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Die Iberische Halbinsel und Europa Ein kulturhistorischer Rückblick | APuZ 8/1986 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 8/1986 Artikel 1 Portugal und Spanien in der Europäischen Gemeinschaft Politische Lage, ökonomisches Potential und wirtschaftspolitische Problembereiche der neuen Mitgliedsländer Die Iberische Halbinsel und Europa Ein kulturhistorischer Rückblick Italien in den achtziger Jahren

Die Iberische Halbinsel und Europa Ein kulturhistorischer Rückblick

Dietrich Briesemeister

/ 38 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Schwierigkeiten gegenseitiger Verständigung und Anpassung beim Eintritt Spaniens und Portugals in die Europäische Gemeinschaft sind ebenso wie die Widerstände gegen die Mitgliedschaft im atlantischen Verteidigungsbündnis auf selten Spaniens nicht die Folge jüngster Interessenkonflikte, sondern das Ergebnis einer langen historischen und geistesgeschichtlichen Entwicklung. Spanien und Portugal sind zwei der ältesten Nationalstaaten Europas, die sich zu Beginn der Neuzeit die Herrschaft über weite Gebiete der damals bekannten Welt teilten und die moderne außereuropäische Expansion einleiteten. Die Größe Spaniens und ihr Verfall im 17. Jahrhundert bestimmten für die Folgezeit die wechselseitigen Beziehungen zwischen Spanien und Europa: Anspruch und Sendungsbewußtsein auf der einen, Abneigungen, Ängste, Rivalitäten auf der anderen Seite. Im 19. Jahrhundert brach Spaniens konfliktgeladenes Verhältnis zu Europa in unversöhnlicher Schärfe durch die innere Verfassung des Landes auf, das in Bürgerkriegen, Militärputschen, Anarchie und regionalistischen Bestrebungen mit sich selbst beschäftigt war und den Anschluß an das Industriezeitalter verpaßte. Auf den Schlachtruf der Europäisierung im Sinne von Modernisierung, den einige Politiker und Intellektuelle erhoben, reagierten konservative Kräfte mit dem Programm einer Erneuerung, die aus der Rückbesinnung auf ewige Werte des Volkscharakters kommen sollte. Bis in die Franco-Zeit deutete man Spaniens Isolierung trotzig als Sonderstellung, die aus dem bewußten Bruch mit Europa folge. Portugal wurde aufgrund der geographischen Randlage in seiner Geschichte stärker vom „atlantischen Schicksal“ als von kontinentaleuropäischen Einbindungen geprägt. Daher litt es, anders als Spanien, weniger unter extremen Pendelausschlägen im Verhältnis zu Europa; es hat im Gegenteil alte und enge Bindungen an England und Frankreich. Aus der Geschichte heraus wird verständlich, welche Bindekraft und ideologische Faszination die Idee der Gemeinschaft der hispanischen bzw. luso-afro-brasilianischen Völker bis ins 20. Jahrhundert hinein in Spanien und Portugal noch ausgeübt hat. , Hispanität‘ oder . Lusitanität* sind zwar keine ausgesprochenen Anti-Europa-Ideen, machen aber deutlich, wie stark politisches Denken dort auch von anderen als speziell europäischen Gesichtspunkten abhängt. Dasselbe gilt auch von der oft beschworenen Vermittlerrolle Spaniens zur arabischen Welt. Für die Entwicklung des Verhältnisses der iberischen Halbinsel zu Europa aber sind in der Gegenwart die portugiesische „Nelkenrevolution“ (1974) und Francos Tod (1975) die tiefsten Einschnitte. Damit sind Verkrustungen aufgebrochen worden, die den Austausch mit dem übrigen Europa lange genug belasteten oder sogar erstickten.

Allegorische Kartenbilder des 16. Jahrhunderts zeigen die Gestalt der stolzen Europa mit Hispania als gekröntem Haupt. Als kostbares Geschmeide zieren die Pyrenäen ihren Hals. Im Hintergrund liegt „Die Spanische See“ — der Atlantik. Um Portugals Randlage im politischen Körper Europas zu vermessen, bedient sich der Dichter Camöes in seinem Nationalepos Os Lusiadas (1572) folgerichtig einer poetischen Überbietung dieses Vergleiches: „Und sieh! Am Haupt Europas liegt gebreitet/der Lusitanen Reich als Scheitel fast, /wo sich das Land verengt, das Meer sich weitet..

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts vergleicht der Journalist Julio Camba Europas Nationen mit den Wohnparteien in einem wilhelminischen Prachtbau. Das Erdgeschoß haben seit kurzem die Deutschen bezogen, protzig und geschmacklos eingerichtet, nicht gerade beliebt bei ihren Nachbarn. Die Franzosen, als Demokraten bekannt, logieren in der bei etage. Über ihnen wohnen die Italiener, mit erlesenem Geschmack möbliert. Draußen, im Gartenpavillon, führen die Engländer ihr Eigenleben. Die Spanier hausen im Dachboden, umgeben von Gerümpel und Spinnweben. Sie treten als feine Herren auf und arbeiten nicht, beteuern aber täglich, daß sie ihr Stockwerk nun renovieren werden.

Diese Bilder veranschaulichen die Selbstdeutung und Spannungen, aber auch die Wandlungen im Verhältnis vor allem Spaniens zu Europa sowie umgekehrt die europäische Einstellung Spanien gegenüber gleichsam als Erhebung der Glieder wider das Haupt. Im Verlauf erbittert geführter Auseinandersetzungen um das nationale Selbstverständnis bricht in Spanien, anders als in Portugal, immer wieder ein schweres Europa-Trauma durch, dem umgekehrt das abschätzige Mißtrauen entspricht, ob denn Spanien überhaupt zu Europa gehöre, fähig und willens sei, darin einen Platz einzunehmen. Denn jenseits der Pyrenäen, so lautete ein geflügeltes Wort, beginne Afrika, und was verdanke man schon Spanien?

Wie spanisch kommen uns die Spanier vor?

Die Frage nach Spaniens Beziehung zu Europa hat vielerseits tiefe Gräben von Vorurteilen aufgerissen. Einst wegen des Führungsanspruchs der Universalmonarchie, der Weltherrschaft, als Schreckgespenst in Europa gefürchtet und verhaßt, stempelte aufklärerische Kritik „das Volk von Pygmäen“ im 18. Jahrhundert zu einem lächerlichen, rückständigen Außenseiter und exotischen Wilden. Spanien und Portugal erschienen als unzivilisierte Nationen, Schandflecken auf der Landkarte jener erleuchteten Zeiten, ausgeschlossen vom Kommerz der Vernunft und des Fortschritts. Beide Länder müßten daher so lange unter Vormundschaft verbleiben, bis sie der Gemeinschaft würdig werden. Dagegen hatte die spanische Selbstverteidigung schon längst Rechtfertigungsmuster entwickelt. „Wer nennt uns nicht Barbaren? Wer sagt nicht, wir seien verrückt, unwissend und hochmütig?“, fragt der Dichter Francisco de Quevedo (1580— 1645) und stellt als Entgegnung das Bild vom eigentlichen, ewigen Spanien vor: Spanien, das auserwählte Volk Gottes, fällt böswilligen, neidischen, gottlosen, häretischen Feinden zum Opfer. Von aller Welt verleumdet und verachtet, steht es allein da als Märtyrer und Zeuge seiner Sendung. Fremde Einflüsse verderben die gute eigene Art. Das Ausland ist nicht nur feindlich, sondern auch moralisch minderwertig.

Bis in die Franco-Zeit hinein wird Spaniens Isolierung trotzig als Sonderstellung gedeutet, die aus dem bewußten Bruch mit Europa folge. Ohne sich selbst zu verleugnen und sein Wesen zu verraten, habe Spanien den revolutionären Säkularisierungsprozeß im modernen Europa nicht mit-vollziehen können. Es schützt sich hinter einer „bronzenen Mauer“ gegen die von außen drohende Verderbnis.

Die Iberische Halbinsel im europäischen Gleichgewicht der Mächte bis zum Wiener Kongreß 1815

Die Einsicht jedoch, daß Spanien krank sei, verbreitete sich schon im Lauf des 18. Jahrhunderts zugleich mit dem Vertrauen, daß Reformpolitik und die Nachahmung fortschrittlicher Vorbilder des Auslands die Heilmittel seien, um den verlorenen Anschluß an europäische Maße auf dem Gebiet der Wirtschaft und Manufaktur, des Landbaus und des Bildungswesens zu erlangen. Nach dem Spanischen Erbfolgekrieg (1701— 1714), der sich zu einem gesamteuropäischen Konflikt ausgeweitet hatte, wurde das „Gleichgewicht von Europa“ durch Verträge einigermaßen wiederhergestellt. Wenige Jahrzehnte später spielte Spanien als eine der stärksten Seemächte in diesem europäischen Mächteverhältnis erneut eine Rolle. Die völlige außenpolitische Abhängigkeit von Frankreich verwickelte Spanien während der Koalitionskriege gegen Napoleon in verlustreiche Auseinandersetzungen mit England und Portugal, dessen Eigenexistenz zwischen den von diesen beiden Mächten geführten Blöcken ernstlich gefährdet war, obwohl es gerade englische und französische Militärhilfe war, die Portugal im Kampf um die Unabhängigkeit von Spanien im 17. Jahrhundert stützte. Hätte sich Portugal jetzt Frankreich angeschlossen, so wäre England, der traditionelle Bündnispartner, zum Feind geworden, was mit der Abschnürung von Brasilien auch den wirtschaftlichen Zusammenbruch zur Folge gehabt hätte. Umgekehrt hielt die Anlehnung an England zwar den von diesem kontrollierten atlantischen Seeweg offen, setzte aber Portugal der Gefahr der Invasion seines iberischen Nachbarn aus, der mit Frankreich im Bunde stand.

