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„Lieber rückwärts aus dem Intershop als vorwärts zum nächsten Parteitag“ Bemerkungen zum DDR-Jugendjargon | APuZ 40-41/1986 | bpb.de

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APuZ 40-41/1986 „Liebt, was Euch kaputtmacht!“ Intimität und Identität — „postmoderne“ Tendenzen in der Jugendkultur Im Sternzeichen des Minirocks Reminiszenzen an die Kultur der sechziger Jahre „Lieber rückwärts aus dem Intershop als vorwärts zum nächsten Parteitag“ Bemerkungen zum DDR-Jugendjargon Artikel 1

„Lieber rückwärts aus dem Intershop als vorwärts zum nächsten Parteitag“ Bemerkungen zum DDR-Jugendjargon

Wolf Oschlies

/ 43 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die vorliegende Darstellung befaßt sich mit einem bislang kaum gewürdigten Bereich — den gruppenspezifischen Sprachkonventionen der DDR-Jugend, ihrem Jargon. Unter „Jargon“ wird in diesem Zusammenhang mehr als nur ein sondersprachliches Phänomen verstanden; er wird vielmehr als Generationssoziolekt behandelt, der das Lebensgefühl der jungen Menschen „drüben“ artikuliert. Politik und Sprachwissenschaft der DDR haben drei Jahrzehnte lang rundheraus bestritten, daß es eine solche Erscheinung in der DDR geben könne — eine Ignoranz, die in der Konsequenz politischer Strategien (Abgrenzung) unvermeidlich war. Gleichwohl lebte auch in jenen Jahren ein DDR-spezifischer Jugendjargon. Eingangs der siebziger Jahre wurde er literarisch „rehabilitiert“ — durch Werke, die Jugendprobleme in der Sprache der Jugend aufgriffen, beginnend mit Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. In der Folgezeit dokumentierten DDR-Blätter und soziolinguistische Arbeiten aus Osteuropa Art und Umfang des DDR-Jugendjargons. Das zwang gleich mehrere sozialwissenschaftliche Disziplinen in der DDR zum Umdenken: Sprachsoziologen mußten die integrierende und emanzipierende Kraft dieser Sondersprache anerkennen, Sprachwissenschaftler revidierten ihre sprachkulturellen Schemata, Soziologen tasteten sich über jugendtypische Sprachkonventionen zu einem — ideologisch immer noch verpönten — homogenen Jugendbegriff vor. Im weiteren präsentiert die Darstellung drei exemplarische Wortlisten, von denen die ersten beiden die mehr oder minder „gesamtdeutsche“ Natur dieses Jargons dokumentieren, die dritte aber solche Ausdrücke aufführt, die unter dem Einfluß der Sondersprachen von NVA-Soldaten und politischen Gefangenen DDR-Eigengewächse sind. Abschließend wird geprüft, inwieweit sich aus der Sprache der Jugend ihr Lebensgefühl und ihre Weitsicht rekonstruieren lassen: Was wünschen und kritisieren DDR-Jugendliche, was denken sie über den DDR-Alltag, wie stehen sie zu Tabuthemen wie Partei und sowjetische Besatzungstruppen? (Teil) Antworten auf diese und weitere Fragen gibt ihr Jargon — auf den in der Bundesrepublik leider viel zu wenig gehört wird. Dieses sträfliche Weghören leisten wir uns gegenüber allen sprachlichen Phänomenen in der DDR — nachweislich zu unserem eigenen politischen Schaden!

„Ich lieb dich nicht. Du liebst mich nicht: De-De-Err" (DDR-Variante eines Schlagers der westdeutschen Popgruppe „Trio“)

I. Einführung

Zu den unabänderlichen Kennzeichen endgültig ausgelaufener eigener Jugend zählt: Man wird an universitären Kopiergeräten nicht mehr automatisch geduzt, findet Studentinnen immer hübscher, zuckt ob gewisser Kreationen jugendtypischer Sprachkonventionen zusammen. Letzteres ereignet sich vorzugsweise bei Ausdrücken wie diesen: Das soll gute Musik sein — da fall’n mir doch glatt die Eier ab oder Aufm Rockkonzert war'n tierisch geiles Feeling, hat uns echt voll durchgebumst. Brecht hätte seine Freude daran gehabt; was sein Episches Theater nur partiell schaffte — Glotzt nicht so romantisch! —, bringt die moderne Jugendsprache ganz im Vorbeigehen zuwege. Noch dazu grenzüberschreitend-generationsspezifisch. Auch in der DDR zuckt man zusammen, gewöhnt sich nur mit Mühe an gewisse, bei der Jugend favorisierte Ausdrücke.

Das läßt eine witzige Story zumindest erahnen, die der Ost-Berliner Eulenspiegel, (1986) 3, kürzlich veröffentlichte: Schüler wurden ermahnt, von bestimmten „Ausdrücken“ zu lassen, und wie das praktisch ablief, erzählt einer von ihnen: Wir merkten, daß eine schwere Zeit auf uns zukommt, und manchmal werden wir wahrscheinlich in Büchern suchen müssen, um fröhliche Ausdrücke wie kotzen, verscheißern oder Schnauze, Fresse und so was zu verbessern. Das fing ja schon damit an, als der lange Schücht in die Klasse schrie: „Heute gibt es ein geiles Fressen! Erbsensuppe!“ Wir fragten: „ Wasfür eine Speise? Vielleicht erklärst du mal, was geil heißt?“ Er konnte es nicht, keiner konnte es außerderbraven Bärbel: „Das ist ein Essen, wonach es einen gelüstet!“ Ach sooo, sagten wir, und jetzt wurde mir auch klar, warum dieses Wort immer öfter benutzt wird, besonders von den großen Schülern. Der Old Schätterhänd aus der Zehnten sagte zum Beispiel dieses Wort zur Cornelia Blumm aus der Achten. Aber die wußte wahrscheinlich nicht. daß dies was Gutes bedeutet, und haute dem Oldie eine in die Fr.. ich meine Visasche. Cornelia darf das. Sie ist kräftig und in der Sparte Junge Kugelstoßer. Kenner wissen: Das war Ottokar Dommas Geschoß — Originalton aus jener Serie fiktiver Schülerberichte, die seit rund 20 Jahren das DDR-Publikum entzückt. Die Domma-Feuilletons haben den Lesererfolg praktisch vorprogrammiert — als neueste Ausprägung des alten Erfolgsgenres der Schulsatiren, dazu in einem Stil geschrieben, der dem Schülervolk ständig aufs Maul schaut.

Ach sooo — auch die DDR-Jugend findet Erbsensuppe geil. Wie ihre Altersgenossen westlich der Elbe hat sie also den sprachlichen Schwenk zu alt-und mittelhochdeutschen Ursprüngen gemacht, bei denen geil noch die Bedeutung von gärend, kraftvoll, üppig, lustig hatte. Den Mehrfachschaden davon hat die ältere Generation, die — geprägt von der ausschließlich sexuell-stimulierenden Bedeutung dieses Adjektivs — Kommunikationsstörungen konspirativen Ausmaßes argwöhnt und gegen diese massiv zu Felde zieht. Natürlich bewirkt diese Abwehr nichts außer der Selbstentlarvung der Sprachwächter — die mitunter erfreulich harsch ausfallen kann. Da veranstaltete im November 1984 die Katholische Akademie München eine Tagung zum Thema Gruppen-sprachen, bei der heftig gegen den Neogrobianismus der Jugendsprache gewettert wurde. Si tacuissent! Die grobianische Literatur des 16. Jahrhunderts war das parodistische Gegenstück zu den gestelzten Tischzuchten, und wenn der neogrobianische Jugendjargon unserer Tage ein Gegenstück etwa zum unsäglichen Bonner Stil — Ich würde meinen, daß nach soviel Denkmustem ein echter Handlungsbedarf besteht — bildet, dann um so besser!

Es geht um den Jugendjargon in Deutschland, speziell in der DDR. Ein Jargon ist eine gruppen-spezifische Sprechweise, die in der Regel dadurch entsteht, daß vertrautem Wortgut ein neuer Sinn untergeschoben wird und die veränderten Begriffe auf neue Weise zu Sätzen organisiert werden. Triebkraft jedes Jargons ist die Unfähigkeit (Unwilligkeit) der Sprecher, das hier und jetzt für die Gruppe Belangvolle in herkömmlichen Sprachkonventionen auszudrücken (Skat-Spieler werden zustimmen, wenn sie einmal beobachten, wie sie selber die vielen kleinen Gemeinheiten und Triumphe des Spiels artikulieren).

Das sind, sehr vereinfacht, Kennzeichen jeder Sondersprache — die sich bei näherem Hinsehen stark differenzieren. Eine auf Tarnung, Abschließung und Geheimhaltung ausgerichtete Sprechweise, etwa das berühmte Rotwelsch der Gauner früherer Jahrhunderte, wird rasch zur Geheimsprache, die gegenüber Uneingeweihten bewußt konspirativ angelegt ist. • Eine auf Sachorientierung und Deskription zielende Kommunikation gestaltet sich zur Fachsprache, die es in mehr oder minder starker Ausprägung in jedem Berufszweig gibt. Jargon im engeren Sinne sind hingegen Sprachkonventionen, deren letztes Ziel Gruppen-erhalt, Integration etc. sind. Mischformen aus diesen drei Grundtypen, wie sie sich etwa in Armeen, Strafanstalten und anderswo herausbilden, können in diesem Zusammenhang unberücksichtigt bleiben.

Unter den Jargons spielt der Jugendjargon insofern eine Sonderrollfe, als er ähnliche Sprechweisen in Umfang, Dauer und Intensität übertrifft: Ein Jugendjargon artikuliert das Lebensgefühl einer ganzen Generation! Zwar kann niemand definieren, was Jugend letztlich ist — aber jeder kennt aus eigener Erfahrung die Spannungen dieses biopsychischen Moratoriums zwischen Kindheit und Erwachsensein, in dem der Mensch aus bisherigen Schonräumen entlassen wird und in neue Kollektive noch nicht integriert ist. Die grundlegende, psychische und soziale Statusunsicherheit dieser Lebensphase schlägt sich auch und gerade in der Sprache nieder:

— Ein Jugendjargon ist die Sprechweise der Emotionalität, Expressivität und Rigorosität, was speziell an den Synonymen für gut und schlecht deutlich wird: Gutes wird mit höchsten Superlativen bezeichnet, Schlechtes als Katastrophe artikuliert. — Eine wesentliche Funktion dieser Sondersprache ist der Intragruppen-Prestigegewinn, d. h., der Sprecher äußert sich mit Blick auf den Eindruck, den er auf seine Kameraden macht. Das lädt den Jargon mit Witz, Schlagfertigkeit, Lust an Übertreibungen, Sprachspielereien, hyperbolischen Wendungen u. a. auf.

— Der Jargon ist auch die Sprache jugendlichen Emanzipationsstrebens, was ihn in Teilen sarkastisch, aggressiv, respektlos macht: Wer sprachlich neue Identitäten markiert, etwa Polizisten als Bullen bezeichnet (wie es in der Bundesrepublik durchgehend, in der DDR oft geschieht, alternierend zu Sheriff), der schafft auch neue Bezüge um und zu sich selber.

