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Der 27. Parteitag der KPdSU -eine Wendemarke? | APuZ 15/1986 | bpb.de

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APuZ 15/1986 Der 27. Parteitag der KPdSU -eine Wendemarke? „Sozialökonomische Beschleunigung“ -aber wie? Von der Arbeitszur Leistungsgesellschaft? Gesellschaftspolitik in der Sowjetunion nach dem 27. Parteitag Neue Denkmuster in der sowjetischen Außenpolitik?

Der 27. Parteitag der KPdSU -eine Wendemarke?

Heinz Brahm

/ 27 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Gorbatschow hat, nachdem er Generalsekretär geworden ist, eine erstaunlich große Zahl von Spitzenämtern neu besetzen können. Er spricht eine andere, „modernere“ Sprache als Breschnew, aber ein Reformprogramm hat er bislang nicht vorgelegt. Auch der 27. Parteitag der KPdSU hat nicht erkennen lassen, daß die neuen Männer im Kreml die Übel der sowjetischen Malaise an der Wurzel packen wollen. Immerhin wurden die Mißstände in der Wirtschaft und in der Kaderpolitik so deutlich angesprochen, wie dies seit gut 20 Jahren nicht mehr der Fall war. Auf dem Parteitag ist generell mehr Transparenz versprochen worden. Der Moskauer Parteichef Jelzin stellte mutige Fragen nach den Ursachen der heutigen Schwierigkeiten. Insgesamt aber blieb die Auseinandersetzung mit den Breschnew-Jahren halb-oder sogar viertelherzig. Vor allem Staatspräsident Gromyko warnte davor, die Kritik zum Schaden der Partei ausufern zu lassen. Eine Erneuerung der KPdSU, die überfällig sein dürfte, ist nicht zu erkennen. Mit der Verschärfung der Kontrolle über die Kader, mit der man in Zukunft ernst machen will, ist es nicht getan. Wenn selbst in der „Prawda“ signalisiert wird, daß die Privilegien der Funktionäre ein Ärgernis sind, wird deutlich, wie sehr die KPdSU an Glaubwürdigkeit verloren hat. Offensichtlich sind die leitenden Kräfte der Sowjetunion jedoch nicht bereit, ihre mühsam erworbenen Vorteile kampflos aufzugeben. Gorbatschow hat vor den Delegierten des Parteitages offen zugegeben, daß seine Veränderungspläne auf Widerstand stoßen. Der Konflikt innerhalb der Partei kann sich noch lange hinziehen. Der 27. Parteitag ist nicht mit dem ereignis-und folgenreichen 20. Kongreß (1956), ja nicht ein-'mal mit den Kongressen der frühen zwanziger Jahre zu vergleichen, auf denen noch sehr gegensätzliche Meinungen aufeinanderprallten, aber er hat wenigstens den Spielraum der Kritik erweitert.

Da es in der Sowjetunion keine freien Wahlen und keinen Wettstreit konkurrierender Parteien gibt, ist die Nominierung eines neuen Generalsekretärs eigentlich die günstigste, vielleicht sogar die einzige Chance für eine Änderung des politischen Kurses. Die sowjetischen Politiker, die ihrem Parteichef kritisch gegenüberstehen, wissen um die Gefahren, die ihrer Karriere drohen, wenn sie sich mit ihren Ideen im Politbüro oder im Zentralkomitee zu weit vorwagen. In dem Augenblick, in dem sie der Fraktionsbildung bezichtigt werden können, ist ihr Schicksal in der Regel besiegelt.

Die latente „Opposition“ tritt erst dann deutlicher zutage, wenn die Nachfolge eines Partei-chefs akut wird. Dann ist sogar eine gewisse Polarisierung unter den Spitzenfunktionären fast unvermeidlich. Die rivalisierenden Gruppen müssen sich offen bekennen und unterstützen mit allen Kräften jeweils ihren Kandidaten für die Nachfolge im Ämt des Generalsekretärs.

Als Breschnew im November 1982 starb, wurde nicht dessen seit Jahren geförderter Wunschkandidat Tschernenko zum Nachfolger gekürt, sondern Andropow, der Kopf der „Opposition“. Ebenso ging nach dem Tode Andropows im Februar 1984 nicht Gorbatschow, der vom todkranken Generalsekretär zu seinem Nachfolger ausersehen gewesen sein soll, als Sieger aus dem Konklave hervor, sondern ausgerechnet Tschernenko, der von der alten Breschnew-Garde auf den Schild gehoben wurde.

Viele Funktionäre, die unter Breschnew gewisse Freiräume erworben hatten, müssen durch den Rigorismus Andropows so verprellt worden sein, daß sie das Rad zurückdrehen wollten, wenn sie auch kaum erwarten durften, daß man die Breschnew-Zeit wieder aufleben lassen könnte. Tschernenko hatte als „Kronprinz“ Breschnews durchaus interessante Einsichten gezeigt, die, wären ihnen wirkungsvolle Maßnahmen gefolgt, neue politische Akzente gesetzt hätten. Die eigentliche Schwäche Tschernenkos bestand aber darin, daß er die Positionen der alten Parteinotabeln nicht antasten wollte. Tschernenko war ein alter, schwerkranker Mann, als er Generalsekretär wurde. Er stützte sich zum großen Teil auf eine überalterte Führungsmannschaft; jüngere Funktionäre konnten sich von ihm auf längere

Sicht keine Förderung versprechen. Gesundheitlich und machtpolitisch war er so schwach, daß er sehr früh seine Befugnisse mit Gorbatschow teilen mußte.

Es ist nicht ausgeschlossen, daß Gorbatschow bereits im Februar 1984 als designierter Nachfolger des hinfälligen Generalsekretärs galt. Dennoch scheint der Führungswechsel nach dem Tode Tschernenkos von einigen Querelen und Mißtönen begleitet gewesen sein. Einem späteren Gerücht zufolge soll Romanow, Gorbatschows schärfster Rivale, den 70jährigen Parteichef von Moskau, Grischin, als Nachfolger für Tschernenko vorgeschlagen haben Auf jeden Fall ist anzunehmen, daß Gorbatschow nicht der Favorit aller Funktionäre war.

Seit Mitte 1982 standen sich im Politbüro fast zwei gleich starke Gruppen gegenüber. Weder Andropow noch Tschernenko scheinen als Generalsekretäre ausreichende Mehrheiten besessen zu haben. Der Tod Tschernenkos hat das Kräfte-verhältnis im Politbüro zugunsten Gorbatschows verändert; die Spaltung in der Führung war aber damit noch nicht beseitigt. Außer Romanow dürften Grischin, Ministerpräsident Tichonow, der Kasache Kunajew und der Ukrainer Schtscherbizkij im elfköpfigen Politbüro dem Senkrechtstarter Gorbatschow, der der jüngste in ihren Reihen war, skeptisch oder feindlich gegenübergestanden sein.

