächtigt.

Der ehemalige Werkzeugmacher und promovierte Philologe verdient nicht nur einen „Pluspunkt für den Mut“ zu seiner klein-ovalen Brille (Originalton Blüm: „Ein bißchen progressiv muß das Aussehen auch sein, selbst wenn Harmonie und klassische Schönheit darunter leiden"), vergeben von drei Bonner Augenoptikern im Auftrage des „Förderkreises politischer . Rhetorik" (Blüm dazu: „Ich brauche keinen Ghostwriter — ich bin für un-verblümtes Reden"), sondern auch einen Plus-punkt dafür, über seine Karriere nie die Spontaneität seiner hessischen „Gosch" („Wir brauchen mehr Spontaneität. Der Samariter hat sofort geholfen und nicht erst den Bericht einer Enquete-Kommission abgewartet, welche die Unfallursache auf der Strecke Jericho-Jerusalem untersuchte") und nie den Bezug zur Praxis verloren zu haben („Es kann doch nicht der Sinn von Bildung sein, daß jeder Einsteins Relativitätstheorie erklären kann, aber keiner mehr einen tropfenden Wasserhahn repariert").

Den „Sexualismus" -Theorien des Kölner Kardinals Höffner zum Trotz, hält es der katholische Pragmatiker lieber mit Goethes Faust („Grau, teurer Freund, ist alle . Theorie'. Und grün des Lebens goldner Baum") und kennt sich — frei nach Schillers Wilhelm Teil und Roland Kaisers einschlägig bekanntem Schlager („Es kann die frömmste Nachbarin nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt") — sogar im , Necking‘ recht gut aus: „Alle wollen den Gürtel enger schnallen, aber jeder fummelt am Gürtel der Nachbarin herum". Immerhin hat seine nächste Nachbarin, seine Frau, um für sein leibliches und seelisches Wohl zu sorgen (Marita Blüm: „dieser Mann hatte Hunger, der hatte viel größeren Hunger als ich, nach außen zu wirken"), ihr Studium für den „Herz-Jesu-Sozialisten" aufgegeben, der wie jeder Mensch natürlich auch weniger gute Eigenschaften besitzt: „Er ist sprunghaft und flatterhaft. Einer, der sich nie festlegt." Wie die Nonn die Hur

Ist Norbert Blüm nun also der Idealtypus des „Volksvertreters"? Jedenfalls ist er kein graumausiger Technokrat mit blassem Profil und personalbogenfreundlichen Aufstiegs-Unauffälligkeiten, sondern ein eigenwilliger Parlamentarier und Sympathieträger der Bundesregierung, der es meisterhaft versteht, dem Volke nicht nur auf die sparunwilligen Finger, sondern auch aufs Maul zu schauen. Er macht sich damit nicht nur um die vermenschlichende Verkürzung des Abstands von Regierenden und Regierten verdient, sondern auch um die Wiedereinsetzung der von Juristen verhunzten Volkssprache („Die Trinkung des Schnapses erfolgt seitens des Bergmanns") in ihre angestammten Rechte.

. Unverblümte“ Kraftwörter sind ein nicht unwesentlicher Bestandteil der deutschen Sprache, denen man mit pikiert hochgezogenen Augenbrauen und den drei berühmten Anstands-Pünktchen und Auslassungs-Strichelchen nicht beikommt. Ohne sie wäre die deutsche Sprache so fade, salzlos und langweilig wie Sex ohne Erotik.

Dies wußte schon der sprachgewaltige Luther, der trotz der seinerzeit herrschenden Vorurteile gegenüber Nonnen („wie die Nonn die Hur") die entlaufene Nonne Katharina von Bora ehelichte und sich fragte, warum das Wort „. Arsch“ nicht dasselbe Existenzrecht" haben dürfe „wie zum Exemplum . Waldesruh oder . Sonnenschein ". Um die Wirkung und Macht der deutschen Kraftwörter wußte auch der konservativ-feinsinnige Geheimrat Goethe im Staate Sachsen-Weimar, dem nicht nur zwei Seelen, und diese vielen Seelen nicht nur, ach! in der Brust wohnten, sondern auch auf der Zunge und, ach! im Bette lagen — und der, als Staatsmann auch vierzehn Jahre Theaterdirektor,, im übrigen der Meinung zuneigte, Politik und Theater verderbe die Weiber: „Was tun unsere jungen Mädchen im Theater? Sie gehören gar nicht hinein, sie gehören ins Kloster, denn Theater und Politik sind bloß für Männer, die mit menschlichen Dingen bekannt sind."

Um die Kraft der Wörter wußte auch sein politisch ambitionierter Ritter mit der eisernen Faust, Götz von Berlichingen, dem die Klassiker-Herausgeber (allen voran Wieland und Herder) an der entscheidenden . Stelle den Fluch punktuell oder strichlings entschärften und damit verfälschten.

Dies wissen die Schwaben, die den „Götz-vonBerlichingen-Spruch" als „Schwäbischen Gruß" lieben und pflegen — und dies wissen nur nicht die Bürokraten und Bürokraten, die den „Sitzbezugspunkt (S)“ des Fahrers einer land-oder forstwirtschaftlichen Zugmaschine in einer vom EG-Rat herausgegebenen Richtlinie (Bundesrats-Drucksache 14/1979) wie folgt definieren: Er sei „der auf der Längsmittelebene des Sitzes gelegene Schnittpunkt zwischen der tangential zum unteren Teil der gepolsterten Rücklehne verlaufenden Ebene und einer horizontalen Ebene. Diese horizontale Ebene schneidet die untere Fläche der Sitz-platte des Sitzes 150 Millimeter vor dem Sitz-bezugspunkt (S)".

Nicht festgelegt wurde immerhin, wie das . Gesäß“ des jeweils mit diesem „Sitzbezugspunkt" in Berührung kommenden Fahrers zu berechnen sei — und ob die Formel solcher Berechnung mit vier Buchstaben auskäme. Daß ein „Zugmaschinenführer", der wie Helmut Schmidt schon Verständnisschwierigkeiten bei Strom-und Gasrechnungen hat, selbst bei überdurchschnittlich juristischem Interesse diese „Brüsseler Spitzen" kaum zu lesen, geschweige zu goutieren gewillt ist, liegt auf der Hand. Und das sei auch gut so, ließ der SPD-Fraktionsvorsitzende Herbert Wehner damals in ähnlichem Zusammenhang vernehmen, „denn sonst wird er auch noch verrückt!"

Adenauer und der Wackelkontakt

Seinen Verdruß an der in solchen Formulierungen kabarettreifen Sprache der Gesetzgebung äußerte in der Bundestagssitzung vom 17. Dezember 1976 auch der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß, der — nicht gerade ein Asket der Fröhlichkeit und der Wortmeldung — selbst mehr einer bajuwarisch-barocken Emblematik huldigt und deshalb trauerte: „Die schöne Zeit, wo die Sprache des Rechts die Sprache der Poesie und des Humors war, ist vorbei."