— Die metaphorische Vielfalt des Jugendjargons gibt der Phantasie der Sprecher größte Freiräume, was ihre Sprechweise zu anderen Sprachkonventionen in bezeichnende Kontraste (Politiker-, Mediensprache) bzw. überraschende Nähe (Sprache der Literatur und Poesie) bringt.

Das mag als theoretischer Rahmen genügen, in den im folgenden einige sprachliche Charakteristika der DDR-Jugend zu stellen sind. Natürlich dominiert dabei das soziolinguistische Interesse, das aber den rein sprachlichen Horizont weit übersteigt — wie es J. Fishman 1965 in seinem klassischen Fragenkatalog für diese ganze Disziplin aufzeigte: Wer spricht in welcher Sprachvariante zu wem, wo, wann, über welche Themen und mit welchen Absichten und sozialen Konsequenzen?

II. Der lange Weg zur einfachen Erkenntnis

1983 erschien in Ost-Berlin Rudi Strahls zwerchfellerschütterndes Lustspiel Vor aller Augen. Die witzige Story — Verhaltensforscher wollen den Alltag einer Arbeiterfamilie erforschen und filmen zu diesem Zweck jede Bewegung der Familienmitglieder — war in einer Sprache gehalten, die einen sehr authentischen Eindruck macht. Die jungen Menschen, die in dem Stück erscheinen, benutzen u. a. diese Ausdrücke: Typ, Gesülze, Stabü (= Staatsbürgerkunde), Fummel (Kleidung), fummeln, bumsen, Stuß, Schuppen (= Discothek), mach ich mit links, zur Fahne gehen/bei der Fahne sein (Fahne = Armee), belatschern, zisch ab!, da geh ich kaputt. Und 1985 wurde in einer musikwissenschaftlichen Diplomarbeit an der Ost-Berliner Humboldt-Universität die Fanpost analysiert, die die außergewöhnlich populäre Rockgruppe Silly von DDR-Jugendlichen bekommen hat. Unter anderem wurde da geschrieben: Ichfinde euch urst gut; eure Musik ist tierisch; eure Frisuren sind knallheiß; eure Garderobe ist knackig und übelst gut usw. Das waren gängige Ausdrücke des gegenwärtigen DDR-Jugendjargons, und wie dieser insgesamt aussieht, will Margot Heinemann von der Leipziger Karl-Marx-Universität, die an einem Wörterbuch zur Jugendsprache arbeitet, dokumentieren. Das Vorhaben ist bekannt, leider nicht die Methode. Wo sammelt Frau Heinemann ihre Aus-, drücke, da diese mittlerweile in der DDR allgegenwärtig erscheinen? Längst haben sie beispielsweise die Nachtprogramme von Radio Stimme der DDR erobert. Was da als Tip-Disco, Pop-Mobil — Munter-buntes Nachtprogramm und anderes in den nächtlichen Äther geht, ist durchaus hörenswert. Nicht zuletzt wegen der Moderatoren-Sprüehe wie diesem: Es sollen sich nur echte Fans melden — nicht so Fratzenfallen, die mal’n paar Poster abgreifen wollen!

Sage niemand, die DDR wandle sich nicht! Auf sprachlichem Gebiet muten ihre Wandlungen mitunter fast revolutionär an. Noch 1964 hatte beispielsweise die Sprachwissenschaftlerin Elise Riesel die lebensfremde Behauptung aufgestellt, daß sich die gesunde deutsche Jugend in der DDR gegen eine Sonderlexik wehrt, deren Gebrauch sie von der übrigen Gesellschaft abschließen würde. Wäre dem so gewesen, dann hätte die DDR keine Jugend gehabt, schon gar nicht eine gesundel Dann wäre sie im Besitz einer indoktrinierten Menschenreserve gewesen, die willens-und sprachlos vorgezeichnete Denkschemen übernahm — und die SED hätte sich den ganzen Mauerbau sparen können. Kulturpolitisch standen die sechziger Jahre in der DDR im Zeichen des Sturms auf die Höhen der Kultur (Ulbricht 1960). Es wurde ein Amoklauf, den die Parteiführung aus der Bedrängnis heraus startete. Unfähig, mit Künstlern und Literaten zu diskutieren, bezichtigte sie diese des Nihilismus, Halbanarchismus, Skeptizismus, der Pornographie.

Die zweite Etappe der Kulturrevolution wurde gestartet, diejegliche etablierte Kultur offenbar hin-wegfegen sollte. Gegen die beargwöhnte Literatur setzte man die Produkte der Zirkel schreibender Arbeiter. Als Mustergenres einer neuen sozialistischen Nationalkultur wurden fortan Brigadetagebücher und Dorfchroniken gefeiert.

Aber bekanntlich reicht es ja nicht hin, keine Gedanken zu haben — man muß auch unfähig sein, sie auszudrücken. Insofern war die SED von bemerkenswerter Konsequenz, als sie ihren Sturm-lauf auf sprachlichen Stelzen der klapprigsten Art antrat. Uniformierung und Verarmung zeigt aber auch die Sprache des ostdeutschen Kommunismus, urteilte am 8. April 1961 die Neue Zürcher Zeitung, in Reden, Zeitungen, Zeitschriften, in der Literatur, überall stoßen wir auf dieselbe monotone, formel-hafte Sprache.

So war es, und fast hätte man vergessen, daß dieses Deutsch in der DDR von niemandem freiwillig in den Mund genommen wurde. Es gab nur wenige Periodika, die die offizielle Sprachverwilderung angriffen. Zu ihnen gehörte die Leipziger Zeitschrift Sprachpflege, die immer noch erscheint und unverändert lesenswert ist. Sie hatte schon ausgangs der fünfziger Jahre einen Feldzug gegen das Funktionärsdeutsch eingeleitet und es mit ausgesucht boshaften Beispielen karikiert: Die typischste Funktionärswendung ist wohl „das ungWort mit erfolgen“... Die Küssung des Kindes erfolgt durch die Mutter, Eine typisch kommunistische Floskel, die schon Manes Sperber aufgefallen war.

Fast völlig unter die publizistischen Räder geriet damals der Jugendjargon. Natürlich gab es ihn, und gelegentlich schimmerte er durch die Seiten des satirischen Eulenspiegel. In diesem Blatt schlug damals der — eingangs erwähnte — Ottokar Domma die Augen auf, und in Nummer 3/1966 hielt er beispielsweise folgende schöne Rede: Verehrte Pioniere! Der Franz hat recht, wenn er sagt, man muß nicht überall seinen Dreck in den Klassen verteilen, sondern die Botten am Rost abkratzen. Auch kannjeder seine Scheißpapierchen in den Papierkorb schmeißen und nicht unter die Bank. Aber der Herr Pionierleiter hat mir gleich wieder das Wort weggenommen.

Älteres Pendant zu Ottokar Domma war Frisör Kleinekorte, der damals ebenfalls in Serie seine listigen Weisheiten im Eulenspiegel äußerte; das klang beispielsweise so ([1966] 29): Ich dachte wunder, wen ick heute aufm Sonnabend im Blauen Affen alles treffe, aber bei dis schöne Wetter is hier nachmittags ne dote Hose, wie die Jugendsagt. Und schließlich waren die mittleren sechziger Jahre ja die hohe Zeit der Beatles, die mit Pilzköpfen und Songs wie I want to hold your hand natürlich auch in der DDR jugendliche Maßstäbe setzten. Im ersten Juni-Heft 1966 dokumentierte der Eulenspiegel das sogar auf der Titelseite: Kindermund 66 — Ei wann tu hooljur Hemd... Und so ging es in den frühen siebziger Jahren weiter — mit wachsender Intensität, vor der auch Anna Seghers, grand old Lady der DDR-Literatur, kapitulierte. Verwirrt ob der modischen sprachlichen Saloppheit unter Jugendlichen bat sie Kundige um Aufklärung und reagierte mit heiterer Einsichtigkeit: Solche Sachen kommen und verschwinden immerzu.

Aber sprachliches Leben ist eine, ideologische Verbohrtheit eine andere Sache, und so war noch 1973 in der angesehenen und maßgebenden Zeitschriftfür Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung (ZPSK) dieses Verdikt zu lesen: Die sogenannte „Sprache der Teenager und Twens“ stand und steht wesentlich im Dienste komB merzieller und politisch-ideologischer Bestrebungen der Monopolbourgeoisie in der Bundesrepublik. Als dieser Unsinn niedergeschrieben wurde, war seit fast zwei Jahren der Gegenbeweis nachzulesen und von der Bühne zu hören — Ulrich Plenzdorfs Neue Leiden des jungen W. (das vielleicht schönste deutschsprachige Buch der Nachkriegszeit). Diese Geschichte vom Leben und Sterben eines individualistischen Aussteigers löste von London bis Moskau einhellige Begeisterung aus, wurde in zwei Dutzend Sprachen übersetzt, verfilmt und im Fernsehen gespielt. Es sei ein kollektives Porträt der DDR-Jugend, befand der Autor, und eine Kritikerdiskussion präzisierte, was das Buch so faszinierend machte: Es hat auf die jungen Leute ... einen so starken Eindruck gemacht, weil sich der Held des Stückes so geäußert hat, wie sich eben Siebzehnjährige hierzulande äußern, und dabei Probleme angesprochen hat, die sie unmittelbar bewegen.

Plenzdorf fand Nachfolger unter den DDR-Literaten. Er selber stand in einer neuen osteuropäischen Realismuswelle: Der Russe V. Aksenov (Fahrkarte zu den Sternen), der Tscheche J. Skvorecky (Nylon-Zeitalter), der Bulgare I. Petrov (Vierzehn Küsse) und manch anderer hatten über Nacht damit begonnen, Probleme der Jugend in der Sprache der Jugend künstlerisch abzuhandeln — um dadurch zu einem Anwalt der Jugend zu werden (lange vor dem Start der empirischen Jugendforschung in den Ländern Osteuropas). Plenzdorfs Neue Leiden waren nicht zuletzt ein lebendiges Sprachzeugnis, wo der junge Held Edgar Wibeau laufend Sätze wie diese äußerte: Natürlich Jeans! Oder kann sich einer ein Leben ohne Jeans vorstellen ? Jeans sind die edelsten Hosen der Welt. Dafür verzichte ich doch auf die ganzen synthetischen Lappen aus der Jumo, die ewig tiffig aussehen ... Wer echter Jeansträger ist, weiß, welche ich meine. Was nicht heißt, daß jeder, der echte Jeans trägt, auch echter Jeansträger ist. Die meisten wissen gar nicht, was sie da auf dem Leib haben. Es tötete mich immer fast gar nicht, wenn ich so einen fünfundzwanzigjährigen Knacker mit Jeans sah.

Die Literaten waren sich einig, daß das Original-ton DDR-Jugend war. Was aber sagte die Sprachwissenschaft dazu, was durfte sie sagen? Sie geriet in eine ziemlich scheußliche Klemme — was sie als monopolbourgeoise Erfindung abgetan hatte, entpuppte sich als attraktive, authentische Sprachkonvention der jüngsten Mitbürger. Man griff zu der Verlegenheitskonstruktion der Figurensprache, die die Literaten angeblich verwendeten, um mit ihrer Hilfe reale Bilder vom Leben der Menschen in unserer Gesellschaft zu zeichnen. Gewonnen war damit gar nichts. Zum einen zeichnete sich die Gefahr ab, daß sozialistische Schriftsteller durch die Verwendung gruppenspezifischer Jargons möglicherweise einem platten Naturalismus in der Sprachgebung anheimfielen. Zum zweiten wußte man nicht mit letzter Klarheit, was Jargons sind und was sie bedeuten.