Als Außenminister Gromyko die Empfehlung des Politbüros, Gorbatschow zum Generalsekretär zu wählen, vor dem ZK-Plenum am 11. März 1985 begründete, warnte er in einer offensichtlich nicht schriftlich vorbereiteten Rede vor einer Vertiefung der Gegensätze in der Partei: „Wenn Sie so wollen, waren wir Zeugen von Gesprächen, geflüsterten und halbgeflüsterten Vermutungen: Irgendwo jenseits der Grenze sehnt man sich danach, in der sowjetischen Führung Meinungsverschiedenheiten zu sehen. Natürlich, das gibt es nicht erst heute und gestern. Das ist seit vielen Jahren zu beobachten. Die einmütige Meinung des Politbüros: Auch diesmal werden wir, das ZK der Partei und das Politbüro, unseren politischen Gegnern in dieser Hinsicht keine Freude machen.“

II. Gorbatschows Jungtürken

Heute sieht es so aus, als habe Gromyko die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Zwei Monate nach der Ernennung Gorbatschows zum Generalsekretär war Romanow politisch ein toter Mann. Nach dem 9. Mai erschien er nicht mehr bei offiziellen Anlässen. Auf dem ZK-Plenum am 1. Juli 1985 wurde bekanntgegeben, daß er seinen Sitz im Politbüro und im ZK-Sekretariat aufgegeben habe. Nach den Beschlüssen des Obersten Sowjet vom 2. Juli mußte Gromyko seine Spitzenposition im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten mit dem Amt des Staatspräsidenten vertauschen. Neuer Außenminister wurde Schewardnadse, der bisherige georgische Parteichef, der in seinen Reden durch eine persönliche Note aufgefallen war und seinerzeit enge Kontakte zu Breschnew wie Tschernenko unterhalten hatte

Am 27. September 1985 wurde das Rücktrittsgesuch des 80jährigen Ministerpräsidenten Tichonow, der dem scharfen Arbeitstempo des neuen Parteichefs kaum gewachsen war, auf einer Sitzung des Präsidiums des Obersten Sowjet angenommen. Tichonow lobte auffälligerweise das gute Arbeitsklima im Politbüro während der jüngsten Zeit. Neuer Regierungschef wurde Ryschkow, der sich seine Sporen in Swerdlowsk, der ehemaligen Domäne Kirilenkos, verdient hatte.

Am 24. Dezember 1985 wurde Grischin als Moskauer Parteichef abgelöst, nachdem seine Parteiorganisation schon seit geraumer Zeit wegen schlechter Wirtschaftsführung und unzureichender Lebensmittelversorgung öffentlich unter Beschuß geraten war. Der Ernennung des 54jährigen Jelzin zu dessen Nachfolger in Moskau müssen schwere Auseinandersetzungen vorausgegangen sein. Sie waren wahrscheinlich so stark, daß Gorbatschow es zunächst nicht wagte, den kasachischen Parteichef Kunajew, dem man große Fehler zur Last legte, und den ukrainischen Parteichef Schtscherbizkij abzuhalftern. Breschnew hatte als Generalsekretär die Funktionäre mit Glacehandschuhen angefaßt. Nach dem Willkürregiment Chruschtschows wollte er den Vertretern der Apparate das Gefühl größtmöglicher Sicherheit geben. Er sah über die Schwächen seiner Mitarbeiter großzügig hinweg, sofern sie ihn nur unterstützten. Die Kader waren unter seiner Herrschaft praktisch unkündbar, was zu einer ungewöhnlichen Überalterung in den höchsten Parteigremien führte. Zugleich konnten sich die Provinzfürsten in ihren Machtbereichen wie Duodezfürsten aufführen.

Unmittelbar nach der Wahl Andropows zum Generalsekretär hatte das „süße Leben“ der Breschnew-Getreuen aufgehört. Minister, Parteiapparatschiki und Sekretäre von Gebietskomitees (Obkoms) verloren ihre Ämter. Gorbatschow hat nach seiner Machtübernahme die Erneuerung der Kader forciert. Innerhalb eines Jahres ist etwa ein Drittel sowohl der Minister und Staatskomiteevorsitzenden als auch der Obkom-Sekretäre ausgewechselt worden. Sechs Ministerien des Agrarbereichs wurden zu einer Art Superministerium, dem „Gosagroprom“, zusammengeschlossen. An die Spitze des neuen Ministeriums rückte Murachowskij, ein Vertrauter Gorbatschows aus dessen heimatlichem Obkom Stawropol. Durch die Fusion von Ministerien sollen 20 000 Mitarbeiter ihre Arbeitsplätze verloren haben

III. Die Verschärfung der Arbeitsdisziplin und die Antialkoholkampagne

Die Personalpolitik ist nur eine Seite der Medaille. Viel wichtiger ist natürlich das politische Programm Gorbatschows. Es blieb aber so undeutlich, daß es weitgehend der Phantasie des Beobachters überlassen war, entweder Konturen einer Reform oder aber die Verschärfung des Drucks von oben auszumachen.

Gorbatschow geht wie alle Parteichefs vor ihm davon aus, daß das politische Herrschaftssystem allen anderen Systemen turmhoch überlegen ist.

Bislang hat er nicht zu erkennen gegeben, daß er die Machtstrukturen substantiell antasten will. Er gibt sich damit zufrieden, die Verwaltung zu straffen, jüngere, dynamische Kräfte in die Schlüsselpositionen einzuweisen und die Funktionäre wie die arbeitende Bevölkerung so zu stimulieren oder notfalls zu zwingen, daß sich deren Arbeitsproduktivität erhöht.

Schon unter Andropow war die Arbeitsdisziplin erheblich verschärft worden. Wer heute seinen Dienst nicht antritt, muß mit Lohnabzügen oder mit dem Verlust der Prämien rechnen, ja er kann sogar entlassen werden und muß dann mit einer geringeren Entlohnung vorliebnehmen. Gorbatschow hat die Bevölkerung aufgefordert, .selbstlos und angestrengt“ zu arbeiten In Leningrad hat er beispielsweise einen Arbeiter als leuchtendes Vorbild herausgestellt, der sich in eine mit Robotern ausgerüstete Abteilung versetzen ließ, obwohl er dadurch 100 Rubel weniger verdiente.

Der Kampf gegen den Alkoholmißbrauch ist als eine weitere Maßnahme zur Stärkung der Arbeitsmoral gedacht. In der Nähe von Betrieben und Schulen darf kein Alkohol mehr ausgeschenkt werden, andernorts nur in der Zeit von 14 bis 19 Uhr. Seit Ende August 1985 sind die Preise für Alkohol um 20 bis 25 Prozent heraufgesetzt worden. Wer Selbstgebrannten Alkohol (samogon) herstellt, wird mit 50 Rubeln und der Fortnahme der Apparaturen bestraft. Wer Selbst-gebrannten kauft, hat 100 Rubel zu zahlen, wenn er gefaßt wird.

