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Ein neuer Generalsekretär im alten Sowjetsystem | APuZ 45/1987 | bpb.de

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APuZ 45/1987 Artikel 1 Strategie der Beschleunigung der sozialökonomischen Entwicklung der UdSSR Grundzüge der neuen sowjetischen Außenwirtschaftspolitik Ein neuer Generalsekretär im alten Sowjetsystem Perspektiven der Sowjetideologie Militärpolitische Aspekte der Sicherheit in den Ost-West-Beziehungen

Ein neuer Generalsekretär im alten Sowjetsystem

Heinz Brahm

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Gorbatschow ist nicht mit einem fertigen Plan zur Umgestaltung der Sowjetunion aufgetreten. Erst nach und nach gewann seine Politik schärfere Konturen. Wenn es stimmt, daß es ohne wahrheitsgemäße Diagnose keine vernünftige Therapie geben kann, dann ist die von Gorbatschow forciert vorangetriebene Glasnost (Publizität) die wichtigste und folgenreichste Entscheidung der heutigen sowjetischen Führung. Bis heute ist man aber noch weit von einer schonungslosen Darstellung aller Mißstände im Land entfernt. Zum Leidwesen der kommunistischen Altgläubigen zeigten sich in der veränderten Medienlandschaft sehr rasch Tendenzen, die auf eine Verselbständigung der Glasnost hinausliefen. Vor allem haben einige couragierte Schriftsteller und Wissenschaftler die ausgetretenen Wege des Marxismus-Leninismus verlassen und versuchen, mit nonkonformen Ideen einen Beitrag zur moralischen Wiedergeburt des Landes zu leisten. Gorbatschow hofft, das politische Leben in der Partei durch geheime Wahlen. Mehrfachkandidaturen und Kontrollen von unten beleben zu können. Da er aber an der Einparteienherrschaft festhält, versucht er im Grunde die Quadratur des Kreises: Die KPdSU soll gleichzeitig regieren und Opposition üben. Sowohl in der Partei wie auch in der Bevölkerung finden die Pläne zur Umgestaltung bisher nicht die Unterstützung, die Gorbatschow braucht, wenn er seine ehrgeizigen Ziele erreichen will.

Seit dem 11. März 1985 steht Michail Gorbatschow an der Spitze seiner Partei und seines Landes. Anders als Leonid Breshnew, dem es zum Schluß fast nur noch um die Bewahrung der Macht zu tun war, bewies er von Anfang an den Mut zu Experimenten und zu Veränderungen. Er ging offensichtlich davon aus, daß man das Steuer herumwerfen müßte, wenn man eine Krise in der Sowjetunion vermeiden wollte.

Die westlichen Medien widmen dem Geschehen in der UdSSR breiten Raum. Worte wie Perestrojka (Umgestaltung) und Glasnost (Transparenz) sind in unser Vokabular eingegangen, ohne daß damit aber immer klare Vorstellungen verbunden wären. Mit großer Genugtuung wird in der Sowjetunion registriert, wie schnell die neuen Devisen das Image der Sowjetunion verbessert haben. In der Gunst der westdeutschen Bevölkerung rangiert Gorbatschow weit vor dem amerikanischen Präsidenten Reagan -Wenn der sowjetische Amerika-Spezialist G. Arbatow schon glaubt, den Vereinigten Staaten ihre eigene Perestrojka und ihre eigene Glasnost empfehlen zu müssen, so verrät sich darin der Über-mut des Erfolgreichen

Die Gorbatschow-Euphorie im Westen scheint trotz allen Überschwangs in ihren Erwartungen dennoch relativ begrenzt zu sein. Man hofft auf eine Verringerung der Nuklearwaffen, auf eine Entspannung im Ost-West-Verhältnis und schließlich auf eine Lockerung oder sogar „Liberalisierung“ der Sowjetunion und vielleicht auch der osteuropäischen Staaten. Die kommunistischen Parteien außerhalb des sozialistischen Lagers haben dagegen bisher keinen nennenswerten Nutzen aus dem Gorbatschow-Effekt ziehen können.

Die allmähliche Abkehr von der Breshnew-Ära Gorbatschow hat die politische Bühne nicht mit einem fertigen Programm betreten. Hätte er unter Breshnew oder Tschemenko ein Alternativprogramm zu dem der damaligen Führung ausarbeiten lassen, wäre wahrscheinlich sein Schicksal besiegelt gewesen, da man ihn des Fraktionalismus hätte beschuldigen können. Zunächst konnte Gorbatschow, nachdem er zum Generalsekretär bestellt worden war, nur kleine Schritte wagen, da die alte Garde Breshnews noch sehr stark war. Man bekämpfte die wild wuchernde Korruption, die Auswüchse der Bürokratie, die Trunk-und Drogen-sucht.

Wie jeder Generalsekretär vor ihm trachtete Gorbatschow zunächst danach, seine Machtbasis zu festigen. Ohne eine ihm ergebene Mannschaft konnte er keine neue Politik verwirklichen. In kürzester Zeit schieden G. Romanow, N. Tichonow und W. Grischin aus dem Politbüro aus. Minister mußten in rascher Folge ihre Ämter zur Verfügung stellen. Trotz der Erneuerung der Führungskräfte blieb jedoch der große Innovationsschub aus.