1801 erklärte Spanien Portugal, das neutral bleiben wollte, den Krieg; von England allein gelassen, kapitulierte Portugal nach wenigen Monaten. Ende 1807 legte ein französisch-spanischer Vertrag nach der Weigerung Portugals, sich der Kontinentalsperre anzuschließen, dessen Teilung fest. Französische Truppen besetzten erstmals das Land. Der portugiesische Hof flüchtete, von der britischen Flotte geschützt, unter Mitnahme von Kunstschätzen, der Bibliothek und anderer Wert-Sachen mit Tausenden von Adeligen, Kaufleuten, Beamten und Offizieren nach Brasilien. Obwohl Portugal 1811 durch die Engländer von der dritten französischen Invasion befreit worden war, kehrte der König erst 1820 nach Lissabon zurück.

Unterdessen war in Brasilien das Königtum ausgerufen worden, und Rio de Janeiro stieg zur Hauptstadt des vereinigten Reiches auf. Zum ersten und einzigen Mal nahm eine europäische Monarchie ihren Sitz in der Neuen Welt. Inzwischen war in Spanien ebenfalls der Aufstand gegen die napoleonische Fremdherrschaft ausgebrochen.

Zur Zeit des Befreiungskrieges spielte die Frage des Verhältnisses zu Europa in der Presse eine große Rolle. Am 1. Januar 1809 veröffentlichte Pedro Cevallos sein Manifest der Spanischen Nation an Europa. Das Echo auf das Fanal des spanischen Aufstands war auch in Deutschland sehr stark. „Die Sache, die die Spanier verteidigen, ist die der ganzen Welt. Wenn Spanien siegt, wird die Tyrannei für immer ein Ende finden und Europa zu seinem alten Zustand des Gleichgewichts der Mächte zurückfinden.“ Die politische Lyrik griff ebenfalls das Europa-Thema auf; doch schon bald verloren sich die Rufe, und es schwand die Hoffnung, von den Staaten des europäischen Kontinents verstanden und unterstützt zu werden. Der verheißungsvolle Ansatz der „liberalen“ Verfassung von Cadiz (1812) erstickte unter der von Konservativen gestützten Herrschaft Ferdinands VII. (1814— 1833). Spanische Schriftsteller und Intellektuelle gingen ins europäische Exil. Als Journalist kritisierte Mariano Jose de Larra mutig die Rückständigkeit der spanischen Gesellschaft und Geistesverfassung im Blick auf die europäischen Verhältnisse. Eine Zeitschrift in Barcelona mit dem programmatischen Titel El Europeo unternahm 1823/24 den ersten Versuch, die Isolierung durch kosmopolitischen Gedankenaustausch zu überwinden und Spanien an die moderne Geistesbewegung in Europa heranzuführen.

„Hier ruht halb Spanien: es starb an seiner anderen Hälfte“ (Larra). Die zwei einander feindlichen Spanien

Der Abstand zu Europa wuchs unaufhaltsam. Während in England, Deutschland und Frankreich die industrielle Revolution fortschritt, lähmten Bürgerkriege und Militärputsche Spaniens Entwicklung. Die Auseinandersetzung zwischen Traditionalisten und Fortschrittlichen kennzeichnete die innenpolitische und geistige Situation des 19. Jahrhunderts. Zwei Spanien standen sich mit ihren Heilserwartungen für Generationen unversöhnlich gegenüber. Das VerB hältnis zu Europa war gespalten. Die Konservativ-Bürgerlichen, für die Demokratie, Sozialismus und Liberalismus Teufelswerk und Glaubensfeinde darstellten, widersetzten sich um der Bewahrung des „echten“ Spanien willen jeder Öffnung und Erneuerung, wie sie, gestützt durch die philosophische Strömung des Krausismus und die bis 1939 einflußreiche pädagogisch-wissenschaftliche Reformeinrichtung der Instituciön Libre de Ensenanza, von Intellektuellen und Politikern wie Joaquin Costa betrieben wurde.

Der Diplomat Donoso Cortes (1809— 1853), dessen Ansehen in Deutschland über Carl Schmitt bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg reichte, bezeichnete in seiner Rede über die allgemeine Lage Europas (1850) Spanien als Bollwerk gegen Säkularisierung und modernistischen Un-geist. Spanien bilde die große Ausnahme, eine „Oase in der Wüstenei Europas“. „Wenn Sie je den Wunsch verspüren sollten“, schrieb er 1849 an Louis Veuillot, „das geistige Europa hinter sich zu lassen, ohne jedoch über die Grenzen des geographischen Europa hinauszugehen, dann kommen Sie nach Spanien!“ Der Philosoph Jaime Balmes griff die verbreitete Meinung auf, daß Spanien ein „Land der Anomalien“ sei und drehte den Spieß um, indem er behauptete, Spanien ist ganz anders, aber nur eben leider zu wenig bekannt.

Auf deutscher Seite stellte Alban Stolz in dem Buch Spanischesfür die gebildete Welt (1853) den katholisch-christlichen Geist der spanischen Nation als ideales Maß Spaniens und Europas, als Beispiel unerschütterlichen Glaubens für die deutschen Christen hin. Wenig später entdeckte Pius Bonifaz Gams Spanien als Bundesgenossen gegen das „voltairianische, demokratische und imperialistische Frankreich“. Deutsche Protestanten hingegen wie Friedrich von Wolzogen, der sich selbst als einen „in Culturländern großgezogenen Europäer“ bezeichnete, meinten wie Heinrich von Treitschke, daß von Spanien, einer „sterbenden Nation mit verdorrtem National-geist“, einem Land der Toten und der Ruinen, nichts mehr zu erwarten sei.

Die Wiedereinführung der Monarchie (1875) nach einem kurzlebigen Experiment mit der Republik verhieß den Spaniern unter der Zauber-formel der „Regeneration“ die Heilung von den Krankheiten des Vaterlandes. Die entscheidende Schwäche war und blieb das Bürgertum, das nicht wie in anderen westeuropäischen Gesellschaften den modernen Umbruch mittrug, sondern im Gegenteil den Veränderungen mißtrauisch und ablehnend gegenüberstand. Es suchte seine Vergewisserung nicht im Erfolg, sondern im Rückgriff auf nationalistische Ideale und mit einer verschwommenen Wesensschau, die Minderwertigkeitskomplexe ausgleichen mußten, zugleich aber auch Ressentiments gegenüber Europa bestärkten.

Der Aragonese Joaquin Costa (1846— 1911), der als Bauernsohn und überzeugter Republikaner das Problem Spanien vor allem in seiner sozialen Dimension erfaßte, war zugleich der leidenschaftlichste Verfechter eines politischen Reformprogramms zur “ Wiederherstellung und Europäisierung Spaniens“. Kann Spanien eine moderne Nation werden?, fragte er nach der 1898 besiegelten vernichtenden Niederlage der Kolonialmacht, die auf den Stand einer jener „asiatischen, dekadenten und versteinerten Nationen“ herabgesunken sei, die niemand mehr beachte. Mit einem heroischen Kraftakt versuchte er in diesem von einer Handvoll Kranker regierten „Land von Eunuchen“ die Tendenz zur „Afrikanisierung“ umzukehren, die Spanien immer wieder aus dem europäischen Verbund hinaustrieb, überzeugt, daß auch Europa nicht länger einen „mittelalterlichen Volksstamm in fossilem Zustand“ als Anhängsel und Hemmschuh für den Fortschritt dulden werde.

Costa verlangte, daß die Staatsausgaben für eine Europäisierung, das heißt für eine Modernisierung des Landes und die Steigerung der Produktivität, erhöht, für die Rüstung jedoch gesenkt werden müßten. Spanien habe sich nicht gegen Frankreich, England oder sonst jemanden in Europa zu verteidigen, sondern es gelte allein, die Armut und den Bildungsnotstand zu beseitigen, die Landbewässerung und das Verkehrswesen zu verbessern. Das nannte er die zweite Reconquista des Landes, und nur so werde jenes heue Spanien entstehen, in dem es genug zu essen gibt, das gebildet ist und denken kann und das sich vor allem „nicht mehr fremd zu fühlen braucht außerhalb der eigenen Grenzen, als wäre es auf einem anderen Planeten oder in einem anderen Zeitalter“. So sehr Costa die Europäisierung mit dem Weckruf „Schulen und Speisekammern“ verkündete, so wenig meinte er damit eine desespanolizaciön, den Verlust spanischer Eigenart. Costa war ein Europäer, weil er überzeugter Patriot war, und niemand konnte für ihn ein echter Patriot sein, wenn er nicht im europäischen Zusammenhang dachte. „Versperrt das Grab des Cid (maurischer Beiname des spanischen Nationalhelden Rodrigo Diaz, t 1099 bei der Wieder-eroberung — Reconquista — der christlichen Herrschaftsgebiete von den Mauren im mittelalterlichen Spanien) mit einem dreifachen Schloß“, forderte er gegenüber jenen, die immer wieder nur die vergangene Größe des alten Spaniens beschworen, ohne die Gegenwart zu verstehen.

Der Streit um die Erneuerung: Europäisierung oder Einkehr in die „Spanische Seele“

Die Niederlage im Krieg mit den USA 1898 und die Aufgabe der letzten bedeutenden Kolonialgebiete (Kuba, Puerto Rico, Philippinen) wurden als Liquidierung der ehemaligen spanischen Großmacht verstanden. „Wir haben den Charakter einer amerikanischen Nation verloren und sehen uns nun zurückverwiesen auf einen europäischen Rang, werden aber von ganz Europa in unserer Schwäche und Niederlage verspottet“, klagte Rafael M.de la Labra. Die nationale Katastrophe nach einigen Jahren relativen Wohlstands führte zu einer Neubesinnung darüber, wie sich das Land von diesem Schlag erholen könnte. Es fehlte nicht an Diagnosen und Empfehlungen von Heilmitteln für das nationale Problem, die sich in Erwartung einer Wiedergeburt zwischen kosmopolitischen Träumereien, Utopien und der Rückbesinnung auf die geheimnisvollen Tiefen ewigen Spaniertums bewegten.

Die Verdrossenheit an Spanien, aber auch die Sorge um Bestand und Bestimmung der Nation bildeten eine wichtige Motivgröße der spanischen Literatur, die bei den Vertretern der soge-nannten Schriftstellergeneration von 1898 wieder deutlich hervortrat. Im „Leiden an Spanien“ gab Europa im positiven wie im negativen Sinn ständig den Maßstab der Erfahrung ab. Spanien, ein leidender oder ein schlafender Riese? Manchen erschien die Öffnung der Fenster zu Europa hin, die Zufuhr frischer Luft als einzige Chance für das Überleben.

Spanien hatte den Krieg verloren gegen ein Land der Neuen Welt, fast ohne Geschichte, aber mit einem erdrückenden Potential von Industrie, Wissenschaft, Technik und Geld. Dieser Krieg, unverhüllter Ausdruck der Auseinandersetzung zwischen der angelsächsischen und lateinischen , Rasse“, bestätigte nur die materielle und geistige Überlegenheit des germanischen Zivilisationskreises. Spanien brauchte die Hilfe der entwickelten Länder in Europa. Ramiro de Maeztu, später einer der Wortführer der Rechten und Märtyrer der Falange, predigte in dem Buch Für ein neues Spanien (1899) die Industrialisierung als Trieb-kraft für den Aufschwung, der von den Randgebieten der Iberischen Halbinsel her auf ganz Spanien übergreifen müsse. Wenn die Spanier nicht lernten, mit Maschinen, Geld und Fabriken umzugehen, würden sie immer in kolonialer Abhängigkeit von den fortschrittlicheren Ländern bleiben. „Wir müssen unsere Geschichte vergessen und unser Auge allein auf die Zukunft richten.“ Die Devise lautete nun europäisch, das heißt wissenschaftlich sein. Europäisierung war gleichbedeutend mit Fortschritt, Wissenschaft, Technik, Wirtschaft.

Dabei priesen manche Deutschland mit seiner Schwerindustrie und Wissenschaft als Modell für die Erneuerung an — oder auch Japan. Adolfo Gonzalez Posada (1860— 1944) forderte, Spanien müsse Ingenieure, Kaufleute, Lehrer, Offiziere, ja sogar Priester zur Ausbildung nach Frankreich, England, Deutschland und in die USA schicken. Andererseits banden regionalistische und separatistische Strömungen erhebliche politische Kräfte. Wie sollte das Verhältnis zu Europa gestaltet werden, wenn die Beziehung Kataloniens oder des Baskenlandes zum Gesamtstaat ungelöst blieb?

Manche erhoben den Isolationismus zum Programm und Heilmittel. Spanien solle seine eigenen Möglichkeiten ausschöpfen, anstatt seine Abhängigkeit vom Ausland zu vergrößern. „Die besten Sherry-Marken werden von den Engländern kontrolliert; die besten Gruben gehören Deutschen, Engländern, Franzosen, Belgiern., Unser bestes Obst ... wird in anderen Ländern verbraucht ... Die meisten Fabriken gehören nicht uns“, klagte Julio Puyol. Der Wiederaufbau müsse im Einklang mit den bleibenden Wesensbestimmungen, traditionellen Werken und Kräften der spanischen Geschichte erfolgen. Angel Ganivet verzichtete überhaupt auf europäischen Fortschritt, denn materieller Wohlstand erzeuge unweigerlich neue Krisen. Mit spiritualem Optimismus feierte man Armut als „großen Glanz aus innen“.

Spaniens Rückständigkeit wurde zu verschiedenen Zeiten und aus unterschiedlichen Erwägungen heraus immer wieder als geistige Stärke und Reichtum gewertet, umgemünzt zu moralischer Überlegenheit und ungebrochener Widerstandskraft. Rückständigkeit bildete somit ein Gegengewicht zum Materialismus und Fortschrittsfetisch; sie bot außerdem lockende exotische Fluchtzonen (etwa für Tourismus, Zivilisationsmüde, Kulturkritiker): Der Süden ist dem Paradies näher oder Spanien, ein stehengebliebenes Paradies sind bezeichnende Buchtitel noch aus den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts für die Suche nach dem Ursprünglichen. Nicht wenige spanische Intellektuelle verzichteten auf Europäisierung, weil sie es vorzogen, sich in mystischer Innenschau zurückzuwenden zur vermeintlich unverfälschten Wesensmitte. Der Mythos des Volksgeistes, die Geheimnisse der „Spanischen Seele“ ersetzten rationales politisches Tun und bestimmten eigengesetzlich die Wiedergeburt aus den Tiefen des Volkes.

„Geh nicht nach draußen, tief im Innern Spaniens wohnt die Wahrheit!“

Mit dem früh verstorbenen Schriftsteller und Diplomaten Angel Ganivet (1865— 1898) erreichte die gegen den Europa-Taumel der späten Restaurationsjahre gerichtete mystische Spaniendeutung unmittelbar vor der nationalen Katastrophe 1898 ihren Höhepunkt. Gegen das Schlagwort der Europäisierung setzte er die Rückbesinnung auf die Tradition und ihre unveränderliche Ausprägung im spanischen Nationalcharakter. , Noli foras ire, in interiore Hispaniae habitat veritas", lautete Ganivets Leitspruch in Abwandlung eines berühmten augustinischen Satzes. Um Spaniens Zukunft zu sichern, müsse man alle Türen mit Riegeln und Schlössern fest versperren, durch die der spanische Geist entweichen und in alle Windrichtungen verströmen könnte. Für Spaniens Erneuerung war nach Ganivet die europäische Ausrichtung unzuträglich, weil immer schon verderblich. Die imperiale und aggressive Expansionspolitik der (unspanischen) Habsburgerkönige seit Karl I. lieferte ihm den Beweis für eine dem „Territorialgeist“ Spaniens zuwiderlaufende Wesensentfremdung und Überforderung der Nation, die zu ihrer Dekadenz führten. Spanien wurde durch eine fremde Dynastie in die Rolle des großen, tragischen Darstellers auf der europäischen Bühne hineingezwungen.

Dieser Wandel im Urteil über die Habsburger ist übrigens ein bemerkenswertes Indiz für konjunkturelle Schwankungen im spanischen Geschichtsbild und in den europäisch-spanischen Verflechtungen. Unter den Bourbonen (ab 1715) wurde nach einer nicht nur von Ganivet geteilten Auffassung das Spanische erneut verfälscht und überlagert: „hispanizare“, ehedem ein politisches Schimpfwort für die Verbündeten und Kollaborateure der Spanier im Dreißigjährigen Krieg, lautete nun bei Ganivet die Losung für die nationale Erhebung und ein neues Selbstverständnis: „espanolizar nuestra obra“, aus spanischem Geist heraus wirken! Die Pyrenäen böten den natürlichen Schutzschild für die Unabhängigkeit der Halbinsel, deren geographische Lage und anthropologische Grundgegebenheiten den Lauf ihrer Geschichte prägten. In verwegenen Spekulationen erblickte Ganivet in Afrika das Ziel künftiger spanischer Expansion, ausgerechnet zu einer Zeit, da der Schwarze Kontinent im Mittelpunkt der Rivalitäten unter den europäischen Kolonial-mächten stand und Spanien außenpolitisch völlig geschwächt war. Mit den „arabischen Schild-knappen“ würde es Spanien gelingen, Ansehen und Macht in einer ihm gemäßen Hemisphäre zu erweitern.

Die ideologischen Ambivalenzen in der Bewertung der spanisch-arabischen Beziehungen zu verschiedenen Zeiten sind sehr aufschlußreich gerade auch im Hinblick auf das Verhältnis Europa-Spanien. Galt der Spanier dem Mitteleuropäer im 16. und 17. Jahrhundert, „halb Jude, halb Araber“, religiös-rassisch als verdächtig und moralisch minderwertig, so setzte mit Herder eine Verklärung des „edlen Maurentums“ ein: Die Araber sind für ihn „Lichtbringer der europäischen Kultur“, die Spanier demzufolge kulturell „veredelte Araber“.

Das Thema Spanien zwischen Kreuz und Halbmond, Land zwischen Orient und Okzident, Das Doppelantlitz Spaniens (so lauten die Titel einiger Spanienbücher) ist unerschöpflich kontrovers, bis hin zur erbittertem Fehde zwischen den exilierten spanischen Fachgelehrten Americo Castro und Claudio Sänchez Albornoz nach dem Zweiten Weltkrieg über den jüdischen und arabischen Einfluß in Mentalität, Kultur und Sozialgeschichte der Spanier. Das Verhältnis zur arabischen Welt wird in der essayistischen Spanien-deutung und universalhistorischen Betrachtung nicht nur in seiner zivilisatorischen Dimension, sondern auch in seiner unmittelbaren Aktualität mit allerdings verschiedentlich wechselnden Akzenten erörtert (Percy Ernst Schramms Aufsatz über Spanien, Bastion Europas, Brücke nach Afrika und Amerika von 1953 ist hierfür ein Beispiel aus der früheren Zeit der Bundesrepublik). So sind die Drohungen und Proteste arabischer Länder gegen die von der spanischen Regierung unlängst aufgenommenen diplomatischen Beziehungen zu Israel nicht allein Ausdruck des Nahostkonflikts. Es waren neben den iberoamerikanischen die arabischen Staaten, die Spanien zur Aufnahme in die Vereinten Nationen verhalfen. In seiner Mittelmeerpolitik hat Spanien immer eine proarabische Haltung eingenommen.