Mit all diesen Maßnahmen konnte man jedoch bestenfalls Symptome, aber keineswegs die Ursachen der sowjetischen Malaise bekämpfen. Viele, die von Gorbatschow einen Aufbruch zu neuen Ufern erhofft hatten, ließen daher erste Anzeichen von Enttäuschung erkennen. Allerdings hatte — mit Ausnahme Lenins — nie ein sowjetischer Parteichef versucht, unmittelbar nach seinem Amtsantritt ein radikales Programm zu verkünden. Zunächst kam es den Männern an der Spitze der Partei immer darauf an, das Fundament ihrer Macht zu befestigen. Dies hatte in der Regel etwa fünf Jahre gedauert. Erst dann konnten die Parteiführer die Politik mehr oder weniger in ihrem Sinn gestalten.

Von Gorbatschow aber erwartete man wahre Wunderdinge. Da er seine Widersacher so rasch verdrängen konnte,, hätte er, so glaubte man, auch bald mit der Erneuerung der Sowjetunion an Haupt und Gliedern beginnen können. Die Rede Gorbatschows vor dem ZK-Plenum im Oktober 1985, die der Revision des alten Programms gewidmet war und schließlich die Entwürfe für die Neufassung des Programms und der Statuten der KPdSU mußten jedoch wie eine kalte Dusche wirken. Gorbatschow äußerte sich auf dem Oktober-Plenum des Zentralkomitees deutlich zurückhaltender als in den letzten Monaten. Die geplante Neufassung des Parteiprogramms verriet auch nicht gerade die Handschrift eines kühnen Reformators. Sie war in vielen Partien kürzer und nüchterner als das Programm von 1961, dem Chruschtschow damals seinen Stempel aufgedrückt hatte. Vor allem fehlte das Versprechen, bald die Schwelle zum Kommunismus zu überschreiten. Insgesamt aber ließ der geänderte Programmentwurf nicht erkennen, daß man sich vom drückenden Dogmenballast zu trennen gedachte. Er versperrte allerdings auch nicht grundsätzlich die Möglichkeit einer reformorientierten Entwicklung.

IV. Dem 27. Parteitag entgegen

Jetzt konnte man eigentlich nur noch vom 27. Parteitag der KPdSU, der Ende Februar 1986 beginnen sollte, einen entscheidenden Durchbruch Gorbatschows erwarten. Mit hochgezogenen Augenbrauen verwies man darauf, daß Gorbatschow den Bericht des Zentralkomitees ausgerechnet am 25. Februar halten würde, demselben Tag, an dem Chruschtschow 30 Jahre zuvor die Herrschaft Stalins in einer Geheimrede drastisch gegeißelt hatte. Lag da die Vermutung nicht nahe, daß auch Gorbatschow auf „seinem Parteitag“ genau so erbarmungslos mit den Fehlern der Vergangenheit abrechnen würde wie Chruschtschow?

Hier war offensichtlich Zahlenmystik im Spiel. Mit dem 25. Februar 1956, an dem Chruschtschow seine berüchtigte Anti-Stalin-Rede hielt (die nur im Ausland, aber nie in der Sowjetunion selbst veröffentlicht wurde), verbinden westliche Sowjetspezialisten sehr viel mehr als vermutlich Gorbatschow und seine Mannschaft. Es ist auch verständlich, daß der 25. Februar 1956 für den in Moskau lebenden Roj Medwedjew ein magisches Datum wurde, da es sein Leben veränderte und seine Hoffnung auf eine Reform der KPdSU beflügelte. Es gab aber keinen Anhalt dafür, daß die neuen Herren im Kreml ähnlich dachten wie Medwedjew.

Der Beginn des 27. Parteitages ist wahrscheinlich ohne große Überlegungen auf den 25. Februar gelegt worden. Es hatte sich seit geraumer Zeit eingebürgert, den Parteitag stets in der letzten Februarwoche zu beginnen, entweder montags oder dienstags. Samjatin, der Leiter der ZK-Abteilung für Auslandsinformation, hat, als er nach einer eventuellen symbolischen Bedeutung von Gorbatschows ZK-Bericht am 25. Februar befragt wurde, einem Analogieschluß widersprochen Von sowjetischer Seite ist allerdings nicht wenig dazu beigetragen worden, daß große Hoffnungen in den 27. Parteitag gesetzt wurden. Semjonow, der Botschafter der UdSSR in Bonn, hatte beispielsweise den Kongreß im voraus als den wichtigsten Parteitag der Nachkriegszeit bezeichnet In Moskau gab es aber auch bald Stimmen, die vor zu großen Erwartungen warnten. Der Parteitag, so hieß es, komme für Gorbatschow zu früh.

V. Gorbatschow auf dem Parteitag

In der Breschnew-Ära waren die Parteitage bis ins Detail durchgeplante Veranstaltungen gewesen, die immer stärker auf eine Beweihräucherung der alternden Parteiführung hinausliefen. Auf den letzten Kongressen zollte man insbesondere dem Generalsekretär überschwengliches Lob. Der georgische Parteichef Schewardnadse zitierte Breschnew 1981 in seiner kurzen Adresse an den Parteitag allein dreizehnmal

Der 27. Parteitag, der vom 25. Februar bis zum 6. März 1986 dauerte, änderte das hergebrachte Ritual nur wenig, ließ aber eine seit zwei Jahrzehnten nicht mehr erlebte knisternde Unruhe erkennen — schließlich stand das Schicksal vieler Funktionäre auf dem Spiel. Die Kritik der Redner an innersowjetischen Mißständen war erheblich schärfer als zu Breschnews Zeiten. Hier und da war auch ein Dissens unter den Sprechern auszumachen.

Im Mittelpunkt eines sowjetischen Parteitages stand stets der Rechenschaftsbericht des Zentral-komitees. Diesmal trat Gorbatschow nur mit einem „Politischen Bericht des ZK“ hervor, möglicherweise um sich von der Breschnew-Zeit zu distanzieren. Ein solcher ZK-Bericht muß in langwieriger Vorbereitung vor allem mit den Spitzenvertretern der Partei und des Staates, aber auch mit den einzelnen ZK-Abteilungen abgesprochen werden. Wie zu hören war, soll der Rohentwurf von Gorbatschows Bericht von einem zwanzigköpfigen Team erstellt, von zehn versierten Gehilfen gekürzt worden sein und hat schließlich von einer Vierergruppe den letzten Schliff erhalten Eine solche Rede soll vielen vieles geben, muß also nicht völlig den Vorstellungen des Generalsekretärs entsprechen.

Gorbatschow hat die mehr als fünfstündige Rede in größtem Tempo verlesen, wobei er sich oft versprach und sogar einmal die Seiten vertauschte.