Auch der XXVII. Parteikongreß der KPdSU, der im Februar/März 1986 stattfand, brachte nicht den erwarteten triumphalen Durchbruch Gorbatschows. Allerdings wurden die Mißstände in der Wirtschaft und in der Kaderpolitik so deutlich angesprochen, wie dies seit fast zwanzig Jahren nicht mehr geschehen war. Die Auseinandersetzung mit der Breshnew-Zeit war dennoch nur halb-oder viertelherzig, da man die Wurzeln der Probleme nicht offenlegte. Man wagte es nicht einmal, den Namen Breshnews zu nennen, sondern sprach verschämt von den siebziger Jahren und vom Anfang der achtziger Jahre, in denen es zu einer Reihe von Fehlentwicklungen gekommen sei.

Am Ende des Parteikongresses gelang es Gorbatschow, im elfköpfigen ZK-Sekretariat, der Chefetage des Parteiapparats, fünf Sessel neu zu besetzen. Mit der Zeit zeigte sich immer deutlicher, daß Gorbatschow von der Parteispitze aus die Apparate der Partei, der Regierung, des Militärs und des KGB in seinem Sinn ummodeln wollte. Kaum erfolgreich aber war Gorbatschow bei der Neufassung des dritten Parteiprogramms. Im neuen Text ist die Handschrift der dogmatischen Altgläubigen in vielen Teilen unschwer zu erkennen.

Gorbatschow hat fast als einziger aus der Führungsmannschaft auf dem XXVII. Parteikongreß für die „Glasnost“ geworben, also für mehr „Öffentlichkeit“ oder „Transparenz“. Kommunisten brauchten, so sagte er, unter allen Umständen die Wahrheit In deutlichem Kontrast zu Gorbatschow spießten Ligatschow, der zweite Mann in der Parteihierarchie, und Staatspräsident Gromyko die „Übergriffe“ auf, die es im Zuge der kritischeren Berichterstattung gegeben habe

Glasnost — Annäherung an die Wahrheit Auf dem VII. Schriftstellerkongreß im Juni 1986 fand die Glasnost dann die Unterstützung, die ihr auf dem Parteitag versagt geblieben war Unmittelbar vor diesem Kongreß hatte Gorbatschow vor Schriftstellern bewegt Klage über die Bürokratien in Partei und Staat geführt und um Unterstützung für seinen Kurs geworben

Sehr rasch ließen sich drei Formen der Glasnost unterscheiden:

— die von der Parteiführung gewünschte Glasnost, die als Instrument gegen die Bürokratie, die Korruption und alle Mißstände dienen sollte;

— die zur Verselbständigung tendierende Glasnost der unabhängiger denkenden Intellektuellen, vor allem der Schriftsteller;

— die für das Ausland gedachte Glasnost.

Gorbatschow und sein engster Medienberater A. Jakowlew müssen eingesehen haben, daß sich die Zensur wie eine Mauer zwischen die Partei und die Bevölkerung geschoben hatte. Die Informationskanäle funktionierten in beiden Richtungen nicht mehr: Oben erfuhr man kaum noch, was man unten dachte, unten wußte man nicht, was oben geschah. Um den Austausch von Informationen wieder in Gang zu bringen, bedurfte es einer freieren Medienpolitik.

Da es ohne wahrheitsgemäße Diagnose keine vernünftige Therapie gibt, kann die von Gorbatschow forciert vorangetriebene Politik der Glasnost die besten Voraussetzungen zur Wiedergesundung des Landes schaffen. Vor allem die in Moskau erscheinenden Zeitungen und Zeitschriften zeichnen sich mittlerweile durch einen erstaunlichen Freimut aus, allen voran „Moskowskie nowosti“, „Ogonjok“, „Literaturnaja gaseta“ und „Sowjetskaja kultura“. Für Journalisten wurde die Zahl der Tabuzonen reduziert, so daß jetzt auch über Drogensucht und über Prostitution in der Sowjetunion berichtet werden kann. Eine Reihe von Journalisten nahm sich das Recht heraus, eigenwillige Ideen vorzutragen.

Die Saat der Glasnost ist jedoch vor allem in der Belletristik und in der Filmproduktion auffruchtbaren Boden gefallen. Aufrüttelnd wirkte beispielsweise T. Abuladses Film „Die Reue“, der die Schrecken des Stalinismus wachrief. In der schön-geistigen Literatur überraschten W. Rasputin, W. Astafjew und Tsch. Aitmatow mit kraß naturalistischen Schilderungen der sowjetischen Wirklichkeit. Bis heute ist die Diskussion um diese drei Bücher nicht beendet, die einen zentralen Nerv berührt haben müssen. In allen diesen Werken geht es, ob es nun immer gesagt wird oder nicht, um die Frage nach Gut und Böse, in zwei von ihnen ist ausdrücklich von der „Herrschaft des Bösen“ die Rede.

In seiner Erzählung „Der Brand“, die gleich zu Beginn von Gorbatschows Amtszeit erschien, