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„Liebt, was Euch kaputtmacht!“ Intimität und Identität — „postmoderne“ Tendenzen in der Jugendkultur | APuZ 40-41/1986 | bpb.de

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APuZ 40-41/1986 „Liebt, was Euch kaputtmacht!“ Intimität und Identität — „postmoderne“ Tendenzen in der Jugendkultur Im Sternzeichen des Minirocks Reminiszenzen an die Kultur der sechziger Jahre „Lieber rückwärts aus dem Intershop als vorwärts zum nächsten Parteitag“ Bemerkungen zum DDR-Jugendjargon Artikel 1

„Liebt, was Euch kaputtmacht!“ Intimität und Identität — „postmoderne“ Tendenzen in der Jugendkultur

Bernd Guggenberger

/ 48 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die öffentliche Entblößungsbereitschaft wie die Kommunikationsbereitschaft über Höchstpersönliches sind für den sozialwissenschaftlichen Zeitbeobachter ein ebenso aufregendes wie ergiebiges Feld, weil er es hierbei mit einem Schlüsselproblem der Soziologie und Sozialpsychologie zu tun hat: der Frage nach der uns bekömmlichen Nähe bzw. Distanz zu den anderen. Intimität läßt sich nicht auf die Bühne der Öffentlichkeit verpflanzen, ohne daß beide Schaden nehmen: Intimität und Öffentlichkeit. Allen nah ist niemand nah. „Toleranz“ bringt sich als amorphes „anything goes“ selbst um ihren aufklärerischen, emanzipatorischen Sinn, schlimmer noch: Sie verweigert sozialen Sinn und soziale Zurechenbarkeit überhaupt. Eine willkürliche Vielzahl sozialer Nähebeziehungen geht zwangsläufig auf Kosten der Intensität und Gültigkeit der je einzelnen. Es ist gerade das Gefühl für die sozialen Distanzen, welches uns das intensive Erlebnis von Nähe erst ermöglicht. Vielleicht einer der tiefgreifendsten und folgenreichsten Wandlungsprozesse ist jener, in welchem das lebensprägende Großereignis Liebe durch flexiblere und/oder flüchtigere Intimprogramme ersetzt wird. Wo einst Liebe (gefragt) war, behilft man sich heute mit Zweckbündnissen und Zufallsarrangements. Kann es uns kalt lassen, wenn die Liebe erkaltet? Schwinden mit der Liebe nicht auch Tradierungswillen und Zukunftsbereitschaft der Gesellschaft im ganzen? Schon die 68er-Bewegung versuchte sich mit aller Konsequenz an der Liquidation des Privatlebens und der Kollektivierung und Politisierung der Intimität. Erst im politischen und moralischen, im ethischen und ästhetischen Relativismus unserer Tage, erst im Kult gestylter Standpunktlosigkeit und in den inflationierenden Bekenntnissen einer demonstrativen Unvernunft wird sichtbar, daß sich im psychologischen Horizont der so entschiedenen und engagierten sechziger Jahre ein Potential des Trivialen und massenhaft Beliebigen aufgebaut hat, welches selbst noch die ideologischen Eindeutigkeiten und moralischen Distinktionen von gestern zu Inkubationserscheinungen der „neuen Gleichgültigkeit“ zurückstuft. „Postmodern“ — das ist vor allem die Revolte wider die Rezeptphilosophien der sechziger und siebziger Jahre nach dem Motto: lieber ratlos aber frei als aufgeklärt und mit unglücklichem Bewußtsein.

„Die Jugend“ — erkenntnisleitende Vorurteile

Drei Erkenntnisabsichten und erkenntnisleitende „Vorurteile“ lassen sich gegenwärtig in der Jugendforschung deutlich voneinander unterscheiden: Affirmation, Abwiegelung, Anklage. In den „affirmativen“ Analysen und Deutungen werden Befunde vorgetragen, welche die produktive „Andersheit“ der Jugend betonen und ihr das Recht, gelegentlich gar die moralische Pflicht zur Abweichung attestieren; in den „abwiegelnden“ Untersuchungen wird die Jugend gleichsam vor sich selbst in Schutz genommen: Sie sei besser (sprich: leistungs-und anpassungsbereiter) als ihr Ruf! Postmaterialismus, Leistungsverweigerung, Staatsverdrossenheit — alles nur intellektuelle Schreibtischuntaten schlaffer und frustrierter akademischer „Europessimisten“.

In der jugendkritischen Variante der „Anklage“ dagegen wird die Jugend, meist mit reichlich Pioniergeistbeschwörung und Per-aspera-adastra-Pathos („Mühen und Härte statt Wühlen bei Hertie"), vor’s Erwachsenentribunal gestellt und nicht selten kräftig dafür gerüffelt, daß es ihr bei der Übernahme des Staffelholzes an der allfälligen Begeisterung, der nötigen Disziplin und dem erforderlichen Leistungswillen mangele.

Im folgenden geht es um zweierlei nicht: Erstens, es geht nicht um den reizvollen Versuch, die Entwicklung von der „skeptischen“ über die „engagierte“ zur „traurigen“ Generation samt der aktuellen „postmodernen“ Wellen zynisch-abgeklärter Ratlosigkeit in ihrer immanenten Psycho-Logik nachzuzeichnen, — obgleich hierzu Gesichtspunkte vorgetragen und Argumentationslinien skizziert werden; zweitens, es geht nicht um den Versuch einer geschlossenen Darstellung der Jugend der achtziger Jahre, obwohl einige kräftige Striche eines solchen Porträts gezogen werden sollen.

Dem Verdacht einer nur aufmerksamkeitszyklischen Jugendbeschäftigung entgeht man am ehesten, wenn man sich über grundlegende, für die gesamte Gesellschaft bedeutsame Fragen und Themen den spezifischen Entwicklungen in der Jugendszene nähert und sich mit ihnen auseinandersetzt. Ohne Rückbeziehung auf den Problem-haushalt der Gesamtgesellschaft hängen jugend-politischeThesen und Deutungen in der Luft. Dies nicht nur, weil „die Jugend“ ohnehin nur ein Deutungs-und Verständigungskonstrukt darstellt, sondern vor allem, weil alles, was man zur Jugend sagt, seine Bedeutungs-und Zuordnungsfähigkeit erst im erweiterten, generationen-und themenübergreifenden Betrachtungshorizont erlangt.

Es geht also um ein Stück allgemeiner und eben deshalb notwendig fragmentarischer Zeitbeobachtung, bei welcher allerdings die Jugend als Rekrutierungspotential wie als Drehscheibe des Neuen eine besondere Rolle spielt. Die allenthalben beobachtbare Zunahme an „situativer“ Intim-(bekenntnis) bereitschaft wie an „demonstrativer“ öffentlicher Nacktheit beispielsweise (auf die im folgenden zunächst eingegangen wird) repräsentieren gewiß längst nicht nur mehr ein im engeren Sinn generationstypisches Verhalten. Doch beide haben in der Jugendszene ihre spezifische Ausprägung erfahren; und für beide wurden hier bezeichnende ideologische Deutungen und Begründungen geliefert.

Vieles von dem, was an den aktuellen, häufig mit dem Sammeletikett des „Postmodernen“ bezeichneten Tendenzen in der Jugendszene so irritierend wirkt, nimmt von hier seinen Ausgang. Erst in der gegenwärtig zu beobachtenden Zuspitzung und Radikalisierung bestimmter Entwicklungen, in der Absage an Konsistenz und Kontinuität, an Wahrheit und Widerspruchsfreiheit, erst im politischen und moralischen, im ethischen und ästhetischen Relativismus, erst im schrillen Kult gestylter Standpunktlosigkeit und in den inflationierenden Bekenntnissen einer demonstrativen Unvernunft wird sichtbar, daß sich im psychologischen Horizont der so entschiedenen und engagierten sechziger Jahre ein Potential des Trivialen und massenhaft Beliebigen aufgebaut hat, welches selbst noch die ideologischen Eindeutigkeiten und moralischen Distinktionen von gestern zu Inkubationserscheinungen der neuen Gleichgültigkeit unserer Tage zurückstuft.

Der postmoderne Supermarkt der Ideen und Ideologien, der Motive und Meinungen, der in den abschließenden Kapiteln beleuchtet werden soll, verdient als Zeitsignatur unser Interesse vor allem deshalb, weil er sich nicht in Gegensatz zur herrschenden Wirklichkeit setzt, sondern sich in wesentlicher Übereinstimmung mit ihr, gleichsam als szeneneigene Komplementärstruktur, Geltung verschafft.

Nähe und Distanz — die Gefährdung des privaten Raumes

Die öffentliche Entblößungsbereitschaft wie die Kommunikationsbereitschaft über Höchstpersönliches sind für den sozialwissenschaftlichen Zeit-beobachter ein ebenso aufregendes wie ergiebiges Feld, weil er es hierbei im Kern mit einem Schlüsselproblem der Soziologie und Sozialpsychologie zu tun hat: der Frage nach der uns bekömmlichen Nähe bzw. Distanz zu den anderen.

Von Schopenhauer haben wir die kleine Geschichte von den Stachelschweinen, die sich im Winter auf der Flucht vor der Kälte in ihre Höhle zurückziehen und dort eine doppelte Erfahrung machen: Wenn sie sich zu weit voneinander entfernt niederlassen, frieren sie, drohen gar im Schlaf zu erfrieren; wenn sie sich aber zu dicht aneinanderschmiegen, verletzen sie sich gegenseitig böse mit ihren Stacheln. Es geht also um den richtigen Abstand zum anderen. Es geht um die richtige Mischung von Nähe und Distanz. Wieviel Nähe ertragen, wieviel Distanz brauchen wir? An welchen Orten und in welchen Situationen führen wir eine „öffentliche Existenz“, und wo ist privates, intimes Verhalten am Platz?

Das Bewußtsein für Wert und Sinn tradierter Grenzen zwischen privater und öffentlicher Sphäre schwindet. In der Veröffentlichung des Privaten einerseits und in der Privatisierung des Öffentlichen andererseits verflüchtigt sich beides: das Private ebenso wie das Öffentliche. Die Spuren einer „Privatisierung des Politischen“ finden wir überall: in einer mit persönlichen Rauchzeichen durchsetzten Sprache ebenso wie beispielsweise in der grünen Parteitagsaura, die stets irgendwo zwischen Feldküche und Familientreffen oszilliert.

In Wahrheit ist es dramatischer, als Richard Sennett annimmt: Wir haben nicht nur den „Fall of Public Man“, den „Verfall der Öffentlichkeit“ und die „Tyrannei der Intimität“, zu beklagen; noch mehr erfordert vielleicht die reziproke, keineswegs jedoch weniger bedenkliche Gefahr unsere Aufmerksamkeit: die Erosion des Privaten, die Bedrohung des gehegten, geschützten privaten Raumes. Im Gegensatz zur Existenz des Öffentlichen neigen wir dazu, die Existenz des Privaten als etwas Selbstverständliches mißzuverstehen. Dies ist ein gefährliches Mißverständnis: Daß Menschen über eine geschützte Privatsphäre verfügen, ist eine historisch vergleichsweise späte Kulturerrungenschaft. Der private Raum gehört keineswegs zum epochenübergreifenden soziopsychischen Standardinventar des Menschen. Er ist eine „Erfindung“ des siebzehnten Jahrhunderts, um deren Existenz und Bestand in den Folgejahrhunderten lange und blutig gerungen wurde. Und er ist eine wahrhaft epochale Errungenschaft, gewiß nicht weniger bedeutsam als die Errungenschaft der politischen Demokratie und des modernen Verfassungsstaates.

Die 68er-Bewegung, allen voran die Kommune-protagonisten in Berlin, Köln und München, versuchte sich mit aller Konsequenz an der Liquidation des Privatlebens und der Kollektivierung und Politisierung der Intimität. Die harte Schale paarlicher Monadisierung sollte mit dem Brecheisen der gleichen Nicht-Distanz zu allen aufgebrochen werden: mit jedem schlafen zu können, sich vor allen nackt zeigen zu können, uneingeschränkt aufrichtig zu sein und mitteilungsbereit, alles beim Namen zu nennen, nur ja nichts für sich zu behalten oder gar zu verdrängen. Offensichtlich ist, daß es „Grenzen der Gemeinschaft“ (Helmut Plessner) gibt, einen Grad gemeinschaftlicher Wärmeentfaltung, der die Grenzen humaner Zuträglichkeit sprengt. Der größte Feind des Guten ist des Guten zuviel: Wärme ist gut, aber an zuviel Wärme verbrennen wir uns. Gemeinschaft ist gut, aber zuviel Gemeinschaft erstickt die Freiheit.

Unsere soziale Engeempfindlichkeit und unser Distanzbedürfnis beziehen sich nicht nur auf die rein räumliche Dimension: Wir haben auch ein akustisches und visuelles, ein -psychologisches und ein ästhetisches Distanzbedürfnis. Es ist ebenso legitim, sich vor einem Übermaß an Häßlichkeit zu schützen, wie optische und akustische Belästigungen abzuwehren und vor aufgenötigten Gesprächs-und Geständnisvertraulichkeiten auf Distanz zu gehen.

Demonstrative Nacktbereitschaft

Bedeutet nun die Zunahme an demonstrativer Nacktbereitschaft eine Art überfälliger affektiver Instandbesetzung unserer kaputten Körpermoral, oder ist mit der wachsenden Bereitschaft zur massenhaften öffentlichen Selbstentblößung die erotische „Verhausschweinung" (Konrad Lorenz) des Menschen angesagt — also die fatale Gefühls-gewöhnung an’s eigentlich Unangemessene?

Die Mode von der Isarmetropole, wo sich vor fünf Jahren die ersten Unbekleideten auf öffentlichen Liegewiesen und Grünanlagen tummelten, hat die ganze Republik erobert. Von Flensburg bis Friedrichshafen frönt man kollektiver Schau-und Zeigelust.

Auch die Leinwand bleibt im allgemeinen Enthüllungswettlauf nichts schuldig an Einblicken, die der Phantasie nichts mehr zu bebildern lassen. Nimmt man das, was zur ganz normalen Sendezeit über den Bildschirm eines ganz normalen Haushalts flimmert, als Maßstab, so könnte dies den Ärgernisgebern von gestern und vorgestern — der „Sünderin“ Hildegard Knef etwa oder Ingmar Bergman mit seinem „Schweigen“ — regelrecht die Schamröte ins Antlitz treiben. Vorbei die Zeiten, da sich in freiwilliger Selbstbeschränkung züchtige Leinwandidole vom Schlage einer Ruth Leuwerik oder einer Sonja Ziemann auf Illustriertenfotos allzu offenherzig geratene Dekolletes durch nachträgliche Retusche „hochschnüren“ ließen.

Auch an der Absatzfront dominieren konkurrenzlos die „Waffen der Frau“: Mit nahezu jedem beliebigen Produkt wird der unverhüllte Frauenkörper kombiniert: Vom Regenreifen bis zum Sonnenschutz, von der Stereoanlage bis zum Mandel-likör, vom Hamburger bis zu Leichtzigarette baut man auf die durchschlagende Wirkung langer Beine und blanker Brüste.

Nacktheit erscheint als eine heuristische Chiffre, von der her sich eine Fülle höchst aufschlußreicher gesellschaftlicher Einsichten ableiten. Überall stoßen wir auf das Motiv einer forcierten Enttabuisierung des Privaten, auf eine neue „kollektive“ Schau-und Zeigelust. Dies reicht von der gläsernen Sichtbarkeitsarchitektur über die Renaissance quasi-archaischer Verzehrgewohnheiten in der Fast-food-Unkultur bis hin zu den säkularisierten Populärversionen der christlichen Beichte in den „Talk-shows“ und den „Exclusivinterviews“ der Massenpresse. Am verblüffendsten aber sind die zeitlichen und formalen Übereinstimmungen zwischen seelischer und körperlicher Offenbarungsbereitschaft.

Die emphatische Nacktheit ist die körperliche Entsprechung der allgemeinen Selbstthematisierung. Beide Male geht es darum, sich nicht einfach mit dem zufrieden zu geben, was ist. Seele und Körper werden als plastisch begriffen, formbar, beeinflußbar. Man kann „an sich arbeiten“, innen wie außen. Jeder sein eigener Freud, jeder sein eigener Michelangelo!

Die Kraft zum „Nein“ und die Ich-Stärke, die mir abgehen, kann ich mir antrainieren wie die fehlenden Bauch-und Wadenmuskeln. Der strapaziösen und gelegentlich ruinösen psychischen Aufbauarbeit der Selbstfindung und Selbstverwirklichung entspricht die bänder-und gelenkbelastende freiwillige Selbstfolterung in der „Eisernen Jungfrau“ des Bodybuilding-Centers.

Sichtbarkeit und Isolation

Viele Erscheinungen unserer modernen Alltags-welt sind durch eine höchst merkwürdige Widersprüchlichkeit charakterisiert: durch die Dialektik von Sichtbarkeit und Isolation (Richard Sennett). Eine solche Interpretation muß zunächst verwundern: Wie kann ich von etwas, das ich sehe, isoliert sein? Und doch ist es so. Am eindeutigsten vielleicht beim Fernsehen. Vom Sehen kennen wir sie alle: Björn Borg und Grit Böttcher, Loriot und Graf Lambsdorff. Doch haben wir sie je beim Einkäufen getroffen? Oder denken wir an die Isolation im Großraumbüro trotz allgemeiner Sichtbarkeit, die Isolation in Mensa und Kantine: Je größer der Raum, um so kleiner die Kommunikationschance; denken wir an die sinnenüberwältigenden Warenangebote der großen Einkaufszentren, die uns mit ihrem „Kauf-mich!“ und „Nimm-mich!" traktieren. Alles zum Greifen nah und doch uneinholbar fern — mindestens wenn das Kleingeld fehlt.

In den gläsernen Büropalästen unserer , Cities‘ sieht man von drinnen, wer und was außen vorgeht, kann selbst meist auch gesehen werden, und dennoch: Gibt es etwas Trennenderes als eine „Trennscheibe“? Gibt es etwas „Trennenderes“ als die massenhafte Nacktheit an manchen Stränden: angestrengtes Weggucken, Erektionsangst, Berührungspeinlichkeit zu Wasser und zu Lande, allgemeine Anfangsbangigkeit beim Ansprechen, allgemeiner Argwohn beim Angesprochen-Werden? Die Nacktangst der Nackten wirkt geradezu als Faraday’scher Käfig wider allzu forsche Annä5 herungsversuche. Noch hat wohl kein Sozialwissenschaftler nachgemessen, doch will es scheinen, als seien die Liegeabstände an Nacktstränden deutlich größer, oder umgekehrt: als sei der allgemeine Raumbedarf dort geringer, wo Slip und Tanga der Phantasie noch Raum lassen.

Auch hier die Dialektik von Sichtbarkeit und Isolation, auch hier nur illusionäre Teilhabe. Die Welt als Schaufenster unserer Wünsche und Sehnsüchte, aber gerade als Schau-Fenster eine unüberwindliche Lebens-und Erlebensbarriere, eine Welt, in der stets alles hautnah fremd bleibt.

Es ist kein Zufall, daß sich im Augenblick in solchem Maße die emanzipatorischen Hoffnungen auf den Körper konzentrieren. Obgleich Ausgangs-und Endpunkt aller menschlichen Selbst-und Welterfahrung, hat er über die Jahrhunderte hinweg stets eine höchst prekäre Existenz gefristet, wurde verdammt und verklärt, gepriesen und geschlagen, geachtet und geächtet. Der Körper, das war immer auch die Maschine der Arbeit, Körperfron war Körperlos. Die „Arbeit des Körpers“ wie „das Werk der Hände” oblag den niederen Schichten, den höheren blieben die „höheren“ Tätigkeiten vorbehalten. Klassenherrschaft stabilisierte sich oft in ausgedehnter Körperfeindschaft, die meist auch von jenen geteilt wurde, die außer dem „leiblichen Selbst“ nichts einzubringen hatten.

Wenn wir heute eine allgemeine Aufwertung des Körpers, ein neues Bewußtsein seines spezifischen Erfahrungsbeitrags, seiner besonderen Bedürfnisse und Erlebnisqualitäten zu erkennen glauben, so ist hierin vor allem, nicht aber allein schon in forcierter und demonstrativer Nacktheit, ein Fortschritt zu erblicken.

Natürlich = gut?

Die demonstrative Nacktheit heute sagt der Heuchelei den Kampf an. Sie beruft sich auf das Recht des Natürlichen und Unmittelbaren, auf das Wahre und Wirkliche. Der Hinweis, etwas sei mit der Natur in Einklang, ergebe sich unmittelbar aus ihren Zusammenhängen oder Gesetzmäßigkeiten, scheint Grund genug, es für hinreichend gerechtfertigt zu halten. „Natürlich" ist zu einem allgegenwärtigen schmückenden Prestigewort geworden — ebenso universal wie nichtssagend. In vielen Begriffskombinationen scheint „natürlich“ in die Leerstelle des einstigen semantischen Plausibilitätsgaranten „wissenschaftlich“ eingerückt zu sein. Dies wäre im Zeichen schwindender Wissenschaftsgläubigkeit gewiß nicht verwunderlich. Wenn wir einen Kater betrachten oder eine Schildkröte, haben wir da eigentlich das Gefühl, daß diese beiden doch weitgehend naturbelassenen Kreaturen in unserem Blickfeld „nackt“ sind? Doch sei’s drum! Auch wenn sie’s wären, was besagte das schon? Nirgendwo akzeptieren wir „Natur“ als das letzte Wort in der Sache — weder wenn wir Blitzableiter bauen, noch wenn wir unseren Bandwürmern zuleibe rücken! Und das ist gut so! Weder ist Natur immer schön, noch ist sie „gut“ und dem Menschen immer wohlgesonnen. Vielmehr müssen wir uns in ihr und oft genug auch gegen sie behaupten.

Daß wir uns in der Bekleidung also von der Natur entfernen, besagt wenig. Das tun wir auch, wenn wir eine Kathedrale bauen, in die Eisdiele gehen oder Shakespeare lesen. Natürlichkeit an sich ist kein Wert, ist weder gut noch schlecht. Ein prinzipienfanatischer Naturpurismus hat mit aufgeklärtem Menschentum so viel zu tun wie der Club mediterrane mit der Platonischen Akademie. „Nackt“ ist mehr als nur unbekleidet. Der unbekleidete Körper ist noch nicht die nackte Wahrheit! Wir, die wir gleich tonnenweise die Äpfel vom Baume der Erkenntnis gepflückt haben, sind allenfalls zu anzüglichem Ausgezogen-sein, nicht mehr aber zur Unschuld einer beseelten Nacktheit fähig, die in sich ruht und es nicht nötig hat, sich exhibitionistisch zu inszenieren. Unsere „Nacktheit“ paktiert, offen oder heimlich, mit dem Voyeur. Sie zeigt und will gesehen werden. Natürliche Nacktheit ist nicht rückholbar. Zwischen Naturnacktheit und Kulturnacktheit gibt es, allem naturseligen Nackttümeln zum Trotz, keine Brücke. Was uns Salonethnographen wie von Reitzenstein und Stratz an nackten Weibs-Bildern von den „Naturvölkern“ liefern, gleicht in der Tat ungeschliffenen Rohdiamanten einer uns für immer verschlossenen Welt der exotischen Nacktheit, die unter den Augen und Händen des knipsenden Kolonialisten zerbrechen.

Ein Volk von Schlüssellochguckern und Plattnasen

Es fällt schwer, zu glauben, daß auf dem Felde der öffentlichen Hüllenlosigkeit heute noch kriegsentscheidende Schlachten der Emanzipation geschla-gen werden. Wie in anderen Streitfeldem, so ist auch hier der freiwillige Massenandrang der „Revolutionäre“ eher ein Zeichen dafür, daß die Revolutionskarawane längst weitergezogen ist.

Die Nachhutgefechte an der Nacktfront verdekken nur, daß es längst die ebenso heimliche wie im Effekt „staatstragende“ Übereinkunft zwischen der Provokation körperbewußter „Kulturrevolutionäre“ hie und der moralischen Bürger-Empörung da gibt. Die Bildzeitung schafft diese system-funktionale coincidentia oppositorum gar blattintern und in ein und derselben Nummer, wenn sie auf Seite eins der krachledernen Suada des gesunden Volksempfindens wider die Isar-Nackedeis die Fettzeilen leiht und auf Seite fünf das hauseigene Fleisch hüllenloser Schöner auf den Bedürfnismarkt treibt.

Bedürfnismanipulation und Staatsräson — welch altvertraute Weise! Die großen emanzipatorischen Hoffnungen, die sich mit dem Sieg über die Nacktscham verbinden, sind leerer Wahn. Statt panem et circenses — Baguette und Telespiele! Mag’s, wer kann, als Fortschritt buchen! Und noch ein Fortschritt: Wir sind immer dabei. Wir sind dabei, wenn J. R. über die eigene Schwägerin herfällt, und wir begleiten Marianne Koch, wenn sie, „Paar um Paar“, unter psychoprofessioneller Fachaufsicht öffentliche Eheschlammschlachten einläutet. Warum lange drumherumreden? Wir sind ein Volk von notorischen Schlüssellochgukkern. Wenn uns ein bekannter Karikaturist immer als Plattnasen porträtiert, weiß er vermutlich gar nicht, wie nah dies der Realität kommt!

Was am offensichtlichsten ist, unterläuft unsere Wahrnehmung zugleich am beständigsten. Und so sehen wir nicht, was doch ins Auge springt: Wir sind zu einer Nation medienversorgter Fern-Voyeure geworden, allesamt und ausnahmslos, oben und unten, mit Bildung und ohne. Die massenhafte Neigung zur öffentlichen Selbstentblößung ist das psycho-logische Pendant massenhafter Schausüchtigkeit.

Eine der problematischsten Folgen vermehrten Fernsehkonsums ist die gesellschaftsweite Um-orientierung aufs Unwirkliche, die massenhafte Vorliebe fürs Vorgebliche, die allgegenwärtige Sympathie für die Simulation, das notorische „Sotun-als-Ob". Der Bildschirm fungiert als BildSchirm wider die Regenschauer einer wetterwenderischen Wirklichkeit. Nicht genug, daß uns die Mattscheibe nicht munter macht, wir nutzen sie, wo immer wir uns ausschließlich augenlüstern auf die Welt einlassen, geradezu zielstrebig als Realitätspräservativ zur Verhinderung von Lebenszwischenfällen.

Fernsehen entfremdet dem Leben, einmal, indem es ihm, neben vitalen Energien, den unentbehrlichen Rohstoff Zeit entzieht; zum anderen aber, indem es uns die „petites differences“ zwischen Leben und Imagination immer wieder vergessen läßt. Wir gehen also nicht nur deshalb weniger im Wald spazieren, weil uns das Fernsehen als der dreisteste aller modernen Zeitdiebe hierfür keinen Spielraum mehr läßt; wir halten diesen Gang obendrein vielleicht gar für überflüssig, weil uns das Fernsehen ja selbst immer wieder auf Wiesen und in Wälder entführt.

Es ist zu vermuten, daß viele von uns mittlerweile bereits eine ganze Reihe von Bedürfnissen „kompensatorisch“ via Bildschirm befriedigen. Das Spektrum imaginierter Teilhabe reicht vom Abenteuer über sportliche Aktivitäten und „starke“ Gefühle bis zur Natur: Vom Sonnenuntergang bis zu schönen Frauenbeinen, vom spektakulären Frontalzusammenstoß bis zum Kamelritt in der Wüste, vom Flirt bis zur Naturkatastrophe ersetzt das Fernsehen unvollkommene Schwarz-Weiß-Wirklichkeit durch grellbunte Imagination. Das schweißtreibende Realerleben erscheint als überflüssig, wenn nicht gar als minderwertig aus Prinzip. Und darüber vergessen wir vollständig, immer wieder zu prüfen, ob wir sie denn wirklich brauchen: die Bilder von der „Hochzeit des Jahres“; all den kurzlebigen Informationsmüll, der zwischen Becker und Becquerel noch rasch ins Nachrichtenloch gestopft wird.

Nähe-Illusionen

Diese Erfahrung schürt auch den Zweifel an der emanzipatorischen Qualität des entblößten Körpers. Nackt allein macht nicht glücklich: Außerhalb der intimen Zweisamkeit, so steht zu vermuten, nährt Nacktheit nur die Illusion von Nähe; öffentliche Nacktheit auf der Liegewiese im Park oder am Strand wärmt uns weder die Seele noch die Haut. Schlimmstenfalls fördert sie gar die Bildung von Hornhaut auf der Seele.

Intimität läßt sich nicht auf die Bühne der Öffentlichkeit verpflanzen, ohne daß beide Schaden nehmen: Intimität und Öffentlichkeit. Nicht umsonst warnte der gewiß nicht prüde Herbert Marcuse seinerzeit die 68er-Bewegung vor Gefühlsvandalismus und erotischer Bilderstürmerei. In den ideologischen Roßkuren eines zwanghaften Ent-Schämens durch demonstrative Promiskuität und unterschiedslose Nacktheit der Sprache wie des Körpers sah er bedenkliche Anzeichen der Selbstunterdrückung und seelischen Verrohung („repressive Entsublimierung").

Wer die rüde Reduktion aller Körperbedürfnisse auf ihren animalischen Kern mit Emanzipation verwechselt, weiß nichts von der Möglichkeit affektiver Bereicherung durch ein ausdifferenziertes Scham-und Verhüllungsrepertoire. Niemand käme auf die Idee, das Verschlingen rohen Fleisches zur kulinarischen Befreiungstat zu adeln. Warum tun wir uns so schwer damit, unsere erotisch-affektiven Kulturleistungen zu erkennen und anzuerkennen?

Auch wenn jeder jeden unbekleidet sieht, sieht keiner einen wirklich nackt! Wenn die „Uniform des lieben Gottes“ zur kollektiven Freizeitkluft avanciert, so ist dies ein problematischer Zuwachs an Freiheit. Gewiß, solcherart uniformiert kann man den General nicht mehr ohne weiteres vom Gasmann unterscheiden. Das soziale Differenzierungswerk des „Kleider-machen-Leute“ wird durch unterschiedslose Nacktheit durchkreuzt. Ist Nacktheit also, weil in der Tendenz sozial egalisierend, demokratischer als der Zustand allgemeiner Zugeknöpftheit?

Nein, es ist zu fürchten, daß das Hadern mit Göttern und Genen nun erst richtig losgeht — mindestens aber das erbarmungslose Hantieren mit der Hantel! Denn über der Idylle der nackten Gleichheit schwebt der Pulverdampf nicht immer sanfter sozialdarwinistischer Nötigung. Nicht nur Kleider, auch Körper machen Leute! Nacktheit bedeutet immer auch die Privilegierung des schönen, jugendlichen Körpers. Nacktheit im Park oder in den Strandcafes schafft eine gnadenlose Musterungssituation und steigert die soziale Randständigkeit körperlich benachteiligter Menschen: der Dicken und der allzu Dünnen, der Unförmigen und Behinderten.

Vergessen wir also nicht, daß nicht nur das Recht des Unmittelbaren uns die Freiheit bringt. Es gibt auch ein „Menschenrecht“ auf Tönung und Schönung! Nicht nur Ausziehen, auch Anziehen bietet Freiheits-und Verwirklichungschancen!

Unsere Phantasie entzündet sich am Unsichtbaren, am Erahnten mehr denn am Geschauten. Nackte Tatsachen sind noch längst nicht die ganze Wahrheit! Was gibt es Erotischeres als aufrechte Prüderie? Die Erotik gehört wohl zu jenen höchst zerbrechlichen kulturellen Kostbarkeiten, die erst durch Widerstand und Verbot konstituiert werden. In Wahrheit ist die Kanzel der heimliche Verbündete der Erotik.

Niemand hat dies besser begriffen als die schein-biederen Miederwarenhersteller des züchtigen Anfangsjahrzehnts unserer Republik. Wer war je einfallsreicher im Ersinnen immer neuer lust-und phantasiestimulierender textiler Hemmnisse? Wer hat je das erotische Einmaleins des Noch-Nicht und Doch-Schon so erbarmungslos professionell heruntergespult wie jene wahren Virtuosen prüdraffinierter Verhüllungskunst mit ihren Naht-strümpfen und siebenfach gestuften Petticoats, mit ihren unsäglich komplizierten Schnür-und Schließcorsellets, ihren variantenreichen Hüftund Büstenhaltern, Sport-und Gummischlüpfern: knapp-und hochtailliert, mit velourunterlegtem Hakenband und verstellbarem Seitverschluß, mit Schaumstoffeinlage, Drahtbügelversteifung und Stahleinlage in der Magenpartie?

Die allgegenwärtige Hüllenlosigkeit hat kaum noch erotische Bedeutung; wie das Jedermanns-Duzen, die allgemeine Intim-Bekenntnisseligkeit, die unterschiedslose Freundlichkeit, das Küßchen hie und da löst sie, durch Überdehnung, die Erotik auf. Allen nah ist niemand nah. Es ist die alte Erfahrung mit der „Toleranz“, die sich als amorphes „anything goes“ selbst um ihren aufklärerischen, emanzipatorischen Sinn bringt, schlimmer noch: sozialen Sinn und soziale Zurechenbarkeit überhaupt verweigert und verwehrt.

Neuer Subjektivismus

Ist eine Zeitsignatur wirklich allgemein, dann muß sie auch in allem aufscheinen. In der Tat stoßen wir auf die Spuren des neuen radikalen „Subjektivismus“ überall: in der Lyrik und in der Musik, in der Philosophie und der Wissenschaftstheorie, in der Architektur und der politischen Willensbildung, in der neuen Religiosität und in der gewandelten Einstellung zur Arbeit. Überall wird ein Stück Wirklichkeit flüchtig, schleicht sich aus unseren eingeschliffenen Wahrnehmungsund Analyserastern davon, entzieht sich herkömmlicher Kategorisierung und Etikettierung.

Wir sind Zeugen, ja vielfach freiwillig-unfreiwillig Mitakteure eines tiefgreifenden Wandlungsprozesses, in welchem das lebensprägende Groß-ereignis Liebe durch flexiblere und/oder flüchtigere Intimprogramme ersetzt wird. Wo einst Liebe (gefragt) war, behilft man sich heute mit Zweck-bündnissen und Zufallsarrangements. Partnerschaftlich organisierte (Dauer-) Beziehungen und neuerdings verstärkt auch situative Spontanintimität — dies sind die „Mühlsteine“, zwischen denen jenes „größte aller Abenteuer“, die Liebe, zerrieben wird. Seit der Romantik ist die psychosoziale Verbindlichkeit dieses Programmes kontinuierlich geschwunden. Warum ist uns „Glücklich-Sein“ ein unerfüllbares Programm geworden? Eine Aufgegebenheit, deren Anruf wir kaum noch vernehmen? Das Zeitalter des vorwärtsstürmenden Fortschritts ist vorerst mehr das Zeitalter der Psychosen und Neurosen denn der Gefühlsverheißungen und Glücksversprechungen. Am schnoddrig-coolen Neuzynismus der No-future-Generation läßt sich, wohl eher ungewollt, ablesen, welche Wunden die Desillusionierung der einst so tröstlichen Giücksversprechen der Aufklärung hinterließ: „Angst allein macht auch nicht glücklich“ verkündet uns ein Graffiti am Otto-Suhr-Institut in Berlin.

Beziehungsprobleme

„Beziehung“ und „Beziehungsprobleme“ sind auf der Karriereleiter alltagssprachlicher Wortverwendungshäufigkeit ganz weit oben zu finden. Was hat das zu bedeuten? Was hat es zu bedeuten, daß man sich nicht schlicht mag oder gar liebt, sich trifft, zusammen in den Urlaub fährt oder Tennis spielt, miteinander schläft oder zusammen lebt, sondern eine „Beziehung“ hat; daß man sich nicht wechselseitig quält, beleidigt, belauert, beschimpft, hintergeht, wütend ist aufeinander, traurig, verstört und verängstigt ist wegen des anderen, sondern daß man „Beziehungsprobleme“ hat? Bewegt sich, wer so spricht, nur im Zeitgeist-geleise verkürzender Sprachbahnung, benutzt, wer „Beziehung“ sagt, nur die mundfaule Abkürzung via Einheitsterminologie?

Gewiß auch. Doch bleibt eine solche Deutung an der Oberfläche. Mehr und anderes klingt an: Wer eine „Beziehung“ hat, hat gewiß nicht die erste — und weiß auch schon, daß die gegenwärtige nicht ewig dauern wird. Wer eine „Beziehung“ hat, pflegt routinierte Distanz zu den eigenen Illusionen. Kann aber, was dem Bundesligaprofi noch mit Fug recht sein mag, dem Beziehungsprofi einfach billig sein? Diese wohltemperierte Äquidistanz der Gefühle, diese bemühte Selbstneutralisierung: als spräche man über einen Dritten, diese angestrengte Leidenschaftslosigkeit — sind sie nicht wenig frommer Selbstbetrug? Und wo nicht — wieweit sind sie noch weg von der Langeweile, wieweit entfernt noch von der emotionalen Unerheblichkeit? Wer sich illusionsfest hinter „Beziehungen“ verschanzt, scheint nicht mehr vom „Hunger nach starken Gefühlen“ getrieben, jedenfalls aber nicht bereit, sich ihnen ohne Netz und doppelten Boden auszusetzen. Daß sie denn auch dem Märchen-prinzen den (Buchtitel-) Tod aufs Haupt wünscht, ist nur konsequent (für ihn gilt, mutatis mutandis, dasselbe!).

Tod also den Märchenprinzen und -Prinzessinnen! Was nimmt sich schon, wer sich die Illusionen nimmt? Muß nicht Ballast abwerfen, wer hinauf will mit dem Emanzipationsballon? Was verschlägt’s da schon, daß der Himmel nicht mehr voller Geigen hängt? Je unverblümter, desto besser. Haben wir nicht über Liebe und Gefühle so ziemlich alles erfahren, nur nicht, wie’s wirklich damit steht und dabei zugeht? Nein, wenn schon Illusionen sterben müssen, dann «gründlich und allemal besser von der eigenen als von fremder Hand: Selbstdesillusionierung aus Angst, desillusioniert zu werden, moderater Gefühlsfrost als probates Frustschutzmittel.

Der gefesselte Gefühlsprometheus nimmt Abschied von den ganz großen Erwartungen. Wer sich auf keinen Fall zuviel erhofft, für den kann’s auch kaum zuwenig werden. Frustrationsangst nötigt zum vorauseilenden Gehorsam, zum Kniefall vor den befürchteten mehr als vor den realen Nötigungen. Die äußere Katastrophenangst hat häufig ihre „innere“ Entsprechung: die stets präsente Angst vor der „Beziehungskatastrophe“. Das Beziehungsvirtuosentum, welches als das zentrale Sujet die Drehbühne der demonstrativ fröhlich-freien Single-Welt beherrscht, ist Bluff Marke berührungsängstlicher Narziß. Safety first — erst recht in „Beziehungsfragen“!

Sich auf den anderen einzulassen, ist allemal ein Wagnis mit ungewissem Ausgang. „Du könntest mir gefährlich werden“ (-soll heißen: bald zu viel bedeuten, so daß ich von Dir abhängig werde) ist ein häufig vernommenes Argument für den Abbruch einer „Beziehung“. Gefahr ist im Verzug, wenn eine Beziehung mehr zu werden droht als eine Beziehung. Da hilft oft nur Verweigerung als emotionale Notbremse. Früher begann sein Tag meist mit einem Volltreffer, heute kann Amor Bogen und Pfeil getrost einmotten. Wen wundert’s angesichts seiner erbärmlichen Trefferquoten?

Nein, wahrhaftig, Himmelsstürmer in Sachen Gefühl und dauerhafter Hingabe sind sie nicht, die „Frustis“ und „Resis“ der Beziehungsszene. Small gilt auch hier als beautiful. Und die kleinen Brötchen passen zum kleinen Hunger. Mit dem Risiko des Scheiterns läßt man sich, wo immer vermeidbar, mit dem anderen nicht ein. „Was geht mich der Vietnam-Krieg an, solange ich Orgasmusschwierigkeiten habe? ” 1968, auf dem Höhepunkt des studentischen Protests, von einem Protagonisten der legendären Berliner Kommune I gesprochen, nahm dieser Satz in seinem demonstrativen Apolitizismus bereits den Rückzug aufs Ich, die „Aussteigermentalität“ gegenüber allen anderen, auch gegenüber den jeweiligen „Beziehungspartnern“, vorweg.

Und seither haben sich nicht wenige risikoscheu und verpflichtungsängstlich auf den Ego-Trip der Selbsterfahrung begeben, bei dem der andere allenfalls als Tauschkulisse ungeschmälerter Selbstbespiegelung mit von der Partie ist. Dem „KeineMacht-für-Niemand!“ entspricht das „Null-Verantwortung-für-Nichts!“. Was könnte einem angesichts solch unverbindlicher Weggenossenschaft auch schon an wirklich Unersetzlichem abhanden kommen!

Wer bloß „Beziehungsprobleme“ hat, bei dem kann, genau genommen, eigentlich gar nichts schiefgehen. Der Ernstfall ist ausgeschlossen, die Haftung beschränkt. Gefühlskatastrophe — nein danke! „Beziehungsprobleme“ haben — das suggeriert Beherrschbarkeit; „Beziehungsprobleme“, die sind letztlich zu meistern wie Probleme mit dem Differential oder dem tropfenden Wasserhahn oder der Rechtschreibung.

Liebe, Partnerschaft, Beziehung

Im Vermeiden der Leidenschaft sucht man zu vermeiden, was Leiden schafft. Vielleicht ist die angestrengte Leidensflucht heute der größte Widersacher der Liebe. Wer nur Pein und Schmerz entflieht, der findet nicht zur Liebe. Oft führt der Weg zu dieser mitten durch jene hindurch. Die Liebe gleicht einer zitternden Biene (Ortega y Gasset), die sich auf süßen Honig versteht wie auf schmerzhafte Stiche. Sie läßt uns nur die Wahl zwischen der Größe unserer Furcht und der Tiefe unserer Sehnsucht. Wir müssen uns entscheiden, ob es uns wichtiger ist, dem zu entrinnen, was wir fürchten, oder das zu gewinnen, was wir ersehnen. Wer liebt, zieht allemal die Verzweiflung der schmerzlosen Gleichgültigkeit vor und die Seelenpein dem Vergessen. Und möglicherweise fröhnt er hierbei noch nicht einmal einem heimlichen Hang zum Selbstquälerischen, sondern trifft „instinktiv“ die im Sinne einer psychologischen Daseinsvorsorge „gehaltvollere“ Entscheidung, wenn er sich für die Himmelsqualen der Liebe entscheidet: „Die Jugend irrt nämlich, wenn sie meint, man stürbe an einem gebrochenen Herzen. Davon lebt man meist noch im hohen Alter“ (Maurice Chevalier).

Vieles an der aktuellen Beziehungsartistik ist handfest egoistisch und zeugt von robuster Rücksichtslosigkeit. Die unbeirrbare Selbstbezogenheit ist, jenseits aller sanfteren, „sozialeren“ Einkleidungen, geradezu konstitutiv für den vorherrschenden Beziehungstrend. Gerade dort, wo man sich noch die Mühe macht, die radikale Ausschließlichkeit der Eigenbedürfnisse mit teilnehmenden, den anderen scheinbar einbeziehenden Floskeln zu bedecken, wird vielleicht am deutlichsten, daß für ihn eigentlich gar kein Platz mehr ist: Jeder für sich, keiner für den anderen — jedenfalls solange wir uns noch so bärenstark beziehungssicher, so unheilbar gesund und gefühlsmanagementfähig wissen. Der Beziehungsvirtuose ist ein einsamer Wolf; seine Masche nicht selten demonstrative Direktheit: „Einsamer sucht Einsame zum Einsamen“ — so lautet die Szenenannonce eines alternativen Stadtblatts.

Gewiß: Noch macht der Partnerschaftsjargon der spätsechziger und siebziger Jahre, macht jene aufgeklärte, emanzipationsfrohe Lippenkunde die Wortrunde. Noch werden ihm allenthalben die verbalen Weihrauchopfer dargebracht. Doch bezeugt dies eher, wie sehr die „Szene“ im Signalkonformismus verharrt. Der „aufgeklärte“ Beziehungsjargon ist in seiner verhaltenspraktischen „Folgenlosigkeit" nicht weniger symptomatisch als in seiner wortreichen Süffigkeit.

In Wahrheit haben die Beziehungsblumenkinder längst die Unschuld verloren: Null Bock auf Partnerillusion! Der Beziehungsvirtuose hat den Amateurstatus längst abgelegt. Er ist ein ausgebuffter „Profi“ in Sachen Gefühle: WG-fest, rechtfertigungssicher und rundum kommunikationskompetent. Mit moderater Coolness betreibt er präventives Beziehungskrisenmanagement — alles, nur keinen unnötigen trouble, das Leben ist schon hart genug!

Die sich oft so beruhigend sanft geben — sie sind gar nicht immer von der milden Sorte, wie man auf den ersten Blick glauben könnte! Ihr Repertoire an kommunikativer Gemeinsamkeitsrhetorik ist meist wortkosmetische Verkleidung, oft werbungs-und umgangspsychologische Masche! Dabei muß gar keine bitterböse Täuschungsabsicht im Spiele sein. Viel wahrscheinlicher ist, daß die geschliffenen Formeln des Partnerschaftscodes der 68er Generation sich einfach als ideologische Rechtfertigungsstruktur behaupten, obgleich sich, gleichsam in ihrem Schutz, das wirkliche Verhalten und die wirkliche psychologische Orientierung längst in eine andere Richtung bewegen. In der Tat: Vieles am neuen „Beziehungsautismus“ klingt wie eine Radikalisierung und Vereinseitigung der guten alten Partnerschaftsideologie. Schon sie hatte gegenüber dem irrationalen Liebes„konzept“ die beiderseitige „Fallhöhe“ dadurch gesenkt, daß sie die Erwartungen bewußt niedrig hielt: Wer sich nicht zuviel erhofft, kann auch nicht allzusehr enttäuscht werden; wer nicht zu hoch geklettert ist, braucht, im Fall des Falles, auch keinen allzu harten Aufschlag zu befürchten. „Partnerschaft“ war ein Konzept für das Bestehen des Alltäglichen des Alltags. Auf die Übersteigerungen, Projektionen, Idealisierungen und Gefühlsintensitäten der Liebe wollte man sich schon damals nicht einlassen.

Mehr als auf die emotionale Ergriffenheit und das rückhaltlose Gefühlsengagement der Liebe als dem süßen „Wahnsinn zu zweit“ setzte man auf die Rationalität des gemeinsamen Gesprächs: „Wir sollten uns mal wieder über unsere Probleme aussprechen!“ Problem benannt, Gefahr gebannt — dies stand als Erwartung hinter der Welle aufgeklärter Partnerschaftsgesprächigkeit der siebziger Jahre. Die kommunikative Allgegenwart psychologischer Selbstdeutung wurde jedoch rasch selbst zum Problem: Wo alles kränklich psychelt, verliert das Psycheln rasch an Attraktivität. „Wahrheitsliebe“ ist, mit Alfred Polgar gesprochen, „die seltenste aller amourösen Bindungen“. Und daher hatte denn auch im zermürbenden Binnendiskurs der Partnerschaftsbeziehung jeder zunächst mehr die eigene, als die Wahrheit schlechthin im Auge.

Die beanspruchte „psychistische" Gesprächs-Meisterung der Zweisamkeit entlarvte sich als Illusionszwitter. Wer darauf nicht mehr bauen mag und sich statt dessen Hals über Kopf ins Serien-abenteuer „situativer“ Beziehungen stürzt, weicht nicht zuletzt vor dem Permanenzdruck kommunikativer Rechtfertigungsnötigung. Er ist des ständigen Hinterfragens überdrüssig; er flieht, wie Svende Merians „Märchenprinz“, Arne Piewitz, weil er die Inquisitionsfolter geschwätziger Dauerreflexion und ermüdender Selbstanalyse nicht mehr ertragen kann.

Wo man sich für jedes Wort und jede Unterlassung wortreich-trickreich rechtfertigen muß, wo die WG-Genossen als Sekundanten und Gesprächsverlaufszeugen im verbalen Analyseduell aufgeboten werden, da verkommt neben dem Genuß letztlich auch noch die Reue. Zynismus, wo nicht Haß, feiern fröhliche Urständ. Der Softie von gestern wird zum berechnenden Beziehungsstrategen, der sich für Frauen eine „Superaussteigemasche“ zurechtlegt. „Scheiße, Du, ich hab’ erst bei Dir gemerkt, daß ich über Sabine eben doch noch nicht weg bin . . .“

Der sanft-gesprächige Partner von einst gebraucht plötzlich die Ellenbogen, zeigt eine gehörige Portion robuster Selbstbehauptung, ja häufig eine unvermutete Bereitschaft zur psychischen Brutalität. Auch wenn die Einblicke, die man am Hamburger Szenenspektakel des „Märchenprinzen“ gewinnen kann, das alte „Problemschema“ (der Mann liebt die Liebe, die Frau den Mann) zunächst zu bestätigen scheinen — nein, die Frauen sind hierbei keineswegs mehr das schwache Geschlecht. Auch sie haben gelernt, mit der Beziehungsschere umzugehen. „Bis daß der Tod uns scheidet“ klingt auch für sie längst nicht so plausibel wie: „Solange wir zusammen einen Orgasmus schaffen.“ Wenn wir genauer hinsehen, hat sich dieser radikale Selbstbezug, diese Wiederentdeckung des allmächtigen Ego schon in der Partnerschaftsideologie der 68er Generation angekündigt. Diese Orientierung hatte bereits bewußt das Getto der Liebeszweisamkeit aufgebrochen und Dritten Zugang gewährt. „Außenkontakte“ waren erwünscht. Sie sollten die Partnerschaft bereichern — und waren zugleich ein Stück „Rückversicherung“. Verließ man oder wurde man verlassen, so stand man nicht alleine. Die ungeheure personale Konzentration auf den einen anderen, welche die Liebe abverlangt, war hier schon der kühl berechnenden Risikovermeidungsstrategie „geopfert“ worden. Zwar wollte man beieinander bleiben, sich arrangieren, sich zusammenraufen über Seitensprünge und -hiebe hinweg — aber man verweigerte sich den Blankoscheck fürs Leben; zwar war das Ende nicht fest eingeplant — aber seine Vorstellung erfüllte auch nicht mit Furcht und Schrecken.

Die Liebe kommt, wenn sie stürzt, nicht mehr von selber auf die Beine. Bis zu fünf Jahren, so hat man herausgefragt, braucht der verlassene Teil in der traditionellen, auf Liebe gegründeten Ehebeziehung, um mit dem Elementarereignis der Ehe-katastrophe fertig zu werden. Und meist ist er nicht mehr der, der er vorher war. Wird dagegen nur der „Partner“ gewechselt, so verläßt man weder die eigene Haut noch den eigenen Erdteil. Die Vergänglichkeit war kalkuliert, Außenkontakte, u. U. auch Anschlußkontakte mit Intimperspektive sind gegeben, man braucht, was war und was man erworben, nicht zu verdrängen und zu vergessen, sondern kann es, als individuellen Erfahrungsbestand, in den nächsten Versuch „einbringen“. Was für den Liebenden eine einzige Katastrophe war — der Tod der Liebe —, kann jetzt schlicht als Erfahrung gebucht werden: Je mehr Partner-katastrophen man überlebt hat, um so „erfüllter“, weil erfahrener, tritt man über die Schwelle der nächsten Partnerschaftsbeziehung. Beim Auszug des Partners ist nicht, wie bei der Liebe, „alles aus“, sondern alles kann neu und eigentlich nur besser werden. Die Partnerschaftsideologie hatte das „unlebbare“ Programm der Liebe in ein lebbares Alltagsprogramm übersetzt.

Der aktuelle „Beziehungsautismus“ erscheint in mancherlei Hinsicht als eine Radikalisierung des partnerschaftlichen Autonomiebegehrens: Nun verweigert man sich auch dem, was die „Partnerschaft“ den Partnern noch zugemutet hatte: dem Bestehen eines gemeinsamen Alltagsprogramms. Die Beziehung wird, von allen Umkleidungen, allem störenden Beiwerk befreit, zur „reinen“ Beziehung. Man lebt ausschließlich im Hier und Jetzt: Weder der Zukunft noch der Vergangenheit wird Einlaß gewährt. Die Beziehung stiftet keine wesentlichen, über sie hinausverweisenden Gemeinsamkeiten. Sie bildet eine „exzentrische“ Lebensinsel auf Zeit; sie ist alltagsentlastet, weil sie als außeralltägliches Ereignis neben dem Alltag, ohne direkte Verbindung zum übrigen Lebensprogramm des einzelnen, verläuft.

Diese strukturelle Flüchtigkeit läßt den jederzeitigen Rückzug offen, macht diejederzeitige Distanzierung möglich. Im raum-und zeitlosen Jetzt der „reinen“ Beziehung scheint der Schlüssel endlich gefunden zu einem Genuß ohne Reue. Man kennt weder Probleme, die sich aus der „Dauer“ ergeben können, noch solche, die aus den sachlichen, sozialen und personellen Überschneidungen der Lebenssphären erwachsen. Was man tut, tut man, weil man gerade „Bock hat“; und man hört einfach auf, wenn’s einen nicht mehr „schockt“ — und dies alles, ohne irgendjemand eine Erklärung zu schulden.

„Beziehungen“ leben in einer Atmosphäre, wo nur die reine Anwesenheit, die augenblickliche Präsenz der Gefühle, der Stimmungen, der Worte oder des Körpers, zählt. Die situative Beziehung läuft gleichsam in einer Separatwelt außerhalb des Spielfelds, auf dem das Leben spielt, ohne Schiedsrichter, ohne Zeitnahme und das Buhen oder den Applaus des Publikums, in einer Zeit-Nische der eigentlichen Lebenszeit, ohne einen wirklichen Bezug zum zeitlichen Vorher und Nachher.

Eine „Beziehung“ -haben setzt beiderseitiges Einverständnis darüber voraus, daß das, was ist, weder von ewiger Dauer ist, noch von Erdenschwere. Die „Beziehung“ darf einen nicht „berühren“, man läßt sie, zeitlich und räumlich, nicht an sich „heran“: Weder darf sie ins eigentliche Leben eindringen, in den Beruf, den Freundeskreis, die Verwandtschaft, u. U. die Familie oder in andere, parallele „Beziehungen“, noch darf sie einen wesentlichen Zeitanteil schlucken.

Der Beziehung braucht man sich nicht „zuzuwenden“, d. h., man braucht sich selbst gar nicht abzuwenden von dem, was einem bis dahin wichtig war; und man braucht sie auch nicht zu „pflegen“. Beziehungen überleben, wenn sie nicht ohnehin eingehen, gerade als etwas „Ungepflegtes“, der Pflege nicht oder doch kaum bedürftig. Man „pflegt“ eine Beziehung, solange sie pflegeleicht bleibt; wenn Ansprüche ins Spiel kommen, Rechtfertigungen nötig werden, also die beiderseitige Geschäftsgrundlage nicht mehr stimmt, gibt man sie preis — und sucht sich eine neue. Die „Beziehung“ ist auch eine Antwort auf die allgemeine Zeitknappheit, eine Strategie der Mehrfachnutzung unserer knappen Zeitressourcen, wie wir sie in anderen Bereichen bereits „erfolgreich“ praktizieren: Wenn wir etwa eine Party veranstalten und zeitsparend, in einem Aufwasch, alle jene Kontaktfäden wieder erneuern, für die wir uns einzeln, bei einer jeweils eigenen Gesprächseinladung, nie die Zeit nehmen könnten. Natürlich hätten wir unter „normalen“ Umständen auch nicht die Zeit, zwanzig Partner, an denen uns jeweils etwas ganz anderes interessiert, im Laufe weniger Jahre auszuprobieren. Dies geht nur, weil die für Liebesehe und Partnerschaft normalerweise üblichen sachlichen und sozialen Folgen und Folgeverpflichtungen von vornherein unterbleiben. Erst das situative Verhaltenskonzept der „Beziehung“ macht es möglich, eine Vielzahl von Menschen flüchtig und doch „intim“ zu streifen, ohne sich einem ganz und gar hinzugeben.

Der „Mann ohne Eigenschaften“

In der „Beziehung“ ist es gerade der Schutz des „Nie-wieder", welcher die umstandslose Selbstöffnung ermöglicht; gerade die strukturelle Flüchtigkeit macht die mit nichts als dem Gewicht des Augenblicks beschwerte „Beziehung“ für die Kommunikation auch des Höchstpersönlichen so attraktiv. Nicht selten steigert sich die situative Beziehungsinnigkeit eines Kneipenabends zu regelrechten Bekenntnis-und Geständnisekstasen.

Doch besagt dies wenig über die tatsächlichen Möglichkeiten aufrichtiger Kommunikation in der „Beziehung“. Aufrichtigkeit ist nicht nur durch die Rücksichtnahme auf den anderen gefährdet, sondern auch durch die Unkenntnis der eigenen Person. Wenn ich nicht weiß, wer ich bin, was ich will und wofür bzw. wogegen ich stehe, kann ich schwerlich aufrichtig sein (allerdings auch nicht wirklich „unaufrichtig“!). Die Folge tiefer eigener Identitätsunsicherheit ist — Gleichgültigkeit: Wie ich mich auch verhalte — alles hat die gleiche Gültigkeit, sofern es nur überzeugend dargestellt ist. Kurzfristige Rollenidentifikationen treten an die Stelle einer Verhaltens-kontinuität begründenden Identität.

Das authentische Engagement, welches seine Beglaubigung in der Persönlichkeit (und ihrer biographischen Dimension) findet, verflacht zu einem flatterhaften Saison-Engagement innerhalb einer eindrucksvollen Rolle. Kriterien sind nicht mehr Echtheit und Authentizität, sondern Pathos, Emphase und die Chance der augenblicklichen Selbststilisierung: „Verzichten“ wie der Casablanca-Bogart oder werben, kämpfen und siegen wie Jean-Paul Belmondo. „Jeder Johnny küßt heut’ wie Clark Gable“ (Günther Anders).

Das Beziehungskonzept erfordert den „Mann ohne Eigenschaften“. Wer eine „Beziehung“ hat, bezieht sich nicht auf eine „Person“, sondern auf die „Rolle“, welche diese Person in spezifischer, als reizvoll und attraktiv empfundener Weise beherrscht. Es bleibt weder Zeit, das Ganze der Persönlichkeit des anderen wahrzunehmen und auszuloten, noch Raum, es einzulassen und festzuhalten. In der Beziehungsflüchtigkeit begnügt man sich mit imaginären Persönlichkeitssegmenten.

Die Wahrnehmung verengt sich aufjeweils einen einzigen Punkt: modische Kleidung, Körperlichkeit, überlegene Gesprächscoolness, die Attribute eines imponierenden Lebensstils, die im Augenblick gerade gefragten Qualitäten als Skiläufer, Surfer, Tennisspieler, Musiker, Gedichteschreiber, Witzeerzähler oder, noch partieller und situativer: das Licht im Haar des anderen, seine Stimme, den Sand zwischen seinen Zehen ...

Wenn Liebe ungewollt blind macht, so verschließt man in der Beziehung bewußt die Augen. Man lebt im Reiz-Reaktionskäfig einer höchst selektiven Signalkultur, die Persönlichkeitssegmente filtert und verstärkt. In die „Beziehung“ bringt man sich nur als imaginäres Teilindividuum ein; in der Beziehungsflüchtigkeit begnügt man sich mit dem Phantombild, dem Persönlichkeitsschatten des anderen.

Das große Ja der Liebe dagegen kann auch aus tausend kleinen Neins gewoben sein: Man liebt das Ganze, die Einzelheiten mögen sein, wie sie wollen. Die selbstquälerischen Erörterungstermine und die Kommunikationsfoltern der Partnerschafts-und (seltener) Beziehungsinquisitoren offenbaren gerade, daß man sich im Geflecht der Neins zwangsläufig verheddern muß, wenn das erlösende Ja der Liebe fehlt.

Es war schon ein Irrtum in Stendhals berühmter Abhandlung „De l'amour", dem vielleicht einflußreichsten und am meisten gelesenen Buch über die Liebe überhaupt, zu glauben, Liebe vertrage sich problemlos mit einer erhöhten Tätigkeit des Bewußtseins, mit gesteigerter Selbst-und Fremdbeobachtung, mit Reflexionen und kommunikativer „Erarbeitung“ des Beobachteten und Reflektierten.

Bei der Erforschung der Gründe für die steigende Beliebtheit der Fast-food-Gastronomie ist man auf das Motiv fortwirkender Attraktion archaischer Verzehrgepflogenheiten gestoßen. Gewiß sind „Beziehungen“ auch deshalb „in“, weil sie gestatten, den „Hunger nach Nähe“ ohne Besteck und Eßetikette, „mit Zähnen und Klauen“ zu stillen. Doch ob uns all dies glücklicher macht oder auch nur weniger unglücklich? Ob es uns „angemessen“ ist und, als „Verhaltensprogramm“ von vielen, durchhaltbar? Ulla Meineckes Liedtext sagt’s ohne Umschweife: Es gibt keine süßen Sünden ohne Seele.

Kommt also überhaupt auf seine Kosten, wer in Sachen Beziehung „von der Hand in den Mund“ lebt? Wollen die Beziehungsvirtuosen wirklich so wenig, wie sie sich und den anderen weismachen wollen? Verbirgt sich hinter den illusionsfesten Entsagungsmetaphern nicht doch noch anderes? Ist das Pathos der Anspruchslosigkeit, ist die gängige Wort-Romantik des freiwilligen Illusionsverzichts also beim Wort zu nehmen? Sucht man wirklich nur das atemlose Augenblicksglück einer situativen Spontanbeziehung?

Vorauszusehen jedenfalls ist bereits seit einiger Zeit, daß auch „die neue Liebesunordnung“ (Pascal Bruckner/Alain Finkielkraut, 1979) ihre ordnungspolitische Nachgeschichte haben wird. Die einen entdecken die Vorzüge der guten alten Liebeszweisamkeit wieder; und die anderen helfen sich aus den neuen Nöten des allgemeinen sexuellen Verwirrspiels durch die selbstverordnete Radikalkur einer „Liebe ohne Sex“. Sollte die hochgestimmte sexuelle Emanzipationserwartung im erotischen Katzenjammer enden? Unübersehbar wird Freiheit in diesem Feld nicht mehr ausschließlich mit sexueller Freizügigkeit, sondern immer öfter mit Freiheit vom Sexuellen gleichgesetzt. Was für die Aufklärung im allgemeinen, gilt für die sexuelle Aufklärung im besonderen: Es existiert auch hier eine kritische Grenze, jenseits derer ein Zuwachs an „Wissen“ und „Bewußtsein“ Freiheit und Glücksfähigkeit nicht mehr vergrößert, sondern gefährdet. Wir bringen die Freiheit nicht in die Welt, indem wir alles aus der Welt schaffen, was Freiheit erschwert, weil das, was sie erschwert, oft zugleich das ist, was sie ermöglicht, genauer: was sie uns lieb und teuer macht und sie damit erst „herausfordert!“.

So auch die Lust: Wir bringen sie nicht in die Welt, indem wir ihr alles aus dem Weg räumen, was sie beeinträchtigen könnte. Es gibt vielleicht keine größere Lusterschwernis als eine Lust-erleichterung, die so weit geht, daß ein Verfehlen der Norm nur noch als individuelles Versagen zu deuten ist. Wird der Orgasmus zur selbstverständlichen Pflichtaufgabe, kommen Versagensängste ins Spiel, gerade weil ja alles so einfach ist, daß man eigentlich gar nicht mehr versagen kann.

Die Liebe als „gesellschaftsbildende Kraft“

Gleichwohl bleibt zu bedenken, daß die neuen Varianten einer flüchtigen Augenblicksintimität natürlich keine freien Willkürerfindungen sind. Sie finden in einer ganzen Reihe anderer Verhaltensweisen ihre Entsprechung. Leben wir nicht in vielfacher Hinsicht ex-und-hopp: beim Essen, beim Trinken, beim Konsumieren, beim Urlaub-machen? Warum eigentlich sollten wir ausgerechnet mit unseren Beziehungen wesentlich anders umgehen als mit unseren Beinkleidern, warum anders als mit unseren Wohnungen und Häusern, die wir ständig wechseln, mit unseren Autos, unseren Freizeit-und Spielzeuggegenständen, die dem Kommen und Gehen von Moden unterworfen sind?

Hat also, wer „Beziehungsprobleme“ hat, wirklich nur Beziehungsprobleme? Leidet er nicht vielmehr (wie wir alle mehr oder weniger) an progressivem Beziehungsfähigkeitsschwund, genauer: am Stetigkeitsverlust und Intensitätsschwund seiner vagabundierenden Gefühle? Verurteilen uns die anhaltenden psychischen Überforderungen des sozialen Wandels nicht zu einem allgemeinen Gefühlsnomadentum? Unsere Geschichtsbücher nennen die Seßhaftigkeit als äußere Kulturbedingung. Kündet nicht konsequenterweise der Seßhaftigkeitsverlust unserer Gefühle vom Rückfall in die Beziehungsbarbarei?

Liebe drückt der von ihr ergriffenen Wirklichkeit den Stempel der Verbindlichkeit auf; sie verkörpert den schärfsten Einspruch wider die universale Gleichgültigkeit und damit: wider die Langeweile. Wer liebt, braucht keinen Flipperautomaten. Wenn man liebe, zeige man sich, „wie man immer sein sollte“, meinte Simone de Beauvoir. In der Tat lassen sich gute Gründe dafür finden, daß dort, wo die Liebe zuhause ist, Geiz, Neid und Mißgunst kaum Einlaß finden. Aber nicht allein dieser Überstrahlungseffekt der Liebe und die aus ihm abgeleitete allgemeine soziale Besserungserwartung begründen ihre gesellschaftliche und politische Relevanz. In einem noch fundamentale-ren Sinn ist sie gesellschaftsbildende Kraft.

Wo jeder für sich ein allmächtiges Ich ist — wie soll das Gesellschaft werden? Welche Macht, wenn nicht Liebe, läßt den Selbstversessenen sein Selbst vergessen? Was wir von uns preisgeben, bringen wir — wo nicht der Gewalt — allenfalls der Liebe dar. Nur Liebe mildert die überlegene Macht des anderen. Nur in der Liebe kann man dienen, ohne Sklave zu sein. Nur sie führt uns, als Hinwendung zum anderen, über uns selbst hinaus. Sie ist der Zwang, den wir der Freiheit uneingeschränkter Selbstliebe vorziehen. Sie befähigt uns, „höhere“, soll heißen: über den einzelnen hinausreichende Zwecke in den Mittelpunkt unserer Strebungen zu rücken. Es ist durchaus konsequent, wenn Francesco Alberoni „Verliebtsein“ und „Lieben“ als eine Art „sozialer Bewegung zu zweit“ interpretiert.

Das Ganze des Volkes, der Gesellschaft, der Klasse, der Nation, der Menschheit gar ist zu groß und zu weit weg, als daß wir es im direkten Gegenüber zu lieben vermöchten. Deshalb bedürfen diese großen Ganzheiten der Vermittlung durch „Liebesliebe“. Um nicht mißverstanden zu werden: Das „Individualprogramm“ Liebe ist gewiß nicht das letzte Wort in Sachen Gesellschaftsbildung. Aber es ist ein unverzichtbares erstes Wort auf dem Wege zu einer nicht auf Versagung und Gewalt gegründeten Gesellschaft.

Sigmund Freud begriff die Libido als die jedem Organismus innewohnende Tendenz, sich zu erweitern. Den allermeisten Auffassungen über die Liebe ist, bei allen sonstigen Differenzen, eben dieses Merkmal gemeinsam: daß Liebe uns zum „Transzendieren“ befähigt, zum Überschreiten von Grenzen — Grenzen der Persönlichkeit oder eines gegebenen Zustands. Liebe führt uns über das hinaus, was wir jeweils vorfinden. Setzen die „großen“ Einheitsstifter: Herrschaft, Religion, Geschichte und Kultur, gleichsam oberhalb der Gesellschaft an, so wirkt die Liebe als Ferment in ihr selbst. Mag ihr Beitrag zur Gesellschaftswerdung selbst auch strittig sein, — sie hat entscheidenden Anteil daran, die Gesellschaft vor dem Auseinanderbrechen, vor der zeitlichen und räumlichen Dissoziation zu bewahren. Kann es uns kalt lassen, wenn die Liebe erkaltet? Schwinden mit der Liebe nicht auch Tradierungswillen und Zukunftsbereitschaft der Gesellschaft im ganzen? Wird eine Generation, welche die Liebe nicht mehr kennt, sich nicht auch den elementaren Kontinuitätsforderungen des größeren Sozial-verbandes versagen? Wird eine Generation, welche Lieben verlernt hat, ihre „Pflicht zur Zukunft“ (Hans Jonas) noch erkennen und annehmen?

Ist eine Ethik der Vorausschau denkbar in einer Gesellschaft ohne Liebe? Liebe zählt zu den elementaren motivationspsychologischen Garanten sozialer Kontinuierung. Ist die Befürchtung so abwegig, daß in einer Gesellschaft ohne Liebe die psychologische Reproduktionsbereitschaft schwinden könnte: die Bereitschaft zur Tradierung von Wissen und Erfahrung ebenso wie zur Weitergabe von Leben?

Humane Balance

Narziß will die Welt nicht erfahren und aktiv gestalten; er will nur sich selbst, das allmächtige Ich, in seinen „spontanen Bedürfnissen“ und seinen „authentischen Regungen“ erleben. Die narzißtische Realitätsdeutung steht den Bedürfnissen des anderen fern. Narziß braucht den anderen nicht zu kennen, da er weder geliebt werden will, noch jemand anderen als sich selbst lieben kann. Wem dies zu weit hergeholt erscheint, der möge zusehen, wie er sonst die folgende, in ihrer Symptomatik gar nicht zu überschätzende Beobachtung einzuordnen vermag: Eine amerikanische Warenhauskette findet derzeit mit ihrem Angebot exklusiver „Yuppy-Puppen" unerwartet großen Anklang. Es handelt sich dabei um technisch aufwendige Baby-bzw. Kinderimitate, die „mitwachsen“, und mit denen man — genau wie mit richtigen Kindern — „alles machen kann“; die perfekte Nachwuchssimulation für vielbeschäftige junge Karrieremenschen (= Yuppies), die für Kinder aus Fleisch und Blut zu wenig Zeit haben, für das Lebenslos der Einsamkeit aber (noch) nicht „stark“ genug sind.

Es geht um eine humane Balance zwischen Innen und Außen, zwischen Privat und Öffentlich, zwischen Fremdem und Vertrautem, um eine wie immer prekäre Abstimmung zwischen sozialen Nähe-und sozialen Distanzbedürfnissen, zwischen den Aktivitäten der Ich-und denen der Welterkundung. Die „Ideologie der Intimität“ (Richard Sennett) zerstört die wichtigste Bedingung für alle wirkliche Nähe: Unterscheidungsfähigkeit. Unsere Zeit-wie unsere affektiven Ressourcen sind zu knapp bemessen, als daß wir allen gleichermaßen nah sein könnten. Angestrengtes Allzeitduzen überwindet soziale Distanzen in Wirklichkeit ebensowenig wie der mit Szenenrotwelsch und Anakoluthen durchsetzte Stümmel-und Stammel-Jargon des „Irgendwie“. Dasselbe gilt für den im Kern „asozialen“ Narzißmus der Körper-und der Seelenblöße: Wie das Beliebigkeitsduzen, so enthalten auch die Gesprächs-, Geständnis-und Beziehungsbeliebigkeiten unausgesprochen das Versprechen von Nähe, intimer Zugehörigkeit und wärmender Gemeinschaft.

Eine willkürliche Vielzahl sozialer Nähebeziehungen geht zwangsläufig auf Kosten der Intensität und Gültigkeit der je einzelnen. Paradoxerweise ist es gerade das Gefühl für die sozialen Distanzen, welches uns das intensive Erlebnis von Nähe erst ermöglicht.

Konsistenz und Kontinuität sind Voraussetzungen für soziales Handeln. Zu einer freiheitlichen politischen Kultur gehört das Wissen um die zivilisierende Kraft von Regeln und Beschränkungen, um die Hygiene des Takts, um den Sinn der Förmlichkeit, um die Klugheit von Konventionen.

Wenn wir die „Barbarei“ der Distanzlosigkeit, die Preisgabe der Unterscheidung, die Bekenntnis-und Mitteilungswut kritisieren, so dürfen wir nicht vergessen, daß dieses Zuviel seinen Grund häufig in einem vorgängigen Zuwenig hat: Die Exzesse an schonungsloser Ehrlichkeit und monomaner Aufrichtigkeit werden verständlicher, wenn wir sie als Reaktion auf Verlogenheit und feiges Schweigen der Elterngeneration begreifen, wenn wir zudringliche Geschwätzigkeit mit verschämter Sprachlosigkeit und rabiate Ent-Hemmung mit emotionaler und expressiver Dürftigkeit kontrastieren.

„Glücklich in der Konfusion“ oder: Ratlos aber frei

Es ist kein Zufall, daß die Vervielfachung des Medienangebots mit einer breiten Geistes-und Verhaltensströmung in Kunst und Wissenschaft, in Architektur und Pädagogik einhergeht, die man als „postmodern“ etikettiert. Die televisionäre Abgeklärtheit scheint der pädagogisch beflissenen Aufklärung endgültig den Garaus zu machen. Das Fernsehen ist der Motor einer rundum populären Trivialisierung, die alles mit allem bis zur Unkenntlichkeit mischt; es präsentiert sich als der große Supermarkt der Motive und Meinungen, der Ideen und Stile, der konsequent Eindeutigkeit durch Masse ersetzt und damit die Beliebigkeit ins Grenzenlose wuchern läßt: Nur die Fernsehwerbung bringt es fertig, Gulaschfix mit Schumanns „Arabeske“ zu kombinieren, und nur das postmoderne Lebensgefühl, einen McDonalds-Besuch als Kulturereignis zu inszenieren.

Für Grundstimmung und Lebensgefühl unserer Epoche ist die Wortkarriere des Präfix „post“ durchaus symptomatisch: Das Abgründige, ja gewollt Absurde von Spätlingsexistenzen prägt das geistige Klima. Leben erscheint als annehmbare Banalität, mit der sich obendrein trefflich kokettieren läßt. Man beginnt zu ahnen, was man alles nicht weiß und nicht kann, und dem Frust wehrt man mit Zynismus. Das Nicht-Gekonnte wird das Gesollte; die „Neue Unübersichtlichkeit“ (Jürgen Habermas) wird ins Moralische, mindestens aber ins Ästhetische gewendet, das „anything goes“ mausert sich zum kategorischen Imperativ der notorisch Erkenntnis-und Urteilsgeschädigten. Der Resteverwerter avanciert zum Titelhelden, die eigene „Roßleichenwohllust“ (Johann Wolfgang von Goethe) zu seinem bevorzugten Thema. Baudrillard und Feyerabend, Horstmann und Sloterdijk bevölkern dieses Pantheon profaner Nachzeitphilosophien. Pulverdampf liegt über der intellektuellen Szene, was nicht nur bedeutet, daß man wenig sieht, sondern eben auch heißt, daß vorwiegend jene sie besetzt halten, die ihr Pulver verschossen haben.

Zur postmodernen Zeitgeist-Avantgarde darf sich zählen, wer immer die Stirn hat, auch noch Ratlosigkeit und Relativismus als Überzeugung feilzubieten. „Postmodern“ — das ist vor allem die Revolte wider die Rezeptphilosophien der sechziger und siebziger Jahre, ein Aufstand damit auch wider intellektuelle Selbstgefälligkeit und Besserwisserei nach dem Motto: Lieber ratlos aber frei als aufgeklärt und mit unglücklichem Bewußtsein. Statt Überzeugung Styling, statt Theorien Gags: „Seien wir glücklich in der Konfusion“ (Pascal Bruckner/Alain Finkielkraut, 1981); nicht Wahrheit, die Konfusion wird uns frei machen! Diese vor allem steht im Mittelpunkt der Praxis einer „Rehabilitierung des Zufalls“ (Andrea Frank): Alle Erwartung gehört der Ungebundenheit „diese(m) Drang, mich treiben zu lassen, um allem zu begegnen“ (Andre Breton). Mit Hoffen auf bessere Zeiten mag sein Leben vertun, wer da mag: „Das Paradies beginnt dort, wo wir es für richtig halten“ (Andre Breton/Phillipe Soupault); und: „Unterm Pflaster liegt der Strand“. „Postmodern“ — so nennt man das Lebensgefühl jener neuesten Jugend, die überzeugt ist, daß das alte „carpe diem“ erst im Schlagschatten der Apokalypse so richtig plausibel klingt. Neben forcierter Innerlichkeit und simulierter Individualität der frühen Achtziger entfalten sich, manchmal auch in erklärtem Gegenzug, literarische Tendenzen, die unverblümt ein Recht auf Standpunktlosigkeit reklamieren. Die Angst vor dem Fixen wird zur fixen Idee.

Die „neue Beweglichkeit“

Die einzige Sünde wider den postmodernen Geist ist die Festlegung, der Abbruch des Spiels: des Versuchens, Verwerfens und erneuten Versuchens. Er reklamiert für sich „das Recht, sich immerfort selbst zu widersprechen“ (Pascal Bruckner/Alain Finkielkraut, 1981). Es ist unübersehbar, welche prinzipielle Plausibilität der „permeablen Persönlichkeit“ und der „inszenierten Individualität“ aus dem Kontext der Erfahrung eines „offenen“ Weltzustandes zuwächst. Die Weigerung, sich festzulegen, findet ihre Entsprechung in der Wahrnehmung der Welt als einer nicht festgelegten, doch höchst prekären.

Die „Soziologie des Abwartens“ ist nirgends aktueller als in Übergangszeiten. In Zeiten der Ungewißheit sorgt man am besten vor durch Beweglichkeit: Man ist am besten vorbereitet, wenn man auf alles vorbereitet ist. Die „neue Unübersichtlichkeit” (Habermas) erfordert als angemessene Reaktion die „neue Beweglichkeit“ der Protagonisten. Musils „Mann ohne Eigenschaften“ oder Woody Allens „Zelig" verkörpern die Sozialtugenden der Stunde. Sie verharren zwischen den Fronten und Professionen, angespannt, auf alles vorbereitet, und mit der saisonalen Theorieausstattung wohlversehen gehen sie jargonvirtuos alle Gangarten mit, vermeiden aber aufs Sorgfältigste jede definitive Festlegung: Abwarten und in Bewegung bleiben. „Unabhängig von dem, was eintrifft, oder nicht eintrifft, es ist wunderbar, in der Erwartung zu leben“ (Andre Breton).

Ob alle diese Vorhölle des Noch-nicht-und-doch-Schon gleichermaßen lieben, ob alle die Absage an Kontinuität und Konsistenz gleich gut verkraften, sei dahingestellt. Manchen jedenfalls setzt das Treibhausklima ausgelassener Resignation, in welchem zwar manches ins Kraut schießt, welches die Bäume jedoch auch nicht gen Himmel wach-B sen läßt, ganz schön zu. Für sie fügt sich, oft unfreiwillig, das psychosoziale Moratorium nicht zur Attitüde lustvoller Erwartung, sondern zur galligen Einsicht in die „Nutzlosigkeit, erwachsen zu werden“. Georg Heinzen und Uwe Koch beschreiben in ihrer biographischen Reportage sehr treffsicher den Gemütszustand jener, die mit sich uneins sind, ob sie auf ihren beruflichen und sozialen Schwebezustand eher stolz sein oder sich gegenüber dem schon etablierten Altersgenossen als Versager fühlen sollen. Eine „multiple Identität“ ist offenbar nicht jedermanns Sache.

Überall gestylte Tristesse, allenthalben Posen der Einsamkeit. Nirgends kreuzen sich Blicke, begegnen sich Augenpaare, man spricht nicht, lacht nicht, ist weder fröhlich noch aufgeregt; man hat sich nichts mitzuteilen — außer vielleicht jener unspezifischen „Botschaft“, welche Körperhaltung und (bevorzugt in Schwarz gehaltene) Kleidung suggerieren. Kein Augen-Blick gilt mehr dem Betrachter. Die kühlen Heroen, die das marktgängige Ideal stolzer Selbstgenügsamkeit (etwa auf Platten-Covers oder Modeposters) ins Bild setzen, biedern sich nicht mehr mit entblößtem Gebiß und expressiver Gestik an, sie ködern den Käufer mit Coolness und Casablanca-Melancholie. Schön und starr, stolz-traurig und introvertiert sind die neuen Helden. Ihr bevorzugter Ausdruck ist die wohldosierte Gebärdenmischung aus Abweisung und Verbundenheit. „Ich bin mir selbst genug“, scheint jeder Körperzoll zu signalisieren. Der frühe Andy Warhol läßt grüßen, die Sphinx mit der Maske, die unbewegt auf alle Fragen die Antwort verweigert.

Die kalkulierte Distanzierung bedarf zumindest der zeitweiligen „Nähe“ zum anderen: Die „Cooltour“ zieht nur vor Publikum. Sie ist die ureigene Inszenierung einer neuen Generation, die sich mit intelligenten Zynismen und dem diskreten Charme der Melancholie von den Überzeugungsattacken ihrer Apo-Väter distanziert: Sie findet Sozialkampf, Massenagitation und Mitarbeit in der örtlichen Bürgerinitiative mindestens ebenso zum Gähnen wie das „Wort zum Sonntag“ — und zumindest genauso überflüssig.

Wider den Bazillus geschwätziger Aufklärung, wider Bekehrungsseligkeit und Überzeugungseifer, wider aktionistische Hektik und das Maulheldentum der Systemveränderer sind sie gründlich gefeit. „Null Bock auf Illusionen!“

Am ehesten noch könnte man sie in den Fußstapfen der Großväter von der einstigen „skeptischen Generation“ sehen. Doch stimmt auch dieses Bild nur sehr eingeschränkt. Anders als ihre fernen Großväter lassen die „Trendies“ der achtziger Jahre sich nicht vom System vereinnahmen; sie vereinnahmen das System: Donald Duck for president! Sie erklären ihre Bude zur „agitationsfreien Zone“: „Zutritt nur in Begleitung des behördlichen Einsatzleiters“. Und wenn sie gestern noch selbstironisch forderten: „Mehr Beton ins Müsli!“, — so bezeugt all dies einerseits zwar noch ein gutes Quantum an flapsiger Systemreserve; andererseits aber zeigt es auch, daß die Angst weg ist, sich offen dem sozialen Leistungszwang der „Bewegungen“ zu versagen und sich zu den eigenen, höchst trivialen Gelüsten zu bekennen. „Postmodern“ ist nicht so sehr das „Begehren nach Unvernunft“ (Manfred Nieß) — das gab’s wohl zu fast allen Zeiten —, „postmodern“ ist die Bereitschaft, sich unüberhörbar zu derlei unerhörten Anwandlungen zu bekennen.

Die Joy-Stick-Generation

Mehr als nur ein Hauch von Unernst schwebt über der Szene, der von denen, die’s gern schwer haben und dumpf-düster, sofort wieder als neuester Anlauf auf „Ernsthaftigkeit“ vereinnahmt wird, die wir hierzulande bekanntlich an der Elle der „politischen Relevanz“ vermessen. Und so findet man noch hinter witzigen Wortspielchen und abgeschmackten Sprachgags das „Auflösende“ und „Zersetzende“ des unermüdlichen Systemsaboteurs. Der reine Unterhaltungswert, die pure Lust am Spielerischen: Spaß haben am Spaß machen, das ist zuwenig. Wenn Markus für die Neue Deutsche Welle plärrt: „Ich will Spaß, ich will Spaß!“, dann darf er alles — bloß das nicht auch noch so meinen!