Immerhin wurde eine Forschungslücke ausgemacht, und 1974 erkannte die Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung: Andere Unterschiede im Sprachgebrauch werden nicht in erster Linie von der Zugehörigkeit der Sprecher zu einer bestimmten sozialen Schicht bestimmt, sondern sind mehr durch gruppenpsychologische Faktoren bedingt. So existieren innerhalb bestimmter Berufs-und Altersgruppen, besonders innerhalb von Kinder-und Jugendgruppen, sozial bedingte Sprachnormen, die der einzelne einhalten muß, wenn er von dieser Gemeinschaft voll anerkannt werden will... Die Kommunikation im Rahmen solcher Gemeinschaften spielt im Alltag eine große Rolle. Daher muß sich die Sprachwissenschaft auch mit diesen soziologisch bedingten Gruppen-sprachen und mit den Bedingungen, die die Wahl einer bestimmten Sprachschicht determinieren, stärker als bisher beschäftigen.

Was sich die DDR-Wissenschaftler erst vornahmen, hatte die sowjetische Linguistin Evgenija Rozen bereits besorgt; sie schaute die neuere Literatur der DDR durch und veröffentlichte 1975 einen gescheiten und einfühlsamen Aufsatz über den Jugendjargon der DDR. Drei Momente waren in diesem — in russischer Sprache geschriebenen — Aufsatz zu Recht herausgestellt:

— Der Jugendjargon besteht aus einer jugendlichen Sonderlexik, die nicht sofort verständlich ist, obschon sie durchaus vertraute Begriffe benutzt — freilich mit neuem Sinn und in neuer Zuordnung zueinander; verstanden wird dieser Jargon innerhalb der Gruppe, wo er ein grundlegender Integrationsfaktor ist — er artikuliert und unterstreicht altersgemäße Solidarität, gegenseitiges Verständnis und die Gemeinsamkeit der Interessen und Wertorientierungen.

— Als Sprache der Jugend ist der Jargon Medium der Emotionalität, Expressivität und der Lust an hyperbolischen Wendungen — Charakteristika, die den altersgemäßen Bedürfnissen verbaler Selbstäußerung entsprechen. Man liebt starke, ja schockierende Worte und Wendungen, um sich damit vom üblichen Sprachgebrauch abzusetzen und den Intragruppenkontakt zu stärken.

— Der Jugendjargon belegt, daß Jugendliche nicht Werte und Normen der Erwachsenenwelt passiv und sprachlos übernehmen. Mit jedem neuen Ausdruck entsteht eine neue Identität in neuen Problembezügen — das jugendliche Streben nach souveräner Selbständigkeit, nach Emanzipation also, wird verbalisiert sichtbar.

Mit anderen Worten: Der Jugendjargon war literarisch rehabilitiert und sprachwissenschaftlich in den klassischen Kriterien abgesteckt — aber wo blieb er selber? Gab es ihn am Ende wirklich nur als Figurensprache in bestimmten Literaturgenres? Der Jargon lebte, und als erste hatte die Ost-Berliner Frauenzeitschrift Für Dich Mitte 1976 den Mut, ihn in dankenswerter Breite vorzuführen. Dabei erfuhr man u. a. folgende Ausdrücke: sich (k) einen Kopp machen — (nicht) nachdenken affenstarker Typ Fakt, Baby!

nicht aus der Hüfte (Knete, Marmelade, Asche)

kommen — den ganzen Tag nicht munter werden (k) einen Aufriß machen — sich (nicht) aufregen das schlafft, da peitscht mich nackter Ekel eindrehen — essen keinen Saft mehr haben — pleite sein eine Dicke einfangen — schlechte Noten bekommen Geikel — Witz urste Pose — besonderes Erlebnis das poppt, fetzt, schockt, ist einwandfrei — ist gut scharfe Käthe, Supermutter den Kopp zumachen — schweigen vom Hof reiten — verschwinden Dieser kurze Text aus Für Dich war gewissermaßen die offizielle Inthronisation des Jugendjargons in der DDR. Heute kann man ihn beinahe schon mit Rührung betrachten, denn was damals noch sehr jargonig klang, hat mittlerweile beinahe standardsprachliche Weihen erhalten: Sich einen Kopfmachen ist heute sogar schon in Artikelüberschriften politischer Zeitschriften zu finden (z. B. Armeerundschau, (1981) 4: Der macht sich 'nen Kopf—Aussagen über einen Gruppenführer), fetzen ist bereits in den Refrain politischer Lieder eingegangen (Pionier zu sein, fetzt ein), und einwandfrei ist mittlerweile ein so gängiges Synonym für gut, daß es auch in die Sprache der Lausitzer Sorben, der slavischen Volksgruppe im Osten der DDR, eingegangen ist — in „wörtlicher“ Übersetzung: jedna scena swobodna — eine Wand (ist) frei.

Und weil dem so ist, hatte man im Januar 1980 im Leipziger Herder-Institut — dem hocheffizienten und optimal organisierten Pendant der Goethe-Institute — keine Bedenken, den Für Dich-Text als Arbeitsmaterialfür den Deutsch lernenden Ausländer zu veröffentlichen, angereichert mit folgenden einleitenden Worten: Sie haben Ihren Urlaub im vergangenen Jahr in der DDR verlebt. Sie glaubten bisher, gut Deutsch sprechen zu können, und trotz dem hatten Sie — besonders bei Gesprächen mit Jugendlichen — Schwierigkeiten, immer folgen zu können. Machen Sie sich keinen Kopp (nicht grübeln), diefolgenden Zeilen wollen Ihnen einen kleinen Einblick in die Umgangssprache Jugendlicher geben. Die Beherrschung dieses Mindestwortschatzes wird Ihnen bei Ihrem nächsten Besuch bestimmt das Prädikat „affenstarker Typ“ (Lob, Anerkennung) einbringen. Fakt, Baby!

An der sprachlichen Front eroberte der Jargon unterdessen neue Positionen. Ende der siebziger Jahre waren bereits Texte möglich, die den Jargon selber und seine Wurzeln dokumentierten — etwa seine Aufladung mit Anglizismen (Amerikanismen). Ohne sie kommt praktisch keine Sprache mehr aus, und bislang waren die Sport-und die Computerterminologie die Haupteinfallstore für dieses Wortgut; als dritter Weg ist die moderne Unterhaltungsmusik (samt subkulturellem Umfeld) hinzugekommen, die vor allem im Jugend-jargon Spuren hinterlassen hat.

Daß die DDR hierbei keine Ausnahme macht, bezeugt u. a. Ernst Röhl — ein besonders sensibler, witziger Beobachter umgangssprachlicher Entwicklungen. 1979 veröffentlichte er im Eulenspiegel diesen herrlichen Text: Aus Fremdsprachen mach ick mir nüscht, fans! Ick liebe meine Muttasprache, det sarick euch janz cool! Die deutsche Sprache, wa, ob ickse nu live hör oda vonne single oda LP, wa, oda ob ickse uffn paperback lesen tu, also die deutsche Sprache, die is all right. Die is so ’n riehtja oldie, aba jrade, weilse so ’n oldie is, is se echt in. Die hat pep, die hat sex, die hat so ’n irren touch, die hat so ’n sound, so ’n drive. Det swingt und poppt, det machtma high, det machtma happy. Einfach crazy. Nee, laßt ma fans, — Deutsch is okay!

Zugegeben: ein fiktiver Text — der aber gar nicht so weit von der sprachlichen Realität entfernt ist. Da veröffentlichte beispielsweise das FDJ-Organ Junge Welt am 18. Juni 1983 einen Aufruf, der in Lexik und Syntax überdeutliche Einflüsse des Jugendjargons aufwies. Und so begann er: Hallo, Zweiradfans! Die Motorbiene düst wieder los zur Mokick-Rallye ’ 84. Ein großer Knüller! So die einhellige Meinung aller, die während der 1. DDR-Mokick-Rallye 1983) mitgebrummt sind oder zugeschaut haben.

Lassen wir für den Moment die Beispiele, und konstatieren wir die Tatsache, daß der Jugendjargon der DDR nicht mehr im Verborgenen blüht. Er ist anerkannt, wird als jugendspezifische Sprachkonvention wohlwollend toleriert und hat in einer Weise auf die Medienlandschaft „drüben“ abgefärbt, für die der Ausdruck Bereicherung nicht zu hoch gegriffen erscheint. Daß es immer noch gewisse Widerstände gegen ihn gibt, tut nichts zur Sache; das sind Rückzugs-gefechte, wie Jürgen Beneke im August 1985 in der Sprachpflege überzeugend darlegte: Immer wieder — und in den letzten Jahren verstärkt — melden sich Vertreter der verschiedensten sozialen Schichten und Gruppen zu Wort, um ihre Meinung über die Sprechweise Jugendlicher zum Ausdruck zu bringen. Die Älteren wollen, oft aus unangenehmem aktuellem Erleben heraus, ihren Unwillen, ihr Unverständnis, artikulieren; Eltern und Lehrer melden ihre Sorgen über mögliche Folgen dieser Sprechweise an; und verschiedene Linguisten, vor allem aus der BRD, bringen das „Exotische“ dieser Erscheinung wirksam ins Spiel. Andere Sprachwissenschaftler, z. B. in der UdSSR, weisen auf die „Gefährlichkeit dieser Sprache“ hin .,. Doch diese jugendspezifische Sprachvarietät lebt, wie auch immer zu dieser sprachlichen Erscheinung Stellung genommen wird. Ihr Auftreten konzentriert sich aufSituationen, die durch einen privaten, nichtofflziellen Charakter geprägt sind. Und gerade hier erfüllt die Verwendungjugendtypischer Ausdrücke und Rede-weisen eine eben nur durch diese Art und Weise sprachlich-kommunikativer Tätigkeit zu verwirklichende soziale Funktion.

III. Position und lexikalische Dimensionen des DDR-Jugendjargons

Mit der offiziellen Anerkennung des Jugendjargons ergaben sich neue, schwerwiegende Probleme — glücklicherweise nicht für ihn. Da ist z. B. die ungemein komplexe Frage nach dem Verhältnis Jargon — Sprachkultur. Paßt dem Linguisten Gerda ihr Kleid? hat der Kölner Journalist Frank J. Heinemann 1984 höhnisch die Wächter der Sprachkultur gefragt. Eine berechtigte Frage: Unter kommunikativem Aspekt ist Gerda ihr Kleid adäquater Sprachgebrauch — man höre sich in Deutschland nur mal um! Unter normativem Aspekt hingegen ist der Ausdruck falsch, und selbst inflationäre Verwendung kann ihn nicht richtiger machen. Im Grunde weiß niemand, warum er falsch ist — fest steht nur, daß Gerda ihr Kleid etwa von Wörterbuchmachern noch so oft deskriptiv gefunden werden kann, er wird dennoch so bald keinen präskriptiven Rang bekommen.

