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Alternativen zur nuklearen Abschreckung als Grundlage europäischer Sicherheit? | APuZ 43/1986 | bpb.de

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APuZ 43/1986 Alternativen zur nuklearen Abschreckung als Grundlage europäischer Sicherheit? Kriterien für einen militärischen Strategie-und Strukturwandel Deutsche Interessen im Konzept der strategischen Verteidigung Die strategische Verteidigungsinitiative der Vereinigten Staaten. Bewertung und Diskussion

Alternativen zur nuklearen Abschreckung als Grundlage europäischer Sicherheit?

Dieter Mahncke

/ 33 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die drei zentralen Fragen der europäischen Verteidigung sind das sogenannte Verteidigungsdilemma, das nukleare Zerstörungspotential und die Abhängigkeit von den USA. Diese Fragen stehen im Mittelpunkt der gültigen NATO-Strategie, wobei der Schwerpunkt auf Friedenserhaltung durch eine glaubwürdige Abschreckung liegt. Auch die alternativen Strategievorschläge befassen sich vorrangig mit diesen Fragen. Sie können in die Gruppen sozialer Widerstand, Verteidigung in der Tiefe des rückwärtigen Raumes und dynamische Vorwärtsverteidigung eingeordnet werden. Während die dynamische Vorwärtsverteidigung wie die gültige Strategie den Nachdruck auf Abschreckung legt, schwören die anderen Vorschläge diesem Prinzip zwar keineswegs ab, faktisch aber steht bei ihnen der Gedanke der Schadensbegrenzung im Vordergrund. Dabei weisen die letzteren vor allem zwei Schwächen auf: Sie vermögen militärisch nicht zu überzeugen und sie sind politisch unannehmbar, weil sie im Falle eines Angriffs das weite Eindringen des Angreifers auf eigenes Gebiet bewußt in Kauf nehmen. Insgesamt stellt sich die Frage, ob allein die Suche nach militärstrategischen Alternativen im Rahmen des bestehenden internationalen Systems sinnvoll ist oder ob nicht zugleich und vor allem nach Möglichkeiten zur Modifizierung des Systems selbst gesucht werden muß.

I. Probleme der Verteidigung Westeuropas

Die Probleme um die Verteidigung des freien Europa sind weder von der Friedensbewegung noch von der Friedensforschung entdeckt worden. Sie sind älter als das Atlantische Bündnis, und sie werden seit der Gründung des Bündnisses immer wieder — vor allem im Bündnis selbst — erörtert und erwogen. Es handelt sich dabei im wesentlichen um drei Problembereiche: um das eigentliche Verteidigungsdilemma, um die Frage der nuklearen Unterstützung durch die Vereinigten Staaten und schließlich um die Problematik einer nuklearen Verteidigung im allgemeinen.

Das Verteidigungsdilemma beruht auf der Tatsache, daß eine Verteidigung Westeuropas gegen eine militärische Aggression nahezu unmöglich zu sein scheint, ohne daß dabei gerade das, was verteidigt werden soll, zerstört würde. Dies gilt für den Fall eines nuklearen Konflikts, trifft aber kaum weniger auch auf einen ausgedehnten konventionellen Krieg zu. Der bislang beschrittene Weg, dieses Verteidigungsdilemma zu umgehen, besteht darin, den Hauptakzent der Verteidigungsstrategie auf die Kriegsverhinderung zu legen. Da die Gefahr eines Krieges primär in der Möglichkeit einer sowjetischen Aggression gesehen wird ist Kriegsverhinderung in erster Linie das Ergebnis wirksamer Abschreckung; verbunden wird sie mit Rüstungskontrolle und dem Bemühen, Spannungsursachen abzubauen.

Die Abschreckungfähigkeit der NATO hat jedoch von Anfang an unter der zahlenmäßigen Unterlegenheit des westlichen konventionellen Kräftepotentials zu leiden gehabt. Daher begann das Bündnis bereits relativ früh — schon Ende der fünfziger Jahre — sich auf Nuklearwaffen abzustützen: die NATO war damals in diesem Bereich überlegen, nukleare Feuerkraft erschien weniger kostenspielig als konventionelles Personal; darüber hinaus implizierte der Einsatz von Nuklearwaffen in Europa stets auch die nukleare Vergeltung seitens der USA. Doch mit dem Ausbau des sowjetischen Nuklearpotentials und der zunehmenden nuklearen Verwundbarkeit der Vereinigten Staaten wurde das zweite Problem der europäischen Verteidigung akut: Würden die Amerikaner zur Verteidigung Westeuropas ihre eigenen Städte aufs Spiel setzen

Abgesehen — vielleicht — von einer unabhängigen europäischen Nuklearmacht, gibt es letztlich-keine Lösung für dieses Problem. Solange die Europäer auf den nuklearen Schutzschirm der Vereinigten Staaten angewiesen sind, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich auf die Zusicherungen der Amerikaner zu verlassen. Dies erscheint vom europäischen Standpunkt jedoch durchaus akzeptabel, und zwar erstens, weil ein amerikanisches Interesse an der Verteidigung Westeuropas besteht, zweitens, weil die vorgeschoben stationierten konventionellen und nuklearen Kräfte der Amerikaner im Falle eines sowjetischen Angriffs unmittelbar mitbetroffen wären, und drittens, weil die europäischen Bündnispartner eng in den nuklearen Planungsprozeß innerhalb der Allianz eingebunden sind und somit ihre eigenen Interessen zur Geltung bringen und die Denkweise der Amerikaner beeinflussen können. Zudem wissen die verantwortlichen Europäer, daß sie selbst durch eigene Zuverlässigkeit und den eigenen Verteidigungsbeitrag in der Allianz einen wesentlichen Beitrag zur Festigkeit und Zuverlässigkeit des amerikanischen Commitments leisten. Das dritte zentrale Problem der Verteidigung Westeuropas betrifft die Qualität und das große Zerstörungspotential von Nuklearwaffen. Obwohl eben dieses Vernichtungspotential ein wesentliches Element ihrer Abschreckungswirkung ist, auf die die Europäer bauen und deren Wichtigkeit sie früher immer wieder betont haben, macht sich — nicht nur innerhalb der Friedensbewegung— zunehmend Unbehagen breit. Können solche Waffen wirklich die Aufgabe der Abschreckung erfüllen? Falls sie als ausschließlich „politische Waffen“ definiert werden, kann Abschreckung im Rahmen einer Doktrin, die ihren Erfolg letztlich nicht garantieren kann, überhaupt glaubwürdig sein? Und selbst wenn die Abschrekkungslogik standhält, müßten nicht die Konsequenzen im Falle des Versagens auf jeden Fall eine Suche nach Alternativen auslösen?

II. Motive für die Suche nach Alternativen

Diese drei zentralen Probleme der europäischen Verteidigung bilden denn auch die Quellen, aus denen sich die Suche nach alternativen Strategien speist: das nukleare Zerstörungspotential, die Garantie der Vereinigten Staaten und das Verteidigungsdilemma. In unterschiedlicher Weise wird mit Alternativkonzepten versucht, diese Probleme zu überwinden oder zu umgehen. Dabei spielen vor allem Unbehagen und Besorgnis eine Rolle. Denn man könnte schwerlich behaupten, daß das gegenwärtige Verteidigungskonzept versagt hat; den Ansporn gibt vielmehr die Befürchtung, daß das System versagen könnte.

Vor allem zwei Faktoren sind dabei von Bedeutung: zum einen der Zeitablauf, zum anderen der Rückgang der amerikanischen Überlegenheit. Die lange Zeit des Friedens, die wir in Europa seit nunmehr 40 Jahren erleben, scheint für viele eher Anlaß zur Besorgnis als zur Erleichterung zu sein, denn je mehr Zeit verstreicht, desto stärker werden die Zweifel, ob dieser Frieden noch viel länger Bestand haben könne: Ist dies nicht ein in der Geschichte beispielloser Vorgang? Welche Gründe könnte es geben, in einer Welt, in der die Menschen moralisch und psychisch so oft versagt und sich zugleich so wenig geändert haben, auf die Dauer Vertrauen in das System der Abschrekkung zu setzen? Wie lange können massive Rüstungsprogramme fortgeführt werden, ohne daß es zur Katastrophe kommt?

Und auch wenn das im Falle eines Nuklearkriegs zu erwartende Ausmaß der Vernichtung ein wesentliches Element der Abschreckung ist — wird die Bedeutung dieses Faktors nicht unweigerlich im Laufe der Zeit im selben Maße abnehmen, wie die Erinnerung der Europäer, Amerikaner und

Russen an den Zweiten Weltkrieg verblaßt und man sich vielleicht sogar an diese Waffen gewöhnt? Paradoxerweise scheint es jedoch gerade die jüngere Generation zu sein, die keine eigene Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg besitzt, die besonders beunruhigt ist. Doch psychologisch gesehen ist dies durchaus verständlich: gerade junge Menschen stellen die Frage, ob ein Abschreckungssystem, das durch ein ständig wachsendes Vernichtungspotential gekennzeichnet ist, dauerhaft sein und ihre Zukunft garantieren kann — wie gut auch immer es in der Vergangenheit funktioniert haben mag.

Aber nicht nur die ständig weiter wachsenden Rüstungspotentiale geben Anlaß zu Fragen. Es spricht vieles dafür, daß der Rückgang der amerikanischen Überlegenheit und die enorme Ausweitung des sowjetischen Militärpotentials zur Entstehung und Zunahme von Angst und Zweifel im Hinblick auf die Zuverlässigkeit des Abschrekkungssystems beigetragen bzw. diese sogar ausgelöst haben. Möglicherweise ist dies auch der Hintergrund neuerlicher Zweifel an der Zuverlässigkeit der Amerikaner. Diejenigen, die kein Vertrauen in die Dauerhaftigkeit der Abschreckung setzen und von der Wahrscheinlichkeit des Einsatzes von Nuklearwaffen ausgehen, halten den — angeblichen — Wunsch der Amerikaner, sich aus ihren Verpflichtungen zurückzuziehen und einen etwaigen nuklearen Konflikt auf Europa zu begrenzen, für durchaus verständlich. Sie folgern daraus, daß Europa sich in stärkerem Maße auf sich selbst verlassen müsse; vor allem aber müsse es nach Alternativen zum derzeitigen Verteidigungskonzept suchen.

III. Kategorien alternative Strategien

Es ist nicht einfach, die inzwischen zahlreichen alternativen Vorschläge — von denen hier nur die wichtigsten behandelt werden — in bestimmte Kategorien einzugruppieren, da sie sich gelegentlich verschiedenen Kategorien zuordnen lassen, je nachdem, welcher Aspekt jeweils in den Vordergrund gestellt wird. Doch abgesehen von diesen Überlappungen kann je nach Zielsetzung und Art der eingesetzten Mittel eine Einteilung in drei Hauptkategorien vorgenommen werden: gewalt-freier Widerstand, bewegliche Verteidigung in der Tiefe des rückwärtigen Raumes und dynamische Vorwärtsverteidigung 1. Gewaltfreier Widerstand Die Vorschläge der ersten Kategorie versuchen als einzige, eine völlig neuartige, revolutionäre Alternative zum derzeitigen System der Verteidigung und Abschreckung zu entwickeln. Ein Beispiel hierfür ist das Konzept der Sozialen Verteidigung Der Grundgedanke dieses Konzepts ist, daß im Falle einer Aggression das Opfer keinerlei militärischen Widerstand leistet. Statt dessen würde die Bevölkerung nach erfolgter Besetzung passiven Widerstand leisten, indem sie jegliche Kooperation mit den Besetzern verweigert, so daß es für die Besatzungsmacht außerordentlich schwierig, wenn nicht sogar unmöglich würde, das Land zu beherrschen. Diese Aussicht soll jedem potentiellen Aggressor rechtzeitig und deutlich vor Augen geführt werden, um ihn von vornherein von einer Aggression abzuschrecken. Somit würde keineswegs auf die Idee der Abschrekkung verzichtet; es wird vielmehr ein Verfahren gesucht, das im Falle des Versagens der Abschrekkung ein erheblich geringeres Ausmaß an Zerstörung zur Folge haben würde.

Voraussetzung für ein derartiges System wäre eine in hohem Maß in sich geschlossene und motivierte Gesellschaft. Es müßten umfangreiche und detaillierte Vorbereitungen getroffen werden, und es müßten Wege gefunden werden, die Möglichkeiten der Kollaboration zu mindern. Die Bürger müßten lernen, nicht nur Terror gegen sich selbst zu ertragen, sondern ebenso Terror und Folter gegen andere, etwa nahe Angehörige, hinzuzunehmen. Darin aber liegen offenkundig die Hauptschwierigkeiten des Konzepts. Die Möglichkeiten und die Bereitschaft einer totalitären Macht, rücksichtslos Gewalt anzuwenden, wird ebenso unterschätzt wie die Fähigkeit von Menschen, sich individuellem Terror zu widersetzen, überschätzt wird Das Risiko des Angreifers und Somit die Abschreckungswirkung wären daher gering. Im Falle eines Mißlingens brauchte er sich nur zurückzuziehen:'ohne Verluste bei seinen Streitkräften und ohne jegliche Gefahr für sein eigenes Territorium 2. Verteidigung in der Tiefe des rückwärtigen Raumes Nur das Konzept des reinen sozialen Widerstands sieht keine militärische Verteidigung vor, alle anderen Alternativen schließen Formen militärischen Widerstands ein. Am umfangreichsten ist dabei die Kategorie der Vorschläge zur Verteidigung in der Tiefe des rückwärtigen Raums („Rückwärts-Verteidigung“). Die Vorschläge dieser Kategorie unterscheiden sich in vielfacher Hinsicht; gemeinsam sind ihnen jedoch die Motive, die Grundkonzeption — und die Schwächen. Bei den Motiven sind vier Überlegungen ausschlaggebend: es wird eine Verteidigungsstruktur angestrebt, die „weniger provokativ“ wirken und dadurch die Wahrscheinlichkeit eines Krieges verringern soll, die den Schaden im Falle eines Konflikts begrenzt, die die Abhängigkeit von Nuklearwaffen verringert und die im Falle eines tatsächlichen Konflikts eher Erfolg verspricht. Es gibt eine Vielfalt von Vorschlägen in dieser Kategorie. Einige weichen — sowohl hinsichtlich der Streitkräftestruktur als auch des Verteidigungsraums — von der gültigen Strategie ab andere halten zwar das Prinzip der Vorneverteidigung aufrecht, schlagen aber grundlegende Strukturveränderungen vor, die ebenfalls auf eine Verteidigung in der Tiefe des Raums hinauslaufen und die es rechtfertigen, sie in diese Kategorie miteinzubeziehen Im Ansatz beinhalten die meisten Vorschläge: a) eine Neugliederung und Umrüstung der Streitkräfte, wobei in der Regel kleine Panzerabwehr-einheiten, leichte Infanterie usw. geschaffen werden sollen, und b) in unterschiedlichem Umfang die Preisgabe eigenen Territoriums, um den Gegner zunächst vordringen zu lassen und ihn dann durch Angriffe der beweglichen, kleinen Panzerabwehreinheiten in der Tiefe des rückwärtigen Raumes abzunutzen. Außerdem sehen einige Vorschläge gepanzerte konventionelle Kräfte im rückwärtigen Raum vor, und zwar zum einen als Reserven, aber auch, um verlorengegangenes Gebiet wiederzugewinnen, sobald der Gegner zum Stehen gebracht worden ist. Schließlich soll die Rolle der Nuklearwaffen wesentlich reduziert werden.

Alle diese Konzepte beinhalten militärische und technische Aspekte, die an dieser Stelle nicht behandelt werden können Aber selbstverständlich geht es bei ihrer Beurteilung weitgehend um die Einschätzung ihrer voraussichtlichen militärischen Wirksamkeit. Je höher diese Wirksamkeit eingeschätzt wird, desto größer ist der zu erwartende Abschreckungseffekt. Dies ist der entscheidende Faktor, denn das Konzept birgt immerhin die Möglichkeit, daß das Risiko für den Aggressor zumindest in der ersten Verteidigungszöne wesentlich besser kalkulierbar ist, ganz abgesehen von der Tatsache, daß — falls der Angreifer in der ersten Verteidigungszone nicht aufgehalten werden kann — der Verteidiger in der Tiefe seines eigenen Gebiets mit einem konventionellen Krieg konfrontiert wäre

Eine gewisse politische Aktualität haben diese Konzepte durch den verteidungspolitischen Sprecher der SPD, Andreas von Bülow, erhalten Unter Hinweis auf die Zerstörungskraft von Atomwaffen und die Frage der Glaubwürdigkeit amerikanischen nuklearen Engagements in Europa fordert von Bülow ein „nur zur Defensive befähigtes Verteidigungssystem“ — nach Möglichkeit aufbeiden Seiten —, um Vertrauen aufzubauen und zu einer „Sicherheitspartnerschaft“ zu gelangen. Obwohl Panzerverbände weiterbestehen sollen, etwa zur Rückeroberung verlorenen Geländes, soll doch die „Panzerabhängigkeit“ reduziert und durch ein infanteristisches „Panzerabwehrnetz entlang der Grenze“ ersetzt werden.

Die Schwächen dieses Konzepts werden im Politischen wie im Militärischen gesehen Der Wunsch nach einer „Sicherheitspartnerschaft“ verwischt oder überdeckt die erheblichen Unterschiede, sowohl was die politischen Absichten betrifft als auch hinsichtlich der sowjetischen Bereitschaft, quantitativ überlegene und offensive Militärstrukturen, durch die sie politischen Einfluß im Westen wie weltweit erwirkt, tatsächlich zu ändern.

Ferner wird von Kritikern bezweifelt, daß eine Milizarmee rechtzeitig zur Verfügung stünde und daß sie der Dynamik eines an modernem Material weit überlegenen Angriffs standhalten könnte. Zudem wird kritisiert, daß dieses Konzept — dem Gedanken der „strukturellen Nichtangriffsfähigkeit“ entsprechend — die Möglichkeit von Gegen-schlägen vor allem der Luftwaffe ausschließt. Somit könnte der Angreifer nicht nur völlig ungehindert Verstärkungen heranführen, sondern sein eigenes Territorim würde überhaupt als Sanktuarium behandelt.

Zweifel an der militärischen Wirksamkeit und infolgedessen eine mangelhafte Abschreckungswirkung gelten somit als vorrangige Schwächen aller Konzepte dieser Kategorie. Hinzu kommt, daß die Aufgabe von Territorium bewußt einkalkuliert wird und daß der Vorteil der Schadensbegrenzung dann problematisch wird, wenn der Gegner im rückwärtigen Raum konventionell bekämpft werden muß Alle Konzepte gehen offensichtlich davon aus, daß sich die Kampfhandlungen im Falle einer Aggression auf westlichem Territorium abspielen würden. Welche physischen und psychischen Schwierigkeiten dies mit sich bringen würde, liegt auf der Hand. Dennoch wird das Gefecht auf NATO-Territorium fast als etwas Selbstverständliches hingenommen. Dies gilt auch für die derzeitige Doktrin der Vorneverteidigung, selbst wenn nach dieser Doktrin die Verhinderung von Raumverlusten ein vorrangiges Ziel ist: es soll möglichst kein eigenes Gebiet aufgegeben werden Ein offensichtlicher Grund für die Annahme, daß das NATO-Territorium Schauplatz der Kampfhandlungen sein würde, ist, daß die NATO das Opfer wäre: Der im Rahmen der NATO-Planung einzig denkbare Krieg würde damit beginnen, daß Warschauer-Pakt-Kräfte die Grenze überschreiten und auf NATO-Territorium vordringen. Ebenso wichtig ist jedoch, daß die NATO unter keinen Umständen als offensiv erscheinen will: in den siebziger Jahren wurde in der Bundesrepublik sogar der Begriff „Vorwärtsverteidigung“ in „Vorneverteidigung" geändert 3. Dynamische Vorwärtsverteidigung Das bisherige Tabu, auf keinen Fall die Grenze zu überschreiten, brechen erstmals neue Konzepte einer „dynamischen Vorwärtsverteidigung“. Selbstverständlich ist im Rahmen der NATO-Militärdoktrin bei einer Aggression seitens des War-schauer Pakts (und nur dann) die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit der Abriegelung aus der Luft auf dem Territorium des Angreifers vorgesehen. Dies war schon immer der Fall. Dennoch ist dieser Aspekt der Verteidigung unter dem allgemeinen Begriff „deep strike“ in letzter Zeit erneut in die Diskussion gelangt, und eine Reihe von Vorschlägen ist hierzu vorgelegt worden. Es gibt zwei unterschiedliche Ansätze: Der eine sieht umfassende Abriegelungsangriffe mit Hilfe neuartiger konventioneller Technologien gegen die zweite und dritte Staffel der Angriffskräfte vor (die erste Staffel soll von den bereits bestehenden NATO-Kräften aufgehalten werden), der zweite geht von einem sofortigen Gegenangriff auf das Territorium des Warschauer Pakts aus.

Der erstgenannte Gedanke ist in der Tat nicht neu. Abriegelungsangriffe waren als Bestandteil der NATO-Strategie schon immer vorgesehen: Sie entsprechen einfacher militärischer Logik, falls es zu einer Aggression kommt. Neu hingegen ist eine deutlichere Betonung der Möglichkeiten neuer Technologien. Folglich richten sich die gegen dieses Konzept vorgebrachten Argumente — d. h.

hohe Kosten, begrenzte Wirksamkeit, wahrscheinliche Reaktion der Sowjetunion (Angriff ohne großen Verstärkungsbedarf, Angriffe in mehreren Phalanxen und Staffeln) — vornehmlich gegen eine übermäßige Abhängigkeit von Abriegelungsmaßnahmen (werden diese — allein — den Vormarsch aufhalten können?) sowie gegen die übertriebenen Erwartungen, die in die neuen Technologien gesetzt werden; sie entwerten jedoch nicht den Gedanken der Abriegelung im Falle eines WP-Angriffs insgesamt. Von zweifellos weiterreichender Konsequenz ist der zweite Ansatz, d. h.der Vorschlag einer „konventionellen Vergeltung“, also eines unverzüglichen oder frühzeitigen Gegenangriffs auf das Territorium des Warschauer Pakts (z. B. von Bayern aus in die Tschechoslowakei und in die DDR), ungeachtet der Stabilität der eigenen Front und der im Gang befindlichen Abriegelungsangriffe gegen die WP-Folgekräfte

Sieht man diesen Vorschlag nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung der derzeitigen Doktrin der Vorneverteidigung an (mit anderen Worten, die eigene Front sollte nicht vernachlässigt oder aufgegeben werden), sind ihre strategischen Vorteile offensichtlich: die Kampfhandlungen wären nicht selbstverständlich und aussschließlich auf das Territorium der NATO konzentriert, vor allem aber würde sich der sowjetische Machtbereich in Osteuropa im Falle eines sowjetischen Angriffs einer unmittelbaren und ernsten Gefährdung gegenübersehen. Solange sich das Kampfgeschehen auf westlichem Territorium abspielt, hätten die Osteuropäer kaum eine andere Wahl als der Sowjetunion beizustehen; doch sobald westliche Truppen in Osteuropa einmarschieren, würde die Zuverlässigkeit der osteuropäischen Partner — für die Sowjetunion stets ein heikles Problem — ungewiß werden, denn mit großer Wahrscheinlichkeit würden die westlichen Truppen nicht als Aggressoren betrachtet, sondern als Befreier begrüßt werden Daher ist zweifelhaft, ob der Hauptnachteil, den einige dieser Strategie zuschreiben — nämlich eine politische Entfremdung von Osteuropa — tatsächlich zum Tragen kommen würde. Falls eine solche Entfremdung nicht zu erwarten wäre, würde der zweite mögliche Nachteil, nämlich die Unannehmbarkeit dieser Strategie für die westeuropäischen NATO-Bündnispartner zumindest seine objektive Grundlage verlieren (obwohl er auch ohne objektive Gründe immer noch unannehmbar sein könnte, wenn man bedenkt, in welch hohem Maße viele Westeuropäer — und auch viele Amerikaner — der Gedanke beunruhigt, sie könnten „provozierend“ wirken

Ist Abschreckung das primäre Ziel der Strategie des Westens, dürfte der Hauptvorteil dieser Konzeption in der voraussichtlichen Stärkung der Abschreckung liegen — da ein sowjetischer Angriff eine unmittelbare Gefährdung des WP-Territoriums und, was noch wichtiger ist, eine Gefährdung der Zuverlässigkeit der Verbündeten der Sowjetunion, ja sogar der Stabilität des sowjetischen Machtbereichs in Osteuropa insgesamt zur Folge hätte. Doch zugleich könnte dieser Vorteil auch den wesentlichen Nachteil der konventionellen Vergeltung herbeiführen, nämlich eine mögliche Verlegung und insbesondere Vestärkung der sowjetischen Streitkräfte in Osteuropa. Dies würde die Osteuropäer mehr beunruhigen als die„Bedrohung“ durch die westlichen Streitkräfte, und es könnte zudem neue Probleme für die Vorneverteidigung der NATO aufwerfen.

IV. Einige Kriterien für die Bewertung alternativer Konzepte

Bei der Beurteilung der Durchführbarkeit und Annehmbarkeit alternativer Konzeptionen ist eine Reihe von Kriterien zu bedenken.

1. Ist das alternative Konzept dem Hauptziel der Sicherheitspolitik des Westens, d. h.der Kriegs-verhinderung durch Abschreckung, förderlich?

In allen vorgeschlagenen Alternativen wird die Gültigkeit des Prinzips der Abschreckung hervorgehoben, keine will sie durch etwas anderes ersetzen. Mit anderen Worten, alle Alternativen wollen eine wirksame Abschreckung bewahren, wenn auch für einen Großteil nicht eine verbesserte Abschreckung, sondern die Schadensbegrenzung das Hauptmotiv ist. Wird jedoch die Abschreckung als gültiges Ziel akzeptiert, dann sind Alternativvorschläge dahingehend zu überprüfen, welchen Beitrag sie zur Abschreckung leisten. Die Vorschläge gehen von zwei unterschiedlichen „Abschreckungswerten“ aus: der eine beinhaltet Abschreckung durch die Vorenthaltung eines angestrebten Vorteils, der andere Abschreckung durch Androhung von Bestrafung.

Eindeutig zur erstgenannten Kategorie gehört das Konzept der SozialenVerteidigung. Nach diesem Konzept soll sich das eroberte Land für den Eroberer als „unverdaulich“ erweisen, so daß dieser von vornherein von dem Versuch einer Eroberung Abstand nimmt. Grundsätzlich gehören zur ersten Kategorie auch alle Vorschläge, die in erster Linie darauf abzielen, einen Angriff durch Formen der Verteidigung in der Tiefe zu vereiteln. Ihr Hauptziel ist nicht die Androhung von Bestrafung, sondern das Verwehren jeglichen Gewinns. Betrachtet man nur den konventionellen Aspekt, fällt im wesentlichen auch die derzeitige Doktrin der Vorneverteidigung in diese Kategorie. Somit gehört lediglich der Vorschlag der konventionellen Vergeltung eindeutig zur zweiten Kategorie. Aber natürlich beinhalten die meisten Formen einer Verteidigung in der Tiefe ebenso wie die Vorneverteidigung die Möglichkeit einer nuklearen Eskalation und somit die Androhung schwerwiegender Bestrafung. So gesehen würden sie zur zweiten Kategorie gehören.

Es lassen sich hier also zwei Aspekte unterscheiden: a) wie früh und in welchem Umfang wird eine Bestrafung auf gegnerischem Territorium angedroht, und b) welche Rolle spielen Nuklearwaffen? Den Nuklearwaffen werden in den verschiedenen Vorschlägen unterschiedliche Aufgaben zugesprochen. Ihre Rolle kann darauf beschränkt sein, lediglich vom Einsatz von Nuklearwaffen durch den potentiellen Aggressor abzuschrecken, sie können als Mittel der letzten Zuflucht im Falle einer drohenden Niederlage bereitgehalten werden, oder es kann ihnen eine relativ große Rolle beigemessen werden, indem sie vor jedweder Form von Aggression durch die Androhung und das Risiko einer Eskalation abschrecken sollen.

Theoretisch ist die Abschreckungswirkung größer, wenn a) Schäden auch für das Heimatgebiet des Aggressors angedroht werden und nicht nur für seine Angriffstruppen („Expeditionskorps“), b) ein Angriff das Risiko eines Nuklear-kriegs in sich birgt. Die Abschreckungswirkung würde verringert, falls der Aggressor schlimmstenfalls Gefahr laufen würde, einen begrenzten konventionellen Krieg auf dem Territorium des Angegriffenen zu verlieren. 2. Berücksichtigt der Alternativvorschlag den (Abschreckungs-) Wert der NATO-Integration, d. h. das für einen Aggressor bestehende Risiko, daß Falle eines Angriffs NATO-Mitglied im alle -staaten und alle Streitkräfte der Allianz gegen ihn stehen würden? Keiner der Vorschläge befürwortet ausdrücklich einen Austritt aus der westlichen Allianz (wenn auch die Soziale Verteidigung einer solchen Befürwortung sehr nahe kommt), doch einige würden erhebliche Probleme für die derzeitige Form der militärischen Integration und das System der gemischten Dislozierung im Frontbereich mit sich bringen.

3. Trägt der Altemativvorschlag den Erfordernissen der Vorneverteidigung Rechnung, d.

h. Preisgabe von möglichst wenig Raum, frühestmögliche Beendigung militärischer Maßnahmen und höchstmögliche Schadensbegrenzung? Dies sind derzeit gültige politische Forderungen.

Es ist offensichtlich, daß viele Vorschläge nicht der Forderung der Vorneverteidigung, nach Möglichkeit überhaupt kein Gebiet preiszugeben, entsprechen. Gewiß wird hier von einigen eingewandt, daß auch die gegenwärtige Doktrin diese Forderung faktisch nicht erfüllen könne aber immerhin besteht ein Unterschied zwischen einer Forderung, der gegebenenfalls durch eine veränderte Verteidigungsstruktur zu entsprechen wäre, und der Preisgabe der Forderung von vornherein. Tatsächlich sehen die meisten Vorschläge durchaus vor, eigenes Gebiet aufzugeben, und zwar vorgeblich zugunsten a) einer wirksameren und somit vermutlich glaubwürdigeren Verteidigung und b) zur militärischen Schadensbegrenzung. Während die Verfechter der Vorneverteidigung argumentieren, daß es psychologisch und politisch unannehmbar sei, ein Verteidigungskonzept auf Raumverlusten basieren zu lassen, würden die Befürworter einer Verteidigung in der Tiefe des rückwärtigen Raumes meinen, daß die Preisgabe von Gelände aus psychologischer Sicht dann annehmbar sein könnte, wenn sie mit Schadensbegrenzung einherginge. Die derzeitige Strategie wird demgegenüber als unannehmbar angesehen wegen der damit verbundenen wahrscheinlichen Zerstörung. Allerdings ist die Schadensbegrenzung durch Geländeverlust zweifelhaft, wenn verlorenes Terrain — wie in vielen Konzepten vorgesehen — gegen einen doch aller Wahrscheinlichkeit nach entschlossen kämpfenden Gegner zurückgewonnen werden muß.

Somit hängt das Ausmaß einer möglichen Schadensbegrenzung wesentlich davon ab, ob der Aggressor sich an die Regeln der alternativen Strategie hält — und falls er sich bei seinem Vormarsch daran halten sollte, ob er sich auch weiterhin daran hielte, wenn er zurückgedrängt wird. Auf die Verfechter alternativer Konzeptionen wird dieser Hinweis gewiß wenig Eindruck machen, da die Schäden ihrer Auffassung nach in jedem Fall geringer sein würden (nicht zuletzt wegen der ihrer Ansicht nach größeren Chance, einen Nuklearkrieg zu verhindern). Insgesamt stellt sich also Abschreckung durch konventionelles Potential plus Schadensbegrenzung für den Fall, daß die Abschreckung versagt, in den Augen der Verfechter alternativer Doktrinen als eine solidere Konzeption dar als die Abstützung auf konventionelle und nukleare Abschreckung.

Gemäß der gültigen Doktrin hingegen soll die Schadensbegrenzung dadurch erreicht werden, daß der Gegner von eigenem Territorium ferngehalten wird und die Feindseligkeiten baldmöglichst durch die Androhung von Eskalation und massiver Vernichtung beendet werden. Die Verfechter einiger der Alternativen hegen in doppelter Hinsicht Zweifel an dieser Drohung: Wird sie angesichts der damit verbundenen Folgen überhaupt eingesetzt werden, und kann sie, wenn der Krieg dieses Stadium erreicht hat, kontrolliert eingesetzt werden? Diese Zweifel gelten jedoch in gleichem Maße für alle Alternativvorschläge, die als letzte Zuflucht den Einsatz von Nuklearwaffen vorsehen.

4. Läßt sich die Alternative technologisch, finanziell und personell verwirklichen?

Einige der Altemativvorschläge bauen in sehr starkem Maße auf moderne Technologien, wobei sie vielleicht die neuen Möglichkeiten (z. B. bei der Panzerabwehr) überschätzen, die möglichen Gegenmaßnahmen unterschätzen und in den in der Vergangenheit wiederholten Irrtum einer dauerhaften Überlegenheit des Westens auf militär-technologischem Gebiet verfallen. Daneben sehen sich alle Befürworter alternativer Strategien, die in erster Linie eine Verbesserung der konventionellen Fähigkeiten anstreben, den Problemen sinkender Personalstärken und steigender Kosten in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren gegenüber.

Hier ist jedoch zu sagen, daß auch die derzeitige Doktrin kostspielig und von modernen Technologien sowie einer ausreichenden Personalstärke abhängig ist. Eine Umverteilung der Ressourcen wäre theoretisch durchaus denkbar.

5. Kann die alternative Konzeption das Problem der Nuklearwaffen lösen: a) hinsichtlich der grundsätzlichen Gefahr nuklearer Vernichtung und b) in bezug auf die Glaubwürdigkeit einer nuklearen Gegendrohung zur Aufrechterhaltung der Abschreckung?

Selbstverständlich kann keine alternative Konzeption Nuklearwaffen von der internationalen politischen Szene verschwinden lassen, und auch ihre Verfechter würden nicht behaupten wollen, daß ihre Vorschläge sicheren Schutz gegen Unvernunft bieten. Andererseits — und dies ist eines der zentralen Elemente alternativer Überlegungen — stellen sie die Behauptung auf, daß der Anreiz zum Einsatz von Nuklearwaffen in hohem Maße gemildert würde a) durch den Abzug von Nu9 klearwaffen aus bestimmten Gebieten, vorzugsweise aus ganz Westeuropa, so daß sich keine nuklearen Ziele bieten würden, und b) durch Ausdünnung statt Massierung der Vorneverteidigungskräfte. Falls die Kräfte tatsächlich ausgedünnt würden, dürfte die letztgenannte Erwartung vernünftig sein; falls jedoch massierte Angriffstruppen weiter hinten bereitgehalten werden (wie dies in verschiedenen Konzepten vorgesehen ist), könnte hierdurch erneut ein Anreiz für einen nuklearen Schlag gegeben sein.

Das Argument in bezug auf die nuklearen Ziele erscheint auf den ersten Blick plausibel, wenngleich auch andere „attraktive“ Ziele denkbar wären, so z. B. größere Bevölkerungszentren, die angegriffen werden könnten, um die Verteidiger zu demoralisieren; und dieser Anreiz könnte um so stärker werden, je aufwendiger und schwieriger es für den Gegner wird, etwa mit den in die Tiefe gerichteten Panzerabwehr-und Guerilla-Taktiken fertig zu werden. Außerdem gibt es keinen Grund, warum nukleare Ziele mit Nuklearwaffen angegriffen werden sollten: es könnte wesentlich ratsamer sein, sie mit konventionellen Kräften zu überrennen oder sie durch konventionelle Luftangriffe auszuschalten. In der Tat ist dies die gegenwärtige Tendenz auf sowjetischer Seite. Das Hemmnis gegenüber dem Einsatz von Nuklearwaffen basiert auf der wirksamen Androhung eines Vergeltungsschlags und nicht auf dem Mangel an Zielen.

Doch wann ist die Androhung eines Vergeltungsschlags glaubwürdig? Dies ist die viel wichtigere Frage und mit Sicherheit eines der Dilemmata der NATO-Strategie (wie auch jeder sonstigen Nuklearstrategie). Die NATO versucht dieses Dilemma dadurch zu lösen, daß sie die konventionelle Verteidigung mit der vorgeschobenen Stationierung einiger Nuklearwaffen und der Androhung nuklearer Eskalation kombiniert. Der Grundgedanke der vorgeschobenen Stationierung besteht darin, es einem Angreifer zu erschweren, ein direktes Zusammentreffen mit den Nuklear-streitkräften der NATO zu umgehen: Das Ziel hierbei ist Abschreckung, denn diese vorgeschobenen Kräfte implizieren zugleich das gesamte nukleare Vergeltungspotential der Amerikaner. Das bedeutet zumindest Ungewißheit und somit Risiko. Gleichzeitig versucht das Konzept der Eskalation das Glaubwürdigkeitsproblem — d. h. die Frage, ob dieses enorme Vernichtungspotential tatsächlich zum Einsatz gelangen würde — sozusagen in „verdauliche“ Happen zu zerlegen: falls am Einsatz der strategischen Kräfte der Amerikaner Zweifel bestehen, wird am Einsatz einer vorgeschoben stationierten, begrenzten (in bezug auf Reichweite und Wirkung) nuklearen Waffe vielleicht weniger Zweifel bestehen, und wenn eine solche Waffe erst einmal zum Einsatz gelangt ist, würden die Zweifel an einer weiteren Eskalation wahrscheinlich ebenfalls geringer werden. Mit anderen Worten, es wird erwartet, daß sich die größere Glaubwürdigkeit der begrenzten, vorgeschoben stationierten Waffen aufsämtliche Stufen der Eskalationsleiter auswirkt.

Die Verfechter alternativer Konzeptionen aber fürchten gerade diese Eskalationsleiter. Diejenigen, die Nuklearwaffen nicht vollständig aus ihrem Konzept verbannen — und die meisten tun dies in der Tat nicht — halten es für notwendig, die Nuklearwaffen aus diesem Prozeß herauszulösen und ihnen lediglich die Rolle einer Waffe zur Abschreckung eines gegnerischen Nukleareinsatzes und einer Waffe letzter Zuflucht vor einer drohenden Niederlage zuzuweisen. Hier besteht allerdings eine deutliche Ähnlichkeit mit der früheren NATO-Strategie der „massiven Vergeltung“ mit ihren bekannten Schwächen, insbesondere im Hinblick auf die Glauwürdigkeit. Falls z. B. Nuklearwaffen aus Westeuropa abgezogen und auf See stationiert werden sollten: in welcher Phase eines europäischen Krieges würden sie dann eingesetzt, in welchem Umfang und gegen welche Ziele? Nach einer längeren, jedoch erfolglosen konventionellen Verteidigung Westeuropas wäre möglicherweise zu erwarten, daß die Vereinigten Staaten, nachdem sie Zeit für die Mobilmachung hatten, viel eher eine Verstärkung der konventionellen Kräfte in Erwägung ziehen würden als den Beginn eines Nuklearkrieges. Würde die Abschreckungswirkung wirklich erhöht, wenn die Möglichkeit eines längeren konventionellen Konflikts Bestandteil der NATO-Strategie würde?

6. Ist die Alternative in der Öffentlichkeit akzeptabel?

Zahlreiche Verfechter von Alternativen zur Vorneverteidigung und Abschreckungsstrategie gehen bei ihrer Argumentation von der Prämisse aus, daß es zu einer unausweichlichen Erosion der Unterstützung der derzeitigen NATO-Doktrin durch die Öffentlichkeit kommen wird Es gibt jedoch durchaus Grund, die Gültigkeit dieser Annahme zu bezweifeln. Sie mag zum Teil darauf zurückzuführen sein, daß die verschiedenen „Friedensbewegungen“ und das Maß, in dem diese die öffentliche Meinung beeinflussen bzw. widerspiegeln, überbewertet werden. Aber selbst dort, wo sich die Erosionstheorie durch Meinungsumfragen scheinbar erhärten läßt, kommen andere Umfragen wiederum zu ganz anderen Ergebnissen Doch auch wenn eine derartige Erosion stattfände — und in gewissem Umfang mag das sogar der Fall sein —, stellt sich die Frage, ob der beste bzw. einzige Weg, mit diesem Problem fertig zu werden, in einer Änderung der Doktrin besteht (bis etwas Akzeptables — sozusagen eine „Strategie durch Volksentscheid“ — gefunden ist). Eine andere Möglichkeit könnte schließlich in dem Versuch bestehen, durch Aufklärung der Öffentlichkeit ein besseres Verständnis der derzeitigen Doktrin zu bilden. Allerdings ist öffentliche Akzeptanz nicht das Hauptkriterium für die Wahl einer Militärstrategie, sondern sie ergibt sich aus anderen Elementen wie Durchführbarkeit, Glaubwürdigkeit und vor allem Wirksamkeit im Lichte bestimmter politischer Ziele, d. h. Erhaltung des Friedens (durch Abschreckung) und Fähigkeit zur wirksamen Verteidigung im Falle eines Konflikts. Darauf baut dann die öffentliche Akzeptanz auf.

Die Annehmbarkeit der verschiedenen alternativen Vorschläge wird in der Regel als gegeben vorausgesetzt; auf die Probe gestellt wurde sie noch nicht. Gewiß könnte man erwarten, daß eine geringere Abhängigkeit von Nuklearwaffen und eine erhöhte Schadensbegrenzung jedwede Doktrin akzeptabler machen würde. Gleiches würde auch für eine verbesserte Wirksamkeit gelten. Doch diese Ziele sind gemeinsame Nenner des gesamten westlichen Strategiedenkens. Hingegen dürfte der Gedanke einer „nicht provokativen“ Verteidigung, die die Befürworter alternativer Konzepte in so verblüffender Weise präokkupiert, für die öffentliche Akzeptanz weniger wichtig sein. Die westliche Öffentlichkeit hält die Streitkräfte und die Doktrin des Westens in ihrer derzeitigen Form — mit Recht — für nicht provokativ, und es gibt auch kaum Hinweise dafür, daß die Sowjetunion sie so einschätzt. Schon jetzt gilt: „Die NATO-Streitkräfte sind weder zu einer überfallartigen Kriegseröffnung noch zu weiträumigen Offensiven auf das Gebiet des Warschauer Pakts fähig; ihre Mittel reichen gerade zur zusammenhängenden grenznahen Vorneverteidigung.“

Ernster ist das Problem von Mißverständnissen oder eines Versehens: Diese Kriterien haben auch im Hinblick auf die derzeitige Doktrin großes Gewicht. Eine Doktrin muß nicht nur ihre Befürworter, sie muß auch die militärische und politische Führung überzeugen. Doch der letztlich am schwersten wiegende Nachteil des Großteils der alternativen Konzepte einer rückwärtigen Verteidigung liegt darin, daß diese die Preisgabe von und Kampfhandlungen auf eigenem Gebiet bewußt einkalkulieren. Es ist zumindest zweifelhaft, ob dieser Nachteil durch die — ungewisse — Aussicht auf Schadensbegrenzung aufgewogen werden kann. Außerdem würde zwar eine geringere Abhängigkeit von Nuklarwaffen attraktiv erscheinen, die damit verbundene Möglichkeit einer verminderten Abschreckungswirkung hingegen nicht. Jede Strategie, die das Risiko eines Krieges erhöht oder überhaupt Zweifel darüber aufkommen läßt, steht, was öffentliche Akzeptanz angeht, auf verlorenem Posten.

V. Folgerungen

l. Auch die überzeugendsten Argumente zugunsten der derzeitigen Abschreckungsdoktrin und der Militärstrategie der Vorneverteidigung können verschiedene Schwierigkeiten und Nachteile nicht leugnen, die mit diesem strategischen Konzept verbunden sind. Selbst wenn es sich als erfolgreich erwiesen hat — oder jedenfalls nicht gescheitert ist —, kann dies nicht sozusagen ein für allemal beruhigen. Die derzeitige Doktrin gewährleistet keine totale Absicherung — doch das tut auch keiner der alternativen Vorschläge. Unredlich ist es, einen Alternativvorschlag unter günstigsten Bedingungen zu betrachten, für die gültige Strategie aber die ungünstigsten vorauszusetzen. Mit anderen Worten, die Vor-und Nach-teile alternativer Vorschläge müssen stets gegen die Vor-und Nachteile der derzeitigen Doktrin aufgewogen werden.

2. Es stellt sich allerdings die Frage, ob durch die Konzentration auf Fragen der Militärstrategie das Blickfeld nicht in unzulässiger Weise eingeengt wird — zumindest was das politische, möglicherweise auch was das militärische Denken anbelangt. Können die Gefahren moderner nuklearer und konventioneller Militärmacht innerhalb des Abschreckungssystems gebannt werden? Eine grundsätzliche Betrachtung der Ursachen und Beweggründe für die Abschreckung und die derzeitige Militärstrategie ist hier notwendig. International sind wir mit einer Hobbes’schen Welt konfrontiert. Trotz aller bestehenden und zunehmenden Verflechtungen ist diese Welt durch souveräne Staaten geprägt, die keine Autorität über sich anerkennen. Es gibt kein Machtmonopol und, was noch wichtiger ist, es mangelt an Konsens über eine grundlegende, gemeinsame Wertordnung. Gleichzeitig ist das internationale System durch eine Fülle von zwischenstaatlichen Konflikten gekennzeichnet: Interessenskonflikten, Machtkonflikten, Konflikten als Folge von Mißverständnissen. In einer solchen Welt ziehen es die Staaten vor, auf militärische Macht als politisches und militärisches Mittel in Konflikten, zumindest als letztes Zufluchtsmittel, als ultima ratio, nicht zu verzichten.

Außerhalb der europäisch-atlantischen Region spielen Waffen eine viel offensichtlichere Rolle. Die grundsätzlichen Zweifel am Wert von Waffen und vor allem die moralisch begründete Ablehnung von Gewalt stellen in mancherlei Hinsicht eine spezifisch vom europäisch-amerikanischen Kulturkreis geprägte Entwicklung dar. Begünstigt wurde diese Entwicklung zweifellos durch die Erfahrungen der beiden Weltkriege und, in noch stärkerem Maße, durch die Entwicklung der Atombombe. Gleichzeitig haben die Erinnerung an den Krieg und das Bewußtsein von der Möglichkeit einer nuklearen Katastrophe der europäisch-atlantischen Region einen in der Geschichte beispiellos langen Zeitraum des Friedens beschert. Dennoch besteht Unbehagen hinsichtlich der Haltbarkeit dieses „unsicheren Friedens“, und es wird nach Alternativen gesucht — aber eben weniger im Hinblick auf die Hobbes’sche Welt als im Hinblick auf das System der Abschreckung in dieser Welt.

3. Das Grundproblem im Ost-West-Konflikt ist die Sowjetunion in ihrer gegenwärtigen politischen Verfassung. Die Sowjetunion baut auf einer langen russischen Tradition der autoritären Staatsführung und des Imperialismus auf. Sowohl das autoritäre als auch das imperialistische Element haben ihre moderne Fortsetzung im Kommunismus gefunden. Die kommunistische Ideologie und Praxis haben das Entstehen einer wirtschaftlich wenig effektiven und innenpolitisch unsicheren Gesellschaft bewirkt. Diese Unsicherheit tritt besonders deutlich auch in den osteuropäischen Ländern des sowjetischen Machtbereichs zutage.

Tradition und Unsicherheit führen somit zu einer expansionistischen und militaristischen Politik.

Der militärische Bereich ist der einzige, in dem die Sowjetunion mit dem Westen konkurrieren kann.

International basieren Macht und Prestige der Sowjetunion nahezu ausschließlich auf ihrem Militärpotential. Gleichzeitig hat diese militärische Macht nicht nur Kontrollfunktionen in Osteuropa, sondern sie ist zudem der einzige Bereich, in dem sich eine vorgebliche „Überlegenheit des Sozialismus“ demonstrieren läßt, durch den die Hoffnung auf einen langfristigen sowjetischen Sieg genährt werden kann und nicht zuletzt die Menschen in Westeuropa eingeschüchtert und gefügig gemacht werden sollen, denn Freiheit und Wohlstand Westeuropas gelten in dieser Perspektive als konstantes Element der Destabilisierung in Osteuropa. Die Unsicherheit des sowjetischen Systems und die starke Abhängigkeit der Sowjetunion von militärischer Macht sind wichtige Erklärungen für den mangelnden Erfolg bei der Rüstungskontrolle und dafür, warum die Sowjetunion nach wie vor als Bedrohung für Westeuropa angesehen wird. Abgesehen von Verbesserungen des derzeitigen Abschreckungssystems ist bislang kein wirklich überlegenes und realisierbares Altemativkonzept vorgelegt worden, um der von der Sowjetunion ausgehenden Bedrohung wirksam zu begegnen.

4. Weil die Verteidigung Westeuropas so viele Probleme mit sich bringt, gibt es bei vielen Befürwortern alternativer Konzepte die ausgeprägte Neigung, das Grundproblem — die sowjetische Bedrohung — zu relativieren oder sogar zu ignorieren. Unbewußt haben viele der Befürworter alternativer Vorschläge bereits das Versagen der Abschreckung akzeptiert; von daher rührt ihre starke Konzentration nicht auf Abschreckung, sondern auf Abschaffung bzw. Reduzierung der Rolle der Nuklearwaffen und auf Schadensbegrenzung. 5. Im Rahmen des derzeitigen Systems der internationalen Politik gibt es keine Lösung für die Dilemmata der Nuklearwaffen bzw.der Abschreckung in Europa, daß nämlich jede Anwendung militärischer Macht in Mitteleuropa die Gefahr weitgehender Vernichtung in sich birgt, daß bezüglich der Nukleargarantie der Amerikaner für Europa letztendlich keine Gewißheit besteht, und daß es keine absolute Gewißheit dahin gehend gibt, daß das Gefüge des Abschreckungssystems auch in Zukunft Bestand haben wird. Mit diesen Dilemmata müssen wir leben. Was jedoch getan werden kann und auch getan wird, ist, ihnen die Schärfe zu nehmen, mit anderen Worten, das Abschreckungssystem so stabil zu machen, daß die Wahrscheinlichkeit, tatsächlich mit diesen Dilemmata konfrontiert zu werden, geringer wird. Diesem Ziel dienen eine Vielzahl von Maßnahmen wie:

— Maßnahmen zur Verbesserung der konventionellen Verteidigung, um einen frühzeitigen Erst-einsatz von Nuklearwaffen zu vermindern;

— Verbesserung der Führungssysteme, um eine mögliche Eskalation unter Kontrolle zu halten und sie mit dem Ziel nutzen zu können, die Abschreckung wiederherzustellen und die Feindseligkeiten zu beenden;

— enge Koordinierung und Integration der Nuklearplanung der Amerikaner und Europäer;

— Maßnahmen zur Stabilisierung des Abschrekkungssystems, Verhütung eines Kriegs „aus Versehen“, Rüstungskontrolle, aber auch politische Maßnahmen im Rahmen des Krisenmanagement und der Entspannung.

6. Auf lange Sicht jedoch läßt sich das Risiko eines Krieges in entscheidendem Maße nur durch Veränderungen und Alternativen außerhalb des Abschreckungssystems verringern, d. h. statt primär eine Veränderung der Struktur der Abschrekkung im Rahmen des bestehenden Systems internationaler Beziehungen anzustreben, sollten vermehrte Anstrengungen zur Veränderung und Verbesserung dieser Beziehungen unternommen werden. Die Rüstung und das Abschreckungssystem sind nicht Ursache, sondern Widerspiegelung der Gegebenheiten des internationalen politischen Systems.

Die dazu bisher vorgelegten Gedanken lassen sich in kurz-und langfristige Vorschläge unterteilen.

Zu ersteren gehören alle Maßnahmen, die darauf abzielen, Spannungen abzubauen, Zusammenarbeit in den verschiedensten Bereichen zu fördern, das System der Abschreckung zu stabilisieren, ein größeres Maß an Information und Offenheit zu bewirken. Entspannung, Rüstungskontrolle, Krisenmanagement und vertrauensbildende Maßnahmen gehören in diese Kategorie.

Solche Maßnahmen könnten mit einer Politik einhergehen, deren Ziel es ist, die äußeren und inneren Faktoren abzubauen, die einer expansionistischen und militaristischen Politik der Sowjetunion förderlich sind. Im Sinne einer aktiven Politik kann der Westen nicht viel tun, um die Sowjetunion zu verändern; aber er kann der Expansionspolitik der sowjetischen Führung entgegenwirken, und er kann beständig darauf hinweisen, daß es zur Gewährleistung der inneren Sicherheit bessere Wege gibt als Unterdrückung, in der Hoffnung, daß die sowjetische Führung sich irgendwann wandeln wird. Gewiß würde ein Wandel in der Sowjetunion das internationale politische System nicht automatisch grundlegend verändern; er könnte jedoch eines der Hauptprobleme des derzeitigen Systems — die Unsicherheit und die Expansionsbestrebungen der Sowjetunion, die sich primär auf militärische Macht abstützt — hinfällig machen, und er könnte dazu beitragen, die Voraussetzungen für eine langfristige Veränderung des Systems zu schaffen.

Für einen derartigen Wandel gelten Grundforderungen, die bereits in sich grundlegende Veränderungen beinhalten: Vor allem ein zunehmender Konsens über bestimmte Grundwerte, z. B. Respekt vor dem Leben, Gewaltfreiheit, Meinungsfreiheit, Freizügigkeit; ein Konsens also, der Raum für unterschiedliche innenpolitische Systeme läßt, gleichzeitig jedoch die allmähliche, aber entscheidende Entwicklung friedlicher Methoden der Konfliktlösung ermöglichen würde. Friedliche Konfliktlösung basiert auf Vertrauen, Vertrauen aufzumindest in Teilbereichen gemeinsamen Wertvorstellungen. Eines der Hauptprobleme des derzeitigen internationalen Systems ist nicht die Existenz von Konflikten, sondern vielmehr die Nichtexistenz funktionierender und wirksamer Methoden der friedlichen, nichtmilitärischen Konfliktlösung.

Langfristige Veränderungen dieser Art sind die einzige Hoffnung auf eine wirkliche Lösung der nuklearen Dilemmata des gegenwärtigen internationalen Systems.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Das heißt nicht, daß die Möglichkeit eines unbeabsichtigten Krieges oder die Gefahren einer eskalierenden Krise übersehen werden. Bi-und multilaterale Maßnahmen zur Einschränkung solcher Gefahren haben ebenso ihren Platz in der westlichen Sicherheitspolitik wie Verfahren der Krisenbeherrschung.

  2. Die erste Hälfte der sechziger Jahre war von einer umfangreichen transatlantischen Debatte über diese Frage, in der nahezu alle Argumente schon einmal auftauchten, gekennzeichnet; vgl. dazu Dieter Mahncke, Nukleare Mitwirkung. Die Bundesrepublik Deutschland in der atlantischen Allianz 1954— 1970, Berlin-New York 1972.

  3. Selbstverständlich handelt es sich nur um eine grobe, nicht in jeder Hinsicht befriedigende Einteilung. Einen ausführlichen Überblick über die verschiedenen Konzepte geben Karl-Heinz Lather und Heinz Loquai, Alternative Konzeptionen der Verteidigung, in: Truppenpraxis (1982) 9, S. 623— 627, (1982) 10, S. 703— 712, (1982) 1 1, S. 787— 794; ebenso Günther Schmid, Alternative sicherheitspolitische Konzepte, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Politische Bildung und Bundeswehr, Bonn 1984, S. 46— 67. Siehe ferner Lothar Brock/Berthold Meyer (Hrsg.), Die Zukunft der Sicherheit in Europa, Baden-Baden 1984; Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Militärstrategische Konzeptionen der Sicherheitspolitik: NATO-Strategie vs. Alternativkonzepte, Hamburg 1983; Manfred Schleker, Ernstfall Friede. Sicherheitspolitik und Funktion der Bundeswehr in der Diskussion, Baden-Baden 1984; Michael Strübel (Hrsg.), Friedens-und sicherheitspolitische Alternativen, Gießen 1985; Wolfgang R. Vogt (Hrsg.), Streitfall Frieden. Positionen und Analysen zur Sicherheitspolitik und Friedensbewegung, Heidelberg 1984.

  4. Vgl. z. B. Theodor Ebert, Soziale Verteidigung, 2 Bde., Waldkirch 1981; ferner die schriftliche Stellungnahme zur Anhörung im Verteidigungsausschuß des Deutschen Bundestages in: Alfred Biehle (Hrsg.), Alternative Strategien, Koblenz 1986, S. 241— 248 (mit weiteren Literaturangaben). Siehe auch die Protokolle der Anhörung vom 28. 11. 1983— 6. 2. 1984. Deutscher Bundestag, Stenographisches Protokoll, 15. Sitzung, S. 158 ff.

  5. Die meist verwendeten historischen Beispiele geglückten gewaltlosen Widerstands — das beliebteste Beispiel ist Indien — unterscheiden sich genau darin von der vorgebrachten Theorie, daß es sich bei den Besatzungsmächten um hochkultivierte demokratische Rechtsstaaten handelte, die sich schließlich aus eigenem inneren Antrieb zurückzogen. Viel aufschlußreicher sind die mißglückten Versuche sozialen Widerstands.

  6. Gewiß wäre ein Rückzug ein Gesichtsverlust, aber die Frage bleibt, ob ein Angreifer sich davon abschrecken lassen würde, wenn er bei seinem Angriff doch mit einem Erfolg rechnen würde. Um diesen Nachteilen zu begegnen, gibt es Varianten des Konzepts, die ein Maß an militärischer Verteidigung zusätzlich zum sozialen Widerstand vorsehen; so Heinrich Nolte/Wilhelm Nolte, Ziviler Widerstand und autonome Abwehr, Baden-Baden 1984. Es handelt sich hier um eine Verbindung der Idee nichtmilitärischen sozialen Widerstands mit dem Gedanken der sog. „defensiven Verteidigung“ bzw. Verteidigung in der Tiefe des rückwärtigen Raums. Dabei werden die Nachteile beider Kategorien jedoch nicht aüfgehoben; sie verbinden sich vielmehr.

  7. Siehe Horst Afheldt, Verteidigung und Frieden. Politik mit militärischen Mitteln, München-Wien 1977; ders., Atomkrieg. Das Verhängnis einer Politik mit militärischen Mitteln, München 1984; ferner Emil Spannocchi, Verteidigung ohne Selbstzerstörung, in; Verteidigung ohne Schlacht, München-Wien 1976, und Guy Brossollet, Das Ende der Schlacht. Versuch über die „Nicht-Schlacht“, ebd. Siehe auch H. Afheldt in: Deutscher Bundestag, Stenographische Berichte, S. 19/65 ff., und E. Afheldt, ebd., S. 19/166 ff. Die schriftlichen Stellungnahmen zur Anhörung im Bundestag finden sich in Biehle (Anm. 4), S. 621 ff. bzw. S. 655 ff. Mit diesen Ideen verwandt bzw. auf ihnen aufbauend sind die Vorschläge von Jochen Löser, Weder rot noch tot. Überleben ohne Atomkrieg. Eine sicherheitspolitische Alternative, München 1981, und ders., Vorneverteidigung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Österreichische Militärzeitschrift (1980) 2, S. 16 ff., sowie von Andreas von Bülow, Das Bülow Papier. Strategie vertrauenschaffender Sicherheitsstrukturen in Europa. Wege zur Sicherheitspartnerschaft, Frankfurt 1985.

  8. Dies trifft etwa auf Lutz Unterseher (Friedenssicherung durch Vermeidung von Provokation?, in: Vogt (Anm. 3), S. 95 ff.) zu, der zwar „keine kalkulierte Preis-gabe größerer Partien unseres Defensiv-Netzes" postuliert, aber eine Struktur vorschlägt, die denen anderer Konzepte einer Raumverteidigung sehr ähnlich sind. Franz Uhle-Wettler schlägt die Schaffung einer „leichten Infanterie“ zur Panzerabwehr vor, siehe: Gefechts-feld Mitteleuropa. Gefahr der Übertechnisierung von Streitkräften, München 1980. F. Birnstein plädiert für ein engmaschiges „Sperrsystem“ direkt an der Grenze, um das Vordringen des Gegners zu verlangsamen und Zeit für eine beweglich geführte Verteidigung mit mechanisierten Kräften zu gewinnen; vgl.: Die Vorneverteidigung. Kern der konventionellen NATO-Abwehr, in: Europäische Wehrkunde (1985) 5, S. 213 ff.

  9. Eine allgemeine Erörterung findet sich bei Josef Joffe, Das Unbehagen an der Stabilität: Kann Europa sich konventionell verteidigen?, in: Europa-Archiv (1984) 18, S. 549 ff.

  10. Um dieses Dilemma zu vermeiden, wird von einigen vorgeschlagen, das System durch Elemente der Guerillakriegführung und der Sozialen Verteidigung zu ergänzen. Siehe C. v. Weizsäcker, Deutscher Bundestag, Stenographische Berichte, S. 15/37 ff., J. Galtung, ebd., S. 19/210 ff.

  11. Vgl. A. von Bülow (Anm. 7).

  12. Vgl. Lothar Rühl, Europa würde der sowjetischen Herrschaft unterworfen, in: Frankfurter Allgemeine, 12. 9. 1985, S. 9.

  13. Siehe hierzu das „Streitgespräch: Alternative Strategien“ in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, (1985), S. 112— 121, insbes. S. 116 f.

  14. Eine heikle Frage ist auch, ob der Einsatz chemischer Waffen gegen versteckte Jägergruppen „attraktiv“ erscheinen könnte.

  15. Afheldt und von Bülow meinen allerdings, daß auch das Konzept der Vorneverteidigung faktisch eine Verteidigung in einem Raum 70— 100 km von der Grenze bedeuten würde.

  16. Die Sorge, offensiv zu erscheinen, ist bei allen Befürwortern alternativer Konzepte überaus stark ausgeprägt. Selbst die Verteidigung gegen den Nachschub im Falle eines erfolgten Angriffs wird von einigen Autoren als Provokation verstanden.

  17. Auch Follow-on-Forces Attack (FOFA) oder „Rogers Plan“, vgl. Bernhard W. Rogers, Das Atlantische Bündnis: Rezepte für ein schwieriges Jahrzehnt, in: Europa-Archiv (1982) 12, S. 369 ff.

  18. Siehe J. Joffe (Anm. 9), S. 553 f.

  19. Siehe Samuel Huntington, The Renewal of Strategy, in: Huntington (Hrsg.), The Strategie Imperative, Cambridge, Mass., 1982; ders. Conventional Deterrence and Conventional Retaliation in Europe, in: International Security, Winter 1983/84, S. 32 ff.

  20. Ich bin hier anderer Meinung als Joffe (Anm. 9), S. 556, der einen der wichtigsten Nachteile dieser Gedanken darin sieht, daß die Osteuropäer sie als erhöhte westliche Aggressivität interpretieren könnten.

  21. So J. Joffe, ebd.

  22. Vgl. Afheldt, Bülow, Galtung u. a. Zugleich sollte in Erinnerung gerufen werden, daß die Doktrin des War-schauer Paktes ganz selbstverständlich von Angriff und Besetzung westlichen Territoriums ausgeht. Dies wird durch Warschauer Pakt-Manöver bestätigt, die häufig wie Abhören — das des Manöverfunks — -zeigt auf west lichem Territorium „spielen“; vgl. z. B.den Bericht in: Frankfurter Allgemeine, 24. 10. 1984.

  23. Siehe Anm. 15.

  24. Vgl. P. Terrence Hopmann (Hrsg.), Rethinking the Nuclear Weapons Dilemma in Europe, London 1986. Vogt (Anm. 3), spricht von einem „Legitimitätsverfall" der gültigen Doktrin.

  25. Siehe z. B. die Sinus-Studie „Sicherheitspolitik, Bündnispolitik, Friedenspolitik“ vom Herbst 1983 — also während des Höhepunktes der Nachrüstungsdebatte in Deutschland —, nach der 43 % der Befragten der Meinung waren, daß das Konzept der nuklearen Abschreckung die Sowjetunion während der vergangenen 30 Jahre davon abgehalten habe, den Westen anzugreifen; 37% glaubten dies nicht, und 19% waren unentschieden. Selbstverständlich sagt dies nichts über Vertrauen in die Abschreckung in Zukunft aus. In der Vergangenheit jedoch hingen die Antworten wesentlich von Frage und Zeitpunkt ab. Im Herbst 1983 glaubten z. B. 28 % der Befragten einer anderen Umfrage, daß die Stationierung der Pershing II die Wahrscheinlichkeit eines sowjetischen Angriffs erhöhe, aber 40% glaubten, die Stationierung erhöhe die westliche Sicherheit, und 28 % meinten, sie übe keinen Einfluß aus. Schon ein Jahr später hatte sich die Zahl derer, die in der Stationierung eine Erhöhung unserer Sicherheit sahen, auf 48% vergrößert; die Zahl derer, die als Folge einen Angriff für wahrscheinlicher hielten, war auf 22 % zurückgegangen. (EMNID Repräsentativerhebungen zur Sicherheitspolitik).

  26. So L. Rühl (Anm. 12). Natürlich liegt es nahe, daß dieser zähe Wunsch, der Sowjetunion gegenüber nur ja nicht „provokativ“ zu erscheinen — ohne Rücksicht darauf, wie provokativ ihre Aufrüstung und Militärdoktrin des Angriffs uns erscheinen muß —, etwas mit jener ängstlichen Beflissenheit zu tun hat, die viele Beobachter bei der Linken — nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland — vermerken; vgl. etwa Hans-Peter Schwarz, Die Bundesrepublik Deutschland in den verschärften Ost-West-Beziehungen, in: W. Link (Hrsg.), Die neueren Entwicklungen des Ost-West-Konflikts, in: Zeitschrift für Politik (Sonderheft) 1984, S. 85— 93.

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Dieter Mahncke, M. A„ Ph. D., geb. 1941; 1975— 1980 o. Professor für Politikwissenschaft an der Universität der Bundeswehr Hamburg, seit 1980 im Bundespräsidialamt. Veröffentlichungen u. a.: Nukleare Mitwirkung. Die Bundesrepublik Deutschland in der atlantischen Allianz 1954— 1970, Berlin-New York 1972; (zus. mit Karl Carstens) Westeuropäische Verteidigungskooperation, München-Wien 1972; Berlin im geteilten Deutschland, München-Wien 1973; (zus. mit Hans-Peter Schwarz) Seemacht und Außenpolitik, Frankfurt 1974; (zus. mit Thomas Jansen) Persönlichkeiten der europäischen Integration, Bonn 1981; (zus. mit Manfred Hättich u. a.) Die Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland in Sozialkkundeund Geschichtsbüchern, Melle 1985.