Und wenn sie’s nun doch einfach „nur so“ meinten? Wenn es ihre Antwort wäre auf Unübersichtlichkeit und Weltgefährdung? „Bodenlosgelassen“ (Andrea Frank), von allen — besonders den „guten“ — Geistern verlassen, ausgelassen, nicht aus gelassener Selbstgewißheit, sondern aus dem allgemeinen Fehlen aller Gewißheit; kurz, „gut drauf, weil eh’ niemand weiß, worauf's wirklich ankommt“, und immer nach dem Motto: „Egal wo’s langgeht, wenn’s nur nicht so lang geht!“

Dies alles paßt nur zu gut zum neuen, mitunter recht hemdsärmligen Egoismus der Erfolgreichen, der Schönen und Starken, der Leistungsbereiten und Selbstgewissen. Der Yuppie verdrängt den Weltschmerz-Hypochonder. Der sprachambitionierten Yuppie-Vorhut der Diedrich Diedrichsen, der Ronald Götz und Peter Glaser sind, bei allen sonstigen Differenzen, vor allem jene suspekt, die noch immer dabei sind, „mit dem Teleobjektiv den eigenen Zeh zu fotographieren“. „Selbstsicher“ kommen sie daher; „adrenalintreibend, störend und ungehalten“ (Peter Glaser), möchten sie den Friedensfuzzis und den weinerlichen Ökopaxen auf die ominösen Zehen treten. Die neuen „Macher“ betreten die Szene, diejenigen, die keinen Bock mehr haben auf „Null Bock“, die zuviel kriegen, wenn jemand über „zuwenig“ klagt an Motivation und Möglichkeiten. Die Joy-Stick-Generation läßt ihre Muskeln spielen. Man versteht die „Yuppis“ nicht ohne ihre Pappis. Der neueste, demonstrativ unpolitische Nonkonformismus gibt sich konformistisch. Der „Wendejugend“ zum Verwechseln ähnlich, verkörpert er die Revolte gegen die Revolte der Väter, nonkonformistisch nur im Blick auf die Nonkonformisten von gestern und vorgestern.

Die Ressentiments wider die Szene der Frustis und Bewußtis, der Müslis und Meditativen sind unüberhörbar: Jene, die mit lässiger Gebärde ihre Lebenstauglichkeit vor allem in Form von Technikkompetenz vorführen, mokieren sich erbarmungslos über jene anderen, die zwar theoriesouverän die Übel dieser Welt aus den Kapitalverwertungsbedingungen abzuleiten vermögen, aber nicht wissen, wofür der rote Knopf am Joy-Stick gut ist. Die Verachtung konzentriert sich vor allem auf die einstigen SystemVerächter; die neue Empfindungslosigkeit der „power generation“ attakkiert vornehmlich die Empfindsamen und Sanftmütigen der einstigen Flower-power-Ära.

„Wir sagen ja zur modernen Welt“

So tiefgreifend ist der Wandel. Wirklich so tief-greifend? Reiben sich nicht, wie schon vor zwanzig Jahren, auch heute wieder Söhne und Töchter an Vätern und Müttern? Was anderes haben wir in der scheinbar „archetypischen“ Konfliktkonfiguration der (immer noch) Nachdenklichen wider die (schon wieder) Naßforschen vor uns als eine „Reprise“ der 68er-Aufführung mit reziproker Generationenbesetzung? Der kritisch-engagierte Studienrat und der sanft-gesprächige Sozialarbeiter repräsentieren für die Nachfolgenden die schwer erträgliche moralische Dauernötigung des unleugbar Guten, vor welchem sie, schon aus Gründen der Selbstbehauptung, in entgegengesetzte Rollenklischees ausweichen.

Konfliktchoreographisch durchaus plausibel, gilt nun: Böse ist chic, und: Härte ist (wieder) angesagt, denn „sozial allein macht auch nicht glücklich“! Den unterschiedslosen Menschheitshumanitarismus ihrer Väter kontern sie cool mit der Großväterdevise aus Zeiten der „skeptischen Generation“: Jeder ist sich selbst der nächste!

Wie alle „Renegaten“ leisten auch sie ein demonstratives Übersoll an Hinwendung zum einst Negierten: Computer und Comics, Kaschmirpullover und Krawatte. In der Konsum-Bejahung, aber nicht nur dort, ist die Nähe zur „Wendejugend“ ebenso unbeabsichtigt wie unübersehbar.

Die Postmoderne, das ist der Ausbruch aus dem Korsett traditioneller — linker und ökoalternativer — Loyalitäten; der Exodus jener, die genug haben vom revolutionären Leistungszwang und vom gesellschaftskritischen Ehrgeiz denkwunder Bewußtseinsrevolutionäre; die Nase voll von der sanften Selbstverleugnung körnerkauender Askesefreaks. Postmodern — das ist die Absage an alles Visionäre und Utopische, an alles Ferne und Hehre, an Ordnung und Sinn, an Ziel und Zukunft, an Idyllen und Ideen! Man erwartet nicht, „daß das Leben besser wird, das Glück zunimmt oder Beziehungen sich entfalten“ (Stanley Cohen/Laurie Taylor). Man ist, weil man ißt; und man ißt, was schmeckt. Und wem der „Big Mac“ näher ist als die „Große Verweigerung“ (Herbert Marcuse), der scheut sich nicht, dies auszusprechen. Bekenntnisscham, ein durchgängiger Charakterzug der aufs exemplarische Gut-Sein abonnierten 68er (Nachfolge-) Generation, ist hier gänzlich unbekannt. Der einzige, dem man sich verpflichtet weiß, ist der eigene „Bock“, den man hat oder auch nicht. „Wir sagen ja zur modernen Welt“, tönt die „Freiwillige Selbstkontrolle“, „liebt, was Euch kaputt macht“, Annette Humpe, die Sängerin von „Ideal“. Wenn man Plastik und Beton eh’ nicht wegkriegt (und Denver und Dallas und McDonalds und Mickey Mouse), — dann ist es am besten, man fährt darauf ab!

Der vorenthaltene Widerstand

Doch auch der postmoderne Neuzyniker, die Elfenbeinturmvariante des Innenstadtpunk, will mit seinem ungeschönten Heißhunger aufs Gewöhn-liche vor allem schockieren. Seine Gegenspieler sind nicht Frau Saubermann und Dieter-Thomas Heck, sondern die unverzagt dauerengagierten „Apo-Opas“ und die askesesüchtigen „Alternativknechte“ mit ihrer moralischen Dauernötigung zur Systemverweigerung und zum Konsumverzicht. Den demonstrativen „Immoralismus" und den fortwährenden Verstoß gegen die guten links-alternativen Geschmacksprinzipien der letzten fünf Jahre verstehen wir nur, wenn wir die psychologische Widerstandsbedürftigkeit der Nachfolgegeneration mitbedenken, die bei diesem Konflikt Pate steht.

Identität formiert sich im Widerstand. Vielleicht ist der vorenthaltene Widerstand die größte aller Sünden, welche eine Generation gegenüber der nachfolgenden begehen kann. Sie betrügt sie nicht nur um die Chance, sie selbst zu werden, sondern, schlimmer, um die Chance, überhaupt wer zu werden. Jede Generation braucht ihre Wand, gegen die sie solange mit dem Kopf anrennen kann, bis sie es lustiger findet oder auch nur weniger schmerzhaft, die Tür zu benutzen. Es ist kein Zufall, daß sich die smarten Nachwuchszyniker so erbarmungslos an ihren intellektuellen Altvorderen von der 68er Bewegung und deren Erben reiben. Nach den Orgien an Systemkritik und Zukunftspessimismus, nach dem Übersoll an Bekenntnis-bereitschaft und Tugendfanatismus, nach Gesinnungs-und Gefolgschaftsneurosen, den Heilsund Unheilsgewißheiten, nach theoretischen Rundumschlägen und visionärer Himmelsstürmerei ist „das Vertrauen in die traditionellen Meßund Bewertungsinstrumente“ (Pascal Bruckner/Alain Finkielkraut; 1981) restlos dahin; man nimmt sich „das Recht, bedeutungslos, gewöhnlich und einfach zu sein“ (dies.). Nach dem vergeblichen Sturmlauf auf die große Freiheit bäckt man kleine Brötchen: Man weigert sich, „nach Neuheit, Fortschritt und Sinn zu suchen“ (Stanley Cohen/Laurie Taylor). Man akzeptiert die Welt, wie sie ist. Das hat immerhin den Vorteil, daß man nicht „total ausflippt“, wenn sie so unvergleichlich anders ist, als sie sein sollte.

Von Marx zur Muppet-Show („da fahr’ ich tierisch drauf ab“) — auch das kann man, offensichtlich, als Fortschritt buchen. Man hat aufgehört, an eine einheitliche Welt zu glauben und damit auch aufgehört, nach intellektuell befriedigenden Erklärungen für die Welt zu suchen. Die Sozialattraktivität des Marxismus war in dem Augenblick gebrochen, wo eine ganzheitliche Welt-deutung beim Publikum nicht mehr gefragt war. Nachdem die große Synthese keine Rettung gebracht, ja noch nicht einmal das Leben erträglicher gemacht, im Gegenteil, die Einsicht in den systemischen Charakter des wirklichen Ganzen nur Ohnmachtsgefühle bewirkt und apokalyptische Endzeitvisionen beschert hatte, ist die Tendenz unverkennbar, die Dinge disparat zu halten, ja sie lustvoll auseinanderzureißen und die Erfahrung der Widersprüchlichkeit auf engstem Raume in vollen Zügen auszukosten.

Wozu brauchen wir auch eine Erklärung, die für alles paßt, hinter allem einen Zusammenhang stiftet, wenn sie am Ende doch nicht „stimmt“ (d. h. das Übel doch nicht von uns nimmt), jedenfalls aber das Aufstehen morgens nicht plausibler macht? Wozu sich noch anschnallen im explodierenden Raumschiff? Es lebe der große Unterschied, es lebe die Dissonanz! In Deutungen und Zusammenhängen, die uns nur die Unvermeidlichkeit des Katastrophenübels im großen erschließen, liegt keine Freiheit. Die Erkenntnis hinter der Absage an ein integratives Sinn-und Bedeutungssystem lautet: Jede Gesamterklärung, die das Übel nur benennt, ohne es zu beseitigen, vergrößert zwangsläufig das Übel, weil sie zum Übel das Bewußtsein des Übels schafft.

Übersehen wir also nicht: In der Absage an eine Analyse, die zur Selbsteinschüchterung wird, liegt ein Stück desperaten Lebenswillens: hoffnungslos aber frei. „Nun habe ich/schon wieder/dem Augenblick/ein Lächeln geschenkt/wo ein Fluch/am Platz/gewesen wäre.“ Dieser Vers enthält gleichsam die Formel einer — höchst privaten — Vitalbehauptung.

Wer Widersprüche nicht um jeden Preis lösen muß, wer gelernt hat, sie ungelöst stehen zu lassen, der will vor allem — weiterleben. Er begibt sich nicht nur nicht auf die Suche nach der Welt-erklärung, er unternimmt auch keine kräfteraubenden Expeditionen der Selbsterkundung mehr. Er verhält sich „adaptiv“: Wenn die Erfahrung der Welt zwangsläufig in ein pluralisiertes Bewußtsein mündet, dann wäre auch das Streben nach Eindeutigkeit eine verfehlte Festlegung, eine Fessel, der virtuosen Weltteilhabe hinderlich! Wer sich in wechselnden Sinnsystemen bewegen, sich unter divergenten Lebensaspekten bewähren muß, darf sich nicht mit zuviel „Identität“ belasten; d. h., er darf sich nicht festlegen, sondern muß beweglich bleiben, offen und anpassungsfähig. Deshalb mißtraut er der Gravitation der Ideen und Ideale, der Gedanken und Gefühle, der Tugenden und Theorien.

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Fussnoten

Weitere Inhalte

Bernd Guggenberger, Dr. phil., geb. 1949; Studium der Germanistik, Geschichte, Politischen Wissenschaft, Philosophie und Soziologie in Freiburg und Berlin, Wiss. Ass. am Seminar für Politische Wissenschaft an der Universität Freiburg, Lehrstuhlvertretung (Soziologie) in Bielefeld, z. Z. Heisenberg-Stipendiat und Verwalter einer Professorenstelle für Soziologie an der Universität Osnabrück, Abt. Vechta; Leiter des „Deutschen Instituts für Angewandte Sozialphilosophie“ (D. LA. S.) in Bergisch-Gladbach. Neuere Buchveröffentlichungen: Bürgerinitiativen in der Parteiendemokratie. Von der Ökologiebewegung zur Umweltpartei, Stuttgart u. a. 1980; (Autor und Mitherausgeber zus. mit U. Kempf) Bürgerinitiativen und repräsentatives System, Opladen 1984 2; (Autor und Mitherausgeber zus. mit C. Offe) An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie, Opladen 1984.