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Von der Arbeitszur Leistungsgesellschaft? Gesellschaftspolitik in der Sowjetunion nach dem 27. Parteitag | APuZ 15/1986 | bpb.de

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APuZ 15/1986 Der 27. Parteitag der KPdSU -eine Wendemarke? „Sozialökonomische Beschleunigung“ -aber wie? Von der Arbeitszur Leistungsgesellschaft? Gesellschaftspolitik in der Sowjetunion nach dem 27. Parteitag Neue Denkmuster in der sowjetischen Außenpolitik?

Von der Arbeitszur Leistungsgesellschaft? Gesellschaftspolitik in der Sowjetunion nach dem 27. Parteitag

Bernd Knabe

/ 28 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Wenn von „Sozialpolitik“ die Rede ist, so wird man vor allem an staatliche Maßnahmen denken, mit denen eine zumindest ausreichende Versorgung und Betreuung bestimmter Schichten und Gruppen der Bevölkerung gewährleistet werden soll, etwa von Kindern, Müttern, Kranken und Alten. Diese Bereiche, die in der Sowjetunion seit einem Jahrzehnt meist unter dem Begriff „Bevölkerungspolitik“ zusammengefaßt werden, stellen aber nur eine Seite der Sozialpolitik sowjetischen Stils dar. Einschränkend ist dabei darauf hinzuweisen, daß entsprechende Verordnungen meist nicht die gesamte Bevölkerung im Auge haben — ein Programm allgemeiner Wohlfahrt bleibt vielmehr der kommunistischen Gesellschaftsformation vorbehalten. Darauf ist es wohl auch zurückzuführen, daß es eine „Sozialhilfe“ oder andere Formen von Armenunterstüztung nicht gibt, von einer Arbeitslosenhilfe ganz zu schweigen. Zu einem zweiten Bereich sowjetischer Sozialpolitik lassen sich die innenpolitischen Felder zusammenfassen, die nach westlichem Verständnis nur ausnahmsweise zur Sozialpolitik gehören: Versorgung, Handel, Dienstleistungen, Wohnungsbau, Freizeit und Urlaub. Staatliche Maßnahmen sollen einerseits der Krisenvorbeugung dienen, andererseits eine gewisse Anreizfunktion erfüllen, sofern sie über eine minimale Bedürfnisbefriedigung hinausgeht. Beim dritten Bereich sowjetischer Sozialpolitik handelt es sich um Maßnahmen, mit denen primär Veränderungen im ökonomischen Bereich bewirkt werden sollen. Ideologisch firmieren derartige Maßnahmen unter dem Slogan der sozialen oder sozialistischen Gerechtigkeit — beide Termini werden in diesem Zusammenhang synonym verwendet. Dazu gehören die angekündigte Umstrukturierung der Entlohnungs-und Prämierungssysteme sowie eine „effektivere“ Nutzung der soge-nannten „gesellschaftlichen Konsumtionsfonds“. Es soll also künftig weniger um ihre sozialpolitisch ausgleichende Funktion, sondern vielmehr um die direktere Verbindung zwischen Leistungen aus den Fonds und der Arbeitsleistung des Individuums und seines Kollektivs gehen. Die Chancen von Gorbatschows „Aufbruch zu neuen Ufern“ sind nicht leicht zu beurteilen. Es scheinen Zweifel angebracht, ob der Durchschnittsbürger im Interesse einer bestenfalls minimalen Anhebung seines Lebensstandards — und mehr wird ihm für die nächsten Jahre nicht in Aussicht gestellt — zu einem wesentlich größeren Arbeitseinsatz bereit sein wird. Neben dem fragwürdigen Instrument der Sanktionen bleibt der sowjetischen Führung letztlich wohl nur die Chance, durch die Aktivierung von Bedrohungsängsten einen größeren Mobilisierungseffekt zu erzielen.

Um den Text nicht mit Anmerkungen zu überlasten, soll auf die zentralen Dokumente nur einmal verwiesen werden. Das Projekt der Neufassung des Programms der KPdSU wurde in der sowjetischen Presse und im „Neuen Deutschland“ am 26. Oktober 1985, die Endfassung am 7. März 1986 abgedruckt. Den Entwurf für die „Hauptrichtungen der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung für die Jahre 1986 bis 1990 sowie für die Periode bis zum Jahre 2000“ brachte die „Prawda“ am 9. November 1985, die überarbeitete Fassung am 9. März 1986. Gorbatschows „Politischer Bericht“ zu Beginn des 27. Parteitags wurde in der sowjetischen Presse und auch im „Neuen Deutschland“ am 26. Februar 1986 abgedruckt.

I. Zur Inhalts-und Funktionsbestimmung von „Sozialpolitik“ in der Sowjetunion

Der 27. Parteitag hat die seltene Gelegenheit geboten, Entwürfe und Endfassungen des Parteiprogramms und der Wirtschaftspläne zu studieren sowie die Erörterung dieser Dokumente vor und während des Kongresses zu verfolgen. Die von Andropow und Gorbatschow vertretene Konzeption der Abrechnung mit der Breschnew-Zeit impliziert auch ein höheres Maß an Kritikbereitschaft. Nicht zuletzt darauf ist es zurückzuführen, daß in der landesweiten Diskussion der genannten Dokumente und auch in vielen Beiträgen auf dem Kongreß gesellschaftliche Erscheinungen angesprochen wurden, über die üblicherweise in der wissenschaftlichen Literatur und in der Publizistik der UdSSR wenig oder nichts zu erfahren ist.

Wenn seit einiger Zeit in der Sowjetunion der Eindruck vermittelt werden soll, man wolle den Stellenwert der Sozialpolitik erhöhen, so könnte daraus zunächst einmal der Schluß gezogen werden, es sollten Problembereiche der Sowjetgesellschaft angegangen bzw. „sozialer Frieden“ gesichert werden. Eher ideologisch orientierte Beobachter könnten auch auf die Idee kommen, damit sollten die noch vorhandenen Unterschiede zwischen Klassen und Schichten abgebaut und eine zunehmende Annäherung an die homogene Sozialstruktur der antizipierten kommunistischen Gesellschaftsordnung bewirkt werden. Derartige Über-legungen werden in der Sowjetunion zwar auch gegenwärtig mitunter en passant angestellt — im Vordergrund steht aber erklärtermaßen das Ziel, durch sozialpolitische Maßnahmen zur Dynamisierung der wirtschaftlichen Entwicklung beizutragen. So ist es vielleicht auch kein Zufall, daß im Programm ein Satz fehlt, der noch im Entwurf stand: „Die UdSSR wird mit allen Kräften zur Überwindung der klassenmäßigen und sozialen Unterschiede beitragen.“ Von wenigen Ausnahmen abgesehen, müssen gesellschaftliche Gruppen eine Vorleistung — in Form höherer Arbeitsleistung — erbringen, bevor sie in den Genuß der angekündigten sozialpolitischen Maßnahmen kommen können. Über den Zustand der Sowjetgesellschaft haben sich sowjetische Führer auf dem 27. Parteitag ihrer Partei in sehr unterschiedlicher Weise geäußert — selbst in den Ausführungen Gorbatschows lassen sich beinahe gegensätzliche Einschätzungen finden. Diese Merkwürdigkeit dürfte ihre Erklärung darin finden, daß es einmal mehr um ideologische Aussagen geht, die ja nur einen geringen Spielraum zulassen, zum anderen um das Bemühen, im Interesse einer Stabilisierungsund Dynamisierungspolitik eine Annäherung an die Realitäten der sowjetischen Gesellschaft zu wagen.

So führte Gorbatschow in seinem „Politischen Bericht“ am Eröffnungstag des Kongresses aus, in der sozialen Sphäre würden „die höchsten Ziele des Sozialismus verkörpert“, und stellte weiter die Behauptung auf: „Eben hier zeigt sich am weitesten und am anschaulichsten das humanistische Wesen des sozialistischen Systems, sein qualitativer Unterschied zum Kapitalismus.“ Auch versicherte er in einem auffälligen Gegensatz zu der sonst deutlichen Abgrenzung von Breschnew und dessen Vorgängern: „Wir haben eine Gesellschaft der sozialen Geschlossenheit und der sozialen Sicherheit aufgebaut.“ Trotz der Kritik an subjekti ven Fehlern ehemaliger Parteiführer wird also an der für das System offenbar lebenswichtigen Fiktion festgehalten, insgesamt habe es seit der Oktoberrevolution 1917 eine kontinuierliche Aufwärtsentwicklung gegeben. In diesem Zusammenhang benannte er auch einen Garanten für die „Gesundheit der gesamten Gesellschaft“ — die „moralische Gesundheit der Partei“, die ihrerseits die Prinzipienfestigkeit der Parteiführung zur Voraussetzung habe.

Wird in diesen Ausführungen eine idealistische, die Dominanz des „Überbaus“ betonende Konzeption deutlich, so gibt es andererseits in der gleichen Rede Passagen, die das Gewicht der sozialen Basis unterstreichen. So heißt es unter Anspielung auf Fehler der Parteiführung unter Breschnew, damals sei die „Schärfe der Lebenswidersprüche“ ignoriert worden. Dagegen wird nun als Kriterium für eine erfolgreiche Innenpolitik postuliert: „Eine Politik bringt die gewünschten Ergebnisse, wenn sie sich auf eine genaue Berücksichtigung der Interessen der Klassen, der sozialen Gruppen und des Individuums gründet.“ Aus den gemachten Ausführungen dürfte deutlich geworden sein, daß sich eine Bewertung der Konzeptionen und der Praxis sowjetischer Politik nicht auf einzelne Aussagen oder Maßnahmen stützen darf, vielmehr immer die Einbindung in die strategische Gesamtlinie versucht werden muß — das entspricht ja auch durchaus dem dialektisch geprägten Selbstverständnis der sowjetischen Führung. Hatte es auch früher Ausführungen über die „soziale Entwicklung“ bzw. über die „Erhöhung des Lebensstandards des Volkes“ gegeben, so ist als Novum zu vermerken, daß es im Parteiprogramm ein ganzes Unterkapitel „Sozialpolitik der Partei“ gibt, und daß in keinem früheren Rechenschaftsbericht vor einem Parteitag so ausführlich über Aufgaben der Sozialpolitik gesprochen worden ist. Der Wolgograder Parteichef Kalaschnikow hielt es offenbar für erwünscht, in seiner Ansprache ausdrücklich auf diesen Umstand hinzuweisen Der im jetzigen Parteiprogramm unter „Sozialpolitik“ behandelte Themenkatalog ist allerdings weitgehend identisch mit den 1961 postulierten „Aufgaben auf dem Gebiet der Anhebung des materiellen Wohlstands des Volkes“.

Als weitere, ebenfalls überwiegend redaktionelle Veränderung ist zu erwähnen, daß sich noch 1961 ein eigenes Unterkapitel mit den „Aufgaben auf dem Gebiet der nationalen Beziehungen“ befaßte, während sich nunmehr nur eine verhältnismäßig kurze Passage im Teil „Sozialpolitik“ mit der „Annäherung der sozialistischen Nationen“ befaßt. Damit soll sicher der Eindruck vermittelt werden, daß der Stellenwert einer eigenständigen Nationalitätenpolitik abgenommen und dieser Bereich nunmehr unter „Sozialpolitik“ zu subsummieren sei. Diese Überlegungen der zuständigen Redaktionskommission sollte man zwar zur Kenntnis nehmen, ihr aber nicht den Gefallen tun, von daher auf ein etwa geringeres Gewicht der Nationalitätenprobleme zu schließen — selbst Äußerungen einzelner Delegierter auf dem Parteitag lassen eher das Gegenteil vermuten.

Ein auswärtiger Beobachter dürfte in der Regel davon ausgehen, daß auch die „Sozialpolitik“ in den Händen staatlicher Organe liegen müsse, deren Aktivitäten höchstens in den einzelnen Republiken eine etwas unterschiedliche Ausrichtung erfahren könnten. Tatsächlich aber wird „Sozialpolitik“ von einer Reihe von Gremien verwaltet, deren Kompetenzen sich mitunter überlagern. Bemerkenswerterweise hat es der Gewerkschaftsvorsitzende Schalajew in seiner Rede auf dem Parteitag übernommen, nachdrücklich auf diesen Kompetenzwirrwarr hinzuweisen: Es sei ungünstig, daß „für viele soziale Fragen zu viele Institutionen zuständig“ seien. Er plädierte für die Einrichtung gemischter gesellschaftlich-staatlicher Organe, die die Verwaltung konkreter sozialpolitischer Felder zu übernehmen hätten

Diese Kritik Schalajews impliziert vermutlich auch eine Kritik an den sogenannten „gesellschaftlichen Konsumtionsfonds“, die ein Konglomerat staatlicher, gesellschaftlicher und betrieblicher Mittel und Maßnahmen darstellen. Aus den Mitteln dieser Fonds, die im begonnenen Planjahrfünft wiederum stärker als die Löhne und Gehälter zunehmen sollen, werden soziale Systeme (Bildungswesen, Gesundheitswesen, Sozialversicherung, Freizeiteinrichtungen) und bevölkerungspolitische Maßnahmen finanziert. In den jetzt verabschiedeten Dokumenten heißt es zwar unverändert, wie im Programm von 1961, die Fonds sollten für die Verwirklichung ideologischer Ziele — insbesondere der allgemeinen Chancengleichheit sowie der Annäherung der Klassen und Gruppen — eingesetzt werden. Gleichzeitig hat Gorbatschow aber klargestellt, daß es sich dabei nicht um „Wohltätigkeitsfonds“ handele. Die vorhandenen Mittel müßten effektiver genutzt werden, insbesondere „zur Stimulierung einer qualifizierten, gewissenhaften Arbeit“. Bei der Verwendung von Fondsmitteln sollen Kriterien der „sozialistischen Gerechtigkeit“ stärker berücksichtigt werden, worauf noch einzugehen sein wird.

Sollten die wesentlichen sozialpolitischen Maßnahmen bisher durch Ausweitung unentgeltlicher staatlicher Leistungen — also unter Beibehaltung des Verteilungsmonopols staatlicher oder quasi-staatlicher Organe — realisiert werden, so sieht die Neufassung des Parteiprogramms die Möglichkeit vor, daß der einzelne Bürger mit seinen finanziellen Mitteln stärkeren Einfluß auf seine Lebensweise nehmen kann: „Die Praxis, Mittel der Bevölkerung für die Verbesserung der Wohnund Lebensbedingungen, der Freizeitgestaltung und des Tourismus sowie für andere Ziele zu nutzen, wird erweitert.“ Damit rückt die KPdSU im Grunde von ihrem Anspruch ab, alle sozialen Probleme optimal lösen zu können. Bei der Vorstellung des bisherigen Programms hatte Chruschtschow am 18. Oktober 1961 erklärt: „Die Geschichte hat bestätigt, daß die einzige gesellschaftspolitische Kraft, die die sozialen Probleme ... tatsächlich löst..., die Kommunisten sind.“

II. Sozialpolitik, der „Faktor Mensch“ und die sozialistische Gerechtigkeit

Die Umwandlung der „Volkswirtschaftspläne“ in „Pläne der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung“ ist bislang bestenfalls eine Absichtserklärung geblieben. Insbesondere die Sozialprogramme des neunten und zehnten Fünfjahrplans (für die siebziger Jahre) sind propagandistisch herausgestellt und selbst im Ausland als beispielhafte Gesellschaftsplanung bezeichnet worden. Inzwischen wird freimütig eingeräumt, daß diese Programme nicht erfüllt und daß auch im Zeitraum von 1981 bis 1985 viele Ziele nicht erreicht worden sind. Gleichzeitig wird Kritik an den Plänen der sozialen Entwicklung geäußert, die seit den siebziger Jahren branchenweise (dabei von den einzelnen Betrieben ausgehend) und regional (von Städten und Landkreisen ausgehend) aufgestellt werden. In aller Regel sind sie noch unverbindlicher als die Kollektivverträge, die jährlich zwischen Gewerkschaftskomitee (im Auftrag der Belegschaft) und Betriebsleitung vereinbart werden.

Die Forderung des Gewerkschaftsvorsitzenden Schalajew, das Staatliche Plankomitee (Gosplan) müsse endlich die wichtigsten Elemente der Pläne der sozialen Entwicklung in den verbindlichen „Plänen der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung“ berücksichtigen belegt, daß es immer noch ein Nebeneinander staatlicher Sozialpolitik und branchenmäßig-regionaler Planung der sozialen Entwicklung gibt. Die Gewerkschaftsführung scheint erstere für unzureichend und zweitere für zu selektiv-partikularistisch zu halten. Nur so nämlich ist im Grunde Schalajews Forderung nach Ausarbeitung eines unionsweiten Programms zur Verbesserung der Lebensbedingungen zu verstehen, Parteiführung, Regierung und Gewerkschaften müßten sich künftig stärker um die „soziale Sphäre“ kümmern.

Sozialpolitischen Zielvorgaben sowjetischer Führer ist gemeinsam, daß sie als „realistisch“, als „wissenschaftlich begründet“ dargestellt werden. Daß ihre Erfüllung von bestimmten Voraussetzungen abhängig gemacht wird, scheint dabei nicht als gravierend betrachtet zu werden. Diese Einschätzung trifft sowohl für Stalin (bei der Vorstellung der Verfassung von 1936) als auch für Chruschtschow und Gorbatschow zu. Die Erreichung der Ziele des Parteiprogramms von 1961 hatte Chruschtschow — was heute oft unberücksichtigt bleibt — von zwei Bedingungen abhängig gemacht, nämlich von einer deutlichen Steigerung der Arbeitsproduktivität sowie von einer „positiven“ außenpolitischen Konstellation, die eine Erhöhung der Rüstungslasten überflüssig machen würde

Diese Punkte finden sich auch bei Gorbatschow wieder, der in seiner Rede vor dem Parteitag unmißverständlich klarstellte: „Man muß jedoch das Wichtigste sagen: Diese Pläne (auf sozialpoli-tischem Gebiet, B. K.) werden Wirklichkeit nur unter der Bedingung einer angespannten und effektiven Arbeit eines jeden Sowjetmenschen ..

Gorbatschow stellte im Grunde noch eine dritte Bedingung, wenn er erklärte: „Wir werden keinen einzigen Schritt vorankommen ..., wenn es uns nicht gelingt, Trägheit und Konservatismus in all ihren Erscheinungsformen zu überwinden.“ Gorbatschows Äußerungen zeigen, daß die Einstellung des einzelnen Beschäftigten zur Arbeit und die Ergebnisse seiner Arbeit stärker berücksichtigt werden sollen — „Bewußtseinslagen“ und „menschlicher Faktor“ allgemein erfahren eine deutliche Aufwertung.

Der „Faktor Mensch“ bzw. die Formierung des „neuen Menschen“ haben im Verlaufe der sowjetischen Geschichte immer eine Rolle gespielt; es kann sich also gegenwärtig lediglich um eine „Neu-oder Umbewertung“ handeln. Kulidschanow, der erste Sekretär der Leitung des Verbandes der Filmschaffenden, hat in seiner Ansprache auf dem Parteitag eine einprägsame Definition des „menschlichen Faktors“ gegeben Es gehe dabei um — die Festigung der marxistisch-leninistischen Ideologie, — die Erziehung zu Patriotismus und Internationalismus sowie um — eine bewußte und moralische Einstellung zur Arbeit und zu anderen Pflichten in Gesellschaft und Familie.

Die Menschen sollen sich also nicht mehr in „Nischen“ der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Sphären zurückziehen und individualistischen Neigungen nachgehen können, vielmehr soll ihnen ein „fortgeschrittenes“ Bewußtsein und eine „kollektivistische Moral“ anerzogen werden, die zu einer harmonischen Verbindung der Interessen des ganzen Volkes mit denen der Kollektive sowie der Individuen führen sollen. Wenn also eine diametrale Gegenüberstellung von Interessen der Individuen und sozialer Gruppen mit denjenigen von Volk und Staat ausgeschlossen sein soll, so wird doch in den jetzt beschlossenen Dokumenten und auch in der Rede Gorbatschows eine gewisse Aktivierung „gesunder individueller Interessen“ für wünschenswert gehalten. Gleichzeitig wird noch vorhandenen „Überresten individualistischen Bewußtseins“ sowie der „Psychologie des Zufalls“ der Kampf angesagt. Der zu höherer Lei-stung stimulierte Beschäftigte solle „gleichzeitig für die Ergebnisse der gesellschaftlichen Produktion sowie für staatliche Angelegenheiten interessiert“ werden. Auf diesem Wege könne auch die Trennung von „Interesse“ und „Idee“, eine Marxsche Anforderung an sozialistische Produktionsverhältnisse, aufgehoben werden

Da sich Veränderungen des Bewußtseins nur durch Verhaltensänderungen zweifelsfrei nachweisen lassen, dürfte sich eine angestrebte Aufwertung des „Faktors Mensch“ in dem oben skizzierten Sinne in der Regel durch Erscheinungsformen einer neuerlich zunehmenden Verfügbarkeit staatlicher oder gesellschaftlicher Institutionen bzw.des Arbeitskollektivs über das Individuum bemerkbar machen: Verhält sich der einzelne Bürger im gewünschten Sinne angepaßt, wird er den propagierten „revolutionären Umschwung“ vermutlich ungeschoren überstehen können.

In seinem Interview für die französische Zeitung „L’Humanite“ hat Gorbatschow verdeutlicht, daß die Parteiführung die Aufwertung gesellschaftlicher Institutionen sowie der Arbeitskollektive favorisiert Sollten diese aber versagen (diese Möglichkeit hat Gorbatschow dabei freilich nicht erwähnt), müßten staatliche Institutionen stärker aktiviert werden. Dieser Trend ist auf manchen Gebieten (Bildungs-und Arbeitspolitik sowie Familienrecht) bereits absehbar. Ob die angekündigten ergänzenden Bestimmungen zu dem seit Sommer 1983 gültigen „Gesetz über die Arbeitskollektive“ diese auch wirklich in die Lage versetzen, von den im Gesetz vorgesehenen Möglichkeiten — Mitwirkung bei der Aufstellung von Projekten, bei der Ernennung bzw. Abberufung leitender Angestellter, bei der Verteilung materieller und sozialer Vergünstigungen — Gebrauch zu machen, bleibt abzuwarten.

Wenn gegenwärtig von der Notwendigkeit der Anerziehung eines „richtigen“ Bewußtseins gesprochen wird, so handelt es sich dabei nicht nur um die Stärkung von Disziplin, Organisiertheit und Verantwortlichkeit, sondern auch um den Kampf gegen alles, was den sozialistischen Lebensnormen widerspricht, wie es so auch im Parteiprogramm postuliert ist. So hieß es denn auch in einem frühen sowjetischen Kommentar zu dem entsprechenden Passus: „Bekanntlich haben die in letzter Zeit getroffenen Maßnahmen (gemeint sind die nach dem Novemberplenum 1982 des Zentralkomitees der KPdSU gestarteten Disziplinierungskampagnen, B. K.), die auf die Verstärkung des ideellen Faktors der Festigung der Arbeits-, Plan-und staatlichen Disziplin abgezielt haben, nicht nur einen eindeutigen wirtschaftlichen, sondern auch einen ideellen und moralischen Effekt mit sich gebracht.“ Und grundsätzlich wird es auch künftig für möglich gehalten, . die Kraft des Bewußtseins bei der Lösung anstehender politischer und wirtschaftlicher Probleme noch umfassender zu nutzen . . ,“

Wenn auch im Parteiprogramm von Prinzipien der „sozialen 4'Gerechtigkeit die Rede ist, denen wieder stärker Geltung verschafft werden sollte, so hat Gorbatschow in seiner Rede eindeutig klargestellt, daß darunter nicht etwa allgemeinverbindliche Prinzipien von Gerechtigkeit und Menschlichkeit zu verstehen sind. Er hat sich vielmehr, wie bereits bei früheren Gelegenheiten, ausdrücklich hinter diejenigen gestellt, die besorgt sind „über die Abschwächung der Kontrolle über das Maß der Arbeit und des Verbrauchs, über Fakten der Verletzung der Forderungen der sozialistischen Gerechtigkeit, (die eintreten für) die Notwendigkeit des verstärkten Kampfes gegen nicht aus der Arbeit stammende Einkünfte“.

Auch in der von den Delegierten des Kongresses verabschiedeten Resolution wird der „unmittelbare Zusammenhang“ zwischen der Verbesserung des Lebens und dem „Arbeits-und gesellschaftlichen Wirkungsgrad jedes Beschäftigten und jeden

Kollektivs“ betont In erster Linie seien es die Interessen der Arbeiterklasse, die als Kriterium für soziale Gerechtigkeit anzuwenden seien, stellte der neue Moskauer Parteichef Jelzin klar Eine Delegierte hatte die Überzeugung geäußert, daß das System ökonomischer Stimulierung die Einhaltung der Prinzipien der „sozialen“ Gerechtigkeit gewährleisten müsse

Die Konzeption der sozialistischen Gerechtigkeit ist zunächst einmal eine Kampfansage an Gleichmacherei und meint genau das Gegenteil von wohlfahrtsstaatlichen Prinzipien. Im Vordergrund stehen verstärkte Bemühungen um eine effektive Kontrolle über das „Maß der Arbeit“ und das „Maß des Verbrauchs“, wie dies auch in den Parteiprogrammen von 1961 und 1986 vorgesehen ist, und im Zusammenhang damit Bemühungen um die Liquidierung aller nicht aus legaler Arbeitstätigkeit stammenden Einkünfte. Die Vertreter dieser Konzeption, die sich vom Erfolg ihres Programms primär eine Effizienzsteigerung der Wirtschaft versprechen, können sich dabei vermutlich auf die große Mehrheit der Bevölkerung und insbesondere der Arbeiterschaft stützen, sofern Spekulanten, Schiebern, Geldverleihern und ähnlichen „Volksschädlingen“ der Kampf angesagt wird. Da eine penible Kontrolle des „Maßes der Arbeit“ eine größere Beanspruchung der meisten Beschäftigten durch höhere Arbeitsnormen und entsprechend größere Arbeitsleistung bedeuten dürfte, wird dies freilich auf wenig Gegenliebe stoßen.

III. „Sozialpolitik“ als Mittel zur Gewährleistung politischer Stabilität

Nachdem es zu Beginn der achtziger Jahre in der Sowjetunion eine Diskussion um die Möglichkeit „antagonistischer Widersprüche“ und damit des Entstehens systembedrohender Krisensituationen in einer sozialistischen Gesellschaft gegeben hatte, scheint sich spätestens seit der Ideologie-konferenz vom Dezember 1984, auf der Gorbatschow eine Art „Programmrede“ gehalten hatte, die traditionelle dogmatische Richtung wieder durchgesetzt zu haben. „Objektive Widersprüche“ gibt es zwar, doch kann es zu Eruptionen nur kommen, wenn Führer „subjektive Fehler“ begehen. Trotzdem hat sich die neue Parteiführung entschlossen, diesen Zusammenhängen auch ideologisch größere Aufmerksamkeit zu schenken. Somit ist es zu verstehen, daß bereits im Projekt des Parteiprogramms (Oktober 1985) die Sozialpolitik als „ein wichtiger Faktor der politischen Stabilität“ bezeichnet wurde und daß sich verschiedene Parteiführer auf dem Kongreß mit dieser Frage ungewohnt offen befaßt haben. Drei Äußerungen von Parteiführern sollen dieses möglicherweise vorhandene neue Problembewußtsein illustrieren; die Einschränkung „möglicherweise vorhanden“ scheint deshalb angebracht, weil derartige Formulierungen beinahe den Verdacht aufkommen lassen, das Dokumentieren dieses Problembewußtseins könne für sie wichtiger sein als die praktische Politik zur Bewältigung dieses Problems.

Gorbatschow:

„Für die... Partei hat die Analyse der Probleme der gegenseitigen Beziehungen der Klassen und gesellschaftlichen Gruppen lebenswichtige Bedeutung. Indem die KP in ihrer Politik die Gemeinsamkeit ihrer Interessen und ihrer Spezifik genau berücksichtigt, sichert sie die feste Einheit der Gesellschaft..."

Und: „Die IVohnverhältnisse, die Lebensmittelversorgung .. das Niveau des Gesundheitswesens — all das wirkt sich ganz unmittelbar aufdas Bewußtsein und die Stimmungen der Menschen aus." Ligatschow:

„Die richtige Sozialpolitik der Partei bestimmt in vielem die politische Stabilität der sowjetischen Gesellschaft, den Fortschritt unseres Landes. “ Jelzin:

„Die kontinuierliche politische Stabilität im Lande darf uns nicht nachlässig werden lassen. “

1. Alltagsprobleme der Bevölkerung a) Die störungsanfällige Lebensmittelversorgung Auf dem Parteitag ist mit bemerkenswerter Offenheit zugegeben worden, daß das Hauptproblem eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln ist. Wenn der moldauische Parteichef Grossu sogar Lenins Äußerung „Die Lebensmittelfrage— das ist die Hauptfrage“ wiederholte so ist dies im Grunde so zu verstehen, als stelle sich dieses Problem heute ähnlich wie zu Beginn der zwanziger Jahre. Der Vorsitzende der neugeschaffenen Superbehörde für den agroindustriellen Komplex, Murachowski, räumte ein, daß es mancherorts Unterbrechungen bei der Fleisch-und Milchversorgung gegeben habe Auch für Gorbatschow gehört die „vollständige Versorgung mit Lebensmitteln“ zu den am schnellsten zu lösenden Aufgaben; bereits im laufenden Planjahrfünft müsse „eine bedeutende Zunahme des Pro-Kopf-Verbrauchs an Fleisch, Milch, Gemüse und Obst erreicht werden“. Die Entwicklung der nächsten Jahre wird zeigen, ob die bisher getroffenen bzw. angekündigten Maßnahmen für die Bewältigung dieser Probleme ausreichen.

b) Das ungelöste Wohnungsproblem

An zweiter Stelle rangiert zweifellos die Wohnungsproblematik, wobei es in der Regel um die Bereitstellung einer ausreichend großen Wohnung, des einer Familie nach Verwaltungsvorschriften zustehenden Wohnraums und um zumutbare Wohnbedingungen geht. Das Wohnungsproblem wird in den Parteiprogrammen von 1961 und 1986 unterschiedlich behandelt. 1961 wurde es als „brennendstes“ Problem eingestuft und seine Lösung bis spätestens 1980 angekündigt; ab 1970 hätte demnach die Nutzung von Wohnraum „allmählich für alle Bürger kostenlos werden“ sollen, und ab 1980 hätte auch für Heizung, Gas und Wasser nichts mehr bezahlt zu werden brauchen.

Nach der jetzigen Fassung kommt der beschleunigten Lösung des Wohnungsproblems eine „besondere soziale Bedeutung“ zu; eine endgültige Lösung wird selbst für das Jahr 2000 nicht in Aussicht gestellt — nur „praktisch“ soll dann jede Familie über Wohnraum verfügen. Nach sowjetischer Sprachregelung bedeutet „praktisch“ in diesem Zusammenhang, daß dann fast alle Familien über eigenen Wohnraum verfügen sollen. Allein-stehende und Geschiedene werden unverändert mit einem Zimmer in einer Gemeinschaftswohnung oder mit einem Platz in einem Wohnheim vorliebnehmen müssen. 1986 wird außerdem postuliert, daß Eigenmittel der Bevölkerung für Wohnungsbau und -ausstattung stärker genutzt, die Kontrolle über die Wohnraumverteilung verstärkt werden sollen und der genutzte Wohnraum pfleglich behandelt werden müsse.

c) Das unzureichende Gesundheitswesen

Der Gesundheitszustand und die durchschnittliche Lebenserwartung der Bevölkerung sowie ihre Möglichkeiten, im Bedarfsfall rasch qualifizierte medizinische Hilfe und Behandlung zu erhalten, werden nach wie vor als nicht ausreichend betrachtet. Hatte man sich bisher vor allem auf die Verbesserung der medizinischen Betreuung unmittelbar in den Betrieben konzentriert, so will man nun stärker den Krankenhausbau in den Städten und auf dem Lande voranbringen, das System einer allgemeinen Dispensairebetreuung (einer jährlichen Vorsorgeuntersuchung für jedermann) aufbauen, die Krankheits-und Unfallquoten in der Wirtschaft deutlich reduzieren und das Alkoholproblem in den Griff bekommen. Das Parteiprogramm verlangt, jeder Mensch solle seinen Körper kennen und sich einer gesunden Lebensweise befleißigen. Auch auf dem Gebiet des Gesundheitswesens beansprucht der Staat kein Monopol; denn die „Hauptrichtungen“ für den 12. Fünfjahrplan sehen vor, daß die betrieblichen Fonds stärker als bisher für den Bau und die Entwicklung medizinischer Einrichtungen des jeweiligen Betriebs verwendet werden sollen. Wenn auf dem Parteitag auch nicht ausdrücklich angesprochen, so ist wohl davon auszugehen, daß das System entgeltlicher medizinischer Leistungen an Bedeutung zunehmen wird.

2. Bevölkerungspolitik

a) Stabilisierung der Familie und weitere Förderung der Mutterschaft

In seiner Rede hat Gorbatschow weitgehend die Ausführungen des Parteiprogramms zur Familienpolitik wiedergegeben, darüber hinaus hat er mitgeteilt, daß „nicht wenige Familien in ungeordneten Verhältnissen“ leben, die Zahl der Ehe-scheidungen in den letzten Jahren aber immerhin rückläufig sei; neue gesetzliche Regelungen sollen „die Verantwortlichkeit der Bürger für die Festigung der Familie erhöhen“.

Eine solche Tendenz ergibt sich auch aus dem Programm, in dem es heißt, daß „die Gesellschaft ... zutiefst an einer stabilen und moralisch gesunden Familie interessiert“ sei. Im Entwurf des Programms hatte es weiter geheißen: „Die Familie spielt eine immer größere Rolle bei der Festigung der Gesundheit und der Erziehung der heranwachsenden Generationen, bei der Gewährleistung des ökonomischen und sozialen Fortschritts der Gesellschaft sowie bei der Verbesserung der demographischen Prozesse.“ Des weiteren war festgestellt worden, in der Familie forme sich die Einstellung des Menschen „zu den wichtigsten moralischen, ideellen und kulturellen Werten“. Dies scheint der „ideologischen Fraktion“ innerhalb der Parteiführung doch etwas zu weit gegangen zu sein, hat sie doch in beiden Sätzen gewisse Einschränkungen durchsetzen können: Im ersten Fall spielt die Familie nur noch „eine wichtige Rolle“ und im zweiten hat man auf den Superlativ „wichtigste“ verzichtet.

Sind nun aber bereits konkrete Maßnahmen in Sicht? Nach dem Programm sollen die Familien bei der Erfüllung ihrer sozialen Funktionen stärker als bisher unterstützt werden, Familie, Schule und Arbeitskollektive der Eltern bei der Erziehung der Kinder enger Zusammenwirken und die Eltern auch in größerem Maße für die Erziehung ihrer Kinder verantwortlich gemacht werden. Außer diesen ziemlich unverbindlichen Absichtserklärungen sollen auch die materielle Lage, die Wohn-und Lebensbedingungen von Familien mit Kindern und von Neuverheirateten verbessert werden. Die „Hauptrichtungen“ sehen bis 1990 vor, daß ein Neuvermählter im ersten Jahr der Eheschließung keine „Kinderlosensteuer“ mehr zu bezahlen braucht, und daß jungen Familien durch Kredite und andere Vergünstigungen der Eintritt in eine Wohnungsbaukooperative erleichtert bzw. ihnen der Bau eigener Häuser auf dem Lande eher ermöglicht werden soll. Auch die seit 1985 propagierten „Jugend-Wohnkomplexe“, bei denen die jungen Familienväter selbst Hand anlegen, sollen vom Staat gefördert werden. Da über die für diese Zwecke in den nächsten Jahren bereitgestellten Mittel keine Angaben gemacht worden sind, dürften auf diesem Wege in absehbarer Zeit keine drastischen Verbesserungen der schwierigen Lage junger Familien zu erwarten sein.

Noch günstiger als bisher sollen in den nächsten Jahren die Regelungen für den Mutterschaftsurlaub ausfallen. Die wesentlichen Bestimmungen, die im Entwurf der „Hauptrichtungen“ übrigens noch nicht enthalten gewesen sind, hat Gorbatschow in seiner Rede bekannt gemacht. Die Dauer des bezahlten Mutterschaftsurlaubs soll von 12 auf 18 Monate verlängert werden, an die sich weitere sechs unbezahlte Monate anschließen können. Auch soll die Dauer des bezahlten Urlaubs vor der Geburt verlängert und die Zahl bezahlter Tage zur Pflege eines erkrankten Kindes erhöht werden. War Kindergeld in Familien mit niedrigem Pro-Kopf-Einkommen bisher nur bis zum achten Lebensjahr gezahlt worden, so soll demnächst, wie allerdings bereits im Mai 1985 angekündigt worden war, bis zum zwölften Jahr gezahlt werden.

Wie 1961 wird auch jetzt wieder angekündigt, daß der Bedarf an Vorschuleinrichtungen in den nächsten Jahren befriedigt werden soll; das Ziel beB steht also unverändert darin, den Müttern durch Bereitstellung von Plätzen in Kinderhorten und -gärten die aktive Teilnahme am Berufsleben und in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zu ermöglichen. Stärker als bisher sollen verkürzte Arbeitszeiten und auch Heimarbeit angeboten werden. Gorbatschow hat sich in die Reihe derjenigen eingeordnet, die sich für eine Neubelebung der traditionsreichen, seit Jahrzehnten aber nahezu wirkungslosen „Frauenräte“ einsetzen. Nach seinen Worten könnten sie, unter zentraler Leitung des sowjetischen Frauenkomitees, „einen bedeutenden Einfluß auf die Lösung einer breiten Palette sozialer Fragen im Leben der sowjetischen Gesellschaft ausüben“.

b) Auch förderungswürdig: Jugendliche und Rentner

Vermutlich wird sich die KPdSU künftig auch wieder stärker um die speziellen Bedürfnisse und Probleme der Jugend kümmern, eingedenk des traditionellen Slogans: „Wer die Jugend hat, hat die Zukunft“. Nach dem Programm will die Partei nämlich „die Aufmerksamkeit gegenüber den sozialen Problemen der Jugend deutlich erhöhen“, wobei es insbesondere um „die Entwicklung und vollständigere Befriedigung der gesellschaftlich bedeutsamen Interessen und Bedürfnisse“ gehen soll; die Einschränkung „gesellschaftlich bedeutsam” ist übrigens erst in der Endfassung vorgenommen worden. Gorbatschow will der Jugend mehr Raum für die Realisierung ihrer spezifischen Interessen geben, nicht zuletzt im Rahmen der Verteidigung des Vaterlandes.

Während sich aus dem Parteiprogramm und aus den „Hauptrichtungen“ keine neuen Akzente für das Rentner-und Hinterbliebenenwesen ergeben, ist Gorbatschow in seiner Parteitagsrede auf die Probleme dieser Gruppe etwas detaillierter eingegangen. Die „Hauptrichtungen“ wiederholen im Grunde nur die bereits in einem Beschluß vom Mai 1985 enthaltenen Ankündigungen über die Erhöhung von Alt-und Mindestrenten. Bemerkenswert ist, daß das Parteiprogramm — abweichend vom Entwurf — nun auch die „Verantwortung der Kinder für das Wohlbefinden der Eltern, für ihr gesichertes und ruhiges Alter“ betont. Gorbatschow forderte darüber hinaus staatliche und gesellschaftliche Organisationen auf, Maßnahmen zu ergreifen, um den Rentnern eine aktivere Mitwirkung „am wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Leben“ zu ermöglichen.

Um eine wesentlich größere Beteiligung der Rentner in der Arbeitswelt zu erreichen, lockte Gorbatschow mit einer „auf genossenschaftlicher oder auch auf individueller, familiärer Grundlage“ basierenden Arbeitstätigkeit „im Dienstleistungsbereich, im Handel, bei der Herstellung von Konsumgütern und in der landwirtschaftlichen Produktion“. Sollte diese Konzeption in Zukunft stärker zum Tragen kommen, könnte man sich durchaus vorstellen, daß ein großer Teil der arbeitsfähigen Alters-und Invalidenrentner von derartigen Möglichkeiten Gebrauch machen würde.

Ebenso bemerkenswert ist Gorbatschows Anregung, eine unionsweite „Organisation der Arbeitsund Kriegsveteranen“ ins Auge zu fassen. Dabei sollte es sich freilich weniger um eine Interessen-als vielmehr um eine Selbsthilfeorganisation handeln, die darüber hinaus weitergehende gesellschaftliche Aufgaben zu übernehmen hätte, insbesondere „bei der Erziehung der heranwachsenden Generation“. Gorbatschows sehr realistische Prognose: „Es sieht so aus, als ob diese Organisation viel zu tun haben wird.“

c) Das Nationalitätenproblem

Auf dem Parteitag ist von mehreren Rednern erneut betont worden, daß das Nationalitätenproblem im Prinzip gelöst sei. Mitunter gebe es freilich geringfügige Probleme, so daß eine entsprechende Erziehungsarbeit und insbesondere auch der — übrigens im Parteiprogramm ebenfalls vorgesehene — Austausch von Beschäftigten zwischen den Republiken und die Ausbildung junger Leute aus den mittelasiatischen und transkaukasischen Republiken in Rußland und der Ukraine forciert werden soll.

Verschiedene Ausführungen belegen allerdings, daß es darüber hinaus wesentlich größere Probleme geben muß: — Untragbar sei die in manchen Republiken vorhandene „Schmarotzerideologie“. Jede Republik müsse einen angemessenen Beitrag zur Unions-Volkswirtschaft leisten (Gorbatschow). — Um das „Prinzip der sozialen Gerechtigkeit“ auch regional durchzusetzen, sollte die Planung von dem festzustellenden Ist-Zustand der einzelnen Regionen ausgehen. Zurückgebliebenen Gebieten sollte, als „Kompensation für die Vergangenheit“, geholfen werden. In Zukunft sollte aber die sozioökonomische Entwicklung von den Er-gebnissen der regionalen Wirtschaftstätigkeit abhängen (Petrow, Parteichef von Swerdlowsk) — Im ZK-Apparat sollte eine Unterabteilung eingerichtet werden, die sich speziell mit Nationalitätsfragen zu beschäftigen hätte (Machkamow, Parteichef von Tadschikistan)

Aus dem Kontext dieser Äußerungen läßt sich der Schluß ziehen, daß die Wirtschaftsergebnisse in den einzelnen Republiken — insbesondere auf der Grundlage einer größeren Mobilisierung dort vorhandener Ressourcen — deutlich verbessert und vor allem der Beitrag der südlichen Republiken zur Erschließung von Neulandgebieten erhöht werden soll. War ein entsprechender Passus in den Beschlüssen des 26. Parteitages (1981) so zu verstehen, als ob es sich dabei in erster Linie um industrielle Objekte in Sibirien handeln sollte, so scheint nunmehr eher an ein Engagement im Agrarsektor Sibiriens gedacht zu werden. Was die Vertreterder südlichen Republiken auf dem Kongreß an einschlägigen Erfolgen vorzutragen hatten, war der slawischen Majorität der Delegierten offensichtlich zu wenig (für derartige Berichte gab es keinen Beifall). Ob Unterbeschäftigung oder auch „Beschäftigungslosigkeit“, wie dies der Parteichef Dagestans, Jusupow, als großes Problem zugab, tatsächlich nur für die südlich gelegenen Republiken zutreffen, sollte freilich eher bezweifelt werden. Aus einschlägigen Erklärungen der jetzigen Führung geht hervor, daß derartige Erscheinungen radikaler und schneller als bisher beseitigt werden sollen

IV. „Sozialpolitik“ als Beschleunigungsinstrument

Nach dem Wortlaut des Parteiprogramms ist „Sozialpolitik“ nicht nur, wie oben bereits ausgeführt, „ein wichtiger Faktor der politischen Stabilität“, sondern auch „ein mächtiges Instrument zur Beschleunigung der Entwicklung des Landes, des Aufschwungs der Arbeitsproduktivität...“. Auch mit Mitteln der Sozialpolitik soll im Grunde also der Übergang von der Arbeits-zur Leistungsgesellschaft erreicht werden. Da für die große Masse der Beschäftigten seit den fünfziger Jahren, als Folge der Abwendung von der Arbeitsverfassung der Stalinzeit und der dann zunehmenden gleichmacherischen Tendenzen, eine eher legere Einstellung zur Arbeit selbstverständlich wurde, muß es gegenwärtig in der Tat darum gehen, wie es Gorbatschow sogar in einem Interview für „L’Humanite“ formuliert hat, das „Lebensbild des Sowjetbürgers zu wandeln“ Mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln soll erreicht werden, daß sich die Beschäftigten nicht nur eine verantwortungsvolle Einstellung gegenüber ihrer Arbeit zu eigen machen, sondern mit größtem Leistungseinsatz maximal mögliche Arbeitsergebnisse anzustreben haben.

Die Führung sieht folgende Möglichkeiten, zu einer solchen Entwicklung beizutragen: — Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Arbeitsorganisation, — Umstrukturierung der zentralen und betrieblichen Lohnpolitik, — Aufwertung der materiellen und moralischen Stimulierungsinstrumente, — Ausdehnung des Spektrums individueller Arbeitstätigkeiten. Hinsichtlich der an erster Stelle genannten „Verbesserungen“ ist zum einen darauf hinzuweisen, daß es entsprechende Absichtserklärungen während der letzten Jahre wiederholt gegeben hat, zum anderen ist es nicht uninteressant, die entsprechenden Passagen in den Parteiprogrammen von 1961 und 1986 zu vergleichen. Die Ausführungen ähneln sich sehr, doch wurden in der früheren Fassung den Beschäftigten konkrete Verbesserungen in Aussicht gestellt. So sollte bis 1970 die 36-Stunden-Woche eingeführt und in der Folgezeit sollten weitere Arbeitszeitverkürzungen vorgenommen werden: „... die Sowjetunion wird das Land mit dem kürzesten und gleichzeitig mit dem produktivsten und am höchsten bezahlten Arbeitstag in der Welt“. Nachtschichten sollten sukzessive abgeschafft werden, sofern sie nicht technologisch bedingt oder als Dienstleistungen für die Bevölkerung notwendig waren. In der jetzigen Fassung ist nur noch sehr allgemein von künftigen Möglichkeiten der Verkür-B zung der Arbeitszeit (gegenwärtig durchschnittlich 40, 6 Stunden) die Rede. Der bisherige Trend hin zu einer Schicht soll nicht nur gestoppt, vielmehr soll das Schichtensystem wieder stärker ausgebaut werden. Immerhin konnten auf dem Parteitag Beschwerden über die ungünstigen Lebensbedingungen sowie über die Arbeitszeitregelung für Bergleute (die Nichtberücksichtigung des Sonntags) und über die Belastung der Textilarbeiterinnen durch das Drei-Schichten-System vorgetragen werden. Erfahren konnte man auch, daß die Bergleute mit Preßluftbohrern arbeiten müssen, die vor 50 Jahren entwickelt worden sind Der Gewerkschaftsvorsitzende Schalajew gab eine ziemlich ungeschminkte Darstellung der „besonders vielen Mängel“ auf dem Gebiet „Bedingungen und Organisation der Arbeit“; gegenwärtig werde jedes dritte Projekt einer Betriebsgründung von den zuständigen Gewerkschaftsinspektionen zurückgewiesen, da es nicht den Vorschriften des Arbeitsschutzes entspreche

Andererseits liegt es auf der Hand, daß Mittel für eine unionsweite und durchgreifende Verbesserung der Arbeitsbedingungen — nach Ryschkow immerhin „eine der wichtigsten sozialen Aufgaben“ — gegenwärtig nicht vorhanden sind. Das gilt im Grunde auch für das Schwerpunktprogramm, den Anteil manueller Tätigkeiten am gesamten Arbeitsaufwand drastisch zu reduzieren; im vergangenen Jahrzehnt hat die Anzahl von Beschäftigten in diesem Bereich absolut sogar zugenommen. Man vergegenwärtige sich, daß selbst bei den Arbeiten im Zusammenhang mit dem „Jahrhundertprojekt“, dem Plan der Eisenbahnlinie vom Baikalsee zum Unterlauf des Amur, 50 Prozent der Arbeiten auf Handarbeit entfielen, wie auf dem Parteikongreß mitgeteilt wurde

Während es also auf dem eben behandelten Gebiet nur sehr allmähliche Verbesserungen geben dürfte, kann die sowjetische Führung bei der Lohnpolitik und beim Einsatz der verschiedenen Stimulierungsinstrumente kurzfristige Änderungen herbeiführen. Gorbatschow scheint sich darüber im klaren zu sein, daß ein größeres Rubeleinkommen allein für die Beschäftigten kein ausreichender Anreiz ist, vielmehr gelte es, wie er in seiner Rede forderte, „den Markt mit mannigfaltigen Waren und Leistungen zu sättigen“. Ob das zu diesem Zweck beschlossene „Komplexprogramm für die Entwicklung der Konsumgüterproduktion und des Dienstleistungsbereichs“ tatsächlich zu einer raschen Verbesserung des Angebots führen wird, bleibt abzuwarten. Angesichts des in den letzten zwei Jahrzehnten angestauten Kaufkraftüberhangs müßte es sich ja um eine umfassende strukturelle und qualitative Verbesserung des Waren-und Dienstleistungsangebots handeln. Nach Gorbatschows Darstellung soll die für die Jahre 1986— 1990 vorgesehene Erhöhung der Löhne und Gehälter in der produktiven Sphäre der Wirtschaft (nach den „Hauptrichtungen“ insgesamt um 13— 15 Prozent, d. h. auf 215— 220 Rubel) „erstmals auf Kosten und im Rahmen der Mittel stattfinden, die von den Betrieben selbst erarbeitet wurden“. Zur Begründung fügte er noch hinzu: „Eine solche Ordnung wird aktiver auf die Beschleunigung des technischen Fortschritts, auf die Erhöhung der Effektivität der Produktion einwirken.“

Nach den „Hauptrichtungen“ ergibt sich ein etwas differenzierteres Bild. Danach soll die Relation der Löhne sowohl zwischen den verschiedenen Zweigen der Volkswirtschaft als auch zwischen den verschiedenen Beschäftigungskategorien „vervollkommnet“ werden, wobei insbesondere Ingenieure, Konstrukteure und Meister bessergestellt werden sollen. Auch sollen Tarifsätze und Gehälter etappenweise angehoben werden — in Abhängigkeit von der Schaffung notwendiger Bedingungen und von der Bereitstellung der erforderlichen Ressourcen. Dieser gesamte Komplex kann im Grunde ja nur zentralisiert durchgeführt werden. Über die von Gorbatschow herausgestellte innerbetriebliche Lohnpolitik äußern sich die „Hauptrichtungen“ freilich auch. Neben der engeren Verbindung zwischen Entlohnung und Arbeitsleistung und einer entschiedenen Kampfansage an alle Elemente von Gleichmacherei soll die Verantwortlichkeit für Arbeitsmängel verstärkt werden. Ob damit eine konsequentere Anwendung der im Arbeitsrecht vorgesehenen Haftung für Produktionsausschuß oder an neue Formen von Lohnabzug für unzureichende Qualität der Arbeitsproduktion gedacht ist, läßt sich bisher nicht absehen.

Das bisher geltende System der Stimulierung höherer Arbeitsleistung soll dahin gehend abgeändert werden, daß Kollektive und einzelne Beschäftigte nur noch für die Erfüllung technisch begründeter Arbeitsnormen prämiert werden sollen; die bislang übliche „Übererfüllung“ soll auf dem Wege der Einführung anspruchsvoller Normen eher die Ausnahme werden. Insbesondere soll mit der bisher üblichen Praxis Schluß gemacht werden, daß eine bestimmte Monats-oder Quartalsprämie an nahezu jeden Beschäftigten als eine Art „Lohnzuschlag“ gezahlt wird.

Wenn gelegentlich die verstärkte Anwendung „moralischer“ Stimuli verlangt wird, so handelt es sich dabei bei genauerem Hinsehen meist um die Verbindung moralischer und materieller Stimuli. Das beeindruckendste Beispiel für diesen Ansatz liefert auf dem Kongreß der Beitrag von Petrow, der 1935 Parteisekretär des Schachtes gewesen war, in dem Stachanow seine Rekorde aufgestellt hatte. Zwar erinnerte Petrow daran, daß es beim Treffen im Zentralkomitee mit Veteranen der Stachanow-Bewegung (Sommer 1985) primär um eine notwendige größere moralische Stimulierung der Beschäftigten im Geiste Stachanows gegangen sei — zuvor hatte er aber ausführlich dargestellt, daß Stachanow durchaus materielle Vorteile von seinem Arbeitseinsatz gehabt hatte

Die Ausführungen des Gewerkschaftsvorsitzenden Schalajew können im Grunde nur so verstanden werden, als habe die Gewerkschaftsführung bereits ihre Zustimmung zu einer qualitativ neuen, wesentlich anspruchsvolleren Phase der Wettbewerbsbewegung gegeben Daß die Kollektive bzw. die Betriebe im Zusammenhang mit dem Stimulierungswesen eine größere Rolle spielen sollen, ist nur bedingt als Novum zu betrachten, haben doch nach dem Arbeitsrecht Gewerkschaftskomitee und Betriebsverwaltung das Recht, gute Arbeitsleistungen entsprechend zu honorieren, insbesondere durch Bevorzugung bei der Verteilung von Wohnraum und Urlaubsplätzen sowie bei der Einteilung der jährlichen Urlaubszeit. In welchem Umfang die Führung in den nächsten Jahren die auch nach der Verfassung erlaubten individuellen Arbeitstätigkeiten zulassen bzw. fördern wird, um auch auf diesem Wege einen Beschleunigungseffekt zu erzielen, bleibt abzuwarten. Abgesehen von Gorbatschows Ausführungen über einschlägige Betätigungsfelder für Rentner sowie über Möglichkeiten von Nebentätigkeiten auf individueller Basis ist hierbei auf einen Passus seiner Rede hinzuweisen: „Es gilt, die Vorschläge für eine geregelte individuelle Arbeitstätigkeit aufmerksam zu prüfen. Selbstverständlich müssen diese Arten der Arbeitstätigkeit mit den Grundsätzen der sozialistischen Wirtschaftsführung voll übereinstimmen und auf genossenschaftlichen Prinzipien oder auf Verträgen mit sozialistischen Betrieben basieren.“ Damit hat Gorbatschow den Rahmen festgelegt; die weitere Entwicklung sollte abgewartet werden.

V. Ausblick

Resümierend kann festgestellt werden:

1. Die Sowjetführung ist sich inzwischen — vermutlich primär infolge der Entwicklungen in Polen 1980/81 — expressis verbis nicht mehr sicher, daß sie auch bei einer weiteren Verschlechterung sozioökonomischer Indikatoren auf die Loyalität der Bevölkerung vertrauen kann. Problemfelder werden benannt und sollen mit möglichst minimalem Aufwand entschärft oder möglichst neutralisiert werden.

2. Eine derart „befriedete“ Bevölkerung und insbesondere eine eher „passive“ Erwerbsbevölkerung reichen aber nach Einschätzung der gegenwärtigen Führung nicht aus, ihre politischen Ambitionen zu befriedigen. Durch die Aktivierung von Bedrohungsängsten und eine ungewohnt offene Informationspolitik über negative Entwicklungstrends in Gesellschaft und Wirtschaft des Landes sollen die Beschäftigten zu einer deutlich größeren Leistungsbereitschaft animiert werden. 3. Durch Umgestaltung der Lohn-und Prämiensysteme sowie durch Aufwertung der Wettbewerbs-bewegung, künftig vermutlich auch durch Zulassung weitergehender individueller Arbeitstätigkeiten, soll offenbar der Übergang von der Arbeits-zu einer Art Leistungsgesellschaft erreicht werden. Die Führung ist sich darüber im klaren, daß eine so versuchte stärkere materielle Stimulierung nur unter zwei Bedingungen möglich sein kann: Ausschaltung aller Möglichkeiten für die Erzielung illegaler Einkünfte und damit der soge-nannten „zweiten Wirtschaft“ und zweitens ein ausreichendes und attraktives Angebot von Waren und Dienstleistungen.

4. Die Führung läßt keinen Zweifel daran, daß gerade in der jetzt begonnenen komplizierten Übergangsphase eine straffe zentrale Leitung unverzichtbar ist. Das schließt nicht aus, daß gesellschaftliche Organisationen und auch die „Volksmassen“ eine gewisse Aufwertung erfahren werden — freilich nur in dem sehr engen von der Parteiführung vorgezeichneten Rahmen.

5. Die soziale und wirtschaftliche Entwicklung in den Republiken und Regionen dürfte sich künftig stärker nach den jeweiligen konkreten Wirtschaftsleistungen und insbesondere nach dem Beitrag des jeweiligen Gebiets zur Unions-Volkswirtschaft richten; eine stärkere Differenzierung als bisher scheint insofern mittelfristig unvermeidbar.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Prawda vom 2. März 1986, S. 3.

  2. Prawda vom 3. März 1986, S. 5.

  3. Nikita Chruschtschow, Das Programm der Kommunisten, Moskau 1961, S. 12.

  4. Prawda vom 3. März 1986, S. 5.

  5. Programma KPSS, Moskau 1976, S. 99.

  6. Prawda vom 2. März 1986, S. 5.

  7. Prawda vom 18. Oktober 1985, S. 3.

  8. Prawda vom 8. Februar 1986, S. 2.

  9. Prawda vom 18. Oktober 1985, S. 3.

  10. Prawda vom 6. März 1986, S. 2.

  11. Prawda vom 27. Februar 1986, S. 3.

  12. Prawda vom 2. März 1986, S. 4.

  13. Prawda vom 28. Februar 1986, S. 4.

  14. Prawda vom 27. Februar 1986, S. 2.

  15. Prawda vom 2. März 1986, S. 2.

  16. Prawda vom 3. März 1986, S. 3.

  17. Prawda vom 2. März 1986, S. 6.

  18. Prawda vom I. März 1986, S. 4.

  19. Prawda vom 5. März 1986, S. 7.

  20. Prawda vom 8. Februar 1986, S. 2.

  21. Prawda vom 3. März 1986, S. 2; vom 4. März 1986, S. 7; vom 5. März 1986, S. 3 f.

  22. Prawda vom 3. März 1986, S. 5.

  23. Prawda vom 4. März 1986, S. 3.

  24. Prawda vom 6. März 1986, S. 3.

  25. Prawda vom 3. März 1986, S. 2.

  26. Prawda vom 3. März 1986, S. 5.

Weitere Inhalte

Bernd Knabe, Dr. phil., geb. 1943; 1962— 1972 Studium der Geschichte, Slawistik und Geographie in Bonn und Berlin, Referendarzeit in Berlin und Düsseldorf; Dissertation über russische Sozialgeschichte; seit 1974 Mitarbeiter am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln, Forschungsbereich II (Innenpolitik der UdSSR); Studienaufenthalte in der UdSSR 1970/71 und 1979/80. Veröffentlichungen: Die neue Führung und die „Volksfeinde“, in: BlOst (Hrsg.), Sowjetunion 1982/83, München 1983, S. 82— 92; Chancen der Mobilisierung in der sowjetischen Arbeitswelt: Disziplinierung oder Partizipation?, in: BlOst (Hrsg.), Sowjetunion 1984/85, München 1985, S. 83— 93; Artikel „Gewerkschaften“, in: M. Fincke (Hrsg.), Handbuch der Sowjetverfassung, Berlin 1983, S. 185— 192.