Zwei „feindliche Brüder“ im philosophischen Streit um ein Spanienkonzept

Miguel de Unamuno (1864— 1936), ein baskischer Gelehrter, Dichter und Schriftsteller, der zum eifernden Verteidiger kastilischen Wesens wurde — für Hermann Graf Keyserling der „ewige Spanier“, „Excitator Hispaniae“ nach den Worten von Ernst Robert Curtius —, war mit sei-17 nen Widersprüchen und irrationalen Gedanken-sprüngen auch ein Spiegel alter Zwiespälte im Verhältnis Spaniens zu Europa. Zunächst zeigte er sich, von sozialistisch-marxistischen Ideen beeindruckt, wie viele fortschrittlich gesinnte junge Leute, Europa gegenüber sehr aufgeschlossen. In seinem Essay Über das echte spanische Wesen (1895) wird Spaniens geistige Stagnation auf die Abschirmung zurückgeführt, in der die Inquisition das Land gehalten und seine Reform vereitelt hatte. Die Europaidee war jedoch als Möglichkeit in Spanien durchaus vorhanden; daher wollte Unamuno „die Fenster öffnen für die frischen Winde aus Europa“, „das kontinentale Ambiente in sich aufsaugen“, sich europäisieren, damit neue Lebensformen erstünden in dem moralisch versteppten Spanien. „Spanien bleibt zu entdecken, und nur europäisierte Spanier können es entdecken.

Dann schlug Unamunos Verhältnis zu Europa plötzlich um in einen antieuropäischen Affekt, der das Spanische schlechthin als Gegensatz zu Europa bestimmte. Im Kontrast zu diesem Widerpart sollte das eigene Wesen um so deutlicher hervortreten. In einem berühmten Aufsatz über die Europäisierung (1906) warnte Unamuno vor der spirituellen Verfremdung Spaniens durch eine Annäherung an das moderne Europa. Dagegen setzte er auf „unsere alte, afrikanische Weisheit“, die letztlich religiös gegründet ist, und sprach von einer „infamen Vermischung“ mit Europa, von dem „abscheulichen, geistigen Mestizentum“. Den echten Spaniern stellte er die Entwurzelten gegenüber, die ihre Wesensform verraten haben, also „unspanisch werden“ (desespanolizar) und aus der Art fallen (descaracterizar). Gegen den Weckruf der Europäisierung Spaniens setzte Unamuno auf die umgekehrte, paradox-quijoteske Formel, daß Europa gleichsam in einem Prozeß der Verdauung Spanien anzuverwandeln sei: „Die echte und eigentliche Europäisierung Spaniens, das heißt unsere Verdauung jenes Teils des europäischen Geistes, der unserem Geist gemäß aufgenommen werden kann, setzt erst dann ein, wenn wir daran gehen, uns der geistigen Ordnung Europas aufzuprägen, den Europäern unser Wesen, das unvermischt echte Spanische zu schlucken geben im Austausch für das Ihrige, bis wir versuchen, Europa zu hispanisieren.“

Diese mit der Physiologiemetaphorik ausgedrückte geistige Assimilation bedeutete bei Unamuno nicht, daß die Welt am spanischen Wesen genesen müsse, wie es fast gleichzeitig Kaiser Wilhelm II. vom deutschen Wesen behauptete, sondern diese Weise der Einverleibung sollte den dialektischen Vorgang einer Ausfilterung der (metaphysischen) Essenz des unvergänglich Spanischen (castizo) umschreiben. Europa bildete dafür sozusagen nur eine Negativfolie: „Andere Völker haben uns vor allem Institutionen, Bücher hinterlassen, wir haben Seelen hinterlassen.“ Die Heilige Theresia wog jedes Institut, jede „Kritik der reinen Vernunft auf. Auf die Klage, Spanien habe wenig geleistet für den wissenschaftlichen Fortschritt, entgegnete der Philologe und Philosoph: „Erfinden sollen die anderen!“ Spanien habe seine Seele zu retten als Botschaft für die Welt. Er blieb überzeugt, „daß wir Spanier immer wir sein werden, und wenn die Sintflut von außen über uns kommen sollte“.

Unamuno sah die eigentlichen Brüder nicht in Europa, sondern in (Spanisch-) Amerika: „dort ist unser Blut, unsere Sprache, dort liegt unsere Zukunft. Die iberoamerikanische Rasse ist die große lateinische Rasse“. Um die eigene Geschichte zu verstehen, müßten die Spanier den Blick auf die Neue Welt richten und sich gleichsam hispanoamerikanisieren (hispanoamericanizar). Vom Ausblick auf die arabisch-afrikanische Welt hielt er dagegen nichts.

Der Essayist Jose Maria Salaverria (1873— 1940), der zunächst das Alte Spanien (1907) kritisch analysierte, dann aber auf erzkonservative, rechte Positionen umschwenkte, tat die von Costa propagierte Europäisierung als Aberglauben ab. Europäisieret waren für ihn „Agenten der Zersetzung und Auflösung“. „Diese unruhigen Europäisieret wollen Europa mit einem Schlag, mit Taschenspielertricks nach Spanien verpflanzen.“ Aber Europa sei Spanien, so Salaverria, feindlich gesinnt, es brauche ein schwaches Spanien: „Europa schaut uns immer wie ein gefährliches Wesen an, das man bewachen und zügeln muß.“ Protestanten, Freimaurer, Aufklärer, Republikaner, Liberale, Sozialisten und das internationale Judentum hätten sich gegen Spanien verschworen. Wider die Verachtung und Verleumdung Spaniens setzte Salaverria trotzig die Spanische Selbstbehauptung (1917): „Wir sind anders, wir sind nicht meßbar mit den üblichen und allgemeinen Maßstäben.“ Zugleich beansprucht er aber alles „echt Europäische“ für Spanien, die europäische Nation schlechthin. Spanien befinde sich nicht nur in innerer Übereinstimmung mit Europa (die Abweichler sind die anderen), sondern habe trotz seiner geographischen Randlage auch lange Zeit die Achse Europas gebildet. Spanien sei ohne Problem — wie später nach Francos Sieg —, weil es seiner Bestimmung getreu alle Fremdkörper ausscheide und dort weitermache, wo 1648 die Entwicklung abbrach.

Am entschiedensten hat der Philosoph Ortega y Gasset (1883— 1955) fast ein halbes Jahrhun-B dert hindurch über das spanisch-europäische Wechselverhältnis nachgedacht. Sein fundamentaler Ansatz lautete: „Spanien ist nur möglich, wenn man es von Europa her betrachtet.“ Bereits in der programmatischen Besprechung der Zeitschrift Europa (1910) verstand er Europa nicht als bloße Antithese und Negation zum Spanien jener Zeit, sondern als Grundlage für ein dialogisches Zusammenleben und als Ausgangsbasis zur Überwindung des nationalen Tiefstandes. Europa sei die Bedingung für Spanien; Spanien stelle eine europäische Möglichkeit dar. Die Europäisierung zeige Wege und Verfahren auf, um ein neues Spanien aufzurichten und das „Problem Spanien“ zu lösen. Der „Tibetanisierung" Spaniens setzte er die Integration in eine gemeinsame Landschaft Europa entgegen; er glaubte nicht an eine radikale Spaltung zwischen Spanien und Europa. Man könne zwischen ihnen nicht als Alternative wählen, vielmehr sei die Einheit notwendig und zugleich wirklich. In der Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa sah Ortega die einzige Möglichkeit für das Überleben und den Schutz vor dem Totalitarismus. In der Weimarer Zeit, als Oswald Spengler den Untergang des Abendlandes prognostizierte, suchte Ortega in seinen Analysen (Aufstand der Massen, Spanien ohne Rückgrat) nach Wegen zur „Bewahrung des Abendlandes“.

Ortega, seinem Bildungsgang nach der deutschen Philosophie verbunden, kam bereits 1949 wieder nach Deutschland. Sein Zuspruch als Europäer und die Absage an jeglichen Nationalismus als Sackgasse sicherten ihm etwa ein Jahrzehnt lang hierzulande ein großes Ansehen. Seine Rede vor Studenten der Freien Universität Berlin (1949) De Europa meditatio quaedam und seine Münchener Vorlesung Gibt es ein europäisches Kulturbewußtsein? (1953) wirkten als programmatische Erklärungen tief auf die Europabegeisterung in der jungen Bundesrepublik.

Spanien als Vorbild

Der bereits bei den deutschen Romantikern beliebte Gedanke der Vorbildlichkeit Spaniens für eine europäische Neuordnung und für eine neue, nicht-klassische Dichtung wurde sowohl in der Weimarer Zeit als auch nach dem Zusammenbruch 1945 aufgegriffen, in Zeiten, da die Idee einer europäischen Union aus dem Erlebnis der Niederlage Auftrieb bekam. „Spanien wird Mode“, stellte der berühmte Romanist Ernst Robert Curtius fest, der sich ab 1924 eingehend mit den spanischen Dingen zu beschäftigen begann. Geographisch und geistig gesehen war Spanien für ihn ein „exzentrisches Land“, aber eben deshalb auch ein besonderer „Vorposten“ für einen europäischen Beobachter. „Das junge Spanien“ — so der Titel einer von Werner Krauss besorgten Anthologie — trat in den Kreis der „geistigen Großmächte“ ein. Ganivets Idearium war 1921 unter dem Titel Spaniens Weltanschauung und Weltstellung in deutscher Übersetzung erschienen. Mit dem Satz „Spanien wird wieder Großmacht“ pries ein anderer bekannter Hispanist 1939 den Sieg der Nationalspanier.

Die deutsche Beschäftigung mit dem Ausland war pädagogisch begründet im Versuch, über bestimmte Lehrprogramme im Fremdsprachenunterricht die Selbsterkenntnis des deutschen Wesens („Deutschtumkunde“) zu fördern und im völkerpsychologischen Kontrast mit fremden Kulturen zu vermitteln. Während England und Frankreich vielfach vorbelastet waren, übte Spanien als Freiraum eine besondere Anziehung aus, die gefühlsmäßig zwar durch literarische Vorstellungen geprägt war, aber bald auch politische Stoßkraft erhielt.

Karl Vossler stellte 1929 Die Bedeutung der spanischen Kulturfür Europa heraus. Für den Kultur-philosophen und Reiseschriftsteller Graf Hermann Keyserling, der eine „Spektralanalyse“ Europas vornahm (1929), stand Spanien „ethisch an der Spitze der heutigen europäischen Menschheit“. Zwanzig Jahre später urteilte der Engländer Charles Duff mit fast denselben Worten über das „Ethos Spaniens“: „Spanien ist wahrscheinlich der einzige überlebende Repräsentant der westlichen Zivilisation!“

Keyserling suchte unter dem Eindruck von Unamuno erneut eine Antwort auf die alte Streitfrage der französischen Aufklärung, was man denn Spanien verdanke. Im Gegenzug zu der in Spanien vielfach erhobenen Forderung, das Land müsse sich Europa öffnen („europäisieren“), spekulierte Keyserling wie Unamuno mit den Gedanken einer Hispanisierung Europas. „Nur wenn es . Spanien'bewußt in sich aufnimmt, wird Europa die Krisen dieser Übergangszeit im Guten überwinden. Muß der Europäer der Zukunft nicht unter allen Umständen, soll er seine Vollendung erreichen, als ethisches Wesen Spanier werden?“ stellte Keyserling fest, obwohl er in seinen Visionen vom idealen Spanien auch die bekannte Behauptung wiederholte: „Für sich gehört Spanien nicht zu Europa, sondern zu Afrika“ (und daran schließt sich der Preis der „schönen Wüste“ sowie des von Hause (!) aus donquichotten Wüstenbewohners an). Hier war „hispanizare“ wieder das Zauberwort der spirituellen Rettung, wie schon in der Romantik und im deutschen politischen Katholizismus des 19. Jahrhunderts.

Spanien nach 1945, der Aufbau Europas und die Verteidigung des Westens

7 wanzig Jahre nach Keyserlings spanischem Capriccio rückten Spanien und Europa im Zeichen des Kalten Krieges nach selbstauferlegter und von außen sanktionierter Isolierung einander wieder näher. Schon 1949 sah der Engländer Charles Duff in seinem Buch Spanien — Stein des Anstoßes dieses Land als Eckpfeiler Europas und zusammen mit Hiroshima sogar als „moralischen Fingerzeig“ für die Menschheit. Die großen physischen und moralischen Reserven Spaniens müßten genutzt, nicht geächtet werden. Die spanische Frage könne nicht isoliert behandelt, sondern nur als europäisches Problem gelöst werden. „Antikes Volk im Atomzeitalter“ lautete 1951 eine Schlagzeile in der „Weltwoche“, die zugleich die Ratlosigkeit und Faszination gegenüber einem Land ausdrückte, das in wichtigen geschichtlichen Zwischenphasen aus dem allgemeinen Bewußtsein ausgeblendet war.

Mit seiner strategisch wichtigen Lage und antikommunistischen Haltung spielte Spanien im weltpolitischen Kalkül eine völlig anders gewichtete Rolle als für Frankreich oder England, die Franco ächteten. Spanien befand sich auf dem Weg vom Boykottierten zum Alliierten, obwohl es im Gegensatz zum ebenfalls seinerzeit undemokratisch regierten Portugal, mit dem es im Iberischen Pakt verbündet war, nicht in die NATO aufgenommen wurde. Der Caudillo „von Gottes Gnaden“ ließ auf die Ächtung nach Kriegsende selbstbewußt verlauten, daß sein Land weder um irgendeinen Sitz in internationalen Organisationen nachsuchen noch eine Mitgliedschaft antreten werde, die nicht in Übereinstimmung mit Spaniens Vergangenheit, dem Volk und seinem Beitrag zu Frieden und Kultur stünden.

Der Generalissimus wurde bündnisreif. Obwohl Spanien angeblich nur für „geistige Werte“ eintraf, irdische Dinge geringschätzte und der Charakter des Volkes genügsam war, verstand er es im Gegenzug für das Militärabkommen neben der NATO eine beträchtliche Finanzhilfe herauszuschlagen, die in der nach den Kriegen aussichtslosen Wirtschaftslage neuen Auftrieb verschaffte. Die Verbesserung der Straßen und Schienenwege schuf eine wichtige Voraussetzung für den bald einsetzenden Massentourismus. Die offizielle Werbung im Ausland bediente sich dabei übrigens zur Überwindung der Isolierung geschickt des Slogans „Spanien ist anders“.

„Spanien tritt ins Glied“, so lautete 1952 eine bezeichnende Zeitungsüberschrift, die dem franquistischen politischen Selbstverständnis entsprach, wie es in Deutschland der Marques de Valdeiglesias verbreitete: „Spanien hat sich durch den Bürgerkrieg wieder in die internationale Politik eingeschaltet. Es knüpft wieder bei den Soldaten von Lepanto und den Theologen von Trient an. Sein Abkommen mit den Vereinigten Staaten stellt es wieder in die erste Reihe der Verteidiger des Westens.“

Als „Verbündeter Europas“ nahm Spanien zwölf Jahre nach Beendigung des Bürgerkrieges eine Schlüsselstellung ein. Dieselbe militärische Bedeutung hatte der Historiker Hermann J. Hüffer 1942 hervorgehoben. Es werde „künftig die gesamte kulturelle Arbeit beider Länder (Spaniens und Deutschlands) getragen sein von der stolzen Erinnerung an die enge Waffenbrüderschaft unserer Völker gegen den bolschewistischen Weltfeind Europas“. In der Blauen Division komme alter spanischer Geist „als Vormauer und Hort unserer verjüngten Kulturgemeinschaft“ wieder zum Vorschein. Joseph Gregors Buch Das spanische Welttheater (1943) deutete ebenfalls anstelle des früher verpönten spanischen Fanatismus Widerstand („Bollwerk gegen den Bolschewismus“) und Kampfgeist positiv. Auch hier wurde die geistige Brüderschaft von ehedem in Waffenbrüderschaft umgepolt: „Was damals (im spanischen Weltreich) die Welt bewegte — Idee Gottes, Idee des Adels und des reinen Blutes —, nimmt sich wie ein Vorspiel der Ekstasen des Schicksals aus, die wir selbst erleben!“

Wenige Jahre später konnte Hüffer dann Spanien bruchlos sub specie aeternitatis in die christliche, tausendjährige Einheit Europas einordnen. Die Wallfahrt nach Santiago de Compostela zu Jakobus, dem Maurentöter, wurde als starkes Bindeglied abendländischer Gemeinschaftsidee verherrlicht. Die Spanienpolitik der USA erweckte indes Unbehagen bei ideologisch völlig entgegengesetzten Lagern auf der Linken ebenso wie bei den katholischen Konservativen. Die einen befürchteten Spaniens Ausverkauf an die Macht des Geldes, des Materialismus, der Frei-B maurer, die anderen mißbilligten die wirtschaftliche Unterstützung, die der Aufwertung des autoritären Regimes diente.

Spanien war Europas Außenseiter (Reinhold Schneider prägte das mißverständliche Wort von den Fremdlingen in Europa), ähnlich wie Deutschland nach dem Ende der Naziherrschaft. Die Frage „Wo ist das wahre Spanien?“ berührte sich wieder mit jener nach dem wahren Deutschland. Die oft beschworene Schicksalsverbindung beider Länder erhielt eine neue Aktualität. In den ersten Jahren der Bundesrepublik waren der Gedanke der europäischen Einheit, der traditionellen deutsch-spanischen Freundschaft und die Idee des christlichen Abendlandes die Themen der Beschäftigung mit Spanien. „Ohne Spanien geht es nicht“, war ein Zeitungskommentar 1951 überschrieben. Ein anderes Blatt begrüßte „Spaniens Rückkehr nach Europa“; Reinhold Schneider bestätigte 1953 mit beschwörender Geste: „Spanien gehört zu Europa.“

Das Ende der Isolierung wurde im Vergleich zur westdeutschen Situation aufmerksam verfolgt. Adenauers politisches Ziel war die Einbindung der Bundesrepublik in ein vereintes Europa. Als 1954 die diplomatischen Beziehungen zu Franco-Spanien wieder aufgenommen wurden, kam das Wort von der „Achse Madrid-Bonn“ allerdings nicht von ungefähr. Zehn Jahre später stellte Botschafter Allardt Spanien in einem Artikel immer noch „an der Schwelle Europas“ vor. Schon 1957 aber hatte sich Bonn zum Fürsprecher der Aufnahme Spaniens in die NATO gemacht. In die Europabegeisterung, mit der Spanien seinerzeit entdeckt wurde und die tiefe Schatten über dem autoritären Regime geflissentlich zudeckte, mischten sich auf deutscher wie auf spanischer Seite unterschiedliche Motive. Begriffe wie Europa und Reich wurden in Deutschland als Antwort auf die Verirrungen der Hitlerzeit aus geschichtsphilosophischer und -theologischer Schau christlich überhöht, während sich das franquistische Spanienverständnis zur historischen Rechtfertigung auf das unter Isabella der Katholischen und Ferdinand begründete hispanische Imperio berief und sogar eine neue Zeitrechnung vom „Jahr des Sieges“ (1939) an einführte. Die Sieger im Bürgerkrieg, die das wahre und ewige Spanien gerettet haben wollten und in einer Art Verfassung Spanien zum „Träger ewiger Werte“ erklärten, versuchten die internationale Ächtung zu überspielen durch die Berufung auf eine mittelalterliche, religiöse Reichsidee und Sendung. Spanische Verteidigung der europäischen Kultur, hieß der Titel einer der zahlreichen falangistisehen Geschichtsapologien, die in einzelnen Abschnitten hymnische Europabezüge herstellten: Europa und die Kirche, Europa und Spanien (im 16. Jahrhundert), Philipp II. und sein Kampf für die Seele Europas, Spaniens Kultur, Lehrmeisterin und Vorbild Europas ...

Ernesto Gimenez Caballero, einflußreicher faschistischer Theoretiker des „Spanischen Genius“, behandelte noch 1949 in seinem Buch Spaniens Beziehungen zur göttlichen Vorsehung (!). In Berlin pries Außenminister Castiella 1964 Spanien mit einer kühnen Schiffahrtsmetapher als „geistigen Bug des Kontinents“. Ähnliche Bilder waren sehr beliebt (z. B. Bruno Geuter, Spanien, Vorposten des Abendlandes, 1956).

Spaniens Mission und Europa

Was hat das „ewige Spanien“ für den Neuaufbau eines unabhängigen Europa beizutragen?, fragten 1954 die Verfasser eines francofreundlichen Spanienhandbuches (Richard Pattee und Anton Maria Rothbauer). Die Antwort darauf war die genaue Übernahme der konservativen spanischen Selbstdeutung.

Eine rege Publizistik bemühte sich in der frühen Adenauerzeit, Spaniens Europäertum in seiner vergangenen und künftigen Bedeutung herauszustellen. Ein Beispiel hierfür ist die 1946 gegründete katholische Zeitschrift Neues Abendland, die sich als Sammelpunkt konservativer Erneuerung verstand. Spanien stellt darin seit den fünfziger Jahren eines der Leitthemen dar. Unter der Über-schrift „Spanien, echtes Abendland“ präsentierte ein Autor 1950 die Übersetzung der Lobeshymne von Marcelino Menendez Pelayo auf die spanische Tradition als „eines der echtesten Dokumente abendländischer Gesinnung“. Ein Sendbote der Franco-Hierarchie, Mitbegründer der Accin Espanola und Präsident des Europäischen Dokumentationszentrums in Madrid, dozierte in einer Aufsatzreihe über Spaniens Lehre an Europa und Spaniens Rolle in der europäischen politischen Gemeinschaft; die Aufgabe Spaniens sei es, die Zukunft des Kontinents von einer höheren idealistischen Warte aus zu betrachten und die „ewigen Werte“ zu verteidigen. Dadurch werde es zu einem gewichtigen Faktor der europäischen „Wiedererhebung“. Durch die Brückenfunktion zu Spanisch-Amerika trage es außerdem dazu bei, Europa aus der unwürdigen Lage einseitiger Abhängigkeit von den USA zu befreien. Bei diesen geistigen Überbau-Konstruk21 tionen war ein antiamerikanischer Zungenschlag unüberhörbar. „In kastilischer Sicht wird Europa zuerst eindeutiger und dann auch größer als von der Warte der Pariser Redaktionsbuden, der Straßburger Konventikel, der Washingtoner strategischen Büros und der Bonner Auseinandersetzungen zwischen Adenauer und seiner Opposition“, schrieb denn auch 1953 ein deutscher Kommentator.

Den Vereinten Nationen und den Vereinigten Staaten von Europa wurde der hispano-amerikanische Völkerbund als Beispiel einer funktionierenden, echten Familiengemeinschaft gegenübergestellt, in der Spanien als Mutterland den Zusammenhalt sichert. Spanien, dem die profanen Vereinten Nationen zunächst die Mitgliedschaft versagten, hatte schon längst zuvor eine Universitas Christiana, „ein Gebilde globaler Katholizität“ (Alexander von Randa) geschaffen, das die Neue Welt dem Reiche Gottes zuführte. Der Marques de Valdeiglesias sah Spanien, „das arme Land an der Spitze des abendländischen Abwehrwillens“. Ohne das Opfer seines Blutes wäre Europa längst ein sowjetischer Satellit geworden. „Was Spanien dem Ausland geben kann, kann fundamental sein für die Wiedergeburt des Abendlandes. Es ist das durch Humanismus, Rationalismus und Liberalismus unterdrückte Leitbild einer christlich-universalen Staats-und Weltordnung“, kündete der Funktionär in nostalgischer Erinnerung an eine unwiederbringlich entschwundene Vergangenheit.

Als erhabene Symbolgestalt wurde in diesem Zusammenhang Kaiser Karl V. zum Ahnherrn Europas erklärt (im Titel einer Biographie von Gertrude von Schwarzenfeld, 1955), ganz im Gegensatz zur Geschichtsdeutung eines Ganivet oder Unamuno, für die dieser Herrscher aus dem „germanischen Norden“ die Mission Spaniens verfälscht und den Niedergang der Nation herbeigeführt habe. Als letzter „Weltenkaiser“ habe er die Wiederherstellung der Einheit Europas betrieben, um jene Ordnung zu stiften, „die immer vor den destruktiven Kräften des Unglaubens, des Materialismus und der Menschenvergötzung bewahren kann“ (Otto von Habsburg). Karl V. wurde als Schöpfer eines katholischen Commonwealth gepriesen, der Europa und Amerika gegen eine von Osten drohende Gefahr vereinte (Alexander von Randa). Dieser Kaiser habe den europäischen Reichsbegriff mit einem amerikanischen Einheitsstaat (!) vereint und allein aus der politischen Einsicht heraus gehandelt, daß ein Europa ohne Spanien kein Europa sei.

Demgegenüber erschienen dem Universalhistoriker von Randa die Vereinigten Staaten von Europa heute (1962) wie ein Scherbenberg, den armselige Politiker notdürftig zusammenkleistern wollen. „Unter ihm, mit ihm und durch ihn erschloß Spanien sich den burgundischen wie den kaiserlichen Europabegriff und wuchs zugleich von einem Brückenglied zwischen Europa und Amerika zu einem wahren Weltvolk heran.“ Mit dieser geradezu christologischen Weiheformel wurde Karl, „der einzige echte Europäer eines abendländischen Jahrtausends“ (!), als Gallions-Figur einer neueren, nicht ausdrücklich christlich geprägten Europabewegung entrückt und als Repräsentant eines ewigen Ideals von Europa sozusagen zur Ehre der Altäre erhoben. „Plus ultra“ lautete Karls vielsagende Devise.

Von Randas Darstellung (1962) des Weltreichs als einer Weltenföderation ist zwanzig Jahre nach entsprechenden nazistischen Deutungen des Weltreiches und der Großmacht Spaniens der Höhepunkt und Abschluß der geschichtstheologisch gegründeten Europavision in der Zeit Adenauers, die den hispanischen Weltstaat als eine auf Erden vorweggenommene , Civitas Dei'dem apokalyptischen Zwangsreich des Wider-christ, dem Götzenreich des atheistischen Kommunismus entgegensetzt. Das habsburgische Reich, in dem die Sonne nicht untergeht, stellt die ideelle Vorform und das Urbild für globale Staatenbünde dar.

In eben diesen sechziger Jahren sind freilich auch zwei gegenläufige Bewegungen festzustellen: Zum einen tritt die Krise des Europäismus deutlich zutage. Andererseits zeichnet sich im Franco-Spanien eine stärkere Hinwendung zu Europa ab, wie umgekehrt bei den europäischen Nachbarn die Erwartung wächst, daß gerade die Einbindung Spaniens in die europäische Gemeinschaft die Franco-Herrschaft verändern und deren Ablösung ermöglichen könnte. 1962 stellte Spanien den Antrag auf Assoziierung in die EWG. Im Frühjahr 1962 fand ein Kongreß der Europäischen Bewegung in München statt, bei dem eine gemeinsame Deklaration spanischer Exilsozialisten und geduldeter Christdemokraten verabschiedet wurde, die für eine politische Liberalisierung eintraten.

Betrachtet man den Beitritt Spaniens zur EG am 1. Januar 1986, so ist in diesem Zusammenhang auch stets das Spannungsverhältnis zu berücksichtigen, das durch die spezifischen Bindungen Spaniens zur spanisch-amerikanischen Welt gegeben ist. Das spanische Verhältnis zu Europa stand in dauernder Konkurrenz zum „amerikanistischen Programm“. Seit den Unabhängigkeitserklärungen der spanisch-amerikanischen Länder zu Beginn des 19. Jahrhunderts gibt es nicht nur den Wunschgedanken eines amerikanischen Staatenbundes, eines Vereinigten Amerika, sonB dem vor allem auf der spanischen Seite auch den Glauben an eine Gemeinschaft aller spanischsprachigen Völker in einer übergreifenden geisti-gen Patria, die auf gemeinsamer geschichtlicher Erfahrung, kultureller Überlieferung und der Einheit von Sprache und Glaube gründet.

Die Idee der Hispanität, eines spanischen Völkerbundes

Dieser Panhispanismus, in dem übrigens ein gerütteltes Maß an. eurozentristischem Gedankengut zusammenfließt und dem politisch-ideologisch ähnliche Verbrüderungs-und Verschmelzungsbewegungen im europäischen 19. Jahrhundert zur Seite stehen (Pangermanismus, Panslawismus, Panhellenismus), ist bis in die Gegenwart eine schillernde ideologische Größe geblieben, deren programmatische Bestimmung je nach den politischen Verhältnissen ausfällt. So wurde der Hispanidad sogar mit kirchlicher Bestätigung schon vor fast hundert Jahren ein eigener Feiertag gewidmet (12. Oktober), die Fiesta de la Raza (Fest der spanischen Rasse).

Der Panhispanismus ist in mehrfacher Hinsicht eine Ersatzgröße. Der Gedanke einer Brüderschaft aller hispanischen Völker mit ihrer gemeinsamen Sendung — so schrieb noch das Franco-Grundgesetz offiziell Spanien als die Mutter einer großen Völkerfamilie fest — wurde schon früh geprägt durch eine Rassentrennung zwischen lateinischen und germanischen Völkern mit ihren jeweiligen Führungsansprüchen und Glaubensunterschieden. Eugenio d’Ors, der als entschiedener Europäer („Mi voto es por Europa“) den Weltkrieg als Bürgerkrieg empfand, rief sogar mit seinem Manifest der Freunde der moralischen Einheit Europas (1914) „Lateiner und Germanen gegen die Slawen und ganz allgemein gegen den Osten“ auf. Noch bis in die fünfziger Jahre hielt eine Lateinische Union ihre Kongresse ab, auf denen Portugal wiederholt Mißtrauen angesichts der spanischen Führungsansprüche zum Ausdruck brachte.

Gegenüber dem mit Argwohn und Ablehnung beobachteten angelsächsischen Nordamerika formierte sich als Gegengewicht ein Block, dessen irreführende politische Bezeichnung „Lateinamerika“ erst um die Jahrhundertwende aufkam. Die Hispanidad richtete sich in diesem Umfeld gegen das Yankeetum, als Bund gegen die USA und ihren Einfluß. Zumal unter dem Eindruck der Vierhundertjahrfeier der Entdeckung Amerikas (1892) herrschte allseits unter den Spaniern eine optimistische Einschätzung der (vor allem wirtschaftlichen) Möglichkeiten vor, die die Neue Welt bot, ein Traum, der schon bald verging, da Spanien 1898 den Charakter einer „amerikanischen Nation“ verlor. Als Spanien im Ersten Weltkrieg, im Gegensatz zu Portugal, die Neutralität erklärte und die meisten spanisch-amerikanischen Staaten diesem Beispiel folgten, erstarkte das Bewußtsein einer weltweiten spanischen Familie des Friedens. Im Blick auf den so gefestigten moralischen Bund der Länder hispanischen Bluts wandte sich Spanien nach 1918 enttäuscht ab vom Genfer Völkerbund; eine ähnliche Reaktion erfolgte gegenüber den Vereinten Nationen, in die Spanien erst 1955 aufgenommen wurde.

Die hispano-amerikanische Ökumene wurde dafür in beiden Momenten demonstrativ herausgestellt. Für ein großes Spanien. Die Einheit der hispanischen Rasse betitelte Mäximo Vergara 1925 programmatisch ein Buch. In den vierziger Jahren kam es zu einer publizistisch-propagandistischen Aufwertung der alten spanischen Reichs-idee im faschistischen Sinn. Camilo Barcia Trelles konnte es sich in seinem im „Jahr des Sieges“ veröffentlichten Werk über Die vier Himmelsrichtungen der internationalen spanischen Politik sogar leisten, Europa auf der Windrose gar nicht anzuzeigen: Die erste Richtungsangabe betrifft Spanien und die arabische Welt, die zweite Spanien und die Philippinen, schließlich wird die „geniale hispanische Deutung Amerikas“ gepriesen.

In der Nachkriegszeit fand die spanische Vision vom Verhältnis zwischen Hispania-Europa-Hispanidad auch in Deutschland Anklang, wobei hochgestellte Vertreter der Franco-Hierarchie eine Vermittlerrolle spielten und in kirchlichen Kreisen Unterstützung fanden. Hispanidad und Universitas Christiana deckten sich gegenseitig. „Wenn sich das katholische Gleichgewicht (!) in der Welt wieder einstellen soll, dann beuge sich Europa dem, der diesem Geist so großartig zu dienen wußte und zu dienen wissen wird, dem Geist Spaniens“, schrieb Gimenez Caballero 1932 in seiner frühen faschistischen Fibel vom Geist Spaniens.

Otto von Habsburg, der sich 1957 zu Recht gegen das „bequeme Schlagwort vom Nicht-Europäertum Spaniens“ wandte, sah damals das Land an der Spitze eines „unsichtbaren Reiches“. Im Gegensatz zum britischen Empire, das immer mehr in seinem politischen Zusammenhalt an Kraft verloren hatte, gewann Spanien moralisch gestärkt zusehends an Prestige. Otto von Habsburg wollte sogar das „Wachsen eines neuen Reiches, einer freien Gemeinschaft der Völker der Hispanidad“ beobachten, eine groteske Verkennung der politischen und sozialen Realitäten in Lateinamerika und in Spanien. Die Verbindung Spaniens mit „Lateinamerika“ stellte er als von höchstem europäischen Interesse dar. „Spanien bringt daher mehr nach Europa ein, als wir ihm bieten können“, lautete seine überraschende, paradoxe Umkehrung zum spanischen Weckruf um die Jahrhundertwende. „Man kann mit Recht sagen, daß nicht so sehr Spanien Europa, als Europa Spanien braucht.“ Der Enkel des letzten Habsburgerkaisers verstieg sich zu der in ihrer vereinfachenden Zweideutigkeit ungeheuerlichen Feststellung: „Iberoamerika ist nichts anderes als ein überseeisches Europa.“ Als Klammer der beiden Hemisphären der christlich-abendländischen Welt sei Spanien für Europas Sicherheit von lebensnotwendiger Bedeutung. Aus dieser Kommunion fließe die Kraft, die „allein den Sieg unserer europäischen Gemeinschaft über den modernen Barbaren aus dem Osten gewährleisten wird“.

Auch im Geschichtsbild spanischer Liberaler spielt die Hispanidadidee eine bedeutende Rolle. „Spanien müßte die Plaza Mayor Hispanoamerikas sein“, schreibt der Philosoph Julian Marias, „der Ort, an dem sich die hispanischen Völker Amerikas neu erkennen und zusammenleben können. Und umgekehrt der Ort, von dem aus Europa dieses Amerika verstehen könnte, das es heute verzeichnet und verkennt.“

„Wird der problematische Begriff Europa in Portugal völlig zur Utopie?“ (Reinhold Schneider)

Portugal, seit dem 12. Jahrhundert eigenständig und seither auch in seinen nationalen Grenzen unverändert, führte im allgemeinen geschichtlichen, kulturellen und politischen Bewußtsein trotz seiner Bedeutung als Kolonialmacht in der frühen Neuzeit (Portugal war immerhin nicht nur der Schrittmacher der überseeischen Ausdehnung der Europäer, sondern auch die erste und — bis 1975 — letzte europäische Kolonialmacht) ein bescheidenes Dasein, im Schatten des größeren Nachbarn, es wird sogar immer wieder kaum ein Unterschied zu ihm gemacht. Spanien und Portugal bilden jedoch weder sprachlich noch kulturell eine Einheit. Das Verständnis der iberischen Nationen ist seit frühen Zeiten nicht frei von Belastungen und Empfindlichkeiten, zumal nach der langen Zeit der Personalunion mit der spanischen Krone (1580— 1668). Das kleine Portugal hatte sich einst mit Spanien die Herrschaft über einen großen Teil der im 16. Jahrhundert bekannten Erde geteilt. „Portugiesen kennen Asien und Amerika besser als Europa“, schrieb der . lachende Philosoph'Karl Julius Weber (1767— 1832).

Anders als Spanien litt Portugal weniger unter extremen Pendelausschlägen im Verhältnis zu Europa. Es hatte im Gegenteil alte und enge Bindungen zu England und Frankreich. Aber es litt unter seiner eigenen Geschichte, in der Größe und Niedergang nahe beieinanderlagen. Diese Geschichte wurde als Erinnerung und Verfall erfahren. Der Versuch, eine neue staatliche und ökonomische Ordnung zu schaffen nach der Unabhängigkeitserklärung Brasiliens (1822), das Portugals Reichtum ausmachte, schlug fehl. Die von den Regeneradores erstrebte Erneuerung ging in ständigen innerpolitischen Wirren, Machtkämpfen, Revolten und Regierungswechseln unter. Almeida Garretts geschichtsphilosophische Betrachtung über Portugal in der europäischen Waagschale (London 1830) steht als Versuch einer Bestandsaufnahme des Problems Portugal aus europäischer Perspektive einzig da.

Außenpolitisch blieb Portugal durch die Interessen der großen europäischen Mächte ohnehin nur ein enger Handlungsspielraum. Der Preis für die Modernisierungspolitik der zweiten Jahrhunderthälfte des 19. Jahrhunderts war eine immer größere Abhängigkeit der Wirtschaft vom Ausland und von fremdem Kapital. Vor allem Großbritannien wollte als wichtigster Handelspartner Portugals seinen Markt zu den vorteilhaftesten Bedingungen erhalten. Im kulturellen Leben machte sich der französische Einfluß stark bemerkbar, der zuweilen auch als Belastung empfunden wurde. Frankreich galt als „Herz Europas“.

Die Frage einer politischen Union oder Föderation mit Spanien kam unter dem Eindruck der italienischen Einigung, der Gründung des Zweiten Deutschen Reiches und der Suche nach einem spanischen Thronfolger (1868) erneut auf. Während die einen dabei den Verlust der Selbständigkeit befürchteten, faszinierte die anderen die Morgenröte einer neuen Zeit, in der die „iberische Mission“ voll zur Geltung kommen würde. Junge Intellektuelle, Schriftsteller, Dichter, die 1871 mit den Demokratischen Vorträgen in Lissabon an die Öffentlichkeit drängten, vertraten ein neues Portugal, europäisch-modern in ihrer geistigen Orientierung, antiklerikal, republikanisch gesinnt mit sozialistischen Neigungen, vom Glauben an die Wissenschaft erfüllt und fest entschlossen, das Land zu verändern. Das schockierend wirkende Programm zielte auf die Schaffung eines europäischen Bewußtseins.