Überraschend war für die westlichen Beobachter, daß er im ersten Teil seines Berichts die kapitalistische Welt (vor allem die USA) in den schwärzesten Farben zeichnete. Nach Marx wurde die Ausbeutergesellschaft mit einem heidnischen Götzen verglichen, „der den Nektar nur aus den Schädeln Erschlagener trinken wollte“. Dem Kapitalismus wird in schrecklicher Vereinfachung alles Negative angelastet: Militarismus, Faschismus, Völkermord, Ignoranz, Obskuratismus und „soziale Senilität“. Die imperialistischen Kreise hätten in ihrem Wirkungsbereich ein trostloses Regime errichtet: „Die ständige Kontrolle, genauer gesagt die Überwachung des Denkens und Handelns der Menschen, wurde zur Norm. Das zielgerichtete Hochzüchten des Individualismus, des Rechts des Starken im Existenzkampf, der Unmoral und des Hasses auf alles Demokratische hat unerhörte Ausmaße angenommen.“ Das sind Worte, die man dem neuen Generalsekretär, den etliche für einen souveränen, aufgeklärten Geist halten, kaum noch zugetraut hatte. Hier und da ist im Westen vermutet worden, daß die antikapitalistischen Tiraden lediglich eine lästige Pflichtübung Gorbatschows waren, denen er sich nicht entziehen konnte. Es ist jedoch nicht zu übersehen, daß auch der „liberale“ Gromyko den Imperialismus kaum anders sieht. Bis zum Beweis des Gegenteils wird man Gorbatschow beim Wort nehmen müssen, denn man kann nicht willkürlich die Sätze, die einem passen, für bare Münze nehmen, und andere, die man als störend empfindet, für Spielgeld halten. Die Kapitalismus-Schelte hat möglicherweise auch einen innenpolitischen Bezug: Auf dem Hintergrund der westlichen Verkommenheit sollen die Schwierigkeiten und Versäumnisse der Sowjetunion, die auf dem 27. Parteitag zur Sprache gebracht wurden, als das geringere Übel erscheinen.

VI. Die gelenkte „Diskussion“

Im Politischen Bericht des Zentralkomitees faßte Gorbatschow die Themen zusammen, die er in seiner einjährigen Amtszeit als Parteichef schon verschiedentlich angepackt hatte, und präzisierte seine früheren Aussagen in einigen Fällen. Mit dieser Rede bestimmte er — wie vor ihm Breschnew — die Aufgaben und Ziele der Partei für die nächsten Jahre. Die rund 80 Redner des 27. Parteitages (die ausländischen Gäste nicht mitgerechnet) folgten im wesentlichen den Vorgaben des ZK-Berichts, natürlich auch Ryschkow, der Regierungschef, dessen Referat „Über die Haupt-richtungen der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der UdSSR für die Jahre 1986 bis 1990 und für den Zeitraum bis zum Jahre 2000“ die zweitwichtigste Rede des Parteitags war.

Im Gegensatz zu den voraufgegangenen Parteikongressen der Breschnew-Ära war die Bandbreite der Meinungen größer. Einige Redner blieben unter den von. Gorbatschow gewählten Markierungen, der neue Moskauer Parteichef Jelzin ging deutlich über sie hinaus.

Trotz der Differenzierung unter den Rednern war es unverkennbar, daß der 27. Parteitag von einer straffen Regie geführt wurde. Niemand wagte es, für Breschnew eine Lanze zu brechen. Niemand tadelte Gorbatschow, daß der von ihm vorgetragene ZK-Bericht unzureichend sei, auch muß allen Rednern empfohlen worden sein, in jeder Rede Gorbatschow so wenig wie möglich zu zitieren (selbst die Bescheidenheit eines Generalsekretärs kommt ohne klare Anweisungen nicht aus). Allerdings beriefen sich etwa der Kasache Kunajew, der um sein Amt als Parteichef seiner Unionsrepublik bangen muß, und auch Staatspräsident Gromyko immerhin dreimal auf Gorbatschow. Dem georgischen Parteichef Patiaschwili gelang es, den Namen des Generalsekretärs ganz zu vermeiden Dagegen muß Kulidschanow, Erster Sekretär vom Verband der Filmschaffenden, die Zeichen der Zeit überhaupt nicht begriffen haben. Als er lebhaft bedauerte, daß Michail Sergejewitsch nicht länger (als fünf Stunden) referiert habe, unterbrach ihn Gorbatschow mit der Mahnung, die Deklinierung seines Namens zu unterlassen In den Applaus der Delegierten fielen sowohl Gorbatschow wie Kulidschanow ein.

VII. Das Grabmal des unbekannten Generalsekretärs

Breschnew, dem die Delegierten 1981 noch überschwenglich gehuldigt hatten, wurde auf dem jetzigen Parteikongreß nur ein einziges Mal erwähnt, als nämlich Ligatschow am Eröffnungstag die sechs Politbüromitglieder aufzählte, die seit dem letzten Parteitag gestorben waren. Die Erinnerung an ihn wurde allerdings jedesmal geweckt, wenn ein Redner auf die schweren Unterlassungen und Fehleinschätzungen in der Vergangenheit hinwies. Die Kritiker hatten, wie sich ihren Worten unschwer entnehmen ließ, eindeutig Breschnew und dessen Mannschaft im Visier, durften aber offenkundig nicht Roß und Reiter nennen. Aus Gründen der Parteiräson prangerte man lediglich die Sünden an, nicht aber die hochgestellten Sünder.

Unter den sieben sowjetischen Parteichefs von Lenin bis Gorbatschow gibt es drei oder vier, deren Namen sowjetische Kommunisten heute nach Möglichkeit verschweigen: Stalin, Chruschtschow, Breschnew und vielleicht Tschernenko. Allerdings wird auch Andropow in jüngster Zeit nicht mehr besonders erwähnt. Es heißt lediglich, daß es 1983 zu „bestimmten positiven Wandlungen“ gekommen ist

Auf dem 20. und 22. Parteitag hatte Chruschtschow mit Stalin auf seine derbe Art abgerechnet, und zwar unter Nennung von dessen Namen. Die Folgen dieses „Vatermords“ waren für die KPdSU verheerend, nicht nur im internationalen Kommunismus, sondern auch in der Sowjetunion selbst. Eine Partei, die zwanzig Jahre lang von einem, wie Chruschtschow es dargestellt hatte, unberechenbaren Kriminellen beherrscht wurde, mußte ihren Anspruch auf Unfehlbarkeit einbüßen. In Moskau erkannte man bald, daß die detaillierten Anklagen gegen Stalin immer neue Fragen nach sich zogen, die die Autorität der Partei nur erschüttern konnten.

Als Chruschtschow im Oktober 1964 zu Fall gebracht wurde, wühlte man nicht in seiner Vergangenheit. Er verschwand mehr oder weniger in der Versenkung der Namenlosigkeit; man tadelte lediglich den „Subjektivismus“ und die „hohlen Phrasen“ in bestimmten Jahren. Das Schicksal, posthum durch die größtmögliche Verdrängung des Namens bestraft zu werden, teilt Breschnew heute mit seinen beiden Vorgängern. Allerdings hat man in jüngster Zeit begriffen, daß es zwingende Anlässe gibt, bei denen man die Namen der ungeliebten Parteichefs nur um den Preis der Lächerlichkeit unterschlagen kann So wird man Breschnew wahrscheinlich in historischen Darstellungen einen gewissen Platz einräumen, ihm aber sonst so wenig Publizität gewähren wie nur möglich.

Gemäß der Sprachregelung der gegenwärtigen Führung sind es die Versäumnisse „in den siebziger Jahren und Anfang der achtziger Jahre“ — Breschnew starb im November 1982 —, die sich zu einer enormen Hypothek für die Sowjetunion summiert haben. Vor allem waren es die ökonomischen Mißerfolge, die die neuen Herren im Kreml alarmiert haben. Seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre ist es in der Tat mit der Sowjetwirtschaft erkennbar bergab gegangen. Die Liste der Vorwürfe an die Adresse der politischen Führung in den siebziger Jahren und der beiden ersten Jahre im darauffolgenden Jahrzehnt ist lang: schuldhaftes Nichterfüllen der Pläne, fehlende Energie beim Übergang von der extensiven zur intensiven Wirtschaft, Versäumnisse bei der Verbesserung des gesamten wirtschaftlichen Leistungssystems, Schlamperei in den Ministerien, Korruption. Darüber hinaus sei auch, so konstatiert es das neugefaßte dritte Parteiprogramm, „die Notwendigkeit tiefgreifender Veränderungen in allen Bereichen des Lebens“ nicht frühzeitig erkannt und energisch durchgesetzt worden Hinter allen diesen gewundenen Formulierungen steht die schlichte Erkenntnis, daß die KPdSU, das Politbüro, der ZK-Apparat und der Ministerrat versagt haben.

Einige Sektoren des politischen Lebens sind von der öffentlichen Kritik ausgenommen: die Außenpolitik, der Staatssicherheitsdienst und das Militärwesen. Das bedeutet natürlich nicht, daß nicht hinter verschlossenen Türen die Diplomatie Gromykos und die Forderungen der Militärs auf Ablehnung gestoßen sind. Derartige Fragen gehören jedoch zu den sensibelsten Bereichen, in die man dem Klassengegner so wenig Einblick gewährt wie nur möglich.

Daß die Breschnew-Jahre selbst im revidierten Parteiprogramm mit kritischen Worten bedacht werden, ist möglicherweise in der Partei auf Unverständnis gestoßen. Jedenfalls scheint Gorbatschow im ZK-Bericht gerade diese Passagen unter Zuhilfenahme eines Lenin-Zitats zu rechtfertigen. Auffällig ist es andererseits, daß in eben dieser Rede die fraglichen Jahre fast milde behandelt werden: „Freilich, auf die Lage der Dinge hatten sich auch einige Faktoren ausgewirkt, auf die wir keinen Einfluß haben. Sie waren es aber nicht, die den Ausschlag gaben. Vor allen Dingen war dies darauf zurückzuführen, daß wir die Veränderung in der ökonomischen Situation nicht rechtzeitig eingeschätzt ... hatten.“ Ein Schuldeingeständnis ist in solchen Worten allerdings nicht unbedingt zu sehen, denn Gorbatschow fügt sofort hinzu, daß es genügend Diskussionen um einen Kurswechsel gegeben habe, aber den Worten keine Taten gefolgt seien.

VIII. Kritische Fragen von Jelzin

Für Außenstehende ist diese halbherzige Kritik unbefriedigend, aber wahrscheinlich auch für jeden denkenden sowjetischen Kommunisten. Man fragt sich, wie ein alternder Generalsekretär ein Politbüro von gestandenen Männern so in seiner Gewalt haben konnte, daß die notwendigen Schritte zur Erneuerung nicht getan wurden. Schließlich war auch Gorbatschow seit 1978 ZK-Sekretär und seit 1980 Politbüromitglied. Seinen Reden, die er während der Breschnew-Jahre gehalten hat, kann man nicht entnehmen, daß er für radikale Veränderungen auf die Barrikaden gegangen wäre und sich damit in Gegensatz zum damaligen Generalsekretär gebracht hätte. In kleinen Zirkeln mag er seine Kritik vorgetragen haben — in der Öffentlichkeit nicht.

Noch verwirrender ist es, wenn Gorbatschow in seinem ZK-Bericht gleich eingangs sagt: „Wir dürfen auf das, was in diesen Jahren (gemeint ist die Zeit nach 1961), den Jahren angespannter Arbeit, den Jahren des Kampfes geleistet wurde, durchaus stolz sein.“

Nicht alle Redner gingen auf die Fehler der Vergangenheit ein. Am schärfsten zog Jelzin, der neuernannte Moskauer Parteichef, vom Leder: „Es ist völlig gerechtfertigt, die Einbrüche im Tempo der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes während der letzten Fünfjahrpläne mit der Führung der Partei und des Staates in Verbindung zu bringen. Die Fehler einzelner Personen sind dem Land, der Autorität der Partei und dem Sozialismus in der Welt teuer zu stehen gekommen. Wenn wir gezwungen sind, anzuerkennen, daß ... , Zonen, die der Kritik entzogen sind 4, existierten, so bedeutet das doch, daß es Ämter, Personen gab, die nicht der Kritik unterlagen. Es drängt sich die Frage auf: Was sind die Ursachen, wer ist schuld daran? Ja, wer, wenn nicht wir, die Mitglieder des Zentralkomitees der Partei.“

Es habe, so Jelzin, vielen Parteiführern an Mut gefehlt, rechtzeitig kritische Fragen zu stellen und das Verhalten übergeordneter Funktionäre offen auszusprechen. Jelzin räumte ein, daß er selbst auf dem 26. Parteitag, dem letzten der Breschnew-Ära, auch nicht gerade eine gute Figur gemacht habe (damals hatte er in der Tat das „unübertroffene Organisationstalent“ der Führung, den außergewöhnlichen Weitblick und die Scharfsichtigkeit des Zentralkomitees, ja sogar die persönlichen Verdienste Breschnews gerühmt). Sein unterwürfiges Verhalten erklärte Jelzin damit, daß es ihm vor fünf Jahren an Mut und politischer Erfahrung gefehlt habe.

IX. Gegen die Nestbeschmutzer

Vielen Delegierten dürfte die Abrechnung mit der Vergangenheit gegen den Strich gegangen sein. Kunajew, ein Breschnewianer, der seit Gorbatschows Amtsantritt als Generalsekretär unter starken Beschuß geraten war, verschwendete auf dem Kongreß so wenig Worte, wie dies nur möglich war, über die Versäumnisse, die man seiner Parteiorganisation ankreidete. Dagegen hielt sich Worotnikow, seit 1983 Ministerpräsident der RSFSR, eingehender bei den Schattenseiten der früheren Jahre auf Er mag dazu einen persönlichen Grund gehabt haben, denn seine Karriere hatte unter Breschnew einen Knick erhalten, als er 1979 als Botschafter nach Kuba geschickt worden war.

Solomenzew, Vorsitzender des Komitees für Parteikontrolle, und auch Staatspräsident Gromyko, die beide zu den Veteranen der Parteiführung gehören, glaubten das Ausland ausdrücklich davor warnen zu müssen, die von der Partei eingestandenen Mängel in Argumente gegen den Sozialismus als Gesellschaftssystem umzumünzen. Diese Ermahnungen waren aber wahrscheinlich nicht nur an die Widersacher außerhalb, sondern auch innerhalb der Sowjetgrenzen gerichtet.

