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Versagen und Leistung des unabhängigen Afrika | APuZ 29-30/1986 | bpb.de

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APuZ 29-30/1986 Versagen und Leistung des unabhängigen Afrika Die Menschenrechtssituation in Südafrika Optionen der südafrikanischen Regierung Die Republik Südafrika: Hegemonialmacht nach außen — Ohnmacht im Inneren? Artikel 1

Versagen und Leistung des unabhängigen Afrika

Franz Ansprenger

/ 36 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Krise Afrikas wird überwiegend unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten diskutiert. Wer den Abhängigkeitstheorien zuneigt, betrachtet diese Krise dann vorwiegend unter Weltmarktaspekten und sucht die Hauptschuld im Norden der Erde. Die Krise ist aber mindestens ebenso eine politische Krise, und die Eigenverantwortung Afrikas — das heißt besonders seiner unabhängigen Regierungen — muß ernst genommen werden. Die Organisation der Afrikanischen Einheit und die Weltbank haben seit 1980 Pläne und Berichte veröffentlicht, die Wege zur Überwindung der Krise empfehlen; auch hier überwiegt die wirtschaftliche Betrachtung. Afrikas Regierungen zeigen sich notgedrungen bereit, auf die Empfehlungen der Weltbank einzugehen. Darin wird vor allem gefordert, den Marktkräften und der Privat-initiative mehr Raum zu gewähren: Die Kritik richtet sich also vorwiegend an jene Staaten Afrikas, die eine sozialistische Orientierung versucht haben. Das Grundübel scheint jedoch in Wirklichkeit nicht in dieser aus Europa übernommenen Doktrin zu liegen, sondern in falscher Politik gegenüber den bäuerlichen Kleinproduzenten, die nach wie vor die große Mehrheit der afrikanischen Bevölkerung bilden. Für eine Besserstellung dieser Bauern besitzt auch die kapitalistische Wirtschaftsdoktrin kein überzeugendes Rezept. Die aus Höflichkeit oft verbrämte Grundform afrikanischer Politik seit der Unabhängigkeit ist die Diktatur. Dabei gibt es Abstufungen, und es ist menschlich erklärlich, warum afrikanische Führer zu dieser Staatsform griffen. Inzwischen sollte deutlich geworden sein, daß die Diktatur Afrikas Entwicklungsprobleme nicht bewältigen kann. Eine Besinnung auf Grundwerte der Demokratie zeichnet sich ab und ist zu begrüßen.

Die afrikanische Krise ist in aller Munde. Es ist nicht mehr nur die Rede von Dürre und Hunger in bestimmten Zonen des Erdteils — etwa im Sahel —, nicht mehr nur von dem blutigen Unwesen, das vereinzelte Tyrannen trieben — etwa ein Idi Amin. Zwar vermitteln manche Medien (im Fernsehen geht es kaum anders) immer noch vornehmlich punktuelle Einblicke, als wäre das Unheil gerade dort, wo sich der Korrespondent derzeit befindet, besonders schlimm. Die wissenschaftliche Information über Afrika spricht jedoch schon seit Jahren über eine schwere Krise, die den ganzen Kontinent erfaßt. Solche Berichte und die sie erhärtenden Ziffern kommen besonders von den großen internationalen Agenturen für das Geschäft, das wir immer noch optimistisch „Entwicklungspolitik“ oder gar „Entwicklungshilfe“ nennen; besonders die Weltbank äußert sich seit spätestens 1981 zur afrikanischen Lage nicht nur als Warner, sondern auch mit breit vernetzten Abhilfevorschlägen.

Dreierlei stört bei dieser weltweiten Gewissenserforschung. Erstens: Die Zielrichtung einer optimalen „Entwicklung“ Afrikas bleibt unklar; anders gesagt: Es fehlt der Maßstab, ah dem das Versagen oder die Leistung Afrikas gemessen wird. Zweitens: Da die Diskussion zu einem erheblichen Teil unter Afrika-Experten aus Westeuropa und Nordamerika geführt wird, statt unter Afrikanern, hält sich immer noch die Illusion, Afrikas Wehe oder Wohl könnte, ja müßte vorrangig von außen bestimmt werden. Drittens sind die erwähnten Experten fast ausnahmslos Wirtschaftsfachleute: Es entsteht damit der Eindruck, die afrikanische Krise sei vorrangig eine Wirtschaftskrise.

Das ist sie nicht — sie ist mindestens ebenso stark eine Krise der afrikanischen Politik. Sich darüber den Kopf zu zerbrechen, ob politische Versäumnisse die Wirtschaftsnöte hervorgebracht haben oder umgekehrt, gleicht der berühmten Frage nach der Henne und dem Ei. In Wirklichkeit pendeln Ursachen und Wirkungen zwischen Wirtschaft und Politik hin und her; und sollte Afrika die Bewältigung der Krise gelingen, wird das ebenfalls solcher Pendelbewegung zu verdanken sein.

Welcher Maßstab wäre denn an Leistung und Versagen Afrikas anzulegen? Hinter unserem Begriff „Entwicklung“ steckt immer noch die Vorstellung, jedes Land sei dazu berufen, eines Tages so auszusehen, wie Westeuropa oder Nordamerika heute aussehen. Diese absurde Vorstellung spukt nicht nur in den Köpfen von Amerikanern und Europäern, sondern auch vieler Afrikaner, und zwar nicht nur in der berüchtigten „Staatsklasse“, die angeblich als „Brückenkopf der imperialen Metropolen“ dient; dieses Entwicklungskonzept ist inzwischen (erfolgreicher als Kapital und Wohlstand!) heruntergesickert auch in die Köpfe vieler einfacher Bauern, die für sich und ihre Kinder das anstreben, was die ihnen zugänglichen Medien als „Lebensqualität“ Europas/Amerikas ausgeben. Erstens leben die allermeisten Menschen bei uns im Norden nicht so, wie es unsere auch in Afrika ausgestrahlten Fernsehserien zeigen; zweitens werden wir im Norden dann, wenn in zehn oder zwanzig Jahren die Afrikaner vielleicht doch unser jetziges Niveau erreicht haben sollten, schon wieder ganz anders (unbedingt besser?) leben; drittens mehren und verstärken sich überall im Norden die Stimmen grundsätzlicher Kritik an unserer Lebensweise und ihrer (friedensbedrohenden, die Umwelt zerstörenden, Krankheit erzeugenden) Dynamik; viertens ist es in Afrika in der Regel nun einmal heißer als im Norden usw.; fünftens und letztens wären wir alle schon erstickt, wenn sämtliche Inder, Chinesen und Afrikaner je ein Auto fahren würden, wie wir das tun.

Als Maßstab für Leistung und Versagen Afrikas kann also nicht der heutige Ist-Zustand Europas dienen. Maßstab müßte sein, welche Verbesserungen ihrer Lebensqualität die Menschen Afrikas in realistischer Kenntnis der Ressourcen ihrer Heimat und ausgehend vom heutigen Ist-Zustand Afrikas als ihre Interessen festlegen. Dann müßte man über vernünftige Methoden und Wege der Durchsetzung dieser Interessen nachdenken. Leider ist ein solcher Maßstab noch nicht geeicht. Warum beteiligen sich Afrikaner bisher so zurückhaltend an dieser Diskussion? Erstens, weil zur Unterentwicklung Afrikas immer noch auch die Unterversorgung mit Forschungszentren gehört. Zweitens, weil die politische Landschaft überwiegend ein Mosaik von Diktaturen ist. Auch in Europa tut ein Wissenschaftler sich schwerer, wenn er prinzipiell die Politik seiner Regierung kritisiert, als wenn er sich ihr anpaßt; aber Kritik bleibt doch möglich. In Afrika kann ein Wissenschaftler höchstens dann ein offenes Wort gegen die Regierung seiner Heimat riskieren (die wenigen „Polyarchien" 1) ausgenommen), wenn er aus dem Schutz einer Führungsfunktion in einer Internationalen Organisation heraus spricht. Aber fast immer sind das Internationale Regierungs-Organisationen! Wenn die Heimatregierung einen nicht länger deckt, wird man in führender Funktion dort nicht alt. Auch die einschlägigen Professuren in den USA vermehren sich nicht mehr. Man weiß inzwischen genau, unter welchen furchtbaren Umständen der erste Generalsekretär der Organisation der Afrikanischen Einheit (OAU), Diallo Telli, umgekommen ist, nachdem er in sein Heimatland Guinea (unter Sekou Toure) zurückgekehrt war 2).

Deshalb mag es uns „Nordmenschen“ bis auf weiteres erlaubt sein, stellvertretend für viele Afrikaner, denen der Mund verschlossen ist, die Diskussion über Afrikas Krise, über afrikanisches Versagen und die dennoch erbrachten afrikanischen Leistungen in Wirtschaft und Politik weiterzuführen. Wir müssen nur dabei besonders vorsichtig bleiben, solange wir so bitter wenig darüber wissen, wie die große Mehrheit der Afrikaner — das heißt: wie die einfachen Bauern Afrikas — ihre eigenen Entwicklungsinteressen einschätzen.

I. Das Erscheinungsbild der Krise

Bevor Leistungen und Versagen in Wirtschaft und Politik etwas genauer untersucht werden können, müssen wir das äußere Bild abstecken, das sich in unserem Bewußtsein von der afrikanischen Krise gebildet hat, und dabei schon einige Stichworte kritisch präzisieren.

Afrika — so sagt man — stecke mitten in einer Bevölkerungsexplosion; Wirtschaftswachstum werde durch die ständig hinzukommenden neuen Münder weggefressen; schleunigst müsse Afrika (nach dem Vorbild Chinas oder Indiens?) auf die Bremse einer wirksamen Geburteneinschränkung treten; selbst wenn das gelingen sollte, seien die demographischen Prognosen erschreckend genug. ..

Kritische Präzision; Die Bevölkerung Afrikas südlich der Sahara hat in der Tat in den Jahren 1970 bis 1982 jährlich im Schnitt um 2, 8% zugenommen (1960— 1970 nur um 2, 4%) und liegt damit über dem weltweiten Durchschnitt der „Länder mit niedrigem Einkommen“ (19 8% zugenommen (1960— 1970 nur um 2, 4%) und liegt damit über dem weltweiten Durchschnitt der „Länder mit niedrigem Einkommen“ (1970— 1982: 1, 9%), und für die zwei Dekaden 1980— 2000 prognostiziert die Weltbank dem subsaharischen Afrika ein jährliches Bevölkerungswachstum von 3, 3%. Aber es versteht sich von selbst, daß niemand für die Überbevölkerung (oder Unterbevölkerung) eines bestimmten Landes absolute Zahlen nennen darf. Was Afrika angeht, zitiert die Weltbank an anderer Stelle eine Studie der FAO diese kommt zu dem zusammenfassenden Schluß: „Selbst bei subsistenzwirtschaftlicher Agrarproduktion (d. h. ohne Einsatz von Dünge-oder Schädlingsbekämpfungsmitteln und ohne bodenerhaltende Maßnahmen, bei Verwendung traditioneller Saatgutsorten und herkömmlicher Anbauverfahren) steht genügend Land zur Verfügung, um eine Bevölkerung aus eigener Kraft mit Nahrungsmitteln zu versorgen, die 2, 7mal größer ist als die tatsächliche Bevölkerung im Jahre 1975...“

Betrachtet man jeden Staat für sich, werden Abstufungen deutlich: In Afrika südlich der Sahara ermittelte die FAO 13 Länder, wo unter den genannten Voraussetzungen schon 1975 der Boden nicht mehr für eine einwandfreie Ernährung ausreichte: Äthiopien, Botswana, Burundi, Kenia, Lesotho, Malawi, Mauretanien, Niger, Nigeria, Rwanda, Senegal, Somalia und Uganda. Besonders schlimm sind die hervorgehobenen sieben Länder betroffen: Sie werden sich im Jahre 2000 auch dann nicht selbst versorgen können, wenn sie bis dahin ihre Landwirtschaft auf den technischen Stand gebracht haben werden, der jetzt in gewerblichen Agrarbetrieben Asiens und Lateinamerikas erreicht ist.

Auch wenn Ende 1985 gemeldet werden konnte, daß die afrikanische Agrarpoduktion in diesem Jahr um 4% stieg (also etwas mehr als die Bevölkerung), daß Zimbabwe, Malawi und Kenia über exportierbare Überschüsse an Getreide verfügten, bleibt für die vergangenen zwanzig Jahre seit der Hauptwelle staatlicher Unabhängigkeit in Afrika wahr, daß dieser Kontinent (südlich der Sahara) als einzige Großregion der Dritten Welt in ihrer Pro-Kopf-Nahrungsmittelerzeugung vom Basis-Durchschnitt der Jahre 1961— 1965 (= 100) auf etwa 80 (1983) abgesackt ist, während Asien und Lateinamerika im selben Jahr etwa bei 115 standen

Woran liegt das? An der sprichwörtlichen (heute zwar hinter vorgehaltener Hand, und manchmal verbrämt, aber immer noch behaupteten) Faulheit der Afrikaner?, an ihrem Unverstand?, Traditionalismus?, ihrer gedankenlosen Umweltzerstörung? Lassen wir den Wettergott einmal beiseite:

Es genügt, einen Tag lang mit dem Auto etwa durch Kenia zu fahren, um handgreiflich zu erleben, daß afrikanische Bauern jeden Fleck Erde bebauen und pflegen, aus dem sie sich Ertrag versprechen. Gerade weil der europäische Besucher sein Auto lieber über schicke Asphaltstraßen steuert als über Buschpisten, sagt diese Impression etwas aus. Auf Asphalt rollen auch LKWs besser; wenn der Bauer sein Produkt an eine solche Straße transportieren kann, wird es ihm en gros oder en detail abgenommen. „Faulheit“ zeigen Bauern nur dann, wenn sie ein oder zwei Jahre lang mühsam eine Ernte eingebracht haben und feststellen müssen, daß niemand sie ihnen abnimmt (dann versagt in der Regel eine staatliche Aufkaufstelle), oder daß ihr Erlös nur Trinkgeld-Kaufwert hat (dann sind möglicherweise auch private Händler am Werk).

Dergestalt vernachlässigte Bauern, vor allem junge Leute, wandern dann in die Städte und erzeugen die fernsehwirksamen Massenslums.

Noch einmal lohnt sich ein Blick in die Statistik. Ja, Lagos oder Kinshasa oder Nairobi (Mathere Valley ganz speziell) stinken zum Himmel. Aber insgesamt ist die Urbanisierung südlich der Sahara von 11 % der Gesamtbevölkerung im Jahre 1960 nur auf 22% im Jahre 1982 gestiegen. Kongo hatte in seiner Hauptstadt Brazzaville immer schon einen Wasserkopf zu tragen (1960: 30% Urbanisierung), 1982 sind es 46%, das ist die nationale Spitze für Afrika. Nigeria (1960: 13%) lag 1982 auch erst bei 21%, Zaire (1960: 16%) bei 38%. Das sind Pauschalziffern die eine Neuorientierung afrikanischer Entwicklung auf der Basis einer geänderten Landwirtschaft jedenfalls nicht völlig illusorisch machen.

Die Städte beherbergen übrigens außer den Regierungspalästen und den Slums noch die Hoffnung, daß gerade in den letzteren ein „informeller Sektor“ der Wirtschaft heranwächst, in dem Güter produziert, repariert und verteilt, in dem Dienste geleistet werden, für die allerdings die Beteiligten keine Steuern zahlen wollen. Deshalb entzieht sich dieser Sektor der volkswirtschaftlichen Ge-samtrechnung. Goran Hyden hat aus seinen Studien über das ländliche Tanzania die These von der uncapturedpeasantry Afrikas entwickelt — der letzten in einem Großraum unserer Erde noch tonangebenden Bevölkerung, die sich bisher den angeblichen Sachzwängen des Weltmarktes, der arbeitsteiligen Massenproduktion, des Kapitalismus, der Moderne (oder wie immer man es nennen will) zu entziehen wußte. Diese anonyme Macht, die sie gefangen zu setzen droht, verkörpert sich für den einfachen afrikanischen Bauern im Apparat der Regierung, „seiner unabhängigen“ Regierung; er verweigert sich ihrem Zugriff unter anderem durch die oben ansatzweise erläuterte „Faulheit“. Kein Wunder, daß der frischgebackene Städter, der mit einem Bein noch Bauer ist, lieber im „informellen Sektor“ arbeitet, wenn er denn nicht Teil des Staatsapparats werden kann.

Wo findet er in Afrika auch produktive, einigermaßen ertragreiche Arbeitsplätze in irgendeinem „formellen“ Angebot, das hieße vor allem in einer Industrie, deren Räder sich drehen? Statt dessen gehören die industriellen Entwicklungsruinen zum Erscheinungsbild der afrikanischen Krise. Um so bedrückender stehen sie in der Landschaft, je früher und je schwungvoller eine unabhängige Regierung einst — vor rund zwanzig Jahren — dem take offnachjagte, den wir getreu dem „nichtkommunistischen Manifest“ W. W. Rostows versprachen Vor allem Ghana ist hier zu nennen: Großer Staudamm, billiger Strom, Aluminium, Weiterverarbeitung ... Wenig ist davon geblieben, und Punkt für Punkt läßt sich in der ghanaischen Zeitgeschichte nachweisen, daß die Putsche nicht etwa blühendes Wirtschaftsleben ruinierten, sondern auf regierungsamtliche Verzweiflungsversuche folgten, durch drakonische Sparmaßnahmen die Folgen einzudämmen, nachdem wirtschaftliche Blütenträume fruchtlos verwelkt waren.

Es mag sein, daß afrikanische Regenten und Wirtschaftsplaner unseren optimistischen Wachstums-theorien zu leichtfertig glaubten. Aber die Planer waren meist gar keine Afrikaner. Sobald man außerdem der Geschichte einer solchen Entwicklungsruine (hier ein Zementwerk, dort ein Schlachthof, anderswo eine Textilfabrik) auf den Grund zu gehen versucht, stößt man oft auf einen Partner aus Europa, der offenbar nie etwas anderes beabsichtigte als ein Hit-and-Run-Geschäft zugunsten seiner eigenen Bilanz. Das ist bei uns nicht strafbar. Ja, afrikanische Beamte müssen eben auch das Kleingedruckte lesen! Richtig, nur wenn sie das dann tun und gewisse Geschäfte ablehnen, dürfen wir ihnen weder Sabotage an der Marktwirtschaft vorwerfen noch sie der „Undankbarkeit“ angesichts verschmähter „Entwicklungshilfe“ schelten.

Es wäre sicher um diese wirtschaftlichen Verbindungen zwischen Afrika und den Nordländern besser bestellt (Industrialisierung ist im Alleingang auch dann nicht mehr denkbar, wenn sie der Importsubstitution statt dem Export dienen soll), wenn die afrikanischen Fachbeamten in einem freien politischen Klima arbeiten könnten. Dann könnten sie sich nämlich vielseitig informieren, könnten nach unten mit vernünftig artikulierten, durch organisierte Gruppen vertretenen Interessen im eigenen Volk rechnen und nach oben hin ihre eigene Überzeugung, was jeweils vernünftig ist, den hohen Herren der Politik gegenüber ungeschminkt vertreten. Aber wo in Afrika gibt es ein solches politisches Klima?

Ich frage damit nicht nach einer Demokratie, die dem Modell von Westminster, den Errungenschaften der Französischen Revolution oder dem Bonner Grundgesetz so perfekt entsprechen müßte, wie einst die Industrialisierungs-Euphorie Afrikas der take-off-Prognose entsprach. Ich frage bescheiden nach dem, was Dirk Berg-Schlosser Polyarchie^) nennt; ich darf es definieren als eine Staatsform und Staatswirklichkeit, in der sich konkurrierende politische Meinungen und Strategien — auch wirtschaftliche Interessen — offen organisieren und in einen legalen Wettbewerb treten können, unter Umständen auch im Rahmen einer Einheitspartei; Ansätze dazu gibt es z. B. in Kenias Staatspartei KANU und natürlich in den wenigen Staaten Afrikas mit überlebendem oder restauriertem Mehrparteiensystem (Ägypten, Botswana, Marokko, Senegal, neuerdings wieder Sudan). Überwiegend wird Afrikas politische Landschaft jedoch von Diktaturen geprägt. Da gibt es gewaltige Unterschiede in der moralischen Bewertung, in der Effizienz ihrer Verwaltung. Es kommt weniger darauf an, ob der Mann an der Spitze Uniform oder Zivil bevorzugt: Ein Julius Nyerere darf natürlich mit einem Idi Amin nicht in einen Topf geworfen werden, aber auch nicht mit einem Milton Obote; ein Houphouet-Boigny nicht mit einem Sekou Toure. Aber daß auch die milde und humane, ja auch die aufgeklärte Form der afrikanischen Diktatur auf mittlere Sicht in die wirtschaftliche Krise führt, weil sie die freie Artikulation von Interessen im Volksgemurmel der allgemeinen Akklamationen ertränkt, weil sie die leistungsbedingte Zirkulation von Eliten durch Günstlingstum ersetzt, weil sie außenpolitisch dazu neigt, sich an irgendeinen Großen Bruder jenseits des Meeres zu klammern, weil auf das eigene Volk im Grunde kein Verlaß mehr ist — das ist in meinen Augen die wichtigste Klammer zwischen Wirtschaft und Politik im heutigen Afrika.

II. Die Reformvorschläge

Welche Programme liegen auf dem Tisch, die Wege zeigen, wie Afrika aus seiner Krise herauskommen kann? Erstaunlich wenig wird noch (Universitäts-Seminare mögen nachhinken) von NWWO, das heißt einer „Neuen Weltwirtschaftsordnung“ geredet: Die Regierungen der ganzen Dritten Welt, vereint in der Gruppe 77, schrieben sie in den späten sechziger und in den siebziger Jahren auf ihre Fahne und präsentierten die Rechnung dem industrialisierten Westen, dem sie schlicht glaubten, seine Wirtschaftsbäume würden immer weiter gradlinig in den Himmel wachsen. Der Westen konterte dann nicht nur mit vielstimmigem „No“ auf UNCTAD-und anderen Versammlungen, nicht nur mit dem versöhnenden „Sowohl-Als-auch“ der beiden Berichte der Brandt-Kommission, sondern er setzte eine unkonventionelle Waffe ein: Angeführt vom seinerzeitigen Weltbank-Präsidenten Robert McNamara entdeckte der Westen die „Ärmsten der Armen“ und ihre Grundbedürfnisse und schien sich anzuschicken, über die Köpfe der souveränen

Regierungen der Dritten Welt hinweg den Bodensatz der Gesellschaftsstrukturen in Afrika, Asien und Lateinamerika aufzurühren. Manche Leute argwöhnen, daß inzwischen ein Kompromiß stillschweigend vereinbart wurde: Ihr hört auf, in die Posaune der NWWO zu stoßen; wir treten kurz bei der Direkteinwirkung auf eure Ärmsten der Armen.

Fest steht, daß Süd und Nord sich einig sind, die Großregionen der Dritten Welt vorwiegend getrennt zu analysieren. So haben wir denn aus Afrika als erstes Star-Dokument unter den Reformvorschlägen den Lagos Plan of Action der Organisation der Afrikanischen Einheit aus dem Jahre 1980.

Er behandelt in 13 Kapiteln alle Wirtschaftsbereiche, beginnend mit Nahrung/Landwirtschaft. Politik wird nicht ganz ausgeblendet, steht doch da etwas über zwischenstaatliche Zusammenarbeit (Kap. 8), Umwelt (Kap. 9) und — ganz auf der Höhe der Zeit — sogar über Frauen (Kap. 12). Die Präambel verspricht „schmerzhafte aber offene Neueinschätzung der gegenwärtigen Lage und der Zukunftsaussichten“ und formuliert grundsätzliche Richtlinien; aber schon die zeichnen sich durch ihre Unverbindlichkeit aus:

1. Afrikas gewaltige Ressourcen müssen vor allem eingesetzt werden, um den Bedürfnissen und Zwecken seiner Menschen zu dienen.

2. Afrikas fast totale Stützung (reliance) auf Rohstoffexporte muß sich ändern.

3. Afrika muß die Tugend der Stützung auf sich selbst (self-reliance) kultivieren. Das heißt nicht, der Kontinent sollte sich selbst total von auswärtigen Leistungen abschneiden. Aber diese auswärtigen Leistungen sollen unsere eigenen Anstrengungen nur ergänzen, sie sollen nicht die Hauptstütze unserer Entwicklung sein...

5. Jeder unserer Staaten muß allumfassende wirtschaftliche, soziale und kulturelle Aktivitäten ausführen, welche die Kraft des ganzen Landes mobilisieren und sicherstellen werden, daß sowohl die eingesetzten Anstrengungen als auch der aus der Entwicklung stammende Nutzen angemessen geteilt werden.

Praktisch erwartet der Lagos-Plan immer noch von der Industrialisierung den Hauptantrieb für bessere Entwicklung, „... Erfüllung der Grundbedürfnisse der Bevölkerung, Sicherung der Integration der Wirtschaft und der Modernisierung der Gesellschaft...“. Afrikas Anteil an der Welt-Industrieproduktion, 1980 unter 1 %, soll bis zum Jahre 2000 auf 2 % steigen. Wie? Als „Basis-Industrien“, die Afrika sich zulegen müsse, zählt der Lagos-Plan auf:

1. Nahrungsmittel-und Agro-Industrien;

2. Bauindustrien;

3. metallverarbeitende Industrien;

4. mechanische Industrien;

5. elektrische und elektronische Industrien;

6. chemische Industrien;

7. holzverarbeitende Industrien;

8. energieerzeugende Industrien — also alles. Konkrete Hinweise, welches afrikanische Land zugunsten welches anderen auf eine dieser Branchen verzichten wolle, da man doch zusammenarbeiten will, fehlen. Auch sonst kennzeichnet den Lagos-Plan, was Rainer Tetzlaff kritisch anmerkte: „Roß und Reiter werden nirgends genannt“

Auf dieses Kompendium aller erdenklich wünschbaren Entwicklungsschritte antwortete die Weltbank ein Jahr später mit ihrem eigenen Untersuchungsbericht, den sie — wirklich oder nur scheinbar bescheidener als die OAU? — nicht als Aktionsplan, sondern als „Tagesordnung für Aktion“ betitelte Hierin kommt aber mindestens eine Stoßrichtung der vorgeschlagenen Reform-strategie korrekt zum Ausdruck: Die Weltbank verweist Afrika durchweg auf Marktkräfte statt auf Planspiele und kritisiert damit zumindest jene afrikanischen Regierungen, die sich (sei es auch mit wechselndem Ernst und sehr unterschiedlicher Tendenz) einer sozialistischen Orientierung verschrieben hatten oder haben.

Hier sprechen überwiegend nicht-afrikanische Experten über Afrika. Weltbank-Präsident McNamara hatte Ende 1979 den amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Elliot Berg von der University of Michigan beauftragt, das Team zusammenzustellen; er scharte vier Kollegen um sich, darunter als einzigen Afrikaner K. Y. Amoako, der die Weltbank in Zambia vertrat.

Der Bericht von 1981, dem inzwischen 1983, 1984 und 1986 drei Fortschreibungen folgten, konzentriert sich auf die endogenen Wirtschaftsfaktoren der afrikanischen Krise, widerspricht also implizit den Abhängigkeitstheoretikern, die den Entwicklungsrückstand der Dritten Welt primär aus ihrer äußeren Anbindung an den kapitalistischen Weltmarkt erklären. Der Weltbank-Bericht ist insoweit politisch, als er die afrikanischen Regierungen Punkt für Punkt kritisiert und von ihnen Abhilfe fordert. Die Krisenfaktoren, die sie ausräumen sollen, sind aber fast ausschließlich wirtschaftliche. Priorität für die Landwirtschaft! Das ist der Schlachtruf der Weltbank. Höhere Erzeugerpreise — und zwar für private Erzeuger! In Privathand gehört auch die Vermarktung der Agrarprodukte, und Wettbewerb muß her: „... Regierungen können ihre Bauern besser schützen (als durch staatliche Aufkaufmonopole und Ausgleichskassen, F. A.), indem sie mehr Wettbewerb in die Märkte bringen durch bessere Information, durch Straßen, durch Ausstattung der Märkte, als wenn sie als Ersatz-Kaufleute handeln .. (S. 64). Die Industrialisierung tritt gegenüber der Landwirtschaft in den Hintergrund; wo aber von ihr die Rede ist, erklingt ebenfalls das Hohelied der Privatinitiative und des Wettbewerbs. Die Weltbank bleibt skeptisch, ob Afrika jemals fähig sein wird, seine Exporte industrieller Waren spürbar zu steigern. Diese Skepsis ist berechtigt, denn das Afrika, von dem hier die Rede ist (südlich der Sahara, ohne Südafrika) steht ganz hinten in der Produktivitätsschlange der Entwicklungsländer, die mit solchen Ausfuhrgütern auf den Weltmarkt drängen.

Was aber bleibt Afrika an Exportchancen übrig, wenn man die oben erwähnten industriellen Wunschträume des Lagos-Plans mit der Wirklichkeit konfrontiert? Im Grunde handelt es sich nur um die traditionellen mineralischen und agrarischen Rohprodukte. Einen wachstumsträchtigen Absatzmarkt für industrielle Erzeugnisse besitzt Afrika, folgen wir der Weltbank-Analyse, nur in seiner eigenen wachsenden Bevölkerung, das heißt vor allem in seiner bäuerlichen Bevölkerung. Die 1984 veröffentlichte Fortschreibung des Berg-Berichts insistiert erneut auf Einschränkung der Staatsapparate zugunsten privaten Unternehmertums. Sie unterscheidet dabei nicht prinzipiell zwischen afrikanischen Unternehmern und internationalem Kapital, sondern schreibt den Regierungen generell ins Stammbuch:...... Zur Debatte steht hier kein abstrakter Vorrang des öffentlichen oder des privaten Sektors. Vielmehr geht es darum, die Belastung des öffentlichen Sektors zu reduzieren und den Privatsektor in einer Weise zu ermutigen, die das Angebot von Dienstleistungen effizienter macht und mit den nationalen Prioritäten übereinstimmt...“ (S. 37).

Aber im Klartext heißt das: Weniger Staatsbetriebe, weniger Beamte, (noch) weniger Sozial-dienste, und freie Bahn dem Tüchtigen auf dem Lande wie in der Stadt — auch wenn der Libanese, der Inder oder der Multinationale Konzern sich im Wettbewerb als Tüchtigster durchsetzt. Erfolg oder Mißerfolg afrikanischer Wirtschaftspolitik wird denn auch von der Weltbank vorrangig am althergebrachten Pro-Kopf-Einkommen gemessen, nicht etwa an der Steigerung der Lebenserwartung, bei der einige sozialistisch orientierte Staaten gar nicht so schlecht abschneiden. Die Weltbank verteilte 1984 gute Noten z. B. an Botswana, die Elfenbeinküste, Kenia, Malawi, Mauritius, Swaziland. Schlechte Noten erhielten Benin, Ghana, Guinea, Liberia, Sierra Leone, Sudan, Tanzania, Togo, Uganda, Zaire und Zambia (immerhin: nicht nur sozialistisch orientierte Staaten), weil ihr Wachstum „... trotz relativ guter Ausstattung mit natürlichen Ressourcen .. schwach oder rückläufig war

Wie wurde dieses Reformprogramm aufgenommen? Die schärfste Kritik, die mir bekannt ist, stammt nicht aus Afrika, sondern wurde von einem amerikanischen Wirtschafts-und Agrarexperten in der wissenschaftlichen Zeitschrift des amerikanischen Afrikanisten-Verbandes formuliert. Danach offeriert die Weltbank Afrika die international in Mode gekommene Angebotswirtschaft, „... in der die Armen diszipliniert werden, unabhängige und starke nationalistische oder blockfreie Führer gedemütigt, die korrupten und »kooperativen 1 Führer belohnt, in der law and Order durch den Ausbau nationaler Sicherheitsstreitkräfte aufrechterhalten wird .. In der Tat erwähnt der Berg-Bericht die Militärausgaben der afrikanischen Staaten, die den öffentlichen Sektor ja schließlich erheblich belasten, nur einmal marginal in Gestalt einer Statistik (S. 41).

Goran Hyden, dessen These von der uncaptured peasantry Afrikas wir erwähnten, warnt sogar vor dem Optimismus, der in dem zunächst so plausibel klingenden Kerngedanken der Weltbankstrategie steckt, daß Afrikas Bauern schon auf bessere Erzeugerpreise mit höherer Nahrungsmittelerzeugung reagieren werden: „... Es wäre falsch anzunehmen, daß die bäuerliche Produktionsweise genug Spielraum für irgendeinen dramatischen Produktivitätszuwachs liefert... Es fällt schwer, das Vertrauen ... in die Magie »richtiger* Preispolitik für bäuerliche Produzenten zu teilen ...“ Aus Afrika — und da lauscht man nun einmal zuerst auf Regierungskommentare — kommt sehr viel gedämpftere Kritik an der Roßkur, die Weltbank und Internationaler Währungsfonds (denn natürlich gehen die bekannten Kreditkonditionen des IWF mit der Weltbankstrategie Hand in Hand) dem Kontinent verschreiben. Woher kommt das wohl? Nur, weil den afrikanischen Völkern das Wasser bis zum Hals steht? Oder hat diese Mäßigung, das fast einmütige Einschwenken auf die Prinzipien des Berg-Berichts, auchetwas damit zu tun, daß Weltbank und IWF zwar manche Regierungen unter ihr Kaudinisches Joch beugen, grundsätzlich aber keiner von ihnen die Souveränität streitig machen, das heißt die Zugriffsgewalt über das eigene Volk?

Selbst Julius Nyerere sagte im Mai 1985, als er sich schon anschickte, sein Präsidentenamt niederzulegen, vor der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn: . Zweifellos ist es nötig, die Produktion und die Produktivität in den Entwicklungsländern zu steigern, denn das heißt ja Entwicklung; und in Afrika sehen wir jetzt ein, daß die Top-Priorität dem Agrarsektor zukommt ... Aber selbst um Ochsenpflüge zu liefern, brauchen wir Importe, die wir nicht finanzieren können ... Es gibt keine Wunder in der Landwirtschaft...“ Erst an späterer Stelle seiner Rede kommt Bitterkeit durch; aber auch hier nennt Nyerere weder die Weltbank noch den IWF beim Namen: „... Im traditionellen Afrika hatten wir Medizinmänner, die den Patienten zur Ader ließen, ob er oder sie nun an Fettleibigkeit litt oder an Unterernährung. Die Wirtschafts-Medizinmänner — besonders jene, die heutzutage in die Dritte Welt kommen — sind anscheinend nicht viel besser. Sie kennen nur ein Rezept für alle Länder, die in Schwierigkeiten sind — Deflation ...“

Fazit: Wir dürfen erwarten, daß Afrikas Regierungen in den kommenden Jahren die Weltbank und den IWF ihres guten Willens versichern werden, nach deren Reform-„Tagesordnung“ zu verfahren. Aber die Regenten Afrikas werden das ohne Begeisterung, viele von ihnen ohne innere Überzeugung tun.

3. Elemente zur Analyse der Wirtschaftskrise

Es bleibt uns kaum etwas anderes übrig, wenn wir wenigstens elementare Voraussetzungen für eine Analyse und damit ein objektives Verstehen der afrikanischen Krise zusammenstellen wollen, als uns auf die Ebene der vorliegenden Reformvorschläge zu begeben und zunächst von der Wirtschaft zu sprechen. Die Politik, die in den Schriften der OAU und der Weltbank so überdeutlich durch Abwesenheit glänzt, muß dann freilich folgen.

Viel wäre über die tatsächliche Verflechtung Afrikas mit dem kapitalistischen Weltmarkt zu sagen Sie ist ja keineswegs eine Erfindung der Abhängigkeitstheoretiker, und die Marktordnungen dieses Marktes werden wirklich anderswo erlassen — nicht in Afrika. Gerade deshalb sperren wir diesen ganzen Bereich hier jedoch aus. Wir fragen nach Leistung und Versagen Afrikas; deshalb erfordert die Fairneß, auf einer Ebene zu diskutieren, auf der Afrika selbständig etwas leisten kann und in eigener Verantwortung versagt. Wiederum ist bei der Landwirtschaft, bei den Bauern anzufangen. Goran Hydens mehrfach erwähnte These ist zum einen etwas zu vertiefen, zum anderen in historischer Sicht zu relativieren. Wer nur das Stichwort uncaptured peasantry zur Kenntnis nimmt, könnte ein unzureichend negatives Bild von afrikanischer Bauernwirtschaft gewinnen — einer Wirtschaft, in der es nur diese oder jene Elemente nicht gibt, deren Träger „nur“ die vielberedete „Subsistenz“ anstreben, also absichtlich von der Hand in den* Mund leben (und da der Mensch nur einen Mund hat, braucht er dafür wohl nur eine Hand, also 50% seiner Arbeitskraft ...). Hyden selbst liefert jedoch das positive Fundament für seine These. Er zeigt, daß die afrikanische Bauernwirtschaft durchaus gesellschaftlichen Sinn hat, Gemeinschaftszielen dient, moralische Werte realisiert. Nur sind das nicht die Ziele und Werte von Wachstum und Gewinnmaximierung, wie wir sie kennen; Hyden spricht von einer economy of affection, in der die Bindung des einzelnen an die Familie oder eine ähnliche Gemeinschaft Vorrang genießt, in der die Fortpflanzung dieser Gemeinschaft in die Zukunft hinein das Ziel organisierter Arbeit ist und weniger der heutige Güterausstoß, in der man „investiert“, um unter den Verwandten Ehre einzulegen oder sich um die Religionsgemeinschaft verdient zu machen, wobei der auf lange Sicht ebenso wie bei uns erhoffte Gewinn in einer Festigung des sozialen Netzes dieser Gemeinschaft besteht, um Lebensrisiken ihrer Mitglieder besser bewältigen zu können. Das bedeutet konkret eine ständige „... Umverteilung der Chancen und Erträge in einer Weise, die unmöglich ist, wo der moderne Kapitalismus oder Sozialismus vorherrscht, wo formalisiertes staatliches Handeln den Prozeß der Umverteilung bestimmt...“

Afrikas Bauern wirtschaften also durchaus vernünftig, und viele ihrer Gesellschaften (nicht alle!) haben in den wenigen Jahrhunderten, während wir Europäer sie beobachten konnten, mittels dieser Wirtschaftsweise ein gerüttelt Maß an Kalamitäten überlebt — natürliche (es hat immer schon Dürreperioden gegeben) und vermutlich mehr noch von Menschen induzierte, wie die Verwüstungen des europäischen (atlantischen) und des arabischen (Ostküsten-) Sklavenhandels zwischen dem 16. und dem späten Jahrhundert, oder die von dem Zulukönig Chaka um 1800 ausgelösten „napoleonischen“ Verheerungen in Südafrika. Gleichzeitig konnten wir aber auch beobachten, daß afrikanische Bauern, ohne ihre erprobte Wirtschaftsweise aufzugeben, immer wieder lebhaft daran interessiert waren, Neuerungen aufzugreifen. Verschiedene Nutzpflanzen, die heute in weiten Teilen Afrikas Grundnahrungsmittel sind, stammen aus Amerika, sind also erst nach 1500 in Afrika heimisch geworden: Mais vor allem, Süßkartoffeln, Maniok, Papaya, Kürbis usw. Wir können genau rekonstruieren, wie Westafrikas Bauern, als die Europäer nach 1807 vom Sklavenhandel plötzlich genug hatten und ihren Geschäftspartnern an der Küste legitimate trade empfahlen (damals noch ohne Weltbank-Expertise, beide Vorgänge sind aber durchaus vergleichbar), den Anbau von Ölpalmen forcierten. Nach 1880 schmuggelten Afrikaner die ersten Kakao-pflanzen von der spanischen Insel Fernando Poo (dort wollte man den eigenen Marktanteil dirigistisch schützen) an die Goldküste, und was die Bauern Ghanas und Nigerias, später der Elfenbeinküste daraus gemacht haben, bedarf keiner Schilderung; sie „ ... erzielten Resultate, mit denen kein europäischer , Experte’ wetteifern konnte...“ 19). Diese Leistung als Kakao-Monokultur liegt heute jedoch eher wie ein Mühlstein um Ghanas Hals. Mitten in der Kolonialzeit gründeten afrikanische Bauern dann (um nur ein Beispiel noch zu erwähnen) funktionierende und mit europäischen Plantagen — trotz deren Bevorzugung durch die Verwaltung — erfolgreich konkurrierende Vermarktungsgenossenschaften für Kaffee an den Hängen des Kilimandscharo. Daß Tanzanias unabhängige Regierung später mit aller Macht versuchte, diese Genossenschaften klein zu kriegen, weil sie nicht sozialistisch genug waren, steht auf einem anderen Blatt — eben auf dem politischen.

Ich halte deshalb die Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft afrikanischer Bauern gerade dann, wenn ihnen erlaubt wird, ihre erprobte Produktionsweise grundsätzlich beizubehalten, für erwiesen. Diese Bauern müssen nicht „eingefangen“ und in Strukturen eines fremden Kapitalismus oder Sozialismus abgeführt werden. Bessere Preise allein werden sie allerdings vermutlich nicht veranlassen, mehr zu erzeugen. Dazu werden sie eine langfristige und realistische Aussicht auf eine gesellschaftliche Vernetzung erwarten, die ihre konkret überschaubare Gemeinschaft besser als bisher gegen die Risiken absichert, die sie aus der Erfahrung ihrer Ahnen kennen.

Statt dessen sehen sich bisher aber die meisten Bauern Afrikas von Händlern und Städtern, von ausländischen Experten und nicht zuletzt von einheimischen Beamten, Soldaten und Regenten „erdrosselt“, wie Rene Dumont dramatisch verkündete. Das ist keine fixe Idee dieser männlichen Kassandra aus Frankreich. Die einfachste Erklärung ist wiederum politisch; Lloyd Timberlake legt sie als Motto seines Buches einem namenlosen Entwicklungshelfer im Sahel in den Mund: „Laßt die Städter hungern, und sie revoltieren; laßt die Bauern hungern, und sie sterben. Wenn Sie ein Politiker wären — wofür würden Sie sich entscheiden?“

Die Formen der Bauern-Erdrosselung sind nicht überall identisch. Das eindruckvollste „sozialistische“ Modell lieferte Tanzania nach 1967. Dabei wollte Präsident Nyerere die Erträge von Modernisierung und Entwicklung gerade von den in seinem Lande privilegierten Städten auf das flache Land umleiten und dort möglichst breit verteilen, um keine Ausbeuterklasse entstehen zu lassen. Irgendwer muß ihm gesagt haben, das aller-modernste und allergerechteste Werkzeug solcher Politik sei die Kollektivierung. Die Umsiedlung der Bauern und die Umpolung ihrer Arbeitsweise in Produktionsgenossenschaften (Ujamaa-Dörfer) wurde dann anfangs gepredigt, alsbald jedoch erzwungen. Der Rest der Geschichte ist bekannt. Ein kapitalistisches Modell der Bauern-Erdrosselung besteht noch immer in Burkina Faso und der Elfenbeinküste, denn es kommt naturgemäß ohne staatlichen Zwang aus, kann deshalb auch nicht durch staatliche Reue (Tanzania zeigt sie, seit es die Nothilfe von Weltbank und IWF braucht) einfach stillgelegt werden. Die Mossi-Bauern Burkina Fasos können durch Beackern ihres eigenen Landes nicht länger existieren. Die (afrikanischen) Großbauern der Elfenbeinküste brauchen Lohnarbeiter. Solange der Export von Kaffee und Kakao floriert, verdienen auch diese Arbeiter, und solange an der Elfenbeinküste reichlich Land verfügbar ist, können sie hoffen, dort wieder selb-ständige Bauern zu werden. Wenn die Räder des Weltmarktes aber stocken, beginnt sich die einheimische Gesellschaft der Elfenbeinküste gegen Einwanderer zu wehren, und die stehen dann vor der unerfreulichen Wahl zwischen Rückkehr auf die verwüsteten Felder der Heimat, oder Weiter-ziehen in die Slums von Abidjan.

Gibt es nicht wenigstens einige halbwegs akzeptable Modelle für Industrialisierung in Afrika? Sie könnten ja den gewürgten Bauern Arbeitsplätze bieten, wenn auch dann nicht mehr in einer erprobten einheimischen Produktionsweise; Fabriken, wo sich eine economy of affection praktizieren ließe, gibt es wohl nirgends auf der Welt. Afrika hat jedenfalls kaum Industrialisierungsleistungen aufzuweisen, die eingehender Erörterung wert sind oder gar anderen Ländern des Kontinents zum Vorbild dienen könnten. Ghanas frühzeitigen Aufbruch unter Kwame Nkrumah in die Importsubstituierung haben wir bereits erwähnt. Woran liegt es, daß davon nur noch Ruinen zeugen? Waren es nur Fehlkalkulationen über die Bezahlbarkeit von Ersatzteilen, Halbfabrikaten usw.? War es nur oder hauptsächlich die langfristige Ertragseinbuße beim Kakao, dem traditionellen Devisenbringer des Landes? Darüber müssen Volkswirte und Techniker urteilen. Mindestens zwei politische Umstände kommen hinzu: Ghana unter Nkrumah wollte vorbildlich blockfrei sein; das führte zu einem Durcheinander mit technischen Ausrüstungen aus aller Herren Blöcke. Nkrumah predigte den Zusammenschluß Afrikas zu einem Gemeinsamen Markt, ja zu Vereinigten Staaten; haben seine Wirtschaftsplaner von vornherein einen wesentlich größeren Absatzmarkt für ghanaische Industriewaren in Afrika einkalkuliert, als das Land selbst bietet? Der Markt Nigerias ist reich genug an Menschen. Nigeria besitzt Erdöl und profitierte in den siebziger Jahren von seiner OPEC-Mitgliedschaft. Daß hier keine funktionierende Industrie entstand, scheint eindeutig an falschem Einsatz der Investitionen zu liegen. Die Infrastrukturen (symbolisch der Hafen von Lagos) hielten der Belastung nicht stand; alles sollte zu schnell gehen und fiel eine Nummer zu groß aus.

Zaire? Alle weisen mit Fingern auf das, was dort als politisches System gilt, und den einen Verantwortlichen. Kenia? Dort erschien es realistisch, mit dem größeren Markt Ostafrikas zu rechnen, bis er ab 1967 (infolge Tanzanias Linksschwenkung) und ab 1971 (Idi Amins Putsch) zerbrach. Senegal? Dort fiel das größere Hinterland des kolonialen Französisch-Westafrika schon 1960 fort, seitdem stagniert die Industriezone um Dakar. Angola? Bürgerkrieg.

Zwei erwähnenswerte Modelle bleiben übrig, und beide liegen außerhalb der von der Weltbank apostrophierten sub-saharischen Region. Algerien verschrieb sich gleich nach seiner Unabhängigkeit 1962 dem Programm einer Industrie industrialisante, also dem ehrgeizigen Ziel einer vielstufigen und komplexen Industrialisierung mit schwerindustriellem Kern — noch dazu mit sozialistischem Vorzeichen. Niemand behauptet, daß Algerien alle Planziele immer erreicht hätte, oder gar, daß die Industrie ausreichend viele Arbeitsplätze zur Verfügung stellen würde. Jedoch kann sich anscheinend das Erreichte sehen lassen, und Kurskorrekturen im einzelnen (z. B. Liberalisierung und Garantien für einen etwas erweiterten Privat-sektor seit dem Tode Präsident Boumediennes) erweisen sich als möglich, ohne die ganze Struktur umzustürzen. Aber Algerien besaß günstige Startbedingungen: Erdöl (das hat Nigeria auch) und vor allem mehr als hundert Jahre Kolonialgeschichte mit Ausbau von Infrastrukturen wenigstens für die Sektoren, in denen damals die europäischen Siedler lebten. — Der einzige Staat südlich der Sahara, der aus diesem Modell vielleicht einiges übernehmen kann und sich wohl auch anschickt, das zu tun, ist Zimbabwe.

Das zweite Modell wäre, wenn es hier eingebracht werden dürfte, der einzige wirklich anerkannte Industriestaat auf afrikanischem Boden: die Republik Südafrika. Die Basis ihres Aufschwungs waren Gold und Diamanten — und ein politisches System, das niemand übernehmen will. Die Mehrheit der schwarzen Südafrikaner bezahlt für das Florieren der Industrie ihres (ja, ihres!) Landes mit einer Armut, wie sie in den Gebirgstälern Algeriens vermutlich nicht schlimmer ist. Mir kommt es aber vor allem auf eine historische Tatsache an: Südafrika verdankt seine Industrialisierung über den Bergau hinaus dem politischen Durchsetzungswillen seines (ebenfalls, seines!) weißen Afrikanervolkes; es hat den industriellen Aufbau und es hat seinen Anteil an der Industrie im Zuge seines eigenen (eigensüchtigen) Befreiungskampfes gegen die „Marktmächte“ des internationalen Kapitalismus erzwungen, die sich damals noch vorwiegend in London manifestierten; und in der südafrikanischen Industrie geben weithin Staatsbetriebe den Ton an, die man in ihrer Verflechtung mit der Regierungspartei sozialistisch nennen möchte, verstieße das nicht gegen den Internal Security Act.

Die Diskussion, ob Afrika seiner Wirtschaft eine sozialistische oder besser doch kapitalistische Orientierung geben solle, um die Leistung zu verbessern und weniger Versager registrieren zu müssen, erscheint mir ziemlich europäisch-akademisch. Negative Aussagen zu beiden Alternativen lassen sich gut verifizieren. Es ist nicht nur in Ghana und Tanzania, sondern wohl auch in Mozambique (unbhängig von der Binnenblockade dieses Landes durch den Bürgerkrieg) erwiesen, daß die Auflage sozialistischer Blaupausen auf die afrikanische Wirklichkeit verheerende Wirkung hatte, besonders wenn die Zeichnungen aus jenem Lager stammten, das diesen Namen für sich reservieren möchte. Im Kern liegt das wahrscheinlich daran, daß Karl Marx wenigstens mit seiner einen Grundidee geschichtlich recht behält, daß nämlich Sozialismus aus einem reifen Kapitalismus entstehen muß und nicht durch ökonomischen Putsch herbeigezwungen werden kann.

Von selbst weist der Kapitalismus aber Afrika auch keinen Weg in eine glücklichere Zukunft. Wenn es nur den Gesetzen des Marktes und der Privatinitiative vertraute, würde Afrika sich mit Sicherheit für immer und ewig am Ende der Schlange wiederfinden. Irgendwo in der Mitte muß der Weg liegen, auf dem für die 700 Millionen Menschen, die im Jahre 2000 vermutlich südlich der Sahara leben werden, das Bestmögliche herauszuholen ist.

IV. Elemente zur Analyse der politischen Krise

Über Afrikas wirtschaftliche Orientierung wird wenigstens noch gestritten. Über der politischen Krise liegt weithin der Mantel einer Pseudo-Höflichkeit, die so tut, als respektiere sie die Souveränität der afrikanischen Staaten, als wolle sie niemandem (unter den Herrschenden) wehe tun, und die doch oft in Wirklichkeit nur die rassistische Überzeugung verbirgt, der Schwarze brauche halt die Peitsche des Diktators, anders ließe sich in Afrika nicht regieren

Dieses Klischee haben wir natürlich auch in die Vergangenheit Afrikas eingeblendet, vermengen es mit dem Schock der Briten bei ihrer Eroberung der nigerianischen Königsstadt Benin 1897, die von Menschenopfer-Leichen übersät war, und halten dann im Stillen Idi Amin für den Regelfall nachkolonialer Herrschaft. Die afrikanische Antikolonialbewegung und ihre europäischen Sympathisanten haben, um die Verwirrung komplett zu machen, diesem Klischee ihre Antithese entgegengestellt: Das alte Afrika sei ein Hort des Friedens und Ausgleichs gewesen, beinahe eine Muster-Demokratie, in der es selbst bei uns übliche, für den Betroffenen lästige Überstimmung der Minderheit durch die Mehrheit nicht gegeben habe. „Die Ältesten sitzen unter dem großen Baum und reden, bis alle einverstanden sind“ — auf diesen einfachen Nenner brachte der erzliberale Rhodesier Guy CIutton-Brock (ein hochverdienter Kämpfer gegen den Rassismus in seiner Heimat, er ist jetzt 80 Jahre alt geworden) die vorkoloniale afrikanische Politik; und sein Freund Julius Nyerere griff den Gedanken gern als Motto der Broschüre auf, mit der er 1963 die Einführung des Einparteisystems in Tanganjika rechtfertigte

Beide Klischees sind so eindeutig wie einfältig.

Wer in der Erwartung, Afrikaner seien von Mutter Natur zum Konsens besser gerüstet als wir, an die Analyse der Politik Afrikas herangeht, muß nach dem ersten Blick auf die Wirklichkeit so bitter enttäuscht sein, daß er dann den Unterschied zwischen Idi Amin und Nyerere nicht mehr wahrnimmt. Wenn wir lernen wollen, unter afrikanischen Herrschern der Gegenwart zu differenzieren, tun wir gut daran, Bücher amerikanischer Afrikawissenschaftler zur Hand zu nehmen, denn sie können ihre Konzepte aus einer Fülle von Einzelstudien synthetisieren, wie sie uns in Europa kaum zur Verfügung steht. Robert H. Jackson und Carl G. Rosberg (der letztere steht schon seit Anfang der sechziger Jahre in dieser Forschung) unterscheiden 1982 vier Typen persönlicher Herrschaft in Afrika

— Den Fürsten (Prince), „ ... einen scharfsichtigen Beobachter und Manipulieret von Untergebenen und Klienten. Er neigt dazu, gemeinsam mit anderen Oligarchen zu herrschen und ihre Loyalität, Zusammenarbeit und Unterstützung zu kultivieren.“ Es folgen Fallstudien der Präsidenten Senghor von Senegal, Kenyatta von Kenia, Tubman und Tolbert von Liberia, der beiden Monarchen Haile Selassie und Sobhuza II. von Swaziland, schließlich des sudanesischen Generals Numeiri. — Den Autokraten, „ ... der die Oligarchie, die Regierung, den Staat dominiert, ohne die Macht mit anderen Führern teilen zu müssen. Wo der Fürst präsidiert und herrscht, kommandiert und managt der Autokrat; das Land ist sein Grundstück .. Es folgen Fallstudien der Präsidenten Houphouet-Boigny von der Elfenbeinküste, Ahidjo von Kamerun, Bongo von Gabun, Banda von Malawi, und Mobutu von Zaire. — Die Propheten, einige wenige „Visionäre, welche die Gesellschaft in Übereinstimmung mit ihrer Ideologie umgestalten wollen — und in Afrika war dieselbe überwiegend sozialistisch“. Niemand wundert sich, hier eine Fallstudie über Julius Nyerere zu finden; den beiden anderen Präsidenten, die als Propheten eingestuft wurden — Nkrumah von Ghana und Toure von Guinea — tun die amerikanischen Autoren vielleicht etwas zu viel Ehre an. — Als Tyrannen, gekennzeichnet durch „ein hohes Maß von Ungewißheit, Unsicherheit, und mindestens potentieller Instabilität“, unter denen „Macht vollkommen willkürlich ausgeübt wird“, bleiben dann in dieser Studie nur Macias Nguema in Äquatorial-Guinea und Idi Amin übrig.

Wem die personalisierte Analyse von Geschichte und Politik nicht zusagt, die sich freilich für Afrika fast aufdrängt, der sollte versuchen, Gesellschaftsschichten oder Klassen in Afrika zu erkennen und auf ihre Beziehung zur Politik, zur Staatsgewalt hin einzuordnen. Er wird sich damit freilich schwer tun. Ein weitgehend überzeugendes Beispiel solcher Analyse haben wir bereits erwähnt: Goran Hydens These über die Bauern, die er durchaus marxistisch als Klasse versteht. Sobald man nach anderen Klassen fragt — Bourgeoisie, Kleinbürgertum, Proletariat—, kommt man in Afrika zu gar keinen oder zu überraschenden Resultaten. Ein afrikanischer Proletarier zum Beispiel, dem es gelingt, seine Arbeitskraft an einen soliden Multinationalen Konzern zu verkaufen, steht in seiner Gesellschaft ausgesprochen privilegiert da (und seine Gewerkschaft neigt dazu, sich ohne Rücksicht auf Arbeitslose oder Bauern auch so zu benehmen). Das bedeutet aber noch lange nicht, daß seine Klasse irgendwo die herrschende wäre.

Als herrschende Klasse des nachkolonialen Afrika hat 1961 bereits Frantz Fanon eine „bourgeoisie sous-dveloppe" ausgemacht und weidlich auf sie geschimpft Der indische Tanzanier Issa G. Shivji hat später in die gleiche Kerbe gehauen und die „bureaucratic bourgeoisie" für alles verantwortlich gemacht, was ihm in seinem Lande nicht gefiel Auf die „Staatsklasse“ Afrikas zu schimpfen, ist inzwischen ein wohlfeiler Sport geworden; sie sei unfähig, korrupt, tribalistisch, nepotistisch.

Nicht nur etwas mehr Bescheidenheit ist hier von dem europäischen Beobachter gefordert, dessen heimische Amtszimmer ja auch nicht alle mit selbstlosen und hochintelligenten „Dienern des Bürgers“ (civilservants) gefüllt sind; wiederum ist Differenzierung gefragt.

Zur Staatsklasse Afrikas zu gehören, ist jedenfalls gegenwärtig noch kein Klassenprivileg. Noch entscheidet weitgehend die individuelle intellektuelle Leistung im formellen Schulsystem. Freilich, da gibt es diverse Engpässe, und die Bildungsinhalte sind ebensowenig flexibel auf die realen gesellschaftlichen Bedürfnisse abgestimmt, wie das bei uns der Fall ist. Aber es hat doch seit den vierziger Jahren eine wahre Bildungsexplosion in Afrika gegeben, die jungen Männern und dort, wo der Islam sich ihnen nicht in den Weg stellte, auch jungen Frauen aus verhältnismäßig breiten Schichten Aufstiegschancen gerade im öffentlichen „Dienst“ bot. Freilich, jetzt knirscht es im Gebälk der Administrationen; sie lassen sich angesichts der Wirtschaftskrise nicht weiter ausbauen, und aus den Schulen drängen immer mehr Bewerber nach.

Wer in Afrikas Staatsklasse eingedrungen ist — und ich möchte nur solche Beamten dazu rechnen, die wirkliche Macht ausüben, deren Handlungen etwas Spürbares in Staat und Gesellschaft bewirken —, hat nicht ohne weiteres ein leichtes Leben vor sich. Lassen wir die exponierte Lage eines realistischen Beamten in einem tyrannischen Willkür-Regime außer Betracht: Überall in Afrika wird auch heute noch der Bürokrat um so einsamer sein, je besser er qualifiziert ist. Die Infrastruktur ist immer noch unzulänglich. Der Telefonapparat auf seinem Schreibtisch mag ihn in Sekundenschnelle mit Paris oder London verbinden; ob aber auch mit einem Distriktbeamten im eigenen Hinterland, oder mit einem Büro, das ihm zuverlässige statistische Auskunft gibt, wage ich zu bezweifeln. Büros gibt es auch in Afrika genug. Ob aber unter den angedeuteten Zuständen wirklich Bürokratie zustande kommen kann, also Herrschaft vom Büro aus, erscheint mir fraglich. Es ist für die Rationalität afrikanischer Politik sicher abträglich, aber menschlich verständlich, wenn ein hochqualifizierter Afrikaner, nachdem er sich einige Zeit lang an solchen Mißlichkeiten im Staatsdienst den Kopf eingerannt hatte, allmählich der Verfolgung privater Geschäfte mehr und mehr Zeit widmet. Das nennt man dann Korruption.

Diktatur erscheint mir in Afrika gelegentlich nicht als ein politisches System, in dem zuviel Reglementierung und Druck, zuviel Staat auf dem einzelnen Bürger und den produktiven Gruppen lastet, sondern eher als ein fast verzweifeltes Bemühen der „Führer“, die Schwächen der ihnen zur Verfügung stehenden Verwaltungsapparate zu kompensieren, gegen die „Unterversorgung“

Afrikas mit Administration anzukämpfen. Freilich ist Diktatur nach allen Erfahrungen, welche die Menschheit gesammelt hat, ein untauglicher Versuch, hier etwas zu verbessern. Es mag ja sein, daß unter Mussolini die Züge in Italien anfangs pünktlicher fuhren; am Ende seiner Diktatur hatte Italien den Krieg Hitlers mit verloren ...

Lernen afrikanische Studenten und Seminarteilnehmer, die wir im Zeichen der „Entwicklungshilfe“ zu uns einladen, eigentlich von uns diese Lehren der europäischen Geschichte? Oder präsentieren wir den angehenden Mitgliedern der afrikanischen Staatsklasse ein auf Glamour geschminktes Europa im Sonntagsstaat? Afrikanische Politiker, die den unzulänglichen Verhältnissen in ihren Staaten entfliehen wollen, sind noch anderen Versuchungen ausgesetzt, als nur der Pflege eines Schweizer Nummernkontos. Sie können aus der Innen-in die Außenpolitik fliehen. Der flammende Anti-Imperialismus ist heute nicht mehr so in Mode wie zu Kwame Nkrumahs Zeiten, da man ja bereit ist, sich unter das Kaudinische Joch des IWF und der Weltbank zu bücken (außer in Libyen, wo man eben dies nicht zu tun braucht...). Immer noch steht jedoch das Apartheid-Regime in Südafrika als Zielscheibe außenpolitischer „Aktion“ zur Verfügung. Den Politikern der Frontstaaten, die in ihrer Existenz durch südafrikanische Destabilisierung bedroht sind — allen voran Mozambique, Angola und Zimbabwe —, ist daraus kein Vorwurf zu machen. Ihnen hat Pretoria nachdrücklich demonstriert, daß sie keine gedeihliche Innenpolitik treiben können, solange der Konflikt in der Kap-Republik andauert. Man kann auch argumentieren, daß ganz Afrika davon in Mitleidenschaft gezogen wird; denn ein friedliches Südafrika, das seine funktionierende Industrie behielte, mit dem die anderen Staaten Afrikas gleichwohl politisch harmonieren und Zusammenarbeiten könnten, würde es dem ganzen Erdteil leichter machen, seine Krise zu bewältigen. Jetzt hält die Organisation der Afrikanischen Einheit (soweit sie nicht an den Tschad-und Westsahara-Konflikten zerbrochen ist) nur durch die gemeinsame Anti-Apartheid-Position zusammen. Ein von der Apartheid befreites Südafrika könnte erheblich zu einem positiven Zusammenhalt ganz Afrikas beitragen. Die nur rituelle Verurteilung der Apartheid in so manchen Verlautbarungen afrikanischer Politik ist dennoch kein geeignetes Mittel, innenpolitische Leistung zu ersetzen.

Noch weniger Sinn kann ich der anderen Versuchung abgewinnen, die mancherorts in Afrika zu beobachten ist: die aktuelle politische Krise durch Beschwögung einer heroischen Vergangenheit überwinden zu wollen, durch ritualisierten permanenten Befreiungskampf. Besonders jene Staatsklassen, die Krieg gegen eine Kolonialmacht führen mußten, um an die Regierung zu kommen, neigen zu derartigen Kampagnen im Stile Maos und Fidel Castros. Aber im Grunde begingen seit 1960 noch mehr Einparteiregime, die völlig gewaltfrei in die Schuhe der abgezogenen Kolonisatoren schlüpften, den gleichen Denkfehler. Er besteht darin, politische Mobilisierungsmethoden, die einst gegen Fremdherrschaft erfolgreich waren, deshalb auch für geeignet zu halten, in einem unabhängigen Staat das Gemeinwohl zu bestimmen und den allgemeinen (nicht nur wirtschaftlichen!) Wohlstand zu fördern. Werkzeuge, die zum Abriß eines Gebäudes perfekt geeignet sind, müssen aber noch lange nicht dafür taugen, ein neues Haus zu bauen.

Die Bündelung von Volksdynamik in einer Organisation, ihre Zuspitzung auf eine Frage, die eine Antwort herausfordert, ist eher eine militärische Strategie als eine politische (auch wenn kein Blut fließen muß); man kann damit den einen Gegner besiegen. Afrikanische Antikolonialbewegungen haben nach 1945 wieder und wieder — fast in allen Ländern des Kontinents — diese Strategie zu meistern verstanden. Politik aber, und gar Entwicklungspolitik, erfordert einen ganz anderen Ansatz. Wenn das Leben einer Gemeinschaft von Menschen organisiert und verbessert werden soll, geht es immer um eine Vernetzung vieler Fragen, nie um eine einzige; und auf jede einzelne dieser Fragen gibt es nie nur eine Antwort, sondern aus der Sicht unterschiedlicher Interessen verschiedene Antworten, zwischen denen ein Kompromiß zu finden ist. Der Gegner schließlich, der auch in der Politik hin und wieder besiegt werden muß, scheidet dann nicht wie nach einem siegreichen Krieg aus, sondern er gehört weiter dazu, man muß mit ihm auskommen. Das alles gilt sogar für Afrikas Entkolonisierung, sobald man sie im Weltmaßstab betrachtet und nicht unter dem engen Aspekt des einzelnen „unabhängig“ werdenden Staates. Das haben die afrikanischen Befreiungsbewegungen auch sehr gut verstanden und passen sich international einer polis an, in der die „Imperialisten“ ein wichtiges Wort mitreden. Nur innenpolitisch tun sie oft so, als könnte man mit dem alten Schlachtruf „Der Kampf geht weiter“ die Krise überwinden. Die Anwendung quasi-militärischer Disziplin auf das eigene Volk ergibt sich dann daraus.

So geht es also nicht. Deshalb ist es erfreulich, daß immer wieder afrikanische Politiker und politische Theoretiker nach negativen Erfahrungen ihres Volkes mit einer neuen Spielart von Diktatur sich auf die alten, hausbackenen Werte und Formeln der bürgerlichen Demokratie rückbesinnen. Manche derartige Operation ist mißlungen: in Ghana schon zweimal, in Nigeria einmal (trotz äußerst sorgfältiger Vorbereitung durch eine realistische Militärregierung, die dem Giganten Afrikas 1979 eine durchaus angemessene demokratische Verfassung hinterließ). Das ist kein Grund, es nicht immer von neuem und natürlich auch in anderen Ländern zu versuchen.

Das Mehrparteiensystem, die klassische Gewaltenteilung und der Föderalismus sind dabei keine Fetische, denen man opfern müßte. Worauf es ankommt, das sind die klassischen politischen Freiheiten. Denn ohne sie gibt es keine Herausbildung, keine Artikulation strukturierter Interessen, kein faires Aushandeln von Kompromissen zwischen diesen Interessen, keinen Wettbewerb politischer Ideen, keine Auswahl der Regierenden durch die Regierten, überhaupt keine Kontrolle von unten nach oben. Die umgekehrte Kontrolle von oben nach unten, die es ebenso in jedem Staatswesen geben muß, funktioniert dann in Afrika auch nicht.

Seit kurzem gibt es im Mosaik der afrikanischen Politik ein neues Element: In Uganda ist zum ersten Mal seit der Kolonialzeit eine Oppositionsgruppe dadurch an die Macht gekommen, daß sie nicht durch Putsch (von oben), sondern durch ländliche Guerilla (von unten) die Vorgänger-Regierung aus den Angeln hob. Yoweri Museveni, so liest man, konnte die Loyalität des Volkes dort, wo seine Soldaten operierten, dadurch auf sich ziehen, daß diese Soldaten sich dem Volke gegenüber schlicht besser benahmen, als dieses Volk es von Soldaten seit 1971 gewohnt war. Ließe sich daraus etwas machen?

Eine Afrika angemessene Form politischer Partizipation des Volkes könnte nach meiner Überzeugung auch Wirtschaftskräfte freisetzen, die Afrika eine Bewältigung seine Krise erlauben würden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Amadou Diallo, La Mort de Diallo Telli, Paris 1983.

  2. World Bank (Hrsg.), Toward sustained Development in Sub-Saharan Africa, Washington 1984, S. 82 (Tab. 25).

  3. Weltbank (Hrsg.), Weltentwicklungsbericht 1984, Washington 1984, S. 190 f. — Titel der zitierten FAO-Untersuchung: Land Resources for the Future.

  4. World Bank (Anm. 3), S. 15 (Schaubild 1. 2); zur neueren Entwicklung vgl. Gerd Meuer, Afrikas Nahrungssituation nach einer Rekordernte, in: E + Z, 27 (1986) 6, S. 8— 9.

  5. Ebenda, S. 85 (Tab. 28).

  6. Goran Hyden, Beyond Ujamaa in Tanzania, London 1980.

  7. W. W. Rostow, The Stages of Economic Growth. A non-communist manifesto, Cambridge 1960.

  8. Organiation of African Unity (Hrsg.), Lagos Plan of Äction for the Economic Development of Africa, 1980— 2000, Genf (Internat. Inst, for Labour Studies) 19822. Der Plan basiert auf einer im Juli 1979 von der OAU-Gipfelkonferenz verabschiedeten Grundsatzerklärung (Monrovia Declaration) und wurde im April 1980 in Lagos ebenfalls von einer (außerordentlichen) Gipfelkonferenz beschlossen.

  9. Rainer Tetzlaff, Kontroverse um die Zukunft Afrikas, in: Vereinte Nationen, 30 (1982) 5, S. 155. Kritik afrikanischer Wissenschaftler am Lagos-Plan bei Amadu Sesey/Olusola Ojo/Orobola Fasehun, The OAU after Twenty Years, Boulder (Colorado) -London 1984, S. 76.

  10. World Bank (Hrsg.), Accelerated Development in Sub-Saharan Africa. An agenda for action, Washington 1981.

  11. World Bank (Hrsg.), Toward sustained development in Sub-Saharan Africa. A joint program of action, Washington 1984. Die erste Fortschreibung des Berg-Berichts war betitelt: Sub-Saharan Africa. Progress report on development prospects and programs, Washington 1983.

  12. Toward sustained development (Anm. 12), S. 10.

  13. Michael J. Schultheis, The World Bank and Accelerated Development. The internationalization of supplyside economics, in: African Studies Review (Los Angeles), 27 (1984) 4, S. 10; diese Zeitschrift ist Organ der African Studies Association der USA. Die zitierte Ausgabe enthält eine Aufsatz-Serie zur Weltbank-Strategie.

  14. Goran Hyden, No Shortcuts to Progress, London 1983, S. 196.

  15. Julius K. Nyerere, Speech at the Friedrich-Ebert-Foundation, Bonn 21st May, 1985, Bonn 1985, S. 12 f.

  16. Vgl. Samir Amin, Le Developpement inegal, Paris 1973 (deutsch Hamburg 1976), als immer noch eindringlichste afrikabezogene Präsentation der Abhängigkeits-Theorien.

  17. Goran Hyden, Beyond Ujamaa (Anm. 7), S. 19.

  18. A. G. Hopkins, An Economic History of West Africa, London 1973, S. 138. Vgl. Alexander D. Nzemeke, British Imperialism and African Response, Paderborn 1982.

  19. Lloyd Timberlake, Africa in Crisis, London-Washington 1985, S. 5.

  20. Afrikanische Strategie-Dokumente befleißigen sich dieser Pseudo-Höflichkeit ebenfalls: siehe die dürftigen Aussagen zur Politik in UN Economic Commission for Africa — ECA — (Hrsg.), ECA and Africa’s Development 1983— 2008, Addis Abeba 1983, S. 97 (2 Zeilen in einem Band von 103 S.)

  21. Julius K. Nyerere, Democracy and the Party System, Dar Es Salaam 1963.

  22. Robert H. Jackson /Carl G. Rosberg, Personal Rule in Black Africa, Berkeley 1982 (Zitate S. 77— 80).

  23. Frantz Fanon, Les Damnes de la Terre, Paris 1961, S. 113 ff.

  24. Issa G. Shivji, dass Struggles in Tanzania, London 1976, S. 63 ff. — Für eine differenzierte Einschätzung der afrikanischen Staatsklassen vgl. die Schriften von Hartmut Elsenhans, zuletzt: Nord-Süd-Beziehungen, Stuttgart 1984, S. 63 ff.

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