Und wenn uns schon die Sprachkultur Sorgen macht — in der DDR tut sie es noch viel mehr. Sprachkultur ist, summarisch gesagt, die Entwicklung des Sprachbewußtseins einer Sprach-und/oder Kommunikationsgemeinschaft. Bewußtsein wessen? Der Verschiedenheit sprachlich-kommunikativen Verhaltens, wobei diese Verschiedenheit funktional, kommunikativ oder gar sozial sein kann, d. h. im letzteren Fall, daß bestimmte Abweichungen von standardsprachlichen Ausdrucksformen mit einer mehr oder minder deutlichen sozialen Abwertung einhergehen. — Entwicklung wozu? Zu Sprachverhalten, sprachlicher Fähigkeit, Sprach-beherrschung, Kultur, aber auch zu aktivem Eingreifen zum Nutzen des Standards, seiner Vervollkommnung und Entwicklung, zu Anleitung, zu Verbesserung im schriftlichen oder mündlichen Ausdruck in bezug auf Wortwahl, Wortform und Satzbau und so weiter — an Definitionen ist wahrhaft kein Mangel, wobei diese Fülle nur die grundsätzliche Ratlosigkeit der Diskutanten bezeugt.

Erschwert wird die Situation durch den terminologischen Umstand, daß man in der DDR immer noch den — aus der Sowjetunion importierten — Begriff Literatursprache (statt Schrift- oder Standardsprache) verwendet, wodurch jede Diskussion automatisch etwas unangemessen Hohes erhält — wer mag sich schon gern sprachlich an der Literatur vergehen?

Und nun kommt — mit offiziellem Segen — der Jugendjargon als weitere nichtstandardsprachliche Varietät in die allgemeine Kommunikation. Und er kommt nicht etwa als Störfaktor, sondern eher als eine Art sprachlicher Erlösung. Endlich gibt es eine Standardabweichung, die nicht sozial bedingt ist, sondern funktional-situativ eingesetzt wird, Ausdruck einer bestimmten sprachlichen Souveränität, nämlich der Neigung zum Wechseln aufAchsen ..., deren einer Pol immer die Standard-sprache und deren anderer Pol eine nichtstandardsprachliche Varietät ist.

Na bitte — Jargonsprecher sind die besten Sprecher, Protagonisten einer bewußten Diglossie, erste Schwalben einer Tendenz zur muttersprachlichen „Mehrsprachigkeit“ ..., einer Neigung, entsprechend den Anforderungen derjeweiligen Kommunikationssituation bestimmte Varietäten einzusetzen. Dagegen ist doch gar nichts zu sagen! Zu fragen ist jedoch, was unter diesen Umständen aus den planerisch-intentionalen Eingriffsmöglichkeiten wird, die im DDR-Verständnis von „Sprachkultur“ auch angelegt sind (die Antwort darauf abzuwarten, dürfte spannend werden). Kaum leichtere Probleme knüpfen sich an die Kommunität der Jargonsprecher. Daß sie jung ist, steht außer Frage. Aber ist sie eine Jugend? Natürlich nicht — ein gesellschaftliches Kollektiv dieses Namens gibt es nicht (!), dekretiert streng die grundlegende Gesellschaftswissenschaft des Histori45 sehen Materialismus. Wer eine Jugend erkennt, verwischt in unzulässiger Weise die Grenzen von Klassen (und Klassenkämpfen); das Wesen des Menschen ist klassenmäßig, folglich gibt es keine Jugend, sondern nur an Jahren junge Segmente von Klassen und Schichten: junge Arbeiter, Land-jugendliche, junge Angehörige der Intelligenz etc. In der referierten Strenge besteht der dogmatische Verzicht auf einen homogenen Jugendbegriff nur noch in der Sowjetunion und der DDR — in letzterer nicht mehr unumstritten. Wie Jürgen Beneke 1985 in der Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung ausführte, ist es so, daß Jugend gewissermaßen nachträglich über jugendspezifische Sprechweisen rekonstruierbar wird: Es gibt einen Generationssoziolekt als jugendspezifische Sprachvarietät; sie ist sprachlicher Reflex von biologischen, sozialen und psychologischen Gemeinsamkeiten einer bestimmten Menschengruppe. Welcher? Die interessante Antwort Benekes: Auch die soziale Kategorie Jugend selbst ist ein in sich differenzierter Teilorganismus der Gesellschaft, der seine Einheit in ständiger Dialektik mit seiner Differenziertheit herstellt.

Ein Mittel dazu ist die jugendspezifisch geprägte sprachlich-kommunikative Tätigkeit junger Menschen. So besteht eine soziale Funktion dieser Tätigkeit neben der Persönlichkeitsbildung ... darin, die Identitätsfindung mit der Gruppe Gleichaltriger und Gleichgesinnter zu realisieren ... So dient die Verwendung jugendspezifischer Sprachbesonderheiten sowohl der Identitätsfindung als auch der Abgrenzung. Weitere Positionen des Jugendjargons liegen in seiner naturnotwendigen Kontrastwirkung beschlossen. Daß zwischen ihm und der parteilichen „Weihesprache“ —jenem unerträglichen Gelaber aus Selbstlob (ruhmreiche Avantgarde), pseudoszientistischem Wortgut (modernste Normative), falsch verwendeten Lehn-und Fremdworten (Rekonstruktion statt Sanierung, Umbau), sowjetisierten Partizipialkonstruktionen (ausgehend von und fest geschart um) und anderem Schwulst mehr — eine Extremdistanz herrschen muß, liegt auf der Hand. Aber in der DDR gibt es noch andere Bereiche, auf die der Befehlsstil der Amtssprache unangenehm abgefärbt hat — man denke nur an die Schilder in Restaurants: Sie werden plaziert!

Die in Ost-Berlin erscheinende Weltbühne hat. dieses rüde-rotzige Raunzen mehrfach im Original-ton dokumentiert, zuletzt am 11. Februar 1986, u. a. am Beispiel eines Reisebüros: Bitte verweilen Sie bis zum Aufruf in der Mitte des Raumes, oder nehmen Sie dort Platz. Wenn alles besetzt ist, hätten Sie sich eben Klappstühle mitbringen müssen. Wollen Sie nun verreisen oder wollen Sie hier sitzen?

Uns kann das doch egal sein. Bitte die Kolleginnen nicht anzusprechen. Auskünfte werden nur an der Auskunft erteilt. Die Auskunft ist gerade seit zwei Stunden mal weg, weil sie muß, das ist ihr gutes Recht, ein Reisebüro ist auch ein Mensch. Bitte um Ruhe. Bitte die Formulare bereithalten. Sie haben das falsch ausgefüllt. Bitte verweilen Sie in der Mitte.

Wer heutige DDR-Jugendliche in der zitierten Weise anspräche, liefe Gefahr, wie folgt kommentiert zu werden: bei dem scheppert's; der läuft nicht ganz rund, der Junge; bei dem rasselt’s im Koppe; der is ja pervers; der hat doch was an der Waffel usw. Hier kann und muß der Jugendjargon eine wohltuende Sprengwirkung ausüben — schließlich ist er eine sprachliche Kavallerieattacke, die überall dort ihre aufrührerische Rolle spielt, wo sich sprachlicher Despotismus, Druck, Langeweile und Eintönigkeit breit machen (sagte 1980 der bulgarische Schriftsteller und Drehbuchautor Nikolaj Chajtov, einer der vehementesten Verteidiger des Jugendjargons in Osteuropa).

Alle diese Momente sind zweifellos wichtig — bedeutungsvoller noch erscheint indessen eine andere Eigenart des Jugendjargons, die sich erst bei näherer Beschäftigung mit ihm erschließt: Er ist eine Internationale sui generis. Der bulgarische Linguist Stojko Stojkov (1912— 1969) hat 1946 seine Studie Der Sofioter Schülerjargon publiziert, ein in seiner Brillanz und Einfühlsamkeit selten erreichtes Werk. Das lexikalische Material seiner Studie hatte Stojkov an wenigen Sofioter Gymnasien gesammelt, trug aber keine Bedenken, es gewissermaßen als weltweit repräsentativ anzusehen: Man kann sagen, daß sich Schüler-und Jugendjargons der einzelnen Völker nur hinsichtlich des konkreten Sprachmaterials unterscheiden, weil sie absolut identisch sind, was den allgemeinen Charakter des lexikalischen Fundus betrifft.

Und was ist mit dem Jargon innerhalb eines Volkes, das gleichwohl durch Grenzen und Gesellschaftssysteme getrennt ist? Der Jugendjargon ignoriert zum größeren Teil diese Grenzen und systemaren Unterschiede, er wird zum sprachlichen Gesamtphänomen. Das gilt auch für die innerdeutsche Situation, und es gilt um so mehr, als in der DDR zwischen 1969 und 1980 ernsthaft versucht wurde, die Gemeinsamkeit der National-sprache aufzukündigen. Die Deutschen driften sprachlich immer weiter auseinander, bis auch im Bereich der Sprache eine unumkehrbare Abgrenzung eingetreten sein wird. Das war ein Jahrzehnt lang der Tenor der DDR-Argumentation, der vor allem von Teilen der westdeutschen Publizistik akzeptiert wurde — mit wollüstigem Erschauern malte man sich aus, wann wohl deutsch-deutsche Simultandolmetscher (DIE ZEIT, [1978] 40) benötigt würden. Man wird sie niemals benötigen — erkannten die Fachleute. Was es an minimalen Sprachdifferenzen zwischen den Deutschen gibt, spielt sich allein im Bereich einer politisch-ideologischen Lexik ab, hat kaum Einflüsse auf das literarische Deutsch und gar keine auf Umgangssprache oder gar Grammatik der deutschen Sprache. Und diese Erkenntnisse wurden nicht nur im Westen gewonnen, sondern auch in den Bruderländern der DDR, wo beispielsweise die Polin I. May, der Russe A. Domasnev u. a. zu identischen Schlußfolgerungen kamen. Und vor allem dieser Umstand mag die DDR veranlaßt haben, wenigstens im Sprachlichen ihre Abgrenzungspolitik vollauf zurückzunehmen.

Jargonkenner haben die früheren Bemühungen der DDR stets mit einer gewissen Gelassenheit betrachtet, denn der Jugendjargon blieb zum größeren Teil „gesamtdeutsch“. Weil die DDR-Jugend ein so treuer Kunde westdeutscher Medien ist (ZDF ARD — Zentrales Deutsches Fernsehen Außer Raum Dresden) — würden viele als Grund anführen. Aber es reicht wohl nicht ganz hin; ein gesamtdeutsches jugendliches Lebensgefühl (in dem gewiß auch gesamtdeutsche Ängste eingelagert sind) hat das Seine beigesteuert. Wie dem auch immer sei — Tatsache ist, daß weit über die Hälfte des DDR-Jugendjargons aus Ausdrücken besteht, wie sie absolut identisch auch in der Bundesrepublik im Umlauf sind: abfahren: aufdas Stück, fahr’ ich ab wie John Travolta abschalten: da kannste nur abschalten alt aussehen: da hätteste aber alt ausgesehen ätzend: der Professor, also, ein ätzend strenger Typ anmachen: mach mich nicht an, Typ antörnen: törnt mich nicht an ausßippen: über der Platte könnt’ ich ausßippen Bock: keinen (Null) Bock haben, auf etwas satten Bock haben chaotisch: und da kann man aus irgendwelchen chaotischen Gründen nicht hin cool: bleib ’ ganz cool echt: also, das hat mich echt frustriert eh ’: Tach, eh ’ Fan: hallo, fans, was hängt ihr hier rum?

Faß: da hab’ ich ein Faß aufgemacht fetzen, fetzig Freak Frust geil: die wohnen echt verschärft, da können sich die Bullen geil dran hochziehen heiß: heißer Tip hohl: das ist total hohl irre: Oma hat so irre alten Plunder Kacke: auf die Kacke hauen kaputt: kaputter Typ Kralle Kumpel Kunde link: 1. linker Vogel, 2.der macht das mit links und vierzig Fieber Mieze Muffe: da ging mir die Muffe Ofen Rabatz rauskloppen: irgendwelche politischen Parolen darfste nicht rauskloppen reinziehen: bei „Jugendradio DT 64“ kann man sich ohne Unterbrechung die Musik reinziehen rumeiern rund: 1. die Scheibe ist so was von rund, 2.der tickt nicht rund satt: satter Sound Scheiß(e): 1. Scheiß(e) bauen, 2. Scheißdiskussion, 3. die ganze Scheiße hier Tante total Tussi Terror: da haben wir Terror gemacht IVahnsinn: „Unsere erste Begegnung war IVahnsinn/wir schwebten ganz oben/uns trennte nichts/nichts als die nackte Haut“

(DDR-Rocksong von 1986)

Zoff Die Liste ist natürlich unvollständig, mag für einen ersten Eindruck jedoch hinreichen. Mit den angeführten Ausdrücken engstens verwandt sind solche, die gewissermaßen Ost-West-kompatibel wären: Ob Jugendliche nun von abstauben (Bundesrepublik) oder abgreifen (DDR) sprechen, ist ziemlich belanglos, solange der verwendete Ausdruck auf Anhieb verständlich ist. Ähnliche Ausdrücke sind u. a.:

action: der Film hatte irre action (ober) affengeil Anschiß: der macht’n dicken Anschiß (Enttäuschung) anwichsen: das’n Kumpel, der wichst nicht an (verrät nicht)

beatet: die Sache beatet (ist sehr gut)

einwandfrei Eumel (Kamerad)

Fratzenfalle future: nofuture haben (in der Prüfung ahnungslos sein)

galaktisch (sehr gut)

Giftblatt (Zeugnis)

Ische (Mädchen) Knaller (Dummkopf)

Kugel: auf der Kugel stehen (etwas souverän im Griff haben)

Mutti (Freundin)

Nickmann (Jasager, Angepaßter) Ordnungsgong (Hieb, der einen Störer unauffällig zur Ruhe bringt)

Ost: wennde Ost siehst, wirste gefragt, warum (DDR-Fernsehen)

Pupel (Jasager, Angepaßter)

Regierung (Eltern)

Rundstrick (Krawatte)

Sahne: das ist für Leipzig die absolute Sahne (Höhepunkt)

sau-: saustarker Film, saucooler Typ, saugeiler Streifen Schotter: Schotter bleibt auf der Straße Schach: wenn uns^iner aufn Keks geht, gibts heute noch Schach!

Supermutter Torte (Freundin)

urig, urst (sehr gut)

Verlade (Verrat, Anschwärzen)

verschärft: wenn die Kunden da sind, geht’s echt verschärft los Veteran (jemand über 20)

West: ich sehe fast nur West (Fernsehen der Bundesrepublik) Schließlich gibt es noch eine dritte Gruppe von Jargonausdrücken, die nicht einfach verständlich sind. Es handelt sich vielfach um Ausdrücke, die aus den Sondersprachen der Soldaten (s) und der politischen Gefangenen (g) in den Jugendjargon gekommen sind. Beispiele dafür wären u. a.: abkübeln (g) (spurlos verschwinden)

alles paletti (alles in Ordnung)

Bärenfotze (s) (Pelzmütze in der Armee)

Bandmaßanschnitt (s) (wenn NVA-Soldaten nur noch 100 Tage bis zur Entlassung haben und erstmals einen Zentimeter von einem Bandmaß abschneiden)

blaue Kacheln (westdeutsche 100-DM-Scheine)

Bumsprämie (Teil des Jungverheiratetendarlehens, der nach der Geburt eines Kindes erlassen wird; früher auch abkindern genannt)

Bunde (g), Bundi (Bundesrepublik, Westdeutscher); seltener Wessiland deli (sehr gut, abgeleitet von den „Delikat" -

Läden)

drei Gramm (SED-Parteiabzeichen, angeblich von BL-Leuten (Funktionären der Bezirksleitung) in Umlauf gebracht; früher waren die Ausdrücke Bonbon oder Märchenauge üblich)

einfahren (g) (verhaftet/verurteilt werden)

Ein-Strich-kein-Strich (s, g) (NVA-Tarnkleidung, deren abgelegte Exemplare in Haftanstalten verwendet werden)

EK (s) („Entlassungskandidat“, NVA-Soldat im 3. Diensthalbjahr)

Fahne (s) (Armee, Wehrdienst) Grothewohl-Expreß (g) (Häftlingstransport per Bahn, weil er scheinbar ins geradewohl fährt, nach dem ersten DDR-Ministerpräsidenten benannt) Kalte: der hat schon zweimal die Kalte gehabt (eine Art Verbannung für hartnäckige Asis (Asoziale), die nach Haftverbüßung Zwangswohnsitz in Dörfern des Oderbruchs nehmen müssen) Konsumbrot: dumm wie’n Konsumbrot Kopf-zurück-Bewegung (Erinnerung an Polizeiaktionen Ende der sechziger Jahre, als Jugendlichen gewaltsam die Haare geschoren wurden) Linienschiff, rote Socke (übereifriger SED-oder FDJ-Aktivist)

Nuttendiesel (s) (Parfüm)

Rostquietsch (sowjetische Automarke „Moskwitsch“)

Sankt Walter (der unter Walter Ulbricht in OstBerlin erbaute Fersehturm, dessen blecherne Kuppelverkleidung bei Sonneneinstrahlung ein Kreuz reflektiert)

Zoni (g) (jugendlicher Polithäftling, der sich nicht in die Bundesrepublik freikaufen lassen möchte)

Wohlgemerkt: So sprechen die Jugendlichen nicht nur und nicht immer. Es wäre auch schlimm, wenn es anders wäre — dann unterlägen die jungen Menschen einer sprachlichen (geistigen) Deformation, die der der Linienschiffe, die nur noch Parteichinesisch können, spiegelgleich wäre. Tatsächlich ist der Jugendjargon der genaue Gegenpol zu diesem hohlen Gesülze, und seine fließende Flexibiltät macht ihn dazu.

Fließend ist schon seine Lexik, wie die Zeitschrift Elternhaus und Schule 1980 zu Recht konstatierte: Und ein bewegliches Vokabular! Rasch werden Wortneubildungen oder Wörter in bisher nicht üblicher Bedeutung aufgenommen, rasch verschwindet ein Teil von ihnen wieder aus dem Sprachgebrauch. Gestern „fetzte“ es noch „ein“, heute ist vieles „echt urst“. Und morgen? Das ist noch nicht abzusehen. Pardon — abzusehen ist es schon. Mit ziemlicher Sicherheit wird auch der DDR-Jugendjargon auf die Computer-Sprache reagieren; westdeutsche Jugendliche praktizieren das schon — z. B. mit Ausdrücken wie leerer Speicher als Synonym für dumm. Die zweite Ebene der Flexibilität ist, daß allein der Sprecher entscheidet, wann Jargonverwendung der kommunikativen Situation angemessen erscheint. In einer Ideologieprüfung werden Jugendliche anders sprechen als im Umgang mit Lehrern oder ihresgleichen. Einen Eindruck von dieser spezifischen Diglossie vermittelt die (eingangs erwähnte) Komödie Vor aller Augen. Im Wohnzimmer der zu beobachtenden Arbeiterfamilie hängt ein Lenin-Bild, und mit dem hält Tochter Elke erboste Zwiesprache: Der muß doch beknackt sein! Hirnrissig! Jawohl: Doktor Schlurff!

Ich zieh extra das Blauhemd an, mache schon in der Pause mein positivstes Gesicht, sag noch den anderen: „Reißt euch zusammen, Jugendfreunde: Wissen i ist Macht!“, gucke bei keinem ab, bin sogar als erste mit der Arbeit fertig — und dann: ne Fünf! In Stabü! Wo bleibt da die Gerechtigkeit? Brauchen Sie : gar nicht zu grienen, Herr Lenin! Weil Sie ja dran \ schuld sind — von wegen „Staat und Revolution“!

Klar, da sind vielleicht schon ganz andere ins . Schleudern gekommen, aber wenns einem sechs Wo-i chen vorm Abi passiert ... ist der Schnitt schon versaut und reicht nicht mehr für die Schauspiel schule! Höchstensfür Ökonomie noch ... — damit sie mal spitzkriegen, was Widersprüche sind! Aber dann: Myriam Wenzel, die jeden Subbotnik schwänzt und vier Monate mit dem Beitrag im Rückstand ist! Die taubste Nuß — politisch. Kommt mitm affigen Westfummel zur Schule — zwei Nummern zu eng natürlich und oben drei Knöpfe offen! Macht Schlurffi mit ihrem doofsten Lächeln an und kriegt ne glatte Eins! Jawohl: für „Staat und Revolution“! Aber hören Sie die mal in der Hofpause! Würde Ihnen vergehen, das Grienen.

Na, Herr Lenin — was läuft denn da, ausdrucks-mäßig und vor allem bewußtseinsmäßig? Dabei dürfte dieser herrliche Monolog den tatsächlichen Verhältnissen vorauseilen: Natürlich ist das authentischer Jargon (mit deutlich abgesetzten positiven Einsprengseln) — aber es ist schwer vorstellbar, daß DDR-Jugendliche tatsächlich so sprechen würden. Ihr Jargon hält genügend Möglichkeiten bereit, eigene Abneigungen noch kräftiger zu formulieren — das jedoch in einer Weise zu tun, die den Sprecher letztlich unangreifbar macht. Dazu mehr im folgenden.

IV. Weiten und Untiefen der kolloquialen Jargon-Welt

Die Jargon-Lexik, im vorhergehenden Abschnitt auszugsweise vorgestellt, vermittelt Aufschluß über Art und Möglichkeiten des Jargons insgesamt. Aber damit ist ja noch längst nicht alles gesagt — wie auch kein Wörterbuch einen erschöpfenden Eindruck von einer Sprache geben kann. Hinzu kommen muß gewissermaßen noch die Sprachlehre, wenigstens in ihren Hauptzügen. Jargon, definierte Rolf Handke im Eulenspiegel 1979, als Intimsprache Jugendlicher zur Ausschaltung unerwünschter erwachsener Zuhörer. Aber das stimmt nicht, wenn damit ein konspirativer Charakter des Jargons gemeint sein sollte. Wohl ist er eine Intimsprache, was sich schon an gewissen Bezeichnungen und Unterscheidungen zeigt: Wer dazugehört ist Kumpel, Kunde, Eumel, Fan, im Plural Leute, Piepeis. Wer hingegen draußen steht, ist im besten Falle Typ oder Vogel, möglich sind indessen auch bösere Benennungen wie Knattergreis, Mistpickel, Fratzenfalle. Auf besondere Distanz geht der emanzipationsbedachte Jargon zu Älteren und Eltern, also zu Oldies, Veteranen, Erzeugern, Alten, Chefs, Mumien, Regierung. Warum? Weil das in den Augen Jugendlicher Leute sind, die einfach gar nichts schnallen.