Als noch ärgerlicher empfanden die „Konservativen“ in der Partei die Kritik, die seit geraumer Zeit an den Funktionären geübt wurde. Kurz vor dem 27. Parteitag war es über einen „Prawda“ -Artikel mit dem Titel „Reinigung“ zu einem Eklat gekommen Samolis hatte eine Reihe kritischer Stimmen aus den Leserzuschriften zitiert, die offenkundig frischen Wind in die insgesamt doch sehr behutsame Diskussion um die Erneuerung der Partei bringen sollten. Ein gewisser Iwanow hatte auf die „wenig bewegliche, träge und dickflüssige parteiadministrative Schicht“ hingewiesen, die zwischen dem Zentralkomitee und der Arbeiterklasse „wabere“ und keine radikalen Veränderungen wünschte. Manche Kommunisten, so schrieb er, erwarteten von der Partei nur noch Privilegien. Unmittelbar daran schloß sich die Kritik des Altkommunisten Nikolajew an, der in den Spezialläden, Spezialrestaurants und Spezialkrankenhäusern eine soziale Ungerechtigkeit sah. Nach Meinung dieses Briefschreibers sollten die Funktionäre durchaus höhere Löhne erhalten, aber darüber hinaus keine besonderen Privilegien: Sie sollten wie die Normalbürger vor den Geschäften Schlange stehen, was dazu beitragen könne, daß die Schlangen eines Tages ganz verschwänden. Um das Tüpfelchen aufs i zu setzen, wünschte Nikolajew eine „gründliche Säuberung des Apparats“. Ein anderer Leserbriefschreiber hielt sogar ein Gesetz über eine „periodische Säuberung“ für erforderlich.

Eine „Säuberung“ (tschistka) mußte in der Partei unliebsame Erinnerungen an die dunkelsten Jahre des Stalinismus wachrufen. Samolis, der so ausgiebig aus den Briefen zitiert hatte, wollte selbst nichts von einer Massensäuberung wissen, plädierte jedoch für eine „Reinigung“ (otschischtschenie). Allerdings war auch eine solche Reinigung für die Funktionäre beunruhigend genug.

Der Artikel war eine Kampfansage an den Mittelbau der Partei. Er hat, wie es heißt, Ligatschow, den ranghöchsten ZK-Sekretär nach Gorbatschow, so in Rage gebracht, daß er von Afanasjew, dem Chefredakteur der „Prawda“, verlangte, die Zwischenschicht der Partei nicht so einseitig zu diffamieren Es war also — wie in der schöngeistigen Literatur — der positive’Held erwünscht. Bereits am 15. Februar erschien auf der ersten Seite der „Prawda" ein Leserbrief, in dem die hingebungsvollen Kader hervorgehoben werden, die eine solche Pauschalkritik nicht verdient hätten. Die „Prawda“ gelobte Besserung. Die Zurechtweisung Afanasjews, der Gerüchten, aber auch deutlichen Indizien zufolge auf vertrautem Fuß mit Gorbatschow steht, muß erstaunen. Wenn die Ereignisse und Zusammenhänge richtig wiedergegeben sind, muß man eigentlich den Schluß ziehen, daß zwischen Gorbatschow und Ligatschow in dieser Frage keine Einigung besteht. Es ist kaum anzunehmen, daß Afanasjew den brisanten Artikel ohne Rückendeckung in seiner Zeitung einrückte. Man kann vermuten, daß Gorbatschow selbst den Chefredakteur der „Prawda“ direkt oder indirekt zu einer offensiven Kritik ermutigt hat. Es heißt auch, daß sich der Moskauer Parteichef Jelzin im vertraulichen Kreis ähnlich kritisch über den Mittelbau der Partei geäußert hat Afanasjew schlug nach dem 13. Februar ein so rauher Wind ins Gesicht, daß er sich nicht einmal mehr seines Stuhls als Chefredakteur der „Prawda“ sicher war. Selbstverständlich waren die Ideen, wie sie der Samolis-Artikel zusammengefaßt hatte, den rund 5 000 Delegierten des 27. Parteitages bekannt.

Derart nonkonformistische Gedanken findet man letzten Endes im zentralen Parteiorgan nicht alle Tage. Sie müssen aber als so exzentrisch eingestuft worden sein, daß sie schon nicht mehr als diskussionsfähig galten. Nichtsdestoweniger packte Jelzin am zweiten Kongreßtag einige der heißen Eisen an. „Warum“, so fragte er, „bleibt auch heute die Forderung nach radikalen Veränderungen in der trägen Schicht der Anpasser mit dem Parteibuch in der Tasche stecken?“ Er bemängelte dann die Strukturen des ZK-Apparats.

Im weiteren plädierte er für den Abbau von Privilegien (blaga), wenn sie nicht gerechtfertigt seien.

Das Echo auf diese Anregungen war dem Anschein nach nicht sehr positiv. Nur Jelzins Vorschlag, den ZK-Apparat umzustrukturieren, wurde mit Beifall aufgenommen. Da man auch auf dem 27. Parteitag nicht frei und ungezwungen redete, ist nicht auszumachen, ob sich einige Delegierte mehr über Jelzin oder über den „Prawda“ -Artikel vom 13. Februar empörten.

Gromyko, der kurz nach Jelzin das Wort erhielt, erinnerte die Scharfmacher barsch an die Grenzen, die der Diskussion gesetzt sein sollten: „Keinem soll erlaubt sein, unter dem Vorwand, der gesunden und notwendigen Sache der Kritik und Selbstkritik einen Dienst zu erweisen — und diese Sache muß ein Gesetz sein —, sich des Hirngespinstes von Spaltungen (treschtschiny) in unserer Partei und in der Sowjetgesellschaft zu bedienen. Denjenigen, die sich damit beschäftigen oder beschäftigen wollen, muß man gehörig den Kopf zurechtrücken. Kritik als eine mächtige und wirkungsvolle Waffe der Partei und Herummäkeln an aufrechten Kommunisten — das ist nicht ein und dasselbe, ganz und gar nicht. Alle Mittel, über die unsere ideologischen und politischen Gegner im Ausland verfügen, sind nicht imstande, eine Bresche in die Reihen unserer Partei oder ihrer Ideologie zu schlagen.“

Gromyko gefiel sich in der Rolle des Schiedsrichters, der Verstöße gegen die Spielregeln moniert. Schon am 11. März 1985 hatte er auf dem ZK-Plenum, das Gorbatschow zum Generalsekretär ernannte, vor Meinungsverschiedenheiten in der Partei gewarnt Damals wie jetzt schützte er Staatsinteressen vor, um die Heißsporne zum Schweigen zu bringen. Die ganze Richtung der Neutöner gefiel ihm nicht.

Ligatschow, der Kaderchef, machte sich die Wünsche Jelzins ebenfalls nicht zu eigen. Er bemängelte aber massiv die „Pannen“ (srywy), die sich Zeitungen in jüngster Zeit zuschulden hätten kommen lassen, und tadelte namentlich die Redaktion der „Prawda“.