Das demütigende englische Ultimatum von 1890, das Portugal zwang, die Ansprüche auf südafrikanisches Gebiet zwischen Angola und Mozambique aufzugeben, verursachte eine tiefe nationale Erschütterung, machte aber auch deutlich, wie sehr Portugal in einem völlig „unökonomischen Imperialismus“ weniger auf Europa ausgerichtet war denn auf die verbliebenen Reste an Kolonialbesitz in Afrika, die nun die Begehrlichkeit der Großmächte, auch des kaiserlichen Deutschland, erregten (es verhandelte mit England insgeheim über die Aufteilung der portugiesischen Kolonien). Expeditionen sollten der Welt demonstrieren, was die alte Entdeckernation noch zu leisten imstande sei. „O ihr Helden der See, o edles Volk, erneuert Portugals Glanz! /Europa künde aller Welt, daß Portugal besteht!“, hieß es in der Nationalhymne der 1910 ausgerufenen Republik.

Das britische Ultimatum und die Großmacht-träume gewisser Kreise im Nachbarland verstärkten patriotisch-nationalistische Tendenzen; sie vermischten sich teilweise auch mit utopisch-messianischen Erwartungen, die in Portugal auf einer alten Tradition beruhen. Die Bewegung des Integralismo Lusitano kultivierte dieses Gedankengut und förderte die Mystik des Nationalcharakters („Portugiesische Seele“). Kosmopolitisch, sozialdemokratisch und reformerisch denkende Literaten und Gelehrte traten in der Gruppe „Neue Saat“ seit 1921 dieser Horizontverengung radikal entgegen, die ideologisch frühfaschistischen Tendenzen Vorschub leistete, nachdem die Republik einen verzweifelten Kampf geführt hatte, um dem Land in der Bewunderung für das Vorbild der englischen Demokratie und den französischen Republikanismus den Anschluß an Europa zu eröffnen. Dieser rückte allerdings unter der fast vierzigjährigen autoritären Staatsform, die die Republik ablöste, in weite Ferne.

Die Marienerscheinungen von Fatima im Jahr der bolschewistischen Oktober-Revolution und im Ersten Weltkrieg, an dem das Land unter großen Opfern auf Seiten der Alliierten teilnahm, wurden wie das Erdbeben von Lissabon 1755 zum großen Menetekel für die Welt aus Portugal.

Die Marienverehrung bekam mit der Forderung einer Weihe Rußlands an die Unbefleckte Empfängnis zur Errettung der Welt vor dem Kommunismus eine politisch bis heute sehr brisante Note. Fatima wurde zum „Altar der Welt“ erhoben, und die Wallfahrt dorthin stellte Weltbezug her, der Portugal in weltlichen Dingen längst verlorengegangen war.

Die angebliche prophetische Botschaft an die Hirtenkinder von Fatima sollte auch innenpolitisch nach der (sogar unter Salazar beibehaltenen) Trennung von Kirche und Staat erhebliche Auswirkung auf die religiöse Situation haben. Unter Salazars Neuem Staat (1933) stellte die Abkapselung ein Mittel zum Zweck der verheißenen Gesundung dar. Salazar verstand sich als Hüter der Tradition und sittlichen Werte. Die Kontakt-armut des Machthabers, seine „fast keusche Abgeschlossenheit, seine gesuchte Isoliertheit“ (Friedrich Sieburg) übertrug sich fatal auf das Gemeinwesen. Der Rückgriff auf die Fiktion einer historischen und zivilisatorischen Sendung Portugals in der Welt wurde bis zum bitteren Ende unbeirrbar aufrechterhalten: Portugals Kolonien hießen daher demonstrativ „überseeische Provinzen“, deren integraler Zusammenhang mit der europäischen Metropole durch die ideologische Vorstellung von der „vielrassigen Gesellschaft“ konstruiert wurde. Portugal gab demnach (wie auch Brasilien) der Welt ein Beispiel für das friedliche Zusammenleben von verschiedenen Rassen und Religionen.

Die parallel zur Hispanidad-Idee oft beschworene luso-brasilianische Kulturgemeinschaft (als Familienfesttag am 22. April gefeiert) wurde 1953 durch einen Freundschafts-und Konsultationsvertrag mit Brasilien besiegelt, der freilich praktisch ebenso bedeutungslos war wie die Akademievereinbarung zur Vereinheitlichung der portugiesischen Rechtschreibung. 1942 hatte man immerhin das Inlandsporto für den Briefverkehr über den Atlantik vereinbart. Mit dem Gespür für die große Geste wurde anläßlich der 150Jahrfeiern der Unabhängigkeit Brasiliens (1972) nicht nur ein Abkommen mit Brasilien über gegenseitige Gewährung der Bürgerrechte geschlossen, das keine konkrete Auswirkung haben kann, aber einem ähnlichen Vertrag von 1825 entspricht und Ausdruck der „Einheit in der Zweiheit“ sein soll, die schon beschworen wurde, als 1826 der Kaiser von Brasilien auf die Krone Portugals verzichtete. Man überführte sogar die sterblichen Reste Pedros I., dem bei der Krönung 1822 der Titel „konstitutioneller Kaiser und ständiger Verteidiger Brasiliens“ gegeben wurde, im Triumphzug nach Säo Paulo, obwohl dieser Herrscher, mehr an Portugal interessiert und in manche Affären verwickelt, 1831 abdankte, um in Portugal gegen seinen Bruder Miguel einen Bürgerkrieg zu führen. Als um 1960 die Unruhen in Portugiesisch-Afrika heftiger wurden, formierte sich, durch eine Reihe von Verträgen gestützt, ein luso-brasilianischer Block, der Portugal helfen sollte, seine politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu bewältigen, zumal nach der Ächtung der portugiesischen Afrikapolitik durch eine UN-Resolution und der weltweiten Kampagne gegen den „lusitanischen Popanz“. Mit Spanien hatte Salazar nach Francos Sieg bereits 1939 den Iberischen Pakt, einen Beistands-und Nichtangriffspakt, der eine Friedenszone auf der Halbinsel schaffen sollte, geschlossen; aber das nicht besonders innige Verhältnis wird allein dadurch deutlich, daß sich ihre Führer während ihrer langen Herrschaft nur einmal offiziell gegenseitig besucht haben. Der Vater des jetzigen spanischen Königs lebte im portugiesischen Exil.

Nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem das Land zwar neutral blieb, aber dennoch Wolfram an beide kriegführenden Parteien verkaufte und die Azoren den Alliierten als Stützpunkt zur Verfügung stellte, wurde Portugal 1949 Gründungsmitglied der NATO. Sein antikommunistischer Kurs, seine Loyalität gegenüber dem englisch-portugiesischen Bündnis, sowie strategische Argumente — Portugals „atlantische Bestimmung“ — überwogen die Bedenken gegenüber seiner autoritären Verfassung. Ein Jahr zuvor war Portugal auch schon der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit beigetreten, während Spanien vom Wiederaufbauprogramm des Marshallplans ausgeschlossen blieb.

Das umstrittene Buch des Generals Spinola mit dem Titel Portugal und die Zukunft war nicht unwesentlich am Ausbruch der „Nelkenrevolution“ 1974 beteiligt, die in der wohl schwersten Krise der Geschichte Portugals den verschlungenen Weg zur Demokratie eröffnete. Die Revolution stellte nicht nur das Verhältnis Europas zu Portugal auf eine harte Probe, sondern im Verlauf der revolutionären Bewegung selbst war die Frage einige Zeit heftig umstritten, ob überhaupt die Bindungen zu Europa aufrechterhalten werden sollten.

Resümee

In die spannungsreichen Beziehungen zwischen Spanien, Portugal und Europa mischen sich seit Jahrhunderten politische Ansprüche, wirtschaftliche Notwendigkeiten und ideelle Wertvorstellungen. Die Schwierigkeiten der Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Gemeinschaft und des nun in Gang gesetzten Integrationsprozesses, die Widerstände gegen die Mitgliedschaft im atlantischen Verteidigungsbündnis auf Seiten Spaniens sind nicht die Folge jüngster Interessenkonflikte, sondern das Ergebnis einer langen historischen und geistesgeschichtlichen Entwicklung. Zu deren umfassendem Verständnis muß der dialektische Zusammenhang gesehen werden zwischen Mißverständnis und Selbstreflexion, Abkapselung und Aufbruch, Austausch mit der Welt und Rückzug in die Abgründigkeit der eigenen Seele. Der Beitritt zur Gemeinschaft ist nach den Worten von Felipe Gonzalez die Chance zur Über-windung der Isolierung, der Unterentwicklung und der ständigen Versuchung zur inneren Zwietracht und zur Diktatur.

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Fussnoten

Weitere Inhalte

Dietrich Briesemeister, Dr. phil., geb. 1934; Professor für Romanische Philologie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Studium der Romanischen und Mittellateinischen Philologie sowie der Philosophie an den Universitäten Tübingen, Rennes und München; nach der Promotion Tätigkeit im höheren Bibliotheksdienst (1959 bis 1971); Privatdozent an der Universität München 1968-1971; seit 1971 auf einem Lehrstuhl für Hispanistik und Lusitanistik, Gastprofessuren u. a. in Lima, Rio de Janeiro und Valencia, zur Zeit Fulbright Professor an der University of Illinois at Urbana-Champaign. Veröffentlichungen: Zahlreiche Veröffentlichungen zur spanischen, portugiesischen, brasilianischen und neulateinischen Literatur sowie zum Spanienbild in Deutschland; Mitherausgeber von Iberoromania, Zeitschrift für die iberoromanischen Sprachen und Literaturen in Europa und Amerika sowie der Portugiesischen Forschungen; Redaktionsmitglied von Hispanorama, Mitteilungen des Deutschen Spanischlehrerverbands.