/Am besten hält man sich an die eigene Truppe der Kunden und Fetzer, wo manche Dinge angesagt sind, andere nicht. Politik ist zumeist nur echt be lastend, gefragt sind eher starke Scheiben oder Livemusic wie die beliebten Bluesmessen der Kirche, wo sich dann vorwiegend Blueskunden versammeln. Auch Fußball kann zu den bärischen Dingen des Lebens zählen, allerdings nicht so eindeutig. In Jena ließen sich Jugendliche Aufkleber Scheiß-BFC machen, und in Ost-Berlin sind die Fans von „Union“ berühmt und berüchtigt: Wenn deren Schlachtruf Eisern Union! ertönt, dann läufts manchem Vopo kalt den Rücken ’runter. Männliche Jugendliche zieht es natürlich zum anderen Geschlecht, also zu Tussis, Ischen, Bräuten, Käthen, Müttern, Supermüttern, Alten, Miezen etc. Mit denen Umgang zu haben, ist in jedem Falle galaktischer als Ärger mit einem ätzenden Boß, in einem Scheiß-Job Plan schinden zu müssen. Wem es da nicht gelingt, mit dem Arsch an die Wand zu kommen, den packt der große Frust, der hat Null Bock aufalles, der stinkt aufdie ganze Scheiße (ab). Auch als Student hat man nicht das süße Leben gepachtet: Zwar gibts stip und Leistungsstip (Stipendium), aber auf der anderen Seite auch schweinisch hohe Ansprüche, ganz besonders in ML und Wiko (Marxismus-Leninismus und Wissenschaftlicher Kommunismus), dazu die ewigen Kreuzchenklausuren in multiple Scheiß (= multiple choice), die Dauerbelästigung durch den E und A (Direktor für Erziehung und Ausbildung) und sonstigen Keim, den sich irgendwelche Hirnis ausdenken (auf den man dennoch ’n Ooche ausfahren muß, damit man’s nur ja in die Platte oder Eule kriegt). Oh, Keule — ich geh’ kaputt, wer geht mit?

Rassabombamamamia!

Dabei hat, wer erst mal die Hörsaalbank drückt, eine andere Probe hinter sich: Zwischen Abitur und Studienbeginn haben die Götter die Fahne aufgepflanzt, den Wehrdienst bei der NVA. Verkeimt nochmal! Achtzehn Monate dauert das, und sie sind sprachlich schön differenziert — entsprechend der offiziellen Einteilung in Diensthalbjahre. Diese Zeit enthält mehr Tage wie Schwein Borsten hat, und man startet sie als Rotarsch, Springsbcke, Sprungschanzenpilot, (Sau) Spruz, Springer, Hü. Im zweiten Diensthalbjahr avanciert man zum Zwischenschwein, Zwischenkotzkübel, Jungdachs. Aber auch das geht vorüber, und das Ende der Dienstzeit kommt in Sicht, wenn man erst Schneeweißer ist. Soldaten im dritten Dienst-halbjahr werden offiziell Entlassungskandidaten genannt, und mit der halboffiziellen Abkürzung EK werden einige Spielchen getrieben: Die gewissermaßen kindersprachliche Inversion davon ergäbe Keks, und just so werden die Entlassungskandidaten im NVA-Jargon auch genannt. Wer sich hingegen als Dreiender verpflichtet hat, d. h.

als Zeitsoldat für mindestens drei Jahre, für den bedeutet EK Ewigkasernierter. Im vierten Dienst-halbjahr ist er Vize, im fünften Konter, im sechsten Kapo. Daran schließt sich die Zeit der Kaposäcke oder Zehnender an, der Berufsunteroffiziere mit einer Mindestdienstzeit von zehn Jahren. Im 9.

und 10. Diensthalbjahr ist man Oberkapo, im 11.

und 12. Standartenkapo. Die Zeit danach ist weniger präzisiert, weil alles sozusagen verschwimmt — zur wenig sympathischen Masse der Tagebeutel, Tagesranzen, Beutelratten, Beuteltiere, Sacktreter, Knüppelsäcke.

Kein leichtes Leben. Was immer es angenehmer macht, gilt als viehisch, super, urig, urst, fetzig, poppig, Welt, einfach alte Messe, geil, bockt, poppt, schockt, beatet — also das Gegenteil von Löffel und toter Hose. Kommt’s aber anders als geplant, wird man unerwartet gehindert, unter Strom zu stehen, dann ist das Erstaunen groß: Ich denk, mein Panzer hat ’nen Knutschßeck (mich rammt ein Rotkehlchen, streift ein Bus, mein Goldfisch humpelt, mein Kühlschrank brennt, mein Opa geht zur Jugendweihe). Entweder: ich habe was voll drauf oder mir klappt doch glatt der Unterkiefer ab.

Nun ja — in diesem Stil könnte hier noch Seite um Seite fortgefahren werden, aber so umwerfend ist das alles gar nicht. Es beweist eben nur zum x-ten Mal, daß der DDR-Jargon so „normal“ wie jeder Jugend-Jargon ist: emotionsstark, expressiv, wortschöpferisch, sprachwitzig. Darum geht es jedoch nicht nur.

Seit einem guten Jahr etwa gibt es in der DDR als neue Erscheinung die Lieber-als-Bewegung. Darunter ist eine besondere Form von Witzen zu verstehen, lakonische Statements mit politikverfremdender Spitze. Ein Beispiel — dem Vernehmen nach der Stammvater dieser Witze — prangt im Titel dieser Darstellung, und nach demselben Muster gestrickt sind: Lieber Brust an Brust mit der Sekretärin als Schulter an Schulter mit dem Partei-sekretär; lieber aufSchleichwegen in den Westen als auf lichtem Pfad zum Sozialismus; lieber zu Erich gestanden als bei Mielke gesessen; lieber AIDS als gar nichts aus dem Westen und endlos so weiter. Wenn nicht alles täuscht, hat diese Welle sogar ihren Siegeszug durch Osteuropa angetreten; in bester DDR-Manier tönt’s beispielsweise aus Ungarn: Inkäbb egy Pershing a tanyämon mint egy russzki az anyämon. — Lieber eine Pershing auf meinem Hof als einen Russki auf meiner Mutter. Es ist nicht ausgeschlossen, daß diese Witze irgendwo im Umkreis des Jugendjargons geboren wurden, wo es nicht erst seit neuestem eine Lust gibt, offiziellen Sprachgebrauch witzig abzuändern. Als vor Jahren mal der Politsong Sag mir wo i du stehst mächtig gefördert wurde, da tauchte sofort eine Forsetzungszeile auf: dann sitzt du auch gleich. In diesen Trend passen die Lieber-als-Witze hervorragend — wenn die Jugendlichen sie nicht gleich selber ausgeheckt haben, dann haben sie sie doch hervorragend adaptiert, neuerdings sogar als eine Art gereimte Grafitti. Neuestes Beispiel, an thüringischen Berufsschulen sehr populär: Lieber Schimmel am P.....

als mit AIDS in den Himmel!

Damit ist abschließend eine besondere Seite des DDR-Jargons angesprochen, der immer mehr zu einer heiter-gelassenen Gegenwehr gegenüber parteilich-politischen Schulungsbemühungen zu werden scheint. Als sprachliches Phänomen per se ein Politikum, nimmt er ganz nebenbei nun noch offizielle Aussagen dergestalt aufs Korn, daß er ihnen sozusagen das Wort im Munde herumdreht — und das alles in einer Weise tut, die den Sprecher unangreifbar macht. Der Beobachter hat mitunter den Eindruck, als diene ein Großteil propagandistischer Bemühungen nur noch als Turngerät dafür, daß der Jargon seinen Witz an ihnen wetze. Auch dafür ein Beispiel: Eiserner Bestandteil der „Geschichte der Arbeiterbewegung“ ist jener geheimnisumwitterte Mordfall, der 1920 in Massachusetts die Gemüter erregte und für den Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti vor Gericht gestellt und 1927 hingerichtet wurden. Der VerB dacht, daß der Sacco-Vanzetti-Fall mit einem Justizmord endete, ist nie verstummt und u. a. auch von Upton Sinclair in seinem Roman Boston erhoben worden. — Und dann wird vor kurzem mitten in Ost-Berlin, an der Rückfront des „Palasts der Republik“, ein neues Marx-Engels-Denkmal enthüllt — ein bemerkenswert klobiges Etwas, auf dem die beiden „Kirchenväter“ erschreckend debil aussehen. In Ost-Berlin bekam dieses Machwerk augenblicklich den Spitznamen Sakko und Jacketti...

Diese Eigenart des DDR-Jargons ist gar nicht hoch genug einzuschätzen. In praktisch allen Ländern Osteuropas gibt es eine gut ausgebaute, mutige und offene Jugendforschung, die uns mit empirischen Daten über Leben und Lebensgefühl junger Menschen reichlich versorgt. Die DDR hat da kaum Vergleichbares aufzuweisen — das Leipziger Zentralinstitut für Jugendforschung (ZU, 1966) mutet eher wie eine Filiale der Firma Horch, Guck & Greif(Staatssicherheitsdienst) an, so wenig dringt von seiner Arbeit nach außen. Und so ist es mit allem — wer Unbeschönigtes über die DDR-Jugend erfahren möchte, muß Polnisch oder Bulgarisch lernen, weil in den dortigen jugendsoziologischen Fachzeitschriften die DDR-Wissenschaftler eine Art Gastrecht haben. Wem das zu mühsam ist, der kann einen anderen Weg wählen. Eingangs dieser Ausführungen wurde gesagt, daß ein Jugendjargon der sprachliche Reflex jugendlichen Lebensgefühls ist. Hier soll die Frage einmal andersherum gestellt werden: Inwieweit lassen sich Teile des Lebensgefühls der DDR-Jugend aus ihrem Jargon rekonstruieren? Bei diesem Ansatz fällt sofort ins Auge, daß der Jugendjargon im Dauerkrieg mit dem Parteichinesisch liegt und dabei in letzter Zeit die Taktik gewechselt hat. Daß verärgerte Jugendliche einer endlosen Funktionärssuade mit dem Einwurf Opa, nu komm ma raus aus de Knete, ein Ende setzen (wie es vor Jahren dem Stalinallee-Erbauer Hermann Henselmann geschah), kann immer noch passieren. Häufiger aber kommt es vor, daß typische Parteibegriffe in einen Kontext gestellt werden, der sie restlos entlarvt. Wenn z. B.

ein Jugendlicher klagt, Ostmark ist in den Bruder-ländern nichts wert, dann kann man ahnen, wie er die „sozialistische Staatengemeinschaft“ ansieht.

Kurz und grob: Die SED hat die DDR zum langweiligsten Land der Welt (Volker Braun) gemacht, und über ihren Jargon stellt die Jugend die entsprechenden Gretchenfragen an das System. Die drängendste gilt den verweigerten Reisemöglichkeiten — wo alle anderen Osteuropäer immer größere Möglichkeiten wahrnehmen können, sehen sich DDR-Bürger, junge zumal, auf dem Handteller-Territorium im kleinen grünen Land, engen Stacheldrahtland(Uwe Kolbe) förmlich eingesperrt. Und die Reaktion? Mann, ist das vielleicht ’n blödes Gefühl, wenn man an der Mauer steht, die Siegessäule sieht, die Freunde zwei Kilometer weit weg wohnen, und da kann man aus irgendwelchen chaotischen Gründen nicht hin (wie es einer, stellvertretend für ungezählte, in einem Brief an den RIAS formulierte). Dabei möchte man nur mal rüber, wegen dem Vergleich — und dann zurückkommen...

Hier kommt der SED noch das Gottesgeschenk der westdeutschen Arbeitslosigkeit zugute, da diese das Bild des Westens wenigstens partiell einzutrüben vermag. Aber ist damit soviel gewonnen? Primär besteht bei den Jugendlichen der Eindruck, in ein ineffizient-starres Wirtschaftsund Produktionssystem eingespannt zu sein, dessen grundlegende Mängel mit martialischem Vokabular übertüncht werden. Wie so etwas wirkt, hat ein fiktiver Schülerbrief, 1981 im Eulenspiegel publiziert, verdeutlicht: Kannst Dir sicher vorsteilen, liebe Oma, was auf dem Bau los war. Jeder kämpfte gegen jeden, und die Zeit gegen alle. Hinterher hat die Leitung dann eine neue Kampfaufgabe gestellt. In der Praxis heißt das: Nacharbeit außerhalb des offiziellen Programms. In Kenner-kreisen auch Sonderschichten genannt.

In der Neuen Deutschen Literatur, dem Organ des DDR-Schriftstellerverbands, kam im Juli 1985 ein verwirrter Arbeiter zu Wort: Also in der Paten-Klasse, ne zehnte, da war’n Jugendlicher, der hat mich derb erschüttert: der ritt nu uff dem Wort kämpfen rum. Der fand, wenn ich jetzt in einem Diskussionsbeitrag davon spreche, daß das irgendwie blöd ist, irgendwie übertrieben.

Die parteitypische Kriegsmetaphorik (kämpfen, Kampfaufgabe etc.) geht den Jugendlichen nur noch auf die Nerven — wie es die Rockgruppe Pankow (die ironischerweise in der NVA besonders populär ist) in einem Song anklingen läßt:

Da spricht wieder einer vom Kampfauftrag und verliest so’n langen Bericht...

Mensch sing hier nicht ab aus 'm Stabübuch hast du nichts eigenes drauf?

Andere SED-Lieblingswörter werden der Propaganda vom Jugendjargon schlicht im Munde herumgedreht. Wenn Schüler oder Studenten voneinander abschreiben, nennen sie das sozialistische Hilfe, ereignislose Abläufe heißen (gepflegt) sozialistischer Gang (das geht seinen ...) etc. Wie inflationär nutzt nicht die Partei das Wort „Feind“, samt Ableitungen wie Volks-, Staats-, Republik-feind, feindwärts (= westlich) u. ä. m. Und was machte der Jugendjargon daraus? Ein Kompliment! So singt etwa die Rockgruppe Wir: Fahr ich draufab, und ich steh aufdie Klänge wie ein Feind geh ich kaputt, wenn jemand darüber greint... Hier ist der Nummer-Eins-Song Es ist ganz einfach so, daß der Jargon aus der euphemistischen Parteisprache die Luft herausläßt und dadurch die wachsende Diskrepanz zwischen tönendem Anspruch und unzulänglicher Realität sichtbar macht. Hilfreiche Verräter sind in dieser Beziehung beispielsweise inoffizielle Mikrotoponyme, wie sie in Ost-Berlin gebraucht werden. Was offiziell (antifaschistischer) Schutzwallgenannt wird (und im August 1986 als solcher gefeiert wurde), heißt bei den Menschen natürlich (Berliner) Mauer (wie sie auch von Zwangsumtausch und ähnlichem sprechen). Etwa so alt wie die Mauer ist auch U-Wu-Bu (Ulbrichts Wucher-bude = Exquisit-Laden). Unter Honecker wurde der „Palast der Republik“ gebaut, der im Jargon u. a. firmiert als Ballast der Republik, Palazzo Prozzi, Erichs Lampenladen, Erichs Datscha. Nahebei liegt der S-Bahnhof „Friedrichstraße“, auf dem allabendlich die Inhaber von Tagesvisen zu-rückreisen; wie solches von den Menschen empfunden wird, verdeutlichen Namen wie Tränenpavillon, Palast der Tränen.

Daß der unter Ulbricht erbaute Fernsehturm Sankt Walter heißt, wurde schon erwähnt; ebenfalls auf das von ihm bei Sonne reflektierte Kreuz geht der Name Rache des Papstes zurück. Gebräuchlich sind weiterhin Ausdrücke wie Telespargel, Walters Protzkeule u. a. Schließlich ist das Regierungsviertel in Pankow allgemein als Volvograd verschrien, wegen der Vorliebe der Spitzen-funktionäre für die schwedische Automarke. Der DDR-Normalbürger kann höchstens auf eine Asphaltblase oder Plasteschüssel hoffen — kurz: auf einen Trabbi, wie die heimische Automarke „Trabant“ gemeinhin genannt wird. Wie schwer man an sie gelangt, wird aus dem ironischen Dialektsong Elsa von Trabant des Rostocker Duos De Plattfööt deutlich:

Uns Eising hätt ’n Trabbi krägen — Mann, gohn fein Johrfix vorbieh!

... So ’n Trabbi givt wat her:

Mahd in De-De-Ehr!

Das ist DDR-Alltag — und der Jargon gibt eine Vorstellung davon: Wenn es in den Geschäften etwas Besonderes gibt, formiert sich davor das sozialistische Wartekollektiv, also die Schlange.

Ein billiger Ersatzkaffee heißt Erichs Krönung, und die Qualität eines Restaurantkaffees ist aus der Benennung Perlon-Kaffee abzulesen. Alle Naselang sind Einsätze zu leisten, freimüssig natürlich. Die Aufrufe dazu erfolgen im Kaderwelsch (was an Karl Kraus’ Neologismus Moskauder welsch erinnert). Wahltage sind Falttage — weil schon beargwöhnt wird, wer seinen „Wahl" -Zettel nicht vor aller Augen faltet und offen in die Urne wirft. In den Geschäften liegt Vau-E-Kiki (von volkseigen) aus, bessere Sachen werden als Bückware unter dem Thresen verhökert usw.

Und ein letzter Bereich, der überhaupt nur durch den Jugendjargon in Ansätzen in den Griff zu kriegen ist: Wie halten’s die DDR-Jugendlichen mit der Sowjetunion, mit Sowjetischem überhaupt? Es ist ja schon erstaunlich, welch geringe sprachliche Spuren die über vierzigjährige Zwangsnähe zum „Lande Lenins“ hinterlassen hat — sieht man mal vom Kaderwelsch ab (das meist nur aus schlecht übersetztem Prawda-Russisch besteht), dann findet man wenig mehr als das Wort Datsche (vom russischen daca — Landhaus).

Russisch ist in der DDR nach wie vor zumeist sprachliche terra incognita. Dazu ein schönes Beispiel aus neuester Zeit: Im August 1986 veröffentlichte das NVA-Magazin Armeerundschau die Abbildungen sowjetischer Kriegsorden, wie sie für die „Einnahme“ bzw. „Befreiung“ gewisser Städte verliehen worden waren. Welche Städte das waren, hat das Blatt gleich in zwei Fällen falsch angegeben — weil offenkundig niemand in Redaktion und Herstellung fähig war, die kyrillischen Aufschriften der Auszeichnungen zu lesen. Rund sieben Millionen DDR-Bürger sollen Russisch-kenntnisse haben, wird offiziell behauptet. Na, Hilfe! Schon ein Zehntel davon dürfte sehr hoch gegriffen sein. Allen gut ausgebildeten Sprachmittlern (eine Art Kombination aus Dolmetscher und Übersetzer) zum Trotz steht der DDR-Russischunterricht auf einem so erbarmungswürdigen Niveau, daß der DDR-Jugendliche, der sich nach acht-bis zehnjährigem Russischunterricht in Moskau und Leningrad immer noch mit Händen und Füßen verständigt, mehr die Regel denn die Ausnahme ist.

Da gibt es tiefere psychische Barrieren, die einer breiteren Rezeption von Russischem/Sowjetischem entgegenstehen. Das beginnt bereits bei der offiziellen Weihehaltung — Russisch ist nicht einfach eine Sprache, sondern die Sprache der Freunde. Und so will man die Sprache schmackhaft machen? Dabei ist der Ausdruck Freunde im Jargon gar nicht ungewöhnlich — allerdings in ironisch-gedehnter Akzentuierung. Häufiger indessen wird von Russen gesprochen, ihr Land heißt bündig SU.

Es fällt doch auf, daß die wenigen Jargon-Anleihen aus dem Russischen durchweg Minderwertiges bezeichnen: DDR-Geld heißt Kosakendollar, tiefe Provinz firmiert als Taiga (die Band trampt gern durch die Taiga, weil’se da noch ’n irren Draht zuppen kann), eine Kolchose ist einmal ein Sammelbegriff für schlampige Wirtschaft, zum anderen der Name für eine unsympathische Menschenansammlung, die sowjetische Automarke Moskwitsch wird phonetisch zum Rostquietsch umgerüstet.

Wie kommt der DDR-Normalbürger denn mit Sowjetischem in Berührung? Bestimmt nicht über die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF). Die Mitgliedschaft in ihr ist eine elementare Karrierevoraussetzung, und so wird sie allgemein dann auch aufgefaßt: Beitrag zahlen und vergessen. Wie es Kurt Demmlers Chanson Dieses Lied sing’ ich den Frauen ahnen läßt:

Wurde Mitglied DFD, DSF, na und so weiter, wurde doch Abteilungsleiter.

Wurde mit dem Kollektiv sozialistische Brigade manchmal lag sieja auch schief, doch auch dafür stand sie gerade.

Dafür hat der DDR-Bürger ausreichend Gelegenheit, Sowjets auf den eigenen Straßen zu beobachten — schließlich gibt es 425 000 Sowjetbesatzer in der DDR, wo sie in der Gruppe Sowjetischer Streitkräfte in Deutschland (!), die doppelt so stark wie die NVA ist, zusammengefaßt sind. Aus dem Jugendjargon ist zu entnehmen, welche Meinung über diese Kameraden vom Regiment nebenan besteht. Einfache Sowjetsoldaten tragen auf ihren Achselklappen die Buchstaben CA — kyrillisches SA und die Abkürzung von S(ovjetskaja) A(rmija) (Sowjetarmee). Wegen dieser Buchstaben wurden die Sowjets früher die Cloppenburgergenannt — in Anspielung auf die westdeutsche Firma C& A Cloppenburg. In den siebziger Jahren wurde daraus Circus Aljoscha, später, nach dem Überfall auf Afghanistan, jedoch Camping Afghanistan.