Kalaschnikow, der Parteichef von Wolgograd, der den Passus über die „parteiadministrative Schicht“ wörtlich aus dem Iwanow-Brief zitierte, ohne allerdings die Quelle zu nennen, wandte sich gegen die „Autoren“, die aus Sensationslust die Kader einer ganzen Schicht anschwärzten Er wurde für seine Worte — genau so wie vorher Gromyko — mit Beifall belohnt.

X. Wenig Vertrauen in die Kader — mehr Kontrolle

Sollte Gorbatschow gehofft haben, die Partei mit Hilfe des „Prawda“ -Artikels vom 13. Februar oder der Kapuzinerpredigt Jelzins aus ihrer Lethargie herausreißen zu können, so war ihm auf dem Kongreß kein Erfolg beschieden. Im ZK-Bericht Gorbatschows wird ausdrücklich festgestellt, es bestehe kein Bedarf für eine „Säuberung“. Nicht einmal von einer „Reinigung“ ist die Rede. Vermutlich sieht die neue Parteiführung im Augenblick sogar eine Gefahr darin, die ohnehin verstörten Funktionäre noch weiter zu verunsichern.

Seitdem Gorbatschow Generalsekretär geworden ist, hat er an vielen Fronten versucht, in die Offensive zu gehen. Von den „radikalen Veränderungen“, von denen so oft die Rede ist, kann die Partei indessen schwerlich ausgenommen werden. Gerade hier müßte sich aber Revolutionäres tun, wenn die Sowjetunion aus ihren vielen Sackgassen herausgeführt werden soll. Unter die Personalpolitik der Vergangenheit, die durch die Schlagworte „Vertrauen in die Kader“ und „Stabilität in die Kader“ gekennzeichnet werden kann, soll nach Ansicht der heutigen Parteiführung ein Schlußstrich gezogen werden. Was aber von der Tribüne des Parteikongresses über die neue Kaderpolitik gesagt wurde, ist nicht gerade neu.

Man greift zu Lenins Allheilmittel: der Kontrolle. Um die Verfilzung unter den Funktionären zu erschweren, sollen Kader über die Grenzen der einzelnen Regionen hinweg ausgetauscht werden. Aber auch Funktionäre aus dem Zentrum sind zur Verstärkung der heimischen Kräfte vorgesehen.

Auf dem Kongreß wurde gesagt, daß die Kritik in der Vergangenheit Zeiten des Frostes und des Tauwetters erlebt habe; künftig brauche man jedoch ein beständig gutes Wetter In Zukunft, erklärte Ligatschow, unterlägen Moskau, Leningrad, die Ukraine, Kasachstan, Stawropol, Tomsk und Swerdlowsk den für alle gültigen Normen der Kritik Indem Ligatschow ausdrücklich die Domänen der heutigen Führungsmannschaft aufführte — er selbst kommt aus Tomsk, Gorbatschow aus Stawropol, Jelzin und Ryschkow kommen aus Swerdlowsk —, wollte er seine Unbestechlichkeit kundtun. Ob er Seilschaften, wie sie in der KPdSU üblich waren, verhindern kann, ist allerdings nicht zu erkennen.

Im ZK-Bericht Gorbatschows wird der Publizität (glasnostj) großes Gewicht bei der Aufdeckung von Mißständen vor allem im Staat und in der Gesellschaft eingeräumt. Vor einer Transparenz, heißt es hier, könne sich nur der fürchten, der etwas zu verbergen habe. Die Publizität sei sowohl im Zentrum (!) wie an der Basis nötig. Ligatschow jedoch verlor in seinem Bericht vor dem Kongreß kein Wort über die Publizität. Die Aufregung über den „Prawda“ -Artikel vom 13. Februar zeigt im übrigen, daß man mit der Transparenz noch große Schwierigkeiten hat.

Es ist offensichtlich nur noch eine Frage der Zeit, daß der ZK-Apparat umgestaltet wird. Dem alten Apparat wird vorgeworfen, daß er die Kontrolle über die Kader im Land nicht ausreichend wahrgenommen und sich bereits zu sehr in die Tätigkeit der Sowjetorgane eingeschaltet habe.

XI. Die neuen Führungsgremien

Die eigentlichen Entscheidungen eines sowjetischen Parteitages fallen hinter den Kulissen. Das gilt vor allem für die Personalentscheidungen. Am Ende eines jeden Parteitages werden das Zentralkomitee, das Politbüro und das ZK-Sekretariat gewählt. Die Wahlvorschläge stehen schon vor dem Kongreß fest. Jeder Delegierte hat — theoretisch — das Recht, Namen von der Liste zu streichen. Ein Kandidat gilt erst dann als nichtgewählt, wenn die Hälfte der Stimmen gegen ihn abgegeben worden ist. Der Konformitätsdruck dürfte aber so stark sein, daß kaum jemand, der die Sympathien des Generalsekretärs oder des Politbüros besitzt, nicht gewählt wird.

Auf dem 27. Parteitag ist die Zahl der ZK-Voll-mitglieder, die sich 1981 auf 319 belief, auf 307 reduziert worden. Ausgeschieden sind Romanow und Grischin, aber auch Aleksandrow-Agentow und Kossolapow. Dagegen haben Baibakow, der ehemalige Chef des Staatlichen Plankomitees (Gosplan), und Tichonow ihren Platz im Zentralkomitee behalten. Insgesamt sind 125 Personen neu ins Zentralkomitee aufgerückt, 1981 waren es nur 80. Im Augenblick ist noch nicht zu erkennen, ob die Aufsteiger samt und sonders Gorba-tschow-Anhänger sind. Man muß annehmen, daß zumindest Ligatschow bei der Auswahl der Neuen ein Wort mitsprechen konnte. 60 Prozent des alten ZK-Bestandes sind wiedergewählt worden. Das Durchschnittsalter des heutigen Zentralkomitees liegt bei etwa 60 Jahren.

Das vom Zentralkomitee bestellte Politbüro hat sich gegenüber seiner früheren Zusammensetzung nur wenig, das neue ZK-Sekretariat dagegen stark verändert:

Politbüro-Mitglieder

Michail Gorbatschow Gejdar Alijew Witailij Worotnikow Andrej Gromyko Lew Saikow Dinmuchamed Kunajew Jegor Ligatschow Nikolai Ryschkow Michail Solomenzew Viktor Tschebrikow Eduard Schewardnadse Generalsekretär Erster Stellvertretender Ministerpräsident Ministerpräsident der RSFSR Staatspräsident ZK-Sekretär (neu) Parteichef von Kasachstan ZK-Sekretär Ministerpräsident Parteikontrollkommission-Vorsitzender Chef der Geheimpolizei (KGB) Außenminister Wladimir Schtscherbizki Parteichef der Ukraine

Politbüro-Kandidaten

Pjotr Demitschew Wladimir Dolgich Boris Jelzin Nikolai Sljunkow Sergej Sokolow Juri Solowjow Nikolai Talysin Kulturminister ZK-Sekretär Parteichef von Moskau Parteichef der Weißrussischen SSR Verteidigungsminister Parteichef von Leningrad Plankommission-Vorsitzender

ZK-Sekretariat

Michail Gorbatschow Alexandra Birjukowa Anatolij Dobrynin Wladimir Dolgich Lew Saikow Michail Simjanin Jegor Ligatschow Wadim Medwedjew Viktor Nikonow Georgij Rasumowski Alexander Jakowlew (Politbüro-Mitglied) (neu)

(neu) (Politbüro-Kandidat) (Politbüro-Mitglied) (Politbüro-Mitglied) (neu) (neu) (neu)

XII. Ein Wendepunkt?

Der 27. Parteitag hat sich deutlich von den Kongressen der Breschnew-Ära abgehoben, er hat jedoch bei weitem nicht die Dramatik des 20. Parteitags (1956) erreicht. Zu vieles wurde eher angedeutet als offen ausgesprochen. Die Rede Jelzins, des neuen Parteichefs von Moskau, bildete eine Ausnahme. Gorbatschow weiß um die Schwierigkeiten, die vor ihm liegen. Zu Anfang seines ZK-Berichts heißt es: .. sowohl in den zentralen Organen als auch an der Basis gewann eine eigenartige Mentalität die Oberhand: Wie könnte man die Sache verbessern, ohne etwas zu verändern.“ An anderer Stelle des ZK-Berichts ist von jenen die Rede, die abwarten oder phantastische Pläne schmieden, in Wirklichkeit aber nichts tun. Gorbatschow mag in der Tat glauben, daß es der Mittelbau der Partei ist, der die Vorhaben des Politbüros durch seinen Konservatismus vereitelt. Der Hauptgegner Gorbatschows sind jedoch nicht die wenig beweglichen Apparatschiki, sondern es ist das System, das diese Apparatschiki hervorgebracht hat.

Heute wälzt man einen Großteil der Verantwortung für die Mißstände auf Breschnew ab. 1964 war Chruschtschow der Sündenbock, 1956 Stalin, in den dreißiger Jahren der „Volksfeind“. Anfang der zwanziger Jahre machte man teils den Kommunisten, die nicht auf der Höhe ihrer Aufgaben waren, und teils der Bürokratie, die noch nicht frei von zaristischen Beamten war, zum Vorwurf, daß sie die Entwicklung des Sowjetstaates hemmten. Nach Lenins Meinung waren 99 von 100 Kommunisten nicht auf dem Platz, für den sie geeignet seien Er kannte nur ein Mittel, um unliebsame Entwicklungen zu verhindern: sorgfältigere Kaderauswahl und Kontrolle. 1922 schrieb er an Zjurupa, seinen Stellvertreter-in der Regierung: „Behörden sind Dreck; Dekrete sind Dreck. Menschen suchen, die Arbeit kontrollieren ..

Bis zum heutigen Tage plagt sich die KPdSU mit den Problemen, die schon Lenin beschäftigten. Die Menschen, weder die Funktionäre noch die Werktätigen, entsprechen nicht den Wunschvorstellungen, die ehrgeizige Parteiführer von ihnen haben. Lenin erkannte 1922 zu seinem Schrekken, daß sein Einfluß auf die Geschicke des Landes gering war: „Wir haben nun ein Jahr hinter uns, der Staat ist in unseren Händen — aber hat er unter den Verhältnissen der Neuen Ökonomisehen Politik in diesem Jahr funktioniert ... Er hat nicht nach unserem Willen funktioniert? ... Das Steuer entgleitet den Händen: Scheinbar sitzt ein Mensch da, der den Wagen lenkt, aber der Wagen fährt nicht dorthin, wohin er ihn lenkt, sondern dorthin, wohin ein anderer ihn lenkt .. .“ Damals waren angeblich Spekulanten und Privatkapitalisten die Übeltäter. Heute ist es die konservative Zwischenschicht.

Die KPdSU dürfte, wenn sie der Schwierigkeiten Herr werden will, nicht bei Lenin anknüpfen, sie müßte über ihn hinausdenken, nach den Fehlern des politischen Systems fragen. Solange dies nicht geschieht, wird es kaum Lösungen der anstehenden Probleme geben.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Neue Zürcher Zeitung vom 3. Juli 1985.

  2. Kommunist, (1985) 5, S. 7.

  3. Vgl. die Rede Schewardnadses, in: Prawda vom 22. Februar 1984.

  4. E. Siegel, in: Frankfurter Rundschau (FR), vom 5. Februar 1986.

  5. Prawda vom 27. Juli 1985.

  6. Prawda vom 16. Oktober 1985.

  7. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. Februar 1986.

  8. General-Anzeiger (Bonn) vom 25. Februar 1986.

  9. Sowjetunion 1980/81, München 1981, S. 31.

  10. Der ZK-Bericht wurde veröffentlicht in: Prawda vom 26. Februar 1986. Die deutsche Übersetzung erschien in: Neues Deutschland vom 26. Februar 1986.

  11. Süddeutsche Zeitung vom 27. Februar 1986.

  12. Die Reden Kunajews, Gromykos und Paliaschwilis wurden veröffentlicht in: Prawda vom 27. Februar 1986.

  13. Prawda vom 2. März 1986.

  14. So Ryschkow in: Prawda vom 4. März 1986.

  15. Vgl. etwa die siebte Auflage von: Istorija Kommunistischeskoj partii Sowjetskaja Sojuza, Moskau 1983.

  16. Prawda vom 7. März 1986.

  17. Hervorhebung Heinz Brahm.

  18. Prawda vom 27. Februar 1986.

  19. Ebd.

  20. Prawda vom 13. Februar 1986.

  21. E. Siegel, in: FR vom 5. März 1986.

  22. LJ. Engelbrecht, in: Kölner Stadt-Anzeiger vom 18. Februar 1986.

  23. Prawda vom 27. Februar 1986.

  24. Kommunist, (1985) 5, S. 7.

  25. Prawda vom 2. März 1986.

  26. So Ligatschow, in: Prawda vom 28. Februar 1986.

  27. Ebd.

  28. W. I. Lenin, Werke XXXIII, Berlin (Ost) 1963, S. 295.

  29. Ders., Werke XXXVI, Berlin (Ost) 1962, S. 551.

  30. Ders., Werke XXXIII, Berlin (Ost) 1963, S. 266.

Weitere Inhalte

Heinz Brahm, Dr. phil., geb. 1935; Wissenschaftlicher Direktor, Leiter des Forschungsbereichs „Innenpolitik“ im Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln. Veröffentlichungen u. a.: Trotzkijs Kampf um die Nachfolge Lenins, Köln 1964; Pekings Griff nach der Vormacht, Köln 1966; Der Kreml und die SSR 1968— 1969, Stuttgart 1970; (Hrsg.) Opposition in der Sowjetunion, Düsseldorf 1972; Der sowjetisch-chinesische Konflikt, in: Osteuropa-Handbuch, Sowjetunion, Außenpolitik, Bd. 2, Köln-Wien 1976; Die Sowjetunion — eine konservative Gesellschaft?, in: Osteuropa, (1982) 7; Beharrung und Veränderung in der sowjetischen Innenpolitik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 48/81.