Nicht ganz — möchte man dem elegisch gestimmten Bayernfürsten zurufen, denn es gibt ja noch den launigen Blüm, der sehr wohl die Sprache des Humors und somit ein Stück politischer Kultur zu pflegen weiß. Ihm ist durchaus zuzutrauen, daß er das Erbe des fröhlichen Spötters Adenauer nicht nur anzutreten, sondern auch auszufüllen vermag. Ähnlichkeiten zwischen dem Rüsselsheimer Blüm und dem Kölner Original Adenauer, der seinen jungen Entwicklungshilfeminister und heutigen „Wahl-Kölner" Walter Scheel („Herr Scheel, Sie sind von der janzen FDP derjenige, der den fröhlichsten Eindruck macht. Wie kommt denn dat?") auf dessen Bemerkung, er sei eben auch „ein fröhlicher Rheinländer", einmal frozzelte: „Sie kommen doch aber aus Solingen, und dat wissen Se doch: dat Bergische Land iss für uns Kölner Sibirien", sind unverkennbar, sowohl hinsichtlich des Tonfalls als auch der Technik des Witzemachens, welche bei beiden in der Ausnutzung des Unerwarteten, in der Auflösung und Vernichtung einer Gedankenfolge besteht — man schaue sich nur Teile und Repliken einer Rede des ersten deutschen Bundeskanzlers vom 13. Juni 1950 an, einer Entgegnung auf die kritischen Ausführungen des damaligen SPD-Vorsitzenden und Oppositionsführers Kurt Schumacher, in der Adenauer schon gleich zu Beginn mit einem rhetorischen „Blümchen" aufwartete: „Der Bundesregierung ist von Herrn Dr. Schumacher gesagt worden, sie sei ein Wackelkontakt. Nun, meine Damen und Herren, lieber ein Wackelkontakt als gar kein Kontakt!"

Zum Stiefelausziehen

„Erbitte Gottes Segen für Deine Arbeit, aber erwarte nicht, daß er sie auch noch tut." Dieser Ausspruch, die Lebensdevise von Norbert Blüm, könnte ebensogut von Konrad Adenauer stammen.

Bei beiden hätte sich der sächsische Schriftsteller Erich Kästner — der über den deutschen Humor fragt: „Sind wir so unbefangen heiter wie die Südländer? Besitzen wir den Esprit der Franzosen? Oder die Selbstironie und das Understatement der Angelsachsen?

Haben unsere Staatsmänner Witz? Wird in unseren Parlamenten, außer wenn sich ein Redner verspricht, gelacht?" und antwortet:

„Nein. Es ist, von sehr raren Ausnahmen abgesehen, zum Stiefelausziehen" — die Stiefel 'ausziehen müssen.

Beide hätte Shakespeare als „Burschen von unendlichem Humor" bezeichnet. Und wenn Erich Kästner sagt, daß es am heitersten „noch am Fuße der deutschen Pyramide" zugehe, „beim Fußvolk", völlig humorlos werde es „erst in den höheren Regionen", so haben sich die Doktoren Adenauer und Blüm nie vom „Fußvolk" gelöst, da sie nie den Kontakt zur Sprache des „Mannes von der Straße" verloren haben, wo Vielfalt, Urkraft, Unverdorbenheit und ein echtes Vergnügen am Wort zuhause sind. Mit ihrem Dialekt, der nach Goethe „doch eigentlich das Element ist, in welchem die Seele Atem holt", blieben der Rheinländer Adenauer und der Hesse Blüm bei allem politischen Höhenflug bodenverhaftet und im stammestypischen deutschen Humor beheimatet. Eine sprachliche Gemeinsamkeit, die Norbert Blüm in anderem Zusammenhang einmal herausstellte: „Wir Hessen — wie übrigens auch die Rheinländer — haben Schwierigkeiten, , ch‘ und .seh'auseinanderzuhalten. Wenn so aus mancher Kirche eine Kirsche wird..."

Auch der in Frankfurt am Main geborene Goethe, von seinem Vater eigens zum Studium nach Leipzig geschickt, weil dieses Klein-Paris als Stätte feiner Lebensart und vorbildlicher Umgangssprache galt, bekannte sich bis ins späte Alter hinein zu seinem hessischen Sprachstamm. Reimte er doch, wie im „Faust" nachzulesen, das Wort „neige" auf „Schmerzensreiche". Er sprach also in schönstem Frankfurterisch „nei-che".

Man sieht: Adenauer und Blüm befinden sich in bester dialektaler Gesellschaft, wobei die drastischere Bildhaftigkeit seiner Sprache („In Neandertal warn die Arbeitsplätze billig, so 'ne Keule hat nicht viel gekostet") den Katholiken Blüm mehr in die Nähe des Reformators Luther rückt. Auch wenn er mit offenem Hemdkragen hinter das Rednerpult klettert und mit seiner Nickelbrille kaum über die Mikrophone schauen kann, rechtfertigt, was nicht gerade leicht zu rechtfertigen ist, das Pult umarmt und umtanzt, mit seinem Zeigefinger am ausgestreckten Arm förmlich selbst mitten im Auditorium landet, und mal laut, mal leise, mal eindringlich-beschwörend, mal leidenschaftlich-explosiv seine Pointen setzt, dann wirkt Blüm wie ein Kanzelprediger, auch wenn er sich selbst als Seemann fühlt („Ich bin wie ein Seemann, kein Sturm wirft mich um").

Doch ob Kanzelprediger, Bundesarbeitsminister, Sozialausschüßler, Krebs, IG-Metaller oder Seemann, man sollte ihn nicht allzu sehr festlegen, da er es selber nicht tut und keine Etikettierungen mag: „Etiketten sind was für Flaschen und nicht für Menschen!" — zumal sich hinter seiner Agilität und Mitteilsamkeit in Wahrheit Schüchternheit und Empfindsamkeit zu verbergen scheinen. „Ein interessantes . Blümchen auf oftmals karger Wiese", um mit den Bonner Augenoptikern im Bilde zu bleiben, dem auch auf dem steinigen Acker des neuen Justemilieu ein kräftiges individuelles Wachstum und eine lange gesunde Blütezeit beschieden sein möge. Wollen wir hoffen, daß es nicht gerupft wird. Bleibt nur die Frage, wann das Amt des Bundeskanzlers für Blüm vakant wird. Schließlich hat Helmut Kohl im Hinblick auf seine spätere Tätigkeit schon ernsthafte Überlegungen über seine Fähigkeiten angestellt: „Mein stärkstes Kapital ist, daß die Leute von mir, ohne hinzugucken, einen Gebrauchtwagen kaufen."

Nimmt man Kohl auch dies unbesehen ab, so sollte Blüm bei Hans-Dietrich Genscher Vorsicht walten lassen, wenn dieser mit einer Beendigung seiner Politkarriere kokettiert und ein Freiwerden des Außenministerpostens und der Vizekanzlerschaft in Aussicht stellt. Auch wenn dieser von erbitterten „Wendegegnern" ungeliebte Politiker öffentlich darüber sinniert: „Wenn ich einmal nicht mehr im Amt bin, mache ich eine Consulting-Firma auf und berate die Minister, wie man möglichst lange im Amt bleibt", so ist für voreilig startende Amtsbewerber Vorsicht geboten. Denn es besteht die Möglichkeit, daß Genscher mit seinem Duzfreund Kohl längst einen geheimen Beratervertrag geschlossen hat (von daher wird Kohls Taktik des „Aussitzens" von Konkurrenten und Problemen verständlich), was bedeuten würde, daß uns der Kanzler und sein Vize noch lange erhalten bleiben werden.