Der große, wiewohl unvermeidliche Fehler der SED ist, daß sie den Jugendlichen alles Sowjetische als großartig, beispielhaft, nachahmenswert präsentiert. Damit erreicht sie das genaue Gegenteil — oder wie es ein DDR-Jugendlicher gegenüber dem Verfasser im Sommer 1985, anläßlich der Moskauer Weltfestspiele der Jugend und Studenten, einmal ausdrückte: Wenn man die hier sieht, wird man richtig stolz, wie gut es einem in der DDR geht!

V. Schlußbemerkung

Warum klingt von Jahr zu Jahr hohler, unglaubwürdiger, was in der Bundesrepublik anläßlich gewisser Gedenktage — 17. Juni, 13. August — von hoher Warte geäußert wird? Weil es immer stärker auf ein Wiederholen fertiger Formeln hinausläuft, weil hinter den gesamtdeutschen Beschwörungen immer weniger Seele zu spüren ist. Es hat mitunter den unangenehmen Anschein, als glaubten die Redner nur noch bedingt an das, was sie sagten — als seien ihre Worte eine Art Auto-suggestion, wie das Pfeifen von Kindern im dunklen Wald. Zugegeben: Wer nur politische Ordnungen, wirtschaftliche Entwicklungen, militärische Bündnisse im Auge hat, dem muß es immer schwerer fallen, haltbare Bindungen zwischen den Deutschen hüben und drüben zu erkennen.

Gelassener kann allein der reagieren, der auf das wirkliche einigende Band der Deutschen blickt: auf ihre Sprache! Die Deutschen waren nie eine Nation, die sich im inneren Kohäsionsgrad mit Franzosen oder Briten messen konnte; erst sehr spät wurden sie von Bismarck in einen „kleindeutschen“ Staat getrieben. Aber immer waren sie eine Kultur-und Sprachgemeinschaft — seit sich im zweisprachigen Merowingerreich die Bezeichnung „diotisk“ als Sammelname für die Stämme der einen, „deutschen“ Zunge einbürgerte. Und alle nachfolgende Kleinstaaterei hat nicht verhindert, daß diese Basis immer tragfähiger wurde — durch den Buchdruck, durch Luthers Begründung der neuhochdeutschen Schriftsprache und anderes mehr.

Sie besteht bis auf den heutigen Tag und kann sich in Zukunft eigentlich nur festigen — laßt die neuen Medien nur machen! Wenn die DDR-Bevölkerung schon heute treuer Kunde bundesdeutscher Rundfunk-und Fernsehanstalten ist, dann kann sie es in Zukunft noch mehr sein.

Sie wird es sein, weil sie es sein will\ Die unbestreitbare Tatsache, daß sich Deutsche aus Ost und West einander problemlos verstehen und verständigen, ist mehr vom Mann auf DDR-Straßen als von uns geschaffen worden! Er lehnte eine aufgezwungene Sprache ab, weil er sich mit der hinter ihr stehenden aufgezwungenen Realität nicht abfinden wollte. So einfach ist das!

Alles, was wir über Sprache und Sprechen in der DDR wissen, bestätigt uns diese Zusammenhänge. Selbst die neuerliche Regionalisierung in der DDR, die ein machtvolles Aufblühen regionaler Dialekte nach sich zieht, weist in dieselbe Richtung: Sie vertieft nicht etwa eine innerdeutsche Sprachspaltung, sondern ist eine Gegenwehr gegen den aufgesetzten Die-DDR-dein-Vaterland-Patriotismus. Glaubwürdig waren diese propagandistischen Bemühungen ja nie — mancher westdeutsche Skeptiker hätte einmal die Erheiterung polnischer, tschechischer oder ungarischer Kollegen erleben sollen, wenn sich bei irgendeinem osteuropäischen Kongreß jemand aus der DDR so vorstellte: Ich bin XY und komme aus Berlin-Hauptstadt-der-DDR (im übrigen erfolgten solche Vorstellungen nur selten).

Wir sollten endlich einmal aufmerksamer hinhören, was sich sprachlich in der DDR tut! Und sei es nur, um daraus Gelassenheit im Trommelfeuer der Propaganda zu schöpfen. Dann würde auch Schluß sein mit dem irreführenden Gerede von Deutsch mit gespaltener Zunge, nur weil im Duden-Ost Wörter wie Babystrich, Lesben, Punks, im Duden-West aber Solibasar und Feierabendheim fehlen. Und wenn wir erst aufhören, uns sprachlich in die eigene Tasche zu lügen, dann könnten wir möglicherweise politische Perspektiven der allerschönsten Art entdecken.

Aber, was soll’s? Mitte der siebziger Jahre, auf dem Höhepunkt der sprachlichen Abgrenzungskampagne der DDR, wurde in Bonn von der damaligen sozialdemokratischen Regierung ein kleines Institut für deutsch-deutsche Sprachbeobachtung geschlossen. Gegenwärtig, wo diese Abgrenzung offiziell zurückgenommen wurde und an ihre Stelle hochinteressante Sprachentwicklungen getreten sind, wird dieses Institut von den Christdemokraten nicht wieder eröffnet. Das ist nicht nur ein Verstoß gegen unser Grundgesetz, besonders seine Präambel — es ist auch eine Schande! Lieber werfen wir unser Geld für Unsinnigkeiten wie „Bundesleistungszentren“ hinaus, damit auch ja der sportliche Existenzkampf gegen die Anabolikamonster aus Leipzig und Moskau gewonnen wird (wird er nicht einmal!).

Die Deutschen sitzen an der Tafel einer Kultur, sagte Karl Kraus, in deren Hause Prahlhans Küchenmeister ist. Das ist leider arschklar — durchblicksmäßig!

Auswahlbibliographie

Beneke, Jürgen: Zur sozialen Differenziertheit der Sprache am Beispiel jugendtypischer Sprechweise, in: Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung (ZPSK), (1985) 3. Ders.: Die jugendspezifische Sprechweise — eine umstrittene Erscheinung unserer Gegenwartssprache, in: Sprachpflege, (1985) 8.

Bohm, Gunhild: Bewegungen in Literatur und Literaturpolitik der DDR, in: Neue Deutsche Hefte, (1986) 1.

Constantin, Theodor: Plaste und Elaste — Ein deutsch-deutsches Wörterbuch, Berlin 1982. Domasnev, A. I.: Sovremennyj nemeckij jazyk v ego nacional’nych variantach (russ.: Die deutsche Gegenwartssprache in ihren nationalen Varianten), Leningrad 1983.

Eckart, Gabriele: So sehe ick die Sache — Protokolle aus der DDR, Köln 1984.

Enzyklopädie: Kleine Enzyklopädie Deutsche Sprache I, Leipzig 1983.

Fleischer, Wolfgang (Hrsg.): Sprachnormen, Stil und Sprachkultur, Linguistische Studien — Reihe A, Arbeitsberichte 51, Oberlungwitz 1979.

Ders.: Zur lexikalischen Charakteristik der deutschen Sprache in der DDR, in: ZPSK, (1984) 4. Haase, Norbert, et al. (Hrsg.): VEB Nachwuchs — Jugend in der DDR, Reinbek bei Hamburg 1983.

Häuser, Otto: Ottokar Domma, Berlin (Ost) 1983 5. (Die Domma-Feuilletons sind jahrelang anonym erschienen, auch in Buchform, und der Verfasser, ein Redakteur beim Neuen Deutschland, machte sich einen Spaß daraus, anonym zu bleiben. Erst die wachsende Popularität, öffentliche Lesungen, Schallplatten usw. zwangen ihn, sein Inkognito zu lüften, W. O.)

Helwig, Gisela: Jugend und Familie in der DDR — Leitbild und Alltag im Widerspruch, Köln 1984.

Ising, Erika (Hrsg.): Sprachkultur — warum, wozu? Aufgaben der Sprachkultur in der DDR, Leipzig 1977.

Kinne, Michael/Strube-Edelmann, Birgit: Kleines Wörterbuch des DDR-Wortschatzes, Düsseldorf 1980.

Leitner, Olaf: Rockszene DDR, Reinbek bei Hamburg 1983.

Oschlies, Wolf: Lenins Enkeln aufs Maul geschaut — Jugendjargon in Osteuropa, Köln—-Wien 1981. Ders.: „Ich glaub’, mich rammt ein Rotkehlchen“ — Jugendjargon und Soziolinguistik in der DDR, in: Muttersprache, (1981) 3— 4.

Ders.: „Mumpenkönig in #c“ — Bemerkungen zur Sprache der politischen Gefangenen in Cottbus, in: Muttersprache, (1984) 1— 2.

Ders.: „DDRsch“ als Muttersprache?, in: CIVIS, 3 (1985) 3.

Ders.: No future für „DDRsch“!, in: CIVIS, 4 (1986) 1.

Rozen, E. V.: Podrostkovo-molodeznyj slovesnyj repertuar — Na materiale sovremennogo nemeckogo jazyka (russ.: Das sprachliche Repertoire Jugendlicher und Heranwachsender — Am Material der deutschen Gegenwartssprache), in: Inostrannye jazyki v skole, (1975) 2.

Schlosser, Horst Dieter: Nationale Identität in der deutschen Sprache, in: Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Die Frage nach der deutschen Identität, Düsseldorf 1985, S. 67— 75.

Sprachliche Kommunikation in der sozialistischen Gesellschaft, Sammelband, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Pädagogischen Hochschule „Ernst Schneller“ Zwickau, (1985) 1.

Techtmeier, Bärbel: Aktuelle Tendenzen in der Soziolinguistik der DDR, in: Jahrbuch für Soziologie und Sozialpolitik, Berlin (Ost) 1982, S. 252— 260.

Dies. u. a.: Thesen zur Sprachkultur, in: Zeitschrift für Germanistik, (1984) 4.

Wilhelmi, Bernd (Hrsg.): Umgangssprachen und Dialekte in der DDR, Wissenschaftliche Beiträge der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jena 1986.

Winkler, Karl: Made in GDR — Jugendszenen aus Ost-Berlin, Berlin 1983.

Fussnoten

Weitere Inhalte

WolfOschlies, Dr. phil., geb. 1941; Privatdozent; Studium der Slavistik, Philosophie und Pädagogik in Hamburg; seit 1968 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln; seit 1977 Lehrbeauftragter für Vergleichende Erziehungswissenschaften an der Justus-Liebig-Universität in Gießen. r Veröffentlichungen u. a.: Jugend in Osteuropa, Köln 1980; Lenins Enkeln aufs Maul geschaut — Jugendjargon in Osteuropa, Köln 1981; Polens Jugend — Kinder der „Solidarnosc“?, Köln 1982; Rumäniens Jugend — Rumäniens Hoffnung, Köln 1983; Jugend in der Tschechoslowakei — Kurzer Frühling, lange Winter, Köln 1985; Bulgariens Kurs in den achtziger Jahren. Die „Preußen des Balkans“: pragmatisch, selbstbewußt, effizient, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 26/85; „DDRsch“ als Muttersprache?, in: CIVIS, 3 (1985) 3; (mit Vera Bojic) Lehrbuch der mazedonischen Sprache, München 19862.