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Ausgaben für die Gesundheit — Steuerungsprobleme und Reformmöglichkeiten | APuZ 24-25/1987 | bpb.de

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APuZ 24-25/1987 Ausgaben für die Gesundheit — Steuerungsprobleme und Reformmöglichkeiten Sozialstationen — ein Konzept ambulanter Versorgung in der Bewährung Artikel 1

Ausgaben für die Gesundheit — Steuerungsprobleme und Reformmöglichkeiten

Detlev Zöllner

/ 24 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Eine Reform der gesetzlichen Krankenversicherung ist dringlich, weil deren Ausgaben seit längerem schneller ansteigen als das Volkseinkommen. Die Folge ist ein Anstieg des von den Versicherten und ihren Arbeitgebern zu entrichtenden Beitragssatzes, der zur Zeit durchschnittlich 12, 5% v. H.des Lohnes beträgt. Ohne Reformmaßnahmen ist mit einem weiteren, spürbaren Anstieg zu rechnen. Da die Gesundheitsausgaben je Kopf mit zunehmendem Lebensalter steigen, ist allein wegen der demographischen Verschiebungen, d. h.der relativen Zunahme der Zahl älterer Personen, mit Mehrausgaben in der Höhe von rd. 2 Beitragsprozenten bis zum Jahr 2000 zu rechnen. Gewichtiger noch ist der Umstand, daß die Menge der erbrachten Leistungen (ambulante Behandlung, Arzneimittelverordnung, Krankenhausbehandlung) sehr weitgehend von den Leistungserbringern (Ärzten) bestimmt wird, und daß die Zahl der Ärzte sich künftig schneller erhöht als in der Vergangenheit. Will man angesichts dieser expansiv wirkenden Faktoren Beitragssatzstabilität erreichen, so müssen die wirtschaftlichen Anreize zur Mengenausweitung beseitigt werden. Es ist eine Feinsteuerung in den verschiedenen Leistungsbereichen erforderlich. Der vielfach empfohlene Einbau von marktwirtschaftlichen Elementen in das Gesundheitssystem muß differenziert erfolgen; er kann partiell bejaht, muß aber in anderen Teilen verneint werden. Entscheidend für den Erfolg einer Politik der Beitragstabilität ist die Nutzung von Einsparpotentialen, die vom Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen für die verschiedenen Leistungsbereiche aufgezeigt worden sind. Für die Ausschöpfung der Einsparpotentiale sind gesetzliche Änderungen erforderlich, die jedoch das bestehende System der Gesundheitssicherung nicht in Frage stellen.

I. Einleitung

Arztdichte Beitragssatz 1884 3, 5 1, 8 1986 25, 1 12, 2

Das zentrale Problem bei der Steuerung der Ausgaben für das Gesundheitswesen ist die Entwicklung des durchschnittlichen Beitragssatzes der gesetzlichen Krankenversicherung. Dieser stieg in den Jahren 1985 und 1986 um je 0, 4 Prozentpunkte auf 12, 2 v. H. an; im Augenblick liegt er bei 12, 5 v. H., bis zum Ende dieses Jahres wird mit einem Anstieg auf 13 v. H. gerechnet. Diese Entwicklung ist der aktuelle Grund dafür, daß alle politischen Parteien sowie Arbeitgeber-und Arbeitnehmerorganisationen eine Strukturreform im Gesundheitswesen fordern. Die Notwendigkeit einer Strukturreform wird auch von den Organisationen der Leistungserbringer — Ärzten, Zahnärzten, Krankenhausträgern, Arzneimittelhersteilem und Apothekern — bejaht, allerdings nur im Prinzip und mit dem Zusatz, daß im jeweils eigenen Bereich nur begrenzte Handlungsmöglichkeiten bestehen. Die Bundesregierung hat für den Herbst dieses Jahres eine Struktur-reform angekündigt.

Die Steuerungsnotwendigkeit ist um so dringlicher, als der Beitragssatzanstieg nicht etwa als Beginn einer vielleicht vorübergehenden Entwicklung angesehen werden kann; das Gegenteil ist der Fall: Der Anstieg vollzieht sich am Ende einer Phase der erklärten Kostendämpfungspolitik seit 1977. Die Diskussion über Kostendämpfungspolitik im Gesundheitswesen wurde ausgelöst durch den sprunghaften Anstieg des Beitragssatzes zur gesetzlichen Krankenversicherung in der ersten Hälfte der siebziger Jahre. Der Beitragssatz, der als Folge des Lohnfortzahlungsgesetzes von 10, 6 v. H. im Jahre 1969 auf 8, 2

Seit Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung entwickeln sich Arztdichte (Ärzte je 10 000 Einwohner) und durchschnittlicher Beitragssatz der v. H. im Jahre 1971 abgesunken war, stieg in den folgenden fünf Jahren auf 11, 3 v. H. an.

Als Reaktion auf diesen Anstieg entwickelten die Krankenkassen das Konzept der „einnahmenorientierten Ausgabenpolitik“; sie forderten, daß sich die Entwicklung der Ausgaben an der Entwicklung des Grundlohnes zu orientieren habe. Der Grundgedanke einer Orientierung der Ausgaben der Krankenversicherung an deren Einnahmen beherrschte auch die Vorarbeiten am Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz von 1977. Das Ziel der Beitragssatzstabilität wurde mit diesem Gesetz zunächst erreicht. Als es im Jahr 1981 erneut gefährdet war, erging das Kostendämpfungs-Ergänzungsgesetz vom Dezember 1981. Daneben und danach ergingen weitere Gesetze und Gesetzesänderungen, die allerdings seit 1982 nicht nur Beitragssatzstabilität zum Ziele hatten, sondern auch eine Konsolidierung der öffentlichen Haushalte.

Das Ergebnis der Kostendämpfungsbemühungen stellt sich zusammengefaßt so dar: Vom Ausgangspunkt 1977 (11, 4 v. H.) blieb der durchschnittliche Beitragssatz zunächst konstant; in den Jahren 1981/82 stieg er auf 12, 0 v. H., sank dann wieder auf das Ausgangsniveau ab. Die jüngste Entwicklung seit 1984 wurde bereits dargestellt. Um sich die elementaren Kräfte zu vergegenwärtigen, die hinter diesem Kostenanstieg stehen, ist es nützlich, den Blick noch weiter in die Vergangenheit zu richten. Damit wird auch die Natur des zu lösenden Problems verdeutlicht.

II. Der säkulare Trend

USA Schweden Frankreich Niederlande Bundesrepublik Deutschland Italien Österreich Dänemark Belgien Vereinigtes Königreich OECD-Durchschnitt 5, 3 4, 7 4, 3 3, 9 4, 8 3, 9 4, 4 3, 6 3, 4 3, 9 4, 1 10, 8 9, 6 9, 3 8, 8 8, 2 7, 4 7, 3 6, 6 6, 5 6, 2 7, 6 Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt 1960 1983 Quelle: OECD (Ed.) Measuring Health Care 1960-1983, Paris 1985, S. 12.