In diesem Zusammenhang spottet Martin Bangemann, kaum im Amt des Wirtschaftsministers, seinem Namen Hohn, wenn er auf die Frage, ob Genscher Außenminister bleibe, versichert: „Dafür lege ich nicht nur meine Hand, sondern mich selbst ins Feuer!" Würden da die Flammen hochzüngeln, wenn der gar nicht . bange Mann'nicht nur die Öffentlichkeit, sondern letztlich auch sich selbst . verkohlt'hätte!

Adam und Schwätzer

Wie sagte doch Ephraim Kishon in seiner Laudatio auf den 1979 zum Träger des „Ordens wider den tierischen Ernst“ gekürten Hans-Dietrich: „Als Schüler soll er die besten Noten bekommen haben, weil er seine Lehrer mit sofortigem Rücktritt bedroht hat", und nach „dem Zeugnis seiner Amme hat er schon im Alter von vier Jahren seine Mutter gegen seinen Vater und den Vater gegen die Mutter ausgespielt und beide ein Jahr später gegen die Großeltern". So scheinen Genschers leise angedeuteten Rücktrittsabsichten tatsächlich auf eine Verwandtschaft mit seiner früheren Generalsekretärin Irmgard Adam-Schwaetzer hinzudeuten. Wieso? Weil Genscher nicht nur ein geborener Adam, sondern auch ein gewandter Schwätzer sei — ein diplomatischer zumal, trifft doch auf ihn wohl die dritte jener drei folgenden Definitionen zu, die Lance Pope, langjähriger britischer Botschaftsrat in Bonn, auf die Überlegung „Was ist das eigentlich, ein Diplomat?“ einmal launig vorgeschlagen hatte:

„— Eine ferngesteuerte Nationalschallplatte, die abwechselnd Mono, Stereo oder Hi-Fi tönt.

— Ein Briefträger als Brieftaubenersatz, im günstigsten Falle eine Friedenstaube auf dem Dach, die den Spatz in der Hand ersetzen muß.

— Oder ein Mann, der sich immer damit herauszureden versucht: Jeh weiß, daß Sie glau-ben, Sie hätten verstanden, was Sie meinen, daß ich es gesagt hätte — aber ich bin nicht sicher, ob Sie wissen, daß ich das, was Sie von mir gehört haben, gar nicht gemeint habe! "

Fraglich ist, ob ein zurückgetretener Genscher noch bei den papuanischen Kopfjägern willkommen wäre, die ihm, wie Ephraim Kishon berichtete, nach einem ministerialspendablen Besuch den Namen „der kleine weiße Elefant, der goldene Eier legt" gaben. Für die Inder übrigens ist der Elefant das weiseste und vorausschauendste Landtier, Sinnbild des guten Gedächtnisses und der unaufhaltsamen Kraft. Es wäre eine Verarmung nicht nur der politischen Symbolpalette, wenn uns dieses Tier und seine Partei nicht erhalten blieben. Anders gesagt, um es mit Willfried Gredler, dem früheren österreichischen Botschafter in Bonn, auszudrücken: „Der FDP wünsche ich zum Bangemann einen Mutmacher."

Lage ernst,aber nicht hoffnungslos

Ein Mutmacher selbst in schwierigsten Zeiten, für das deutsche Volk wie für seine Partei, war Konrad Adenauer. Man erinnere sich nur seiner Worte vor den Delegierten des CDU-Parteitages 1962: „Meine Freunde, nun möchte ich Ihnen sehr menschlich und offen doch einiges sagen. Als ich zum erstenmal vor über zwölf Jahren Bundeskanzler wurde, habe ich den Professor Martini in Bonn gefragt, ob er wohl glaube, daß ich trotz meines hohen Alters die Arbeit noch ein Jahr leisten könne. Er hat mich pflichtgemäß untersucht und mir dann gesagt — und das hat mich sehr beruhigt —: Sie werden sicher anderthalb Jahre die Arbeit leisten können. Und das sind jetzt elf Jahre her, meine Damen und Herren! (Heiterkeit) Man sieht an diesem Beispiel, daß man der Barmherzigkeit Gottes keine Schranken setzen soll! (stürmische, nicht endenwollende Heiterkeit)." Wohl am charakteristischsten für Adenauers finalgerichteten Pragmatismus ist sein Kernsatz: „Die Lage ist ernst; aber nicht hoffnungslos!", der ein Schlaglicht wirft auf sein humoriges Wesen, seine Fähigkeit, das Wirkliche, auch wo es widrig ist, lächelnd zu bejahen.

Wenn der „gotische Rheinländer" (so der langjährige Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens, Franz Meyers, der sich als „barocker Rheinländer" gerne von Adenauer abhob), der „Alte von Rhöndorf", mit seiner Gerissenheit, seinem Beharrungsvermögen und seinem kölnisch-strammen Katholizismus (verzweifelte Bemerkung des Papstes bei einer Adenauer-Audienz in Rom, die der im Vorzimmer harrende Adjutant aufschnappt: „... ich sage Ihnen zum letzten Mal, ich bin schon katholisch!") als Vertreter der rheinischen Variante des Humors und des fröhlichen Spottes, der weder vor der Selbstironie noch vor der Schadenfreude haltmachte, im Bundestag sprach, dann stand im Parlamentsstenogramm immer wieder in Klammern „Gelächter", „große Heiterkeit", „schallendes Lachen".

Diese Bemerkungen sind ihrer Zahl nach viel geringer geworden, seitdem der Alte abgetreten ist, was sicher auch, wie der Schweizer Theologe Karl Barth diagnostiziert, an dem zunehmenden „apokalyptischen Ernst unserer Zeit" (1963) liegt, einer Atmosphäre, die immer weniger Raum für Humor läßt.

Apocalypse Now

Der von Barth signalisierte Mangel an Gefühl für Humor im modernen Menschen wurde schon 1907 vorausgesehen, als F. Baldensperger in Paris „Les Döfinitions de l’Humour" schrieb: „Man kann durchaus der Meinung sein, daß die genauen Zielvorstellungen, die das heutige Leben jedem vorschreibt — die wachsenden Bedürfnisse des Berufslebens und der Mobilität, die Übernahme bestimmter gleichlautender philosophischer Gegebenheiten durch die Mehrheit —, eine geistige Atmosphäre schaffen, die für den Humor immer ungünstiger wird." In einem solchen geistigen Klima, so Baidensperger, kann nicht erwartet werden, daß Humor in reichem Maße auf-blüht. Heute, etwa achtzig Jahre später, können wir das Bild, das Baidensperger zu entwerfen suchte, abrunden. Die moderne technologische Gesellschaft erwartet von allen, aber ins-’ besondere vom „Repräsentanten aller", vom Politiker, das rasche Erfüllen von Funktionen und läßt wenig Raum für Spiel und Phantasie, für Kreativität und Humor. Diese Gesellschaft wird vom Leistungsprinzip beherrscht, ist fundamental aktivistischer Art und daher nicht sehr auf Witzemachen und Lachen eingestellt. Das bürokratische Ordnungsprinzip hat sich auf fast alle Sektoren des Lebens ausgedehnt, und dieses Prinzip ist bekanntlich beherrscht von Rationalität und Effizienz, von Objektivität und Neutralität — wahrlich kein geeigneter Nährboden für lebendigen Humor. Außerdem wird, wie Baidensperger mit Recht andeutete, der moderne Intellekt von einer beschränkten Anzahl von Ideologien be7 stimmt, die fanatisch (das heißt ohne Lachen und Lächeln) verteidigt werden und in der Verarbeitung durch die Massenmedien primitiv wirken.

Wir leben tatsächlich in einer Zeit der — auch politischen — Slogans und Schlagzeilen, der Klischees und Platitüden und werden nur allzuoft ins Schlepptau genommen von dem, was man eine Eskalation moderner Schocks nennen könnte: Kriegs-und Atomgefahr, Waldsterben, Luftverschmutzung, Säuglingssterblichkeit, Umwelt-und Nahrungsmittel-vergiftung, Krebs-und chemische Gefahren. Eine Zeit, die zwar viele Sophismen (insbesondere politische Trugschlüsse) kennt, aber im allgemeinen keinen Sinn mehr für subtiles und differenziertes Denken hat und deshalb auch raffinierteren Formen des Humors fremd gegenübersteht. Wen mag es da noch verwundern, wenn der Alt-Journalist und Frühschöppner Werner Höfer beim Vergleich der Politikersprüche von früher und heute nüchtern feststellt, daß im Gegensatz zur Jetzt-Zeit in den Gründerjahren der Bundesrepublik „Zitate der höchsten Güteklasse gediehen wie goldene Äpfel am Baume der Beredsamkeit". Daß nicht nur der apokalyptische Zeitgeist für den Niedergang des Humors verantwortlich zeichnet, sondern auch der Mangel an Begabungen, konstatiert Walter Keim, der Leiter der Pressedokumentation des Bundestages, der von Amts wegen alles sammelt, was irgendwie witzig und bissig ist, also Humor über Politik(er), aber auch Humor von Politikern: „Das karikaturfähige Prachtpersonal wird weniger. Leute wie Adenauer und Wehner sind einfach nicht zu ersetzen!"

Trotz der Fernsehens: Die heutigen „Geistesblitze" der Politiker kränkeln nicht nur an ihrer Originalität (Willy Brandt: „Strauß ist einer der wenigen großen Begabungen der deutschen Politik. Aber er wirft häufig mit dem Hintern das wieder um, was er mit Kopf und Händen aufgebaut hat"), sondern leiden auch an ihrer Vergänglichkeit (Genscher: „Ich stehe zu Lambsdorff zu Lande, zu Wasser und in der Luft"), sie klingen krampfhaft-gewollt klug-arrogant (Helmut Schmidt: „Das ist der ganze Jammer, die Dummen sind so sicher und die Gescheiten so voller Zweifel" oder „Mich wundert es immer wieder, welch dezidierte Vorstellung Leute über Atomkraftwerke haben, die zu Hause nicht einmal in der Lage sind, eine Steckdose zu reparieren"), treuherzig-gutmütig (Helmut Kohl: „Ich finde, daß es in der Bundesrepublik außerordentlich viele attraktive und schöne Frauen gibt" — Hannelore wird sich freuen, das zu hören — und „Das gehört auch zum natürlichen Reichtum unseres Landes"), bitter (Herbert Wehner: „Strolchewismus"!) oder schlicht humorlos (Oppositionsführer Hans-Jochen Vogel über Strauß: „der Alpen-Churchill") und reizen nicht zu jenem Lachen, das die Sprüche als humoristisch definiert und konstituiert: „Der Erfolg eines Witzes liegt in den Ohren /des Zuhörers, nie in der Zunge /desjenigen, der den Witz macht" (Shakespeare). Wenn dennoch die Parteifreunde solche Zitate ihres Redners belachen, dann handelt es sich um ein inklusives Lachen als Ausdruck der Solidarität in der (Partei-) Gruppe mit exklusivem Charakter, da es gleichzeitig die Funktion hat, andere Menschen, die politischen Gegner, auszuschließen. Humor entsteht aber erst, wenn das Bonmot alle ohne (Partei-) Unterschied zum Mitlachen reizt.

Daß das Lachen im Parlament fast nur noch dazu dient, anderen lächerlich zu den machen (exklusiv zu lachen) und dabei der Humor selbst ins Gerede kommt, zeigt eine Rückblende auf den zweiten Tag der Haushaltsdebatte mit der Generalaussprache über die Regierungspolitik am 8. Dezember 1983: Aus der Wahlkampferfahrung, daß den Oppositionsführer Hans-Jochen Vogel, über dessen sachliche Art bereits in der eigenen Partei Witze kursieren (Johannes Rau: „Er trinkt am liebsten Fachinger. Aber wenn er so richtig einen draufmachen will, dann bestellt er eine zweite Flasche Fachinger"), nichts mehr als der Vorwurf erregt, humorlos zu sein, zweifelte CSU-Landesgruppenchef Theo Waigel den Humor des SPD-Politikers an. Die Erkenntnis, daß diese Aussage verallgemeinerungsfähig ist, verdanken wir Otto Graf Lambsdorff, der feststellte: „Der Bundestag ist mal voller und mal leerer, aber immer voller Lehrer" — ein Wortspiel, das seine volle inhaltliche Delikatesse nur als gesprochenes Bon(n) mot entfaltet.

Die menschlicheren und humorvolleren Sprüche stammen bezeichnenderweise von den Politikern, von denen bekannt ist, daß sie stets ein Lächeln, einen Schalk für sich und andere, bereithalten.

Spontan wie immer dagegen die Ausnahme Norbert Blüm, eine wahre Büttenbegabung: „Ich bin für jeden Streit zu haben. Streit ist ja auch ein Teil des parlamentarisch-demokratischen Lustgewinns. Aber es muß nicht über alles gestritten werden." Abstrakt-listig Lothar Späth über die Mengenlehre: „Wenn in einem Raum drei sind und vier rausgehen, muß einer wieder rein, damit keiner drin ist." Hintersinnig und weitsichtig (1980) Richard Stücklen: „Die Delegierten der FDP sitzen vorm Kasperltheater. Der Kasper kommt: „Seid ihr alle da?" „Jaaa"! „Aber nimmer lang." Mit einem gewissen Kitzeln unter dem liberalen Lackschuh der Mittengänger Walter Scheel: „Der Unterschied zwischen Kapitalismus und Sozialismus: Im kapitalistischen System werden die einen Menschen durch andere Menschen ausgebeutet. Im Sozialismus ist es genau umgekehrt." Sachlich der Grüne Dirk Schneider: „Herr Präsident, meine Damen und Herren, leeres Haus!" Und mit unübertroffen analytischem Scharfblick für Menschen und Situationen und mit drastischer Wortgebärde der fern vom Hauptstadt-dorf agierende Franz Josef Strauß, der den Oppositionsführer Vogel beim Warten auf die . Grünphase'ertappt: „Er börnert genauso, er sitzt wie der Hase in der Furche und wartet, er bis grünen Klee fressen kann."

Politisches Urgestein

Ein wichtiger Grund für das spürbare Defizit an guten Bonmots ist der schon erwähnte Mangel an Nachwuchs (ein Geißlersches, aber kein Problem der Grünen!), an Begabungen wie Adenauer und Wehner, ist die Erosion des politischen Urgesteins, der echten Typen.

Ein „Blümchen" auf karger Wiese macht da noch keinen Sommer. Strauß in München, Wehner nicht mehr im Parlament und die sich ständig als Enkel Adenauers proklamieren, können dessen Rolle einfach nicht ausfüllen, dazu reicht es nicht — Charisma ist etwas, das man sich nicht anlächeln kann.

Besonders Wehner, der im Laufe seiner parlamentarischen Karriere eine Reihe der schlag-fertigsten Zwischenrufe liefern konnte, aber auch fast achtzig Ordnungsrufe hinnehmen mußte, hinterließ eine spürbare Lücke. Nach seinem Abgang sind treffsichere Zwischenrufe selten geworden, die Langeweile im Bundestag kehrte ein.

Unvergessen Wehners Dialog mit Franz Josef Strauß, den er einmal so hartnäckig neckte, daß es selbst dem wortgewaltigen Bayern zu-viel wurde: „Machen Sie nicht so weiter, sonst ziehen wir aus!" Darauf Wehner: „Wie sehen Sie denn aus, wenn Sie sich ausgezogen haben?" Gelächter auf allen Bänken.

Den CDU-Abgeordneten Wohlrabe taufte Wehner in „Übelkrähe" um, was diesem noch jahrelang anhing. Den inzwischen ausgeschiedenen Abgeordneten Lothar Haase, der den absoluten Zahlenrekord an Zwischenrufen hält, ernannte Wehner zum „Gnom der CDU". Philipp Jenninger (CDU) anempfahl er: „Mann, hampeln Sie doch nicht so herum, Sie sind doch Geschäftsführer und nicht Geschwätzführer! 1'Es konnte auch schon mal vorkommen, daß er für eine CDU-Abgeordnete verlangte: „Geben Sie der Dame mal die Flasche!" Ansonsten jedoch benahm er sich gegenüber der Damenwelt sehr gesittet. Elisabeth von Werthern, die langjährige Geschäftsführerin der Parlamentarischen Gesellschaft, schwärmte jüngst vom bärbeißigen „Onkel Herbert" in höchsten Tönen: „Ein so freundlicher und ritterlicher Mann ist mir in Bonn nicht mehr begegnet."

Sponsorleibchen

Einer der nachwachsenden Humorträger des Bundestages ist der Münchner Anwalt und SPD-Abgeordnete Rudolf Schöfberger, der die durch den Einzug der GRÜNEN entfachte Diskussion über die „Kleiderordnung" im Parlament mit konkreten Vorschlägen bereicherte und sich dabei an den Trikot-Gepflogenheiten der Fußball-Bundesliga orientierte. Die Schöfbergersche Kleiderordnung sieht vor, daß die Abgeordneten in Zukunft zur Vermeidung von Spendenaffären künftig wie die Fußballer „Sponsorleibchen", Trikots mit dem Namenszug ihres Sponsors (Geldgebers) tragen dürfen, um auf diese Weise der Öffentlichkeit etwaige Parteispender gleichsam als Sponsoren bekannt zu machen, aus freien Stücken, ohne Mitwirkung eines Staatsanwalts. § 3 der im März 1983 erlassenen Kleiderordnung bestimmt, wer den Förderer wechseln wolle, komme auf eine beim Industrieverbands-Präsidenten Rolf Rodenstock hinterlegte Transferliste und „erhält zusammen mit seiner Ablösebestechungssumme ein neues Sponsorleibchen". Krawatten, so Krawattenmuffel Schöfberger, der nach dem Motto „Der Verstand mißt sich nicht an der Länge der Krawatte" schon 1980 im Bundestag ohne Halsschmuck antrat und prompt einen Rüffel des damaligen Bundestagspräsidenten Stücklen einsteckte, diese unpraktischen und unbequemen Zierden eines jeden Mannes also seien laut Trikotordnung weiterhin zulässig — aber nur für Abgeordnete, die noch kein Sponsorleibchen tragen. Schöfbergers Vorschlag wird natürlich spätestens am Minderheitenschutz scheitern, da sich Volksvertreter, die keinen Gönner gefunden haben, bloßgestellt fühlen müssen.

Kerngesund im Elfenbeinturm

Einige der zitierten Kernsprüche, humorigen Einfälle, Zwischenrufe, Witzworte und Wort-witzeverdienen es sicher, der Nachwelt erhalten zu bleiben — und sei es als dokumentarisches Zeugnis des politischen Zeitgeistes. Jedoch sind die wirklich „geistreichen" Worte, die das Prädikat „Bonmot" („treffend . geistreich-witziger Ausspruch") zu Recht verdienen, in der Minderzahl, was wohl, wie Forschungsminister Heinz Riesenhuber meint, darauf zurückzuführen ist, daß die Politiker zwar viel reden, aber meist undurchdacht, da sie „zu wenig zuhören und kaum zum Denken kommen". Wohl auch kaum zum Lesen kommen, ist dem hinzuzufügen. Denn die meisten Sprüche reichen nicht über den Rahmen eines emotionalen Reflexes hinaus, da ihnen ein literaturphilosophischer, im weitesten Sinne kulturhistorischer Wissensrückhalt fehlt, wie ihn etwa der belesene Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger noch vermitteln konnte, der sogar Regierungserklärungen mit Zitaten aus dem Werk des französischen Denkers Alexis de Tocqueville anzureichern wußte.

Doch wen wundern noch diese deutlich werdenden Wissensdefizite, wenn nach den Ergebnissen einer Umfrage über das „Kommunikations-und Informationsverhalten" der Bundestagsabgeordneten, dürchgeführt im Juni 1983 von einem Buchmagazin, zwar beinahe 60% der Politiker davon überzeugt sind, daß Schriftsteller „besonders sensibel" für „zukünftige Veränderungen der Gesellschaft" sind, aber praktisch keiner einen Schriftsteller als Vorbild hat (Helmut Kohl: „Auch wenn noch so viel geschrieben wird, unser Land ist doch im Kern gesund"), über die Entwicklungstrends in der Gesellschaft informieren sich die Parlamentarier mit Vorliebe aus Tages-und Wochenzeitungen sowie aus dem Fernsehen. Das Informationsverhalten, so die Studie, bestehe im wesentlichen im Lesen von Vorlagen, Aktenvermerken und Papieren aus Bundestag, Ministerien und Parteien. Das weise auf eine gewisse Isolation der Politiker hin und führt die Autoren der Studie zu der Frage, ob Politiker — lebensfern und weltfremd — im Elfenbeinturm leben.

Es ist sicher richtig, aber zugleich auch ein Vorurteil, daß das politische Geschäft geisttötend sei. Richtig ist, daß, wer mit der Macht umgeht, mit dem Geist nicht eben zimperlich umspringt, die Intellektuellen vielleicht gar als seine Gegner ansieht, wofür das bekannteste Beispiel Ludwig Erhard mit seiner unprofessoralen Beschimpfung der „Pinscher" und „Uhus" lieferte, denen er sein lapidares und unerfüllbares Wunsch-oder Tröstungspro-B gramm „Wohlstand für alle" entgegenpaffte. Jüngstes Beispiel dieses noch immer nicht begradigten Frontverlaufs war die neuliche große Kulturdebatte im Bundestag; neuester Gießkannenspruch: . Arbeit für alle".

Der Humor des Pharisäers

Wie man sich jedoch stets vor Verallgemeinerungen hüten sollte (obwohl das ganze wissenschaftliche Denken auf ebensolchen beruht), sind auch nicht alle Politiker auf der Nachtseite des Intellekts anzusiedeln. Und interessanterweise — und hier ergeben sich gewiß keine zufälligen Querverbindungen — sind die Ausnahmen gerade jene, die über ein großes Quantum an Humor und (ausgelebter) Sinnlichkeit verfügen und gerne und oft lachen, auch über sich selbst. Zu denken ist (wohl auch nicht zufällig) zunächst an zwei ehemalige Landeskultusminister, nämlich an den Niedersachsen Werner Remmers und vor allem an den Justitiar der CDU-Fraktion, Paul Mikat, an dessen geisteswissenschaftliche Kenntnisse wohl niemand im Deutschen Bundestag heranreicht.

Bezeichnend für Mikats humoriges Verhältnis zur Presse, zur eigenen Partei und zur eigenen Person ist eine Anekdote vom Juli 1966, als sich die neugewählte nordrhein-westfälische CDU-Landtagsfraktion zunächst nicht darüber einigen konnte, ob sie ein von 99 Sozialdemokraten getragenes Minderheitskabinett tolerieren oder mit der SPD eine „Große Koalition" bilden oder aber mit der FDP eine zur „Mini-Koalition“ geschrumpfte Kleine Koalition fortführen sollte. Als nach stundenlanger kontroverser Diskussion hinter verschlossenen Fraktionstüren der amtierende Kultusminister die Sitzung vorübergehend verließ, wurde er von den ausharrenden Journalisten mit Fragen bombardiert. Der Professor suchte sich mit einem Vergleich aus der Verlegenheit zu ziehen: „Jetzt proben die Journalisten den Aufstand und da drin“ — Mikat deutete auf die abgeschirmte Tür des Fraktionssaals — „die Pharisäer den Notstand." Sagte es und entfloh zu den Pharisäern. Eine Standardsituation des Humors, der nach Freud den Menschen eine Situation meistern läßt und als solcher einen Triumph über die (mißliche) Wirklichkeit darstellt. Er besitzt daher auch die Würde eines Älteren gegenüber einem Kinde. Ein Humorist, so bemerkt Freud (Der Humor, 1927), besitzt immer die Neigung, seine Mitmenschen in seinem Humor als Kinder zu behandeln (wer Mikat kennt, weiß um dieses väterliche Gebaren). Der Witz dagegen, den Freud in seinem berühmten Werk „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten" (1905) durch die wichtige Variable der Aggression vom Humor unterscheidet, sprudelt aus dem Unbewußten herauf (affektgeladener Ausspruch wie die meisten Zwischenrufe im Bundestag A la Wehner: „Flaschenkopf", „Rotzlöffel", „Manneken Pis"). Er ist vermummte Aggression, die den Zensor (das Über-Ich) durch diese Ver11 mummung zum Narren hält und aus dem Unbewußten ins Bewußtsein rückt. Verkleidet als „Witz" passiert die Aggression den Zensor und verursacht sowohl eine Lusterfahrung (durch den seelisch entspannenden Abfuhr-mechanismus des Lachens) als auch ein Überlegenheitsgefühl. Während der Witz (wie der Traum) die Befreiung von unterdrückter Aggression repräsentiert, ist Humor in der Hauptsache eine Leugnung des Wirklichkeitsprinzips (Otto Julius Bierbaum: „Humor ist, wenn man trotzdem lacht!"), wie Mikats . Pharisäer-Haltung' sehr schön veranschaulicht.

Das Salz der Politik

„Man hat gesagt, Humor sei, wenn man trotzdem lacht... — ja, wenn man auch dort noch lachen kann, wo man am liebsten weinen möchte — Sie können sich ja denken, wie schwer es da sein kann, zu Bonn den Humor zu behalten... Wenn wir bei jedem . Trotzdem', bei dem wir die Hand hochgehoben haben, gelacht hätten, würden wir uns schon längst zu Tode gelacht haben ... aber man sollte es trotzdem tun ... Denn wir sollen unseren Nächsten lieben, auch wenn er sauer ist ... Kurz, ich halte den Humor für das Salz der Politik — und was Salz bedeutet, weiß man besonders, wenn man keins mehr essen darf.“ Diese montierten Sätze aus den Jahren 1958 und 1962 stammen von einem der glänzendsten und humorvollsten Redner der deutschen Nachkriegsgeschichte, dem ebenso wohlbeleibten wie wortgewaltigen Professor Carlo Schmid, der zuweilen wie ein aus Versehen auf die politische Bühne geratener Literat wirkte, aber gar nicht professoral eingestand: „Mir liegt es einfach nicht, immer an Niveau zu denken — vor lauter daran denken rutscht es einem nämlich meistens weg. Man sollte sich nicht so wichtig nehmen, zu glauben, daß man so golden ist wie man glänzt — und dazu hin allein die Wahrheit besitzt." An Selbstbewußtsein, aber auch an Selbstironie mangelte es dem SPD-Politiker als Mitvater des Grundgesetzes und Erstem Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages freilich nicht: „Ich weiß, was sich ziemt — und ich möchte nicht, daß irgend jemand fürchten muß, mir erst übermorgen antworten zu können." Denjenigen Politikern, die sich da allzu wichtig und ernst nähmen, denen empfahl der Professor anläßlich seiner Aufnahme in den Aachener Karnevals-„Orden wider den tierischen Ernst" (1958), das politische Geschehen auf das Maß des Menschen zu bringen, denn nichts anderes bedeute Humor in der Politik. „Man sollte auch nicht glauben, daß unsere Reden da unten im Bundeshaus für sich allein die Welt retten oder, umgekehrt, Deutschland in Gefahr bringen könnten", so der vom beeindruckten Chruschtschow auf Adenauers Moskau-Reise (1955) in „Gospodin Großdeutschland" umgetaufte Bonner Parlamentarier, „das geschieht nicht durch unsere Reden, sondern durch unsere Taten und Untaten". Woraus diese parlamentarischen „Taten" bestehen, das hatte Schmid schon in der Parlamentssitzung am 25. Oktober 1951 als amtierender Vizepräsident den Abgeordneten nahegebracht: „Sie müssen entweder zustimmen oder ablehnen oder sich enthalten." (Heiterkeit) „— eine dieser drei Leistungen müssen Sie schon vollbringen."

Ach, Schnucki

Freimütig offenbarte der Schwabe, von dessen Stamm Professor Willy Hellpach in „Deutsche Physiognomik" (1942) meint, daß sich hier „verschlungene Phantasie und durchdringender Verstand eigentümlich das Gleichgewicht halten ... Nirgends wieder stehen Bildseligkeit und Denknüchternheit so dicht beieinander", seine still-geheimen unterdrückten Wünsche: „Ich habe manchmal ganz einfach Lust, wenn einer so ganz tierisch ernst daher-redet, zum Rednerpult hinaufzurufen: , Ach, Schnucki..." Dies müsse er sich stets verkneifen, denn das fände er denn doch „unparlamentarisch, und ich kann mir doch nicht selber einen Ordnungsruf erteilen. Und sehen Sie: Ich halte es für besser, sogenannte Gegner (die meisten wissen gar nicht, warum sie es sind) auf ein wippendes Florett auflaufen zu lassen, als ihnen ein Tintenfaß an den Kopf zu werfen — wie weiland Martin Luther auf der Wartburg dem Teufel."

Als „Ritter wider den tierischen Ernst" wandte sich der Professor nicht nur gegen die Verteufelung des politischen . Gegners', sondern war (als Parlamentsvizepräsident) auch um die Einhaltung und Erhaltung der Regel des Ordenskapitels (des Bundestags) bemüht, die da anhub: „Eingedenk geheiligter deutscher Sitte und Überlieferung, daß alles in dieser Welt, vor allem im Reiche des Humors, Regel und Form haben muß, wenn es ernst genommen werden soll..." Schmids Regelfestigkeit bekam der CDU-Bundestagsabgeordnete Kiesinger auf der Sitzung am 8. Februar 1950 zu hören, als er bemerkte: „Wenn man bösartig ist, kann man in der Tat das Wort Parlament mit Schwatzbude übersetzen." Daraufhin der Abgeordnete Schmid: „Es wurde davon gesprochen, Parlamentum heiße Schwatzbude, aber es ist falsch. Parlamentum hieß ursprünglich , das Haus', in dem man sprechen darf; Parlamentum hieß: das Haus der Auseinandersetzungen. Und nun frage ich Sie, wollen Sie das ändern?"

Saudummes Gewäsch von voergestern

Ändern tat der flexible Ritter, der sich im Sattel der Sinnigkeit wie auch der Sinnlichkeit einzurichten wußte, höchstens seine eigene Meinung, und dies beinahe so rasch wie Konrad Adenauer. Als Carlo Schmid einmal im Kreise von Bonner Presseleuten sich über ein im Fluß befindliches außenpolitisches Problem ausließ, wurde er von einem jungen Journalisten unterbrochen, der ihm vorhielt: „Aber, Herr Professor, noch vorgestern hatten Sie doch, wenn ich mich recht erinnere, eine ganz andere Meinung von diesen Dingen!" Amüsiert lehnte sich Schmid in seinem Stuhl zurück, blinzelte den Frager vergnügt an und parierte kurz und drastisch auf schwäbisch: „A geh — was geht mi mei saudummes Gewäsch von vorgestern an!"

„Was kümmert mich mein dummes Geschwätz von gestern" war auch die Taktik von Konrad Adenauer, mit der er sich der Gegenüberstellung mit Äußerungen, die er einmal getan hatte, gerne entzog. Da das dem liberalen Vizekanzler Erich Mende gegen den Strich ging, führte Mende, der auch heute noch als einer der Bestinformierten in Bonn gilt, insgeheim Tagebuch über Adenauers Aussagen am Kabinettstisch. Als Adenauer im Kabinett wieder einmal genau das Gegenteil, von dem sagte, was er vor einigen Wochen dazu ausgeführt hatte, zog Mende sein Tagebüchlein hervor und las dem verblüfften Bundeskanzler dessen frühere Aussage vor. Der „Alte" war zunächst so konsterniert, daß er seinen „Vize" erst mal wegen der Tagebuchführerei („iss was für kleine Mädchen") lächerlich zu machen versuchte. Dann aber hatte sich Adenauer gefaßt, wurde ganz väterlich zu seinem wesentlich jüngeren Stellvertreter im Amt und gab diesem zu bedenken: „Wissen Se wat, Herr Mende? Dat beste Tagebuch iss der Kamin!"

Die vielleicht wahren Gründe für solche schnellen Positionsrochaden klangen an in einem Parlamentsdisput mit dem damaligen Bundesaußenminister Heinrich von Brentano (CDU), einem eingefleischten Junggesellen, der einmal auf die Frage, ob es sich als vorteilhaft herausgestellt habe, daß er unverheiratet geblieben sei, antwortete: „Ja, — vor allem für die Frau, die ich nicht geheiratet habe!" Kein Kind von Traurigkeit also, explizierte Brentano am 21. September 1949 dem Parlament: „Ich glaube, es ist ein Fehler der deutschen Politik schlechthin, daß wir zunächst einmal mit Mißtrauen an den anderen herangehen und den anderen mindestens für nicht so ehrlich halten, als wir selbst zu sein glauben." Dies provozierte Carlo Schmid zu dem unschwer als Eingeständnis zu erkennenden Einwurf: „Mancher kann manchmal nicht so ehrlich sein, wie er möchte/" Was ihm Brentano prompt als Freudsche Fehlleistung vorhielt: „Haben Sie von sich gesprochen?"

Zwischen Skylla, Charybdis und süßer Haut

Bei Heinrich von Brentano dürfte Carlo Schmid keine „Schnucki" -Gefühle gehegt haben, denn dieser war ihm rhetorisch ebenbürtig und wies ihm zuweilen sogar den schlüpfrigen Weg durch die schwierigen Passagen der griechischen Mythologie und der Adenauerschen Politik, so geschehen am 15. November 1949: „Herr Kollege Schmid, Sie haben festgestellt, der Herr Bundeskanzler habe anscheinend einen defekten Kompaß. Sie haben dann erklärt, er habe die bittere Aufgabe — und wir alle —, zwischen Skylla und Charybdis zu wählen. Herr Kollege Schmid, Sie haben die Mannen des Heraklit und des Parmenides zitiert. Ich darf Sie daran erinnern, daß es nicht die Aufgabe Odysseus'war, zwischen Skylla und Charybdis zu wählen, sondern den Versuch zu unternehmen, zwischendurchzufahren. Ich hoffe, daß der Kompaß des Bundeskanzlers Ihnen diese Navigation gestattet." Mehr Eindruck als der Blick auf Adenauers vermeintlich defekten Kompaß und als Brentanos Steuermannsrede machte auf den lebensnahen Professor im November 1954 der Besuch „Seiner Majestät des Kaisers Haile Selassie von Äthiopien" — genauer gesagt die Begleitung des Monarchen (der erste kaiserliche Staatsbesuch in der Bundesrepublik), nämlich dessen Schwiegertochter, die 23jährige Herzogin von Harrar, deren anmutige Schönheit und kostbare Garderobe Gegenstand uneingeschränkter Bewunderung waren. Auch Carlo Schmid, der ihr als amtierender Bundestagspräsident in der Godesberger Redoute als Tischherr zugesellt war, zeigte sich völlig hingerissen. Nach dem Fest von einigen Journalisten nach seinen Eindrücken befragt, lächelte er versonnen und öffnete — gar nicht schwäbisch-puritanisch — sein Herz: „Kinders, ein Häutle hat die Prinzessin ..., ein Häutle — wie Samt!“

Abnormität mit Heiterkeits-Rekord

Den größten Heiterkeitserfolg, der je im Bundestag verzeichnet wurde, erzielte der als humorvoller Debatter bekannte CDU-Abgeordnete Dr. August Dresbach, Journalist von Beruf, der in einer Pressedebatte am 21. Mai 1954 seinem Wirken die Krone aufsetzte. Nicht weniger als 46mal wurde Dresbachs von Humor und menschlicher Wärme durchsetzte Rede laut Protokoll von „Heiterkeit", „anhaltender Heiterkeit", „stürmischer Heiterkeit" und „Lachen" unterbrochen.

Dresbach führte aus, der „westgermanische Normaltypus“, zu dem u, a. Generaldirektoren, Regierungsräte und Kolonialwarenhändler zu rechnen seien, sei nur allzu leicht geneigt, „in Journalisten so etwas wie leichtgeschürzte Mägdelein" zu sehen. „Wer es in Germanien unternimmt, schwierige Dinge in kurzweiliger Form darzustellen, der ist eben nicht seriös!“

Dresbach schilderte, wie er, Journalist aus Profession und Passion, sich einmal um eine feste Stelle bemüht und diese auch bekommen habe. „Aber die Katze läßt das Mausen nicht, und der Journalist das Artikelschreiben nicht. Da meinten meine Arbeitgeber, ich hätte mit diesen Artikeln vorbeigefochten; da bin ich als unbrauchbar abgegeben worden. — Dann beschloß ich, Politiker zu werden ... Aber, meine Damen und Herren, der Politiker gehört auch nicht zum westgermanischen Normaltypus ... Ich bin der Meinung, daß wir alle draußen als Abnormitäten betrachtet werden..."

Nachdem sich Plenum und Presse von ihren Lachanfällen erholt hatten, setzte Dresbach zum zweiten Stoß an und umschrieb das Verhältnis der Presse zur Politik folgendermaßen: „Die Nivellierung der Presse ist erst mit der üblen Gleichschaltung im . Dritten Reich'begonnen worden, an der sich ja einige Herren dieses Hohen Hauses seinerzeit beteiligt haben sollen ..., aber da ich ein wahrer Christ bin, bin ich geneigt, ihre Sünden zu verzeihen .. "

Auf die geistige Überheblichkeit gegenüber den Journalisten abzielend, ironisierte Dresbach: „Auf den Pressekonferenzen, da sitzen die , Pressebengels', den Füllfederhalter gezückt, um dem zu lauschen, was dem Zahngehege von Wirtschaftskapitänen, Bundesministern und solchen, die es werden wollen, entBeuchen könnte ... Die Presse zu belehren, gilt auch als gesellschaftlich höherstehend denn selber zu schreiben ... Ich bin von einem guten Freund in diesem Hause gewarnt worden, zuviel zu schreiben: Das erniedrigt Sief ... Sehen Sie, das Presse-Beiehren ist auch einfacher; denn man kann sich nachher immer damit zurückziehen, man sei mißverstanden worden ..., aber bei dem, der selber schreibt, da gilt das Wort meiner Heimat: , Wer schrievt, der blievt. Dabei ist natürlich in erster Linie an die Ausstellung von Wechseln gedacht — aber man kann es auch hier nehmen ..."

Verzeihen Sie die Schweinerei

Nochmals überzog Dresbach jene mit seinem Spott, die mittaten bei der Zerschlagung der Pressefreiheit. Er schilderte eine Begebenheit aus dem Kaiserreich, wo es vorkam, daß ein Amt die Presse unbehelligt ließ, obwohl man ein Eingreifen gefordert hatte, und schlußfolgerte: „Es waren damals doch noch sehr nette Zeiten — in dieser konstitutionellen Monarchie — Ich meine, wir sind uns alle darüber klar: die Schweinerei hat doch erst 1933 angefangen! Verzeihen Sie, die ehemaligen Mitglieder der NSDAP dieses Hohen Hauses, wenn ich Ihr einstiges Idol so kurzerhand als Schweinerei bezeichne ..."

Der christdemokratische Politiker warnte davor, redaktionellen Einfluß auf die Zeitungen nehmen zu wollen, „über die Verleger und deren heiligste Gefühle, die ja meist im Geldbeutel, Abonnement und Anzeigenteil" liegen. Dabei unterschied er zwei Sorten von Verlegern, „solche, die auch jedes andere Gewerbe ausüben könnten, und solche, die bestimmt mit großer Passion dabei sind und sogar im redaktionellen Teil der Zeitung eine produktive Angelegenheit sehen — nicht nur im Anzeigenteil". Abschließend forderte der Redner die Presse auf, selbstbewußt auf ihren Wert zu pochen. Die Presseleute sollten vorsichtig bei der Wahrnehmung von Einladungen sein. Wo sie sich aber auch aufhielten, sollten sie an das Bismarck-Wort denken: , Wo ich sitze, ist immer oben. 'Dieses Wort sollten sie auch nicht aus dem Kopf verlieren „bei den imitierten Hofgesellschaften dieser republikanischen Welt".

Selten hat ein deutscher Nachkriegspolitiker mit der Lanze des Humors und dem Florett-der Ironie so scharf getroffen, wie August Dresbach in jener Rede, der nach Meinung vieler Experten ein hoher demokratischer Stellenwert zukommt, da sie damals kursierende Überlegungen über die geschickteste Bewerkstelligung der „sanften Lenkung" der Presse mit Scharfsinn und Mut bloßstellte. — Lange Zeit ging das Gerücht um, man wolle in Bonn ein „Informationsministerium" schaffen und mit der Leitung dieses Amtes den CDU-Abgeordneten und ehemaligen Staatssekretär im Bundeskanzleramt, Lenz, betrauen — dessen Namen der Kölner SPD-Abgeordnete und spätere Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Heinz Kühn, daher zum „Symbol für die Frühlingsgefühle politischer Zensur-absichten" nahm. Gerade letztere aber hatte Dresbach mit seiner couragierten Rede, für die er 1955 als erster Parlamentarier den „Orden wider den tierischen Ernst" erhielt, zunichte gemacht und ein weiteres Mal bewiesen, daß der geistreiche Witz, spontan und in bildhafter Sprache gebracht, gepaart mit Selbstironie und großem Einfühlungsvermögen auch für den politischen Gegner (und für den andersdenkenden karrierebesorgten Parteifreund), rechtzeitig und nonkonform eingesetzt, immer noch die gefährlichste und beste Waffe des Geistes gegen Heuchelei, kalten Zynismus und Gewalt ist. Zur Nachahmung empfohlen!

Fussnoten

Weitere Inhalte

Christian de Nuys-Henkelmann, Dr. phil., M. A., geb. 1952; Studium der Theater-, Film-und Fernsehwissenschaft, Germanistik, Kunstgeschichte, Afrikanistik und Psychologie; Schriftsteller und Kulturhistoriker, Dozent am ASG-Bildungsforum Düsseldorf mit Schwerpunkt Kulturgeschichte der Neuzeit. Veröffentlichungen u. a.: Jahrhundertwende — Jahrhundertende?, 1984; Die Ware Liebe — Brecht und die Frauen, 1984; Hebammen der Gewalt? — Ernst Bloch und Herbert Marcuse, 1984; Wörterbuch der Unkultur, 1984; Träumereien am Nierentisch — Die fünfziger Jahre, 1984.