Der vorliegende Beitrag wird in Kürze in der Schriftenreihe der Klaus-Dieter-Arndt-Stiftung erscheinen.

gesetzlichen Krankenversicherung weitgehend parallel. Beide Werte sind im Laufe von 100 Jahren fast genau auf das Siebenfache angestiegen: Die Entwicklung des durchschnittlichen Beitrags-satzes verlief allerdings nicht durchweg parallel zur Arztdichte, sondern wies in einigen Perioden Unterbrechungen und Sprünge auf, die mit besonderen Einflüssen erklärt werden können.

Ein Sprung nach unten ergab sich zwischen 1930 und 1933. Der Beitragssatz sank von 6, 4 auf 5, 2 v. H. Dies war Folge der Notverordnung vom 26. Juli 1930, mit der Leistungsreduktionen und Selbstbeteiligungen eingeführt wurden:

— Krankenscheingebühr, — Arzneikostenanteil, — Begrenzung der Höhe des Krankengeldes, — Außerkraftsetzen aller satzungsmäßigen Mehr-leistungen, — für Angehörige trägt die Krankenkasse bei Krankenhausaufenthalt nur die Kosten für ärztliche Behandlung und Arznei.

Diese Leistungsreduktionen erklären eine einmalige Niveausenkung des Beitragssatzes, nicht hingegen seine Konstanz in den folgenden zwei Jahrzehnten. Ursächlich dafür war eine Regelung der Gesamtvergütung für die ambulante ärztliche Behandlung im Jahr 1932. Entscheidend neu daran war: Die Kasse zahlt mit befreiender Wirkung gegenüber dem Arzt eine Vergütungssumme je Versicherten, deren Höhe sich mit dem Grundlohn entwickelt. Damit war ein über den Einnahmeanstieg hinausgehender Anstieg der Ausgaben für ärztliche Behandlung ausgeschlossen. Andererseits war den Ärzten in ihrer Gesamtheit ein bestimmter Anteil an den Kasseneinnahmen gesichert. Der damalige Referent für Krankenversicherung im Reichsarbeitsministerium stellte später als Staatssekretär des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung fest: „Dieses System hat so wundervoll funktioniert, daß wir, nachdem einmal die Dinge festgesetzt waren, 17 Jahre ohne Streit geblieben sind.“

In der Periode 1955 bis 1960 stieg der Beitragssatz von 5, 7 auf 8, 5 v. H. an. Dies war insbesondere eine Folge des Gesetzes über Kassenarztrecht von 1955-Danach bestimmte sich die Gesamtvergütung nach der Zahl der Versicherten und nach dem Jahresbedarf eines Versicherten an kassenärztlichen Leistungen. Für die Ermittlung des Jahresbedarfs waren die tatsächlich ausgeführten ärztlichen Leistungen zugrunde zu legen. Dies und der Übergang der Kassen zur Einzelleistungsvergütung hatte zur Folge, daß eine Vermehrung der Leistungsmenge seither nicht mehr kostenneutral ist.

Diese Hinweise zeigen die Zählebigkeit der zu lösenden Probleme. Die steigenden Gesundheitsausgaben sind aber nicht nur zählebig, sondern auch universal. Im Durchschnitt der OECD-Länder stieg der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt zwischen 1960 und 1983 von 4, 1 auf 7, 6 v. H. Es gibt kein Land, in dem der Anteil nicht um mindestens zwei Prozentpunkte gestiegen ist. Die Bundesrepublik Deutschland liegt etwa beim Durchschnittswert von 3, 5; unterdurchschnittlich war die Steigerung z. B. in Österreich und England, überdurchschnittlich in den USA und Frankreich (vgl. Tabelle).

III. Der Handlungsbedarf

Der Schlüssel zum Verständnis der Dauerhaftigkeit und Universalität des Anstiegs der Gesundheitsausgaben liegt in den Besonderheiten des Marktes für Gesundheitsleistungen. Eine entscheidende Besonderheit ist die Tatsache, daß die Menge der erbrach-ten Leistungen sehr weitgehend von den Leistungserbringern bestimmt wird. Dies gilt zunächst in tatsächlicher Hinsicht. Wer eine Gesundheitsstörung empfindet (Nachfrager), sucht den Arzt als Ratgeber auf. Der Arzt ist aber zugleich auch Anbieter der angeratenen Leistung. Nach dem Primärkon-takt bestimmt er den weiteren Fortgang des Geschehens.

Die Reichsversicherungsordnung gibt zwar Hinweise zum Leistungsgeschehen, doch handelt es sich dabei um sehr dehnbare Begriffe. Zur bedarfsgerechten Versorgung sagt das Gesetz, daß die Krankenpflege zweckmäßig und ausreichend sein muß; sie darf das Maß des Notwendigen nicht überschreiten (§ 182 Reichsversicherungsordnung [RVO]). Der Versicherte hat Anspruch auf die ärztliche Versorgung, die zur Heilung oder Linderung nach den Regeln der ärztlichen Kunst zweckmäßig und ausreichend ist (§ 368e RVO). Anspruch auf Krankenhauspflege besteht, wenn die Aufnahme in ein Krankenhaus erforderlich ist, um die Krankheit zu erkennen oder zu behandeln oder Krankheitsbeschwerden zu lindern (§ 184 RVO). Die allgemeine Zielformulierung, nach der bei einer bedarfsgerechten Versorgung der Stand der medizinischen Wissenschaft zu berücksichtigen ist, ließe den Schluß zu, daß auch andere Faktoren maßgeblich sind oder sein könnten. Eine solche Folgerung schließen jedoch die anspruchsrechtlichen Vorschriften aus. Die Begriffe „zweckmäßig“, „ausreichend“ und „erforderlich“ sind nach den Regeln der ärztlichen Kunst auszulegen.

Die Rechtsprechung hat die Entscheidung über die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit einer medizinischen Leistung und damit die Entscheidung über das Vorliegen einer Krankheit dem ärztlichen Urteil überlassen. Die Medizin sieht sich ihrerseits nicht in der Lage, den Begriff Krankheit exakt zu definieren. Nach der Rechtsprechung wird die Notwendigkeit einer ärztlichen Behandlung anerkannt, wenn — nach ärztlichem Urteil — die Regelwidrigkeit eines körperlichen oder geistigen Zustandes zu behandeln und die Behandlung sinnvoll ist. Es bleibt also bei einer ärztlichen Letztentscheidung über die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit einer ärztlichen Behandlung.

In der Offenheit und Dehnbarkeit der rechtlichen Begriffe liegt eine wesentliche Ursache für die Parallelität zwischen der Entwicklung der Angebotskapazitäten und der Ausgaben. Hierzu ein Beleg aus der jüngeren Vergangenheit: Im Zeitraum von 1980 bis 1984 ist bei leicht rückläufiger Zahl der Bevölkerung und steigender Anzahl der Kassenärzte die Anzahl der Anspruchsberechtigten je Arzt um 10, 8 v. H. gesunken; auch die Zahl der Originalkrankenscheine (als Indiz für die Primärinanspruchnahme ärztlicher Leistungen) je Anspruchsberechtigten ist um 3, 3 v. H. gesunken. Hieraus hätte sich auch unter Berücksichtigung einer Anhebung der Vergütung je Leistungspunkt ein sinkendes Honorarvolumen ergeben müssen. Tatsächlich ist das Honorarvolumen um rund 20 v. H. angestiegen, weil gleichzeitig die Zahl der Leistungsfälle (einschließlich Überweisungen) je Originalkrankenschein um 5, 3 v. H. zugenommen hat Dazu kam eine Vermehrung der Leistungspunkte (der Einzelleistungen) je Fall.

Die Mengenausweitung war also nicht durch ein verändertes Inanspruchnahmeverhalten der Berechtigten bedingt; sie war Anbieter-induziert. Wenn auch nicht auszuschließen ist, daß sich in dieser Mengenausweitung erweiterte Behandlungsmöglichkeiten niederschlagen, so ist es doch angesichts der kurzen Zeitdauer, in dem sich diese Veränderungen ergaben, sehr naheliegend, daß hier Ausweichreaktionen auf mäßiges Vergütungswachstum, rückläufige Primärinanspruchnahme und steigende Ärztezahl vorliegen. Solche Ausweichreaktionen werden durch die Einzelleistungsvergütung geradezu herausgefordert.

Angesichts der langfristigen Parallelität zwischen Arztdichte und Beitragssatz und des Anbieter-induzierten Mehrbedarfs fragt sich, welche Konsequenzen dies für künftige Entwicklung hat. Die Zahl der Ärzte wird bis zum Jahr 2000 um 64 v. H. zunehmen. Wenn der Beitragssatz — wie bisher — entsprechend ansteigt, würde er im Jahr 2000 bei 22 v. H. liegen. Daß eine solche Zahl nicht fiktiv ist, zeigt die jüngste Entwicklung. In den Jahren 1985 und 1986 ist der Beitragssatz um je 0, 4 v. H. angestiegen. In diesem Jahr wird der Anstieg mit Sicherheit nicht geringer sein. Setzt sich diese Entwicklung fort, so wird im Jahr 2000 die genannte Größenordnung des Beitragssatzes erreicht. Wer dies verhindern will, muß entweder ab sofort ein weiteres Ansteigen der Zahl der Kassenärzte verhindern oder durchsetzen, daß das Einkommen der Ärzte in Relation zum Durchschnittseinkommen der Beitragszahler drastisch sinkt. Dies zeigt die Art und die Größenordnung des Handlungsbedarfs.

IV. Zentrale Optionen

Die meisten Sozialleistungssysteme der westlichen Länder haben sich, wie die Bundesrepublik, für das Sachleistungssystem entschieden. Der Sozialleistungsträger erbringt die Leistung selbst — im Gegensatz zum Kostenerstattungssystem, das die private Krankenversicherung anwendet. Beim Sachleistungssystem sind zu unterscheiden die direkte und die indirekte Erbringung. Eine direkte Leistungserbringung liegt vor, wenn die Leistungen durch Bedienstete des Leistungsträgers erbracht werden, wie dies z. B. beim National Health Service in Großbritannien und den Staaten des Ostblocks der Fall ist. Die Ausgaben sind in diesen Systemen im voraus budgetiert. In Großbritannien ist der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt deutlich geringer als in der Bundesrepublik (1983 6, 2 v. H. gegenüber 8, 2 v. H.); auch der Anstieg der Ausgaben war weniger stark (von 1960 bis 1983 betrug er 2, 3 gegenüber 3, 4 Prozentpunkten, siehe Tabelle auf S. 4).

Systeme mit direkter Leistungserbringung erweisen sich bei der Steuerung der Gesundheitsausgaben offensichtlich als erfolgreicher als diejenigen mit indirekter Leistungserbringung. Aus diesem Grunde ist man auch in Italien vor wenigen Jahren zur direkten Leistungserbringung übergegangen. Auf dieses System wird hier indessen nicht näher eingegangen, weil es in der Bundesrepublik Deutschland nicht konsensfähig wäre.

Um Konsens werben in den letzten Jahren die Vertreter einer anderen Option, die man als „MehrMarkt-These“ bezeichnen kann. Diese These erfreut sich unter Ökonomen im akademischen Bereich einer modeartigen Beliebtheit, die man teilweise mit Unkenntnis über die komplexen Zusammenhänge erklären kann, der aber oft auch emotionale Antipathie gegen öffentliche Ausgabensteuerung anzumerken ist.

Der jüngste Vorstoß in diese Richtung ist ein Reform-Vorschlag des sogenannten Kronberger Kreises. Er geht von der Befürchtung aus, daß durch die gesetzliche Krankenversicherung „auch die letzten Reste von individueller Selbstbestimmung und Selbstverantwortung beseitigt werden“. Es wird behauptet, das System begünstige denjenigen, der für seinen Beitrag ein Maximum aus seiner Krankenversicherung heraushole. Der einkommensbezogene Beitrag, konstituierendes Merkmal des Solidarausgleichs in der gesetzlichen Krankenversicherung, sei der Hauptmangel des Systems. Die gesetzliche Krankenversicherung müsse wie die Privatversicherung risiko-und leistungsbezogene Beiträge verlangen.

Dies läuft auf die Abschaffung der gesetzlichen Krankenversicherung hinaus, denn die Herauslösung des Solidarausgleichs würde ihre Existenzberechtigung weitgehend in Frage stellen. Die hiergegen sprechenden sozialpolitischen Argumente sollen hier nicht wiederholt werden. Was den Vorschlag völlig unverständlich macht, ist sein Ausgangspunkt, nämlich der „anhaltenden Kostenexplosion“ entgegenzuwirken. Um seine völlige Abwegigkeit zu erkennen, genügt ein Blick auf Länder, in denen es eine gesetzliche Krankenversicherung nicht gibt. In den USA betrug die Gesundheitsquote 1983 10, 8 v. H. gegenüber 8, 2 v. H. bei uns. Der Anstieg der Quote im Zeitraum von 1960 bis 1983 betrug in der Bundesrepublik 3, 5, in den USA 5, 5 Prozentpunkte (siehe Tabelle S. 4). Die Abschaffung des Solidarausgleichs würde bedeuten: — eine Erhöhung der Gesamtausgaben, — eine Verlagerung der Kosten von öffentlichen auf die Privathaushalte, — eine Verlagerung innerhalb der privaten Haushalte auf diejenigen mit mehr Angehörigen (Kinder) und mehr älteren Angehörigen (Rentner). Die Mehr-Markt-These als Grundsatz-Option bringt keine Lösung des zentralen Problems.

Andere Vorschläge gehen in ihrer Radikalität weniger weit; sie wollen aber ebenfalls mehr marktliche Elemente in das gegenwärtige System einbauen, um mehr Wirtschaftlichkeit zu erreichen. Ausführungen in dieser Richtung hat der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in seinen Jahresgutachten 1985/86 und 1986/87 gemacht. Will man solche Vorschläge beurteilen, so muß differenziert geprüft werden, ob einzelne Maßnahmen a) Ziele der Gesundheitspolitik verletzen und b) tatsächlich die Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung fördern.

Eine differenzierte Prüfung ist nur möglich, wenn man konkret definiert, wer mit wem um was konkurriert. So wird zum Beispiel der Wettbewerb der Krankenkassen untereinander befürwortet. Die Kassen konkurrieren um Mitglieder. Soweit dadurch die von den Kassen selbst gestalteten Serviceleistungen verbessert werden, ist dies als verbesserte Zielerreichung der Gesundheitspolitik anzusehen. Soweit aber aus Wettbewerbsgründen gleiche Gesundheitsleistungen ungleich (höher) vergütet werden — wie es tatsächlich der Fall ist —, wird durch den Wettbewerb die Wirtschaftlichkeit nicht gefördert, sondern gemindert. Es kommt hinzu, daß für den geforderten Wettbewerb keine Chancengleichheit unter den Krankenkassen besteht. Ihre Risikostrukturen weisen drastische Unterschiede auf in bezug auf das Alter und die berufliche Tätigkeit ihrer Versicherten sowie in bezug auf die Zahl der mitversicherten Familienangehörigen. Wer also für mehr Wettbewerb unter den Kassen eintritt, muß entweder die Beseitigung der organisatorischen Gliederung des Kassensystems oder — bei Beibehaltung der organisatorischen Gliederung — einen weitgehenden Finanz-ausgleich unter den Kassen fordern.

Diese Voraussetzungen und Konsequenzen werden von den Wettbewerbs-Befürwortern nicht gesehen. Dies ist auch deshalb verwunderlich, weil die gleiche Grundproblematik — ungleiche Risikostruktur — auch in der gesetzlichen Rentenversicherung bestand und vor 20 Jahren gelöst wurde. Die ungleiche Relation zwischen Beitragszahlem und Rentenempfängern warf die grundsätzliche Alternative eines weitergehenden Finanzausgleichs zu Lasten der Angestelltenversicherung oder einer Bundesanstalt für Rentenversicherung auf (wie sie der damalige Bundesarbeitsminister Katzer ins Gespräch brachte). Die Angestellten entschieden sich für die Aufrechterhaltung ihrer Organisation und zahlen seither an die Arbeiterrentenversicherung. Abgesehen von der Wettbewerbs-Diskussion stellt sich die angesprochene Alternative auch im Hinblick auf die enormen Beitragssatzdifferenzen unter den Krankenkassen. Vom Gebot gleicher Lebensbedingungen in der Bundesrepublik Deutschland ist es weit entfernt, wenn Versicherte für das gleiche Angebot an Gesundheitsleistungen um bis zu 100 v. H. differierende Prozentsätze ihres Einkommens zahlen müssen.

Die Befürworter der Mehr-Markt-These fordern den Übergang vom Sachleistungs-zum Kostenerstattungsprinzip bei spürbarer Kostenbeteiligung der Patienten. Sie wollen damit die Marktausschließungsfunktion des Preises aktivieren. Dies ist ein klarer Verstoß gegen das gesundheitspolitische Ziel der Chancengleichheit bei der Inanspruchnahme von Leistungen. Die vorliegende Literatur zeigt überzeugend, daß eine Kosten-Vorlage und eine Kostenbeteiligung die Bezieher niedriger Einkommen und alte Menschen überproportional belastet. Im übrigen ist in Frankreich — wo dieses System praktiziert wird — das Ausgabenniveau und die Dynamik der Ausgabenentwicklung höher als in der Bundesrepublik Deutschland (siehe Tabelle S. 4).

Diese Einwände gegen die zentrale Option für das Mehr-Markt-und Wettbewerbskonzept besagen nicht, daß es unmöglich wäre, Elemente des Wettbewerbs in das bestehende System einzuführen. Auf der Seite der Leistungserbringer ist dies möglich, ohne Ziele der Gesundheitspolitik zu gefährden. So hat z. B.der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen eine Reihe von Maßnahmen vorgeschlagen mit dem Ziel, den praktisch nicht vorhandenen Preiswettbewerb auf dem Arzneimittelmarkt zu beleben; dazu gehören mehr Freizügigkeit auf dem europäischen Arzneimittelmarkt, vermehrte Verordnung preisgünstiger Generika und preisgünstig importierter Arzneimittel. Er hat ferner in Frage gestellt, ob es für den Vertrieb von Arzneimitteln durch die Apotheken eine staatlich festgesetzte, einheitliche Handelsspanne (Arzneitaxe) geben müsse. In der Aussprache über diese Vorschläge zur Belebung des Wettbewerbs haben die Apotheker und die Pharmaindustrie — aber nur diese — heftig Einwände geltend gemacht.

Es ergibt sich also, daß die Frage nach mehr Markt im Gesundheitswesen nicht einfach mit ja oder nein zu beantworten ist, wie dies oft geschieht. Sie kann partiell bejaht werden und muß in anderen Teilen verneint werden. Für die Steuerung der Gesundheitsausgaben gibt es keinen selbsttätigen und nicht nur einen Mechanismus. Notwendig ist eine Fein-orientierung, dies zeigen die Erfahrungen mit den Kostendämpfungsbemühungen seit 1977.

V. Die jüngeren Erfahrungen

Die Bemühungen um Kostendämpfung bestanden zunächst darin, einen Teil der Kassenausgaben auf die privaten Haushalte zu verlagern. Dies geschah durch Beteiligung an den Kosten für zahntechnische Leistungen, durch eine Rezeptblattgebühr, durch Zuzahlungen bei Krankenhaus-und Kuraufenthalten und die Ausgrenzung sogenannter Baga-tell-Arzneimittel aus der Leistungspflicht der Kassen. Die Belastung der privaten Haushalte durch diese Maßnahmen belief sich 1985 auf 4, 2 Mrd. DM. Die Entlastung der Kassen entsprach rund 0, 5 Beitragsprozent. Die Kostenverlagerungen zusammen mit weiteren — noch anzusprechenden Maßnahmen — bewirkten bis 1983 eine Beitragssatzstabilität, vorübergehend sogar einen Rückgang des Beitragssatzes. Daß es sich dabei vielfach um Einmal-Effekte handelte, zeigt — wie erwähnt — der seit 1984 wieder einsetzende Anstieg des Beitragssatzes.

Ziel der Kostendämpfungspolitik war es, die Ausgaben nicht stärker als die Grundlohnsumme (Einnahmen) ansteigen zu lassen. Es wurde vorgeschrieben, daß bei Vereinbarungen über Veränderungen der Gesamtvergütung für die kassenärztliche Versorgung sowie über Veränderungen der Höchstbeträge für Arznei-und Heilmittel die Entwicklung der durchschnittlichen Grundlohnsumme zu berücksichtigen sei (§ 368 f. RVO). Dies war ein bedeutender Fortschritt insofern, als hier die bis dahin im vorparlamentarischen Raum erhobene Forderung nach einer einnahmeorientierten Ausgabenpolitik vom Gesetzgeber sanktioniert wurde.

Die Grundlohnorientierung wurde jedoch nur eingeschränkt vom Gesetzgeber sanktioniert. Für den größten Ausgabenblock der gesetzlichen Krankenversicherung — die Krankenhausbehandlung — wurde sie nicht vorgeschrieben. Für die kassenärztliche Gesamtvergütung wurde vorgeschrieben, daß bei Vereinbarung über deren Veränderungen neben der Grundlohnsumme auch die Entwicklung der Praxiskosten, der für kassenärztliche Tätigkeit aufzuwendenden Arbeitszeit sowie Art und Umfang der ärztlichen Leistungen, soweit sie auf einer gesetzlichen oder satzungsgemäßen Leistungsausweitung beruhen, zu berücksichtigen sei. Bei der Vereinbarung von Höchstbeträgen für Arznei-und Heilmittel sind neben der Grundlohn-summe zu berücksichtigen die Entwicklung der Preise der Arznei-und Heilmittel und die Zahl der behandelten Personen. Im Ergebnis läßt sich die gesetzliche Implementierung der Grundlohnorientierung dahin interpretieren, daß diese zwar im Grundsatz erwünscht ist, daß aber bestimmte externe Entwicklungen — im Krankenhausbereich, bei den Praxiskosten, der ärztlichen Arbeitszeit, Leistungsausweitungen, der Entwicklung der Arzneimittelpreise, der Zahl der behandelten Personen — auch Ausgabesteigerungen über der Grundlohnentwicklung rechtfertigen können.

Vom Ergebnis her ist festzustellen, daß insgesamt der Ausgabenüberhang, der den Anstieg des Beitragssatzes auslöst, nur kurzfristig unterbrochen werden konnte. Dabei war die Entwicklung in den einzelnen Leistungssektoren unterschiedlich: — Die Ausgaben für ambulante ärztliche Behandlung sind im gesamten Zeitraum nicht stärker gestiegen als die Grundlöhne. In diesem Bereich hat sich das bestehende Vertragsregime bewährt. — Auch die Ausgaben für zahnärztliche Behandlung sind nicht stärker gestiegen als die Grundlöhne. Dagegen waren die Ausgabenzuwächse für Zahnersatz im Zeitraum von 1979 bis 1981 höher als die Zuwächse der Grundlohnsumme. Nimmt man die beim Zahnersatz zu zahlende Selbstbeteiligung hinzu, so lag die Kostenentwicklung seit 1977 stets über der Grundlohnentwicklung. — Letzteres gilt auch für die Arzneimittelausgaben. Diese haben sich (mit Ausnahme des Jahres 1981) zwar bis 1983 im Rahmen der Grundlohnentwicklung gehalten, jedoch nur dann, wenn man die Verordnungsgebühr und deren Erhöhung sowie die Ausgrenzung bestimmter Arzneimittel aus der Erstattungspflicht der Kasse unberücksichtigt läßt. An diesem Beispiel wird besonders deutlich, daß die Kostendämpfungspolitik zwar die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung, nicht aber die volkswirtschaftlichen Kosten gesenkt hat. Seit 1983 steigen auch die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung wieder stärker als die Grundlöhne.

Aus Untersuchungen des Wissenschaftlichen Instituts der Ortskrankenkassen ist ersichtlich, durch welche Faktoren sich die Zunahme des Arzneimittelumsatzes der Apotheken zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung erklärt. Im Zeitraum von 1981 bis 1984 ging die Anzahl der Arzneimittelverordnungen um 16 v. H. zurück, der Wert je Verordnung stieg jedoch um 36 v. H., so daß sich eine Umsatzerhöhung um 17 v. H. ergab. Ferner ergab sich, daß die Erhöhung des Wertes je Verordnung nur zum geringen Teil auf Preiserhöhungen für vorhandene Produkte zurückgeht. Der größte Teil entfällt auf die Verordnung neuer, teurerer Arzneimittel in veränderter Darreichungsform oder Packungsgröße und — zum geringeren Teil — auf die Verordnung von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen. Die „Strukturkomponente“ des steigenden Arzneimittelumsatzes ist zum größten Teil Folge der Absatzförderung durch Produktdiversifikation, die auf dem Pharma-Markt wegen des schwachen Preiswettbewerbs besonders ausgeprägt ist.

Die Ausgaben für Krankenhausbehandlung steigen seit 1980 — mit zunehmendem Abstand — stärker als die Grundlöhne. Die Größenordnung und Wachstumsdynamik der Krankenhausausgaben kennzeichnen diesen Leistungsbereich als den Bedeutendsten für Erfolg oder Mißerfolg der Kostendämpfungspolitik. Bisher können Erfolge nicht festgestellt werden. Die Krankenhaus-Behandlungsbedürftigkeit steigt noch stärker als die allgemeine Krankheitshäufigkeit mit dem Lebensalter. Daher werden mehr als die Hälfte aller stationären Leistungen für Rentner und deren Angehörige erbracht. Ausschlaggebend für den Ausgabenanstieg war die Zunahme der Krankenhausfälle, die den Rückgang der Verweildauer je Fall deutlich überkompensiert hat.

Eine breit diskutierte Frage ist, ob und in welchem Umfange eine Fehlbelegung von Krankenhäusern mit sogenannten Pflegefällen vorliegt. Gesicherte Erkenntnisse liegen hierzu nicht vor. Erst jüngst hat die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen den Bundesarbeitsminister in Zusammenarbeit mit dem Sachverständigenrat gebeten, diesbezügliche Ermittlungen anzustellen.

In der öffentlichen Diskussion wird auch die wirtschaftliche Situation der Apotheker thematisiert. Dieses Thema gehört jedoch nicht zum Gegenstand der Gesundheitspolitik, sondern allenfalls zu demjenigen der Mittelstandspolitik. Dies ergibt sich schon formal aus der Zuständigkeit des Bundeswirtschaftsministers für die Arzneimittelpreisverordnung. Die Berufsverbände der Apotheker haben 1960 die Aufhebung der Apotheken-Konzessionierung durch das Bundesverfassungsgericht erstritten; seither hat sich die Zahl der Apotheken mehr als verdoppelt.

Mit der Niederlassungsfreiheit haben die Apotheker das unternehmerische Risiko übernommen. Wenn ihre zunehmende Zahl in Einzelfällen zu Ertragseinbußen führt, so ist dies wirtschaftlich zwangsläufig. Die gesetzliche Krankenversicherung und ihre Beitragszahler sind dafür nicht ursächlich und nicht in Verantwortung zu nehmen. Im übrigen sind bis 1983 (neuere Zahlen sind nicht verfügbar) die Einkommen der Apotheker parallel zur Grund-lohnsumme gestiegen. Der steigende Durchschnittswert je Verordnung hat sowohl die Wirkung der sinkenden durchschnittlichen Arzneitaxe als auch der zunehmenden Zahl der Apotheken kompensiert. Dieser Effekt wird auch in der Zukunft wirken, so daß für eine (bereits angestrebte) Anhebung der Arzneitaxe kein Anlaß besteht.

Der unterschiedliche Grad der Einhaltung der Grundlohnorientierung ist teilweise durch externe Faktoren bedingt, wie z. B. die steigende Alters-quote im stationären Bereich oder die Politik der Produktdiversifikation im Arzneimittelbereich. Dabei hängt allerdings der Wirkungsumfang dieser „externen Faktoren“ entscheidend von den internen Bedingungen des Leistungs-und Vergütungssystems ab. Wichtiger sind jedoch Unterschiede in der Art des zur Verfügung stehenden Instrumentariums zur Ausgabensteuerung sowie in der keineswegs immer vorhandenen Bereitschaft zum wirkungsvollen Einsatz des Instrumentariums. Beides, das Vorhandensein eines geeigneten Instrumentariums und die Bereitschaft seines Einsatzes, sind Voraussetzungen für erfolgreiche Kostendämpfung. Eine dritte Voraussetzung ist das Vorhandensein von Einsparpotentialen.

VI. Einsparpotentiale

Vom Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen sind in seinem kürzlich vorgelegten ersten Jahresgutachten Einsparpotentiale lokalisiert und teilweise auch quantifiziert worden. Für den Bereich der ambulanten Behandlungwurde die Anbieter-induzierte Mengenausweitung oben erwähnt.

Der „Preis“ der einzelnen ärztlichen Leistung wird durch Vereinbarung zwischen den Vertragspartnern festgelegt. Das Verzeichnis der zu vergütenden Leistungen, der Punktwert für eine einzelne Leistung und ihr Verhältnis zueinander sind nahezu permanent Gesprächsgegenstand. Im vorliegenden Zusammenhang stellt sich die Frage, ob im Ergebnis Einsparungen durch eine Absenkung des Einkommensniveaus der Ärzte möglich oder vertretbar erscheinen. Ein „richtiges“ oder „gerechtes“ Einkommensniveau der Ärzte und Zahnärzte im Vergleich zu anderen Berufsgruppen läßt sich wissenschaftlich nicht formulieren. Hierzu bedarf es eines Werturteils und einer politischen Entscheidung. Immerhin dürfte es schwer sein zu begründen, warum das Einkommen der Zahnärzte deutlich über demjenigen der Ärzte zu liegen habe. Das durch Beseitigung dieser Einkommensdifferenz zu realisierende Einsparpotential wird mit rund 2 Mrd. DM beziffert.

Das Leistungs-und Ausgabenvolumen im stationären Bereich wird entscheidend durch die Anzahl der vorgehaltenen Krankenhausbetten determiniert. Es wird vielfach für möglich gehalten, diese Zahl zu senken. Der Sachverständigenrat hält es für möglich, die Zahl der Krankenhausbetten erheblich zu reduzieren. Er stützt seine Berechnungen auf ein erforderliches „Pflegetagevolumen“ je 1 000 Einwohner und hält eine Reduzierung dieses Volumens bis zum Jahre 2010 um rund ein Drittel für möglich. Dies würde unter sonst gleichbleibenden Verhält-9 nissen eine Senkung des Beitragssatzes um deutlich mehr als einen Prozentpunkt erlauben.

Ein bedeutsames Einsparpotential liegt im Arznei-mittelbereich, der in dieser Hinsicht auch am gründlichsten untersucht worden ist. Die Ergebnisse verschiedener Untersuchungen zeigen übereinstimmend, daß zu viele Arzneimittel, zu viele Präparate mit zweifelhafter Wirkung und Präparate in nicht sinnvoller Kombination verordnet werden; außerdem wird unwirtschaftlich verordnet. Der Sachverständigenrat ist der Ansicht, daß die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung für Arzneimittel um 20— 25 v. H. gesenkt werden könnten, ohne die Qualität der medizinischen Versorgung dadurch zwangsläufig zu beeinträchtigen. Dies entspräche unter sonst gleichen Bedingungen fast einem halben Beitragsprozent. Dieses Einsparpotential ergibt sich bei unveränderten Preisen für das einzelne Produkt allein durch eine veränderte Verordnungsweise.

Daneben besteht ein weiteres Einsparpotential in der Möglichkeit zu Preissenkungen. Dies ergibt sich aus der Tatsache, daß die pharamzeutische Industrie fast ein Drittel ihrer Herstellungskosten für Werbung, wissenschaftliche Information („Pharmaberater“) und sonstige Absatzförderung (Arzneimittelmuster, Kongresse) ausgibt. Die Ausschöpfung dieses zusätzlichen Einsparpotentials hängt davon ab, wieweit es gelingt, den Preiswettbewerb zu fördern und einen Teil der Absatzförderungsmaßnahmen dadurch unrentabel zu machen, daß bei den Ärzten als den Adressaten dieser Maßnahmen das Interesse an Aspekten der Wirtschaftlichkeit gestärkt wird. Würden die Kosten der Absatzförderung um ein Viertel gesenkt, so hätte dies — unter der Annahme, daß die Preise der Arzneimittel entsprechend gesenkt würden, — bei der gesetzlichen Krankenversicherung Minderausgaben von 1, 4 Mrd. DM zur Folge.

Der Hinweis auf die in allen Bereichen vorhandenen Einsparpotentiale drängt eine erste, grundsätzliche Folgerung auf: Bei der Implementierung der einnahmeorientierten Ausgabenpolitik wurde das damals (1977) vorhandene, historisch zufällige Ausgabenniveau als gegeben hingenommen. Der Gesetzgeber gab — und auch das nur partiell — detaillierte Kriterien für den Zuwachs der Ausgaben. Dadurch wurde das Niveau nicht nur als gegeben hingenommen, sondern im Effekt sogar sanktioniert, weil die Gesprächspartner bei Empfehlungen und Vereinbarungen nur über Zuwachsraten zu sprechen hatten. Hielt sich der Zuwachs im Rahmen der Grundlohnentwicklung, so war er gewissermaßen legitimiert.

Die Fortschreibung der sektoralen Ausgaben nach einheitlichen Kriterien hätte außerdem zur Fortschreibung der damals gegebenen Relationen zwischen den Ausgabeblöcken geführt, wenn es nicht einzelnen Sektoren gelungen wäre, ihre Zuwächse über die Grundlohn-Linie zu heben. Die Niveau-Debatte muß intensiviert werden, damit Spielraum für finanzielle Verlagerungen zwischen den Sektoren geschaffen wird. Solche Verlagerungen sind erforderlich, um bei stabilen Beitragssätzen unabweisbaren Mehrbedarf und gesundheitspolitische Defizite zu decken.

Will man Beitragssatzstabilität erreichen, so ist grundsätzlich die Orientierung der Ausgabenzuwächse an der Grundlohnentwicklung sinnvoll. Modifikationen für die einzelnen Leistungsbereiche sind erforderlich. Um Flexibilität zwischen den Ausgabenblöcken und Finanzierungsspielraum für notwendige zusätzliche Ausgaben zu schaffen, ist die Nutzung vorhandener Einsparpotentiale notwendig.

VII. Handlungsfelder

Sollen die Ausgaben für die kassenärztliche Versorgung nicht stärker steigen als die Grundlöhne, so müssen diese — wie jetzt befristet vertraglich vereinbart — weiterhin an die Entwicklung der Grundlöhne gebunden bleiben. Nur so kann verhindert werden, daß der Trend zur Mengenausweitung zu Beitragssatzsteigerungen führt. Um dies auch künftig zu erreichen, ist ein festesund vor allem einheitliches Verhalten der Krankenkassenverbände in den Vertragsverhandlungen erforderlich. Kommt es hier wie in der Vergangenheit zu vorzeitigen oder differenzierten Vertragsabschlüssen, so gefährdet dies die Zielerreichung. Ein solches Verhalten würde auch mangelnden Willen der Selbstverwaltungsorgane der Krankenkassen zur Kostendämpfung erkennen lassen.

Das Gleiche gilt im Grundsatz für den zahnärztlichen Bereich. Hier ist außerdem nach Meinung des Sachverständigenrates eine Absenkung des Vergütungsniveaus erforderlich. Auch dies könnte, wie die Erfahrung des Jahres 1986 gezeigt hat, im Verhandlungs-bzw. Schlichtungsverfahren erreicht werden, wenn die Kassen sich einheitlich verhalten. Die Realisierung von Einsparpotentialen im stationären Bereich kann mit Hilfe der jetzt gegebenen Planungsmechanismen und Verhandlungsmöglichkeiten nicht erwartet werden. In bezug auf die Krankenhauspflegesätze sind die Krankenkassen in besonderem Maße gefordert, die neu eröffneten Möglichkeiten der Pflegesatzgestaltung zu nutzen. Doch ist damit keine (relative) Senkung des Ausgabenniveaus zu erreichen.

Eine Niveausenkung setzt den Abbau von Krankenhausbetten oder die Umwidmung in Pflegebetten voraus. Eine Reduktion von Krankenhausbetten stößt in der Regel auf örtliche und regionale Widerstände. Dies ist verständlich, weil jeder örtliche Meinungs-und Mandatsträger sich eine maximale Krankenhausausstattung wünscht und diesen Wunsch wegen fehlender Finanzierungsverantwortung auch ungehemmt artikulieren kann. Zur Über-windung solcher Widerstände sollte den Krankenkassen die Möglichkeit gegeben werden, in Einzelfällen auf den Abbau nicht bedarfsgerechter oder unwirtschaftlicher Kapazitäten Einfluß zu nehmen. Es ist erforderlich, die potentielle Möglichkeit zur Verweigerung eines Vertragsabschlusses oder zur Kündigung eines bestehenden Vertrages zu eröffnen. Entscheidend ist dabei nicht die Erwartung, daß es abgesehen von Ausnahmefällen zur Kündigung bestehender Verträge kommt. Wichtig ist hingegen, daß die Stellung der Krankenkassen bei der Mitwirkung Krankenhausplanung und Investi an -tionsprogrammen gestärkt wird; dies würde erreicht, wenn die Kassen Vertragsabschluß oder -Verlängerung prinzipiell verweigern könnten.

Die Realisierung der Einsparpotentiale im Arznei-mittelbereich ist nur unter Mitwirkung der verordnenden Ärzte möglich. Deren Ausbildung in der Pharmakotherapie ist nach übereinstimmender Expertenmeinung unzulänglich. Die Fortbildung müßte von dem dominierenden Einfluß der Pharma-Hersteller befreit und neutralen Institutionen übertragen werden. Das Preisniveau für Arzneimittel könnte gesenkt werden durch Förderung des Preiswettbewerbs, indem die Ärzte mehr preisgünstige Generika (Nachahmer-Präparate von nicht mehr patentgeschützten Präparaten) und preisgünstig importierte Arzneimittel verordnen. Die Menge der verbrauchten Arzneimittel könnte durch Abbau der festgestellten Übermedikation reduziert werden.

Eine solche Änderung des Verordnungsverhaltens der Ärzte kann nicht befohlen und auch nicht durch Appelle erreicht werden. Deshalb ist dem Grundgedanken zuzustimmen, den Arzt zu wirtschaftlicher Verordnungsweise zu motivieren. Dies sollte allerdings nicht direkt beim einzelnen Arzt wirksam werden, um das Verhältnis zum Patienten nicht zu beeinträchtigen. Es sollte vielmehr durch die kassenärztliche Vereinigung geschehen. Diese sollte einen finanziellen Anreiz zu entsprechenden Aktivitäten erhalten.

Für die Nutzung der Einsparpotentiale sind nur wenige gesetzliche Änderungen nötig, die das bestehende System der Gesundheitssicherung nicht in Frage stellen. Werden die gesetzgeberischen Hilfen gegeben, so hängt der endgültige Erfolg der Kostendämpfungspolitik entscheidend davon ab, daß bei den Selbstverwaltungsorganen der Krankenkassen, insbesondere bei denjenigen mit ausschließlich Versicherten-Vertretern, das Interesse an der Kostendämpfung nicht durch kassenartenegoistische Interessen in den Hintergrund gedrängt wird.

VIII. Prioritätensetzung

Die Nutzung vorhandener Einsparpotentiale im Gesundheitswesen ist vordringlich und muß kurzfristig in Angriff genommen werden, um einen weiteren Anstieg des Beitragssatzes zu verhindern. Die dafür erforderlichen Einzelentscheidungen haben, wie deutlich geworden sein mag, weitgehend technischen, in vielen Fällen macht-technischen Charakter. Sie müssen jedoch vor dem Hintergrund von Problemen gesehen werden, die alles andere als technischer Natur sind. Das Gesundheits-Leistungssystem ist von Spannungsfeldern durchzogen, deren Auflösung grundlegende Orientierung und das Setzen von Prioritäten verlangt. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien einige dieser Spannungsfelder angesprochen. 1. Wettbewerb versus Verhandlungsmacht Ein gegliedertes Krankenkassensystem mit möglichst weitgehender Autonomie der einzelnen Kasse wird von vielen Seiten als erhaltenswerter Zustand an sich, von anderer Seite als im Interesse des Wettbewerbs wünschenswert angesehen. Die Folgen sind eine schwache Verhandlungsposition der Kassen und stark differierende Beitragssätze. Entscheidungsbedürftig ist, ob diese Nachteile in Kauf genommen werden sollen. Es sind Zwischenlösungen zur Begrenzung der Nachteile denkbar, wie z. B. eine gemeinsame Verhandlungsführung und ein erweiterter Finanzausgleich. 2. Einkommensniveau versus Berufsfreiheit Wie bereits erwähnt, wird die steigende Anzahl der Ärzte einen starken Druck auf die Ausgabenentwicklung bewirken. Dieser Druck macht ein Gegensteuern unausweichlich. Die ärztlichen Standesorganisationen drängen darauf, den Zugang zur ärztlichen Ausbildung und/oder den Zugang zur kassenärztlichen Tätigkeit zu begrenzen. Dies wird vorläufig noch mit der Notwendigkeit einer qualitativ besseren Ausbildung begründet. Ob diese Begründung ausreicht, um die relevanten Quantitäten zu steuern, erscheint zweifelhaft. Die Zahl der jetzt in Ausbildung befindlichen Mediziner und die Zahl der Studienplätze zwingen zu einer Entscheidung darüber, ob man für Ärzte das bisherige Einkommensniveau oder die Berufsfreiheit aufrechterhalten will. Bei Aufrechterhaltung der Berufsfreiheit ist wachsender Widerstand gegen die jetzige Art und Höhe der Leistungsvergütung und folglich ein Sinken des Einkommensniveaus zu erwarten. Wer dem entgegenwirken will, muß eine Reduzierung der Ausbildungskapazitäten und/oder begrenzte Zulassung zur Kassenpraxis und damit Einschränkungen der Berufsfreiheit in Kauf nehmen. Die gleiche Alternative stellt sich für freiberuflich tätige Apotheker. 3. Therapiefreiheit versus Standardisierung Viele der vom Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen aufgezeigten Einsparpotentiale könnten genutzt werden durch eine verbesserte Qualitätskontrolle der erbrachten und verordneten Gesundheitsleistungen. Qualitätskontrolle erfordert das Setzen von Leistungsstandards. Solche Standards werden bereits jetzt von den Bundesausschüssen der Krankenkassen und der Kassenärzte erarbeitet. Die neue Preisvergleichsliste für Arzneimittel oder Vereinbarungen über die Qualität des Zahnersatzes sind weitere Beispiele. Solchen Bemühungen wird in der Standespublizistik mit dem Hinweis auf die Gefährdung der Therapiefreiheit widersprochen. Der Therapiefreiheit wird in der Bundesrepublik im ambulanten Sektor mit vorherrschender Einzelpraxis ein hoher Stellenwert, vielfach sogar ein Selbstwert eingeräumt. Dabei wird leicht übersehen, daß die Kehrseite der Therapiefreiheit die Freiheit zur Abweichung von den Regeln der ärztlichen Kunst und zur Mißachtung des Wirtschaftlichkeitsgebotes ist. Je mehr die Gesellschaft für Gesundheitsleistungen ausgibt, um so mehr wird sie darauf achten wollen und müssen, daß diese Leistungen anerkannten Qualitätsstandards entsprechen. 4. Todesjahre versus Todesfälle Im Rahmen der Gesundheitspolitik können Prioritäten gesetzt werden. In der Diskussion spielen Krankheitsarten und die durch sie bedingten Sterbefälle eine Rolle. Die Todesursachenstatistik zeigt zum Beispiel, daß fast die Hälfte aller Sterbefälle auf Krankheiten des Kreislaufsystems und ein Fünftel auf Krebserkrankungen zurückgehen. Diese Daten verleiten zu Schlußfolgerungen über Prioritäten der Gesundheitspolitik, die hinterfragt werden können. Wenn man fragt, wieviel Lebensjahre durch den Tod wegen bestimmter Krankheitsarten verloren gehen, so ergeben sich teilweise signifikante Unterschiede. So verursachen z. B. Krankheiten des Kreislaufsystems, die vor allem ältere Menschen betreffen, 42, 2 v. H. aller Todesfälle eines Jahres, aber nur 32, 6 v. H.der verlorenen Lebensjahre. Die Todesursache: Unfälle, Vergiftungen, Gewalteinwirkungen, von der mehr jüngere Menschen betroffen sind, verursacht 6, 5 v. H. aller Todesfälle, aber 13, 5 v. H.der verlorenen Lebensjahre. Die Frage nach verlorenen Lebens-jahren ist für Entscheidungen über Prioritäten von Forschungsmitteln und Präventionsmaßnahmen ergiebiger als der Hinweis auf Todesfälle. 5. Gesunderhaltung versus Lebenserhaltung Ein Prioritätenproblem stellt sich in verschärfter Form und mit größeren finanziellen Folgen für die Fälle, in denen medizinische Maßnahmen nicht der Wiederherstellung oder Erhaltung der Gesundheit, sondern der Erhaltung des Lebens dienen. Die Fragen, ob und unter welchen Bedingungen in diesen Fällen weiterer Aufwand notwendig oder gerechtfertigt ist, ob passive oder gar aktive Sterbehilfe zulässig ist, werden seit einigen Jahren verstärkt diskutiert. Diese Diskussion wird sich angesichts der steigenden Altersquote weiter intensivieren. Sie kann selbstverständlich nicht allein und auch nicht tonangebend von Gesundheitsökonomen geführt werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. M. Sauerborn, Bundesarbeitsblatt 1953, S. 212.

  2. Wissenschaftliches Institut der Ortskrankenkassen (Hrsg.), Bilanz der Kostendämpfungspolitik im Gesundheitswesen 1977— 84, Bonn 1986, S. 79.

Weitere Inhalte

Detlev Zöllner, Dr. rer. pol., geb. 1927; Professor; Ministerialdirektor a. D.; seit 1955 tätig im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Abteilung „Sozialversicherung“; 1972— 1977 Leiter dieser Abteilung; wiederholte Tätigkeit als Berater für Fragen der sozialen Sicherung im Auftrag der Internationalen Arbeitsorganisation in verschiedenen Ländern; seit 1970 Lehrbeauftragter für Sozialpolitik Universität Bonn; Mitglied des Sachverständigenrates für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen. Zahlreiche Veröffentlichungen über Fragen der sozialen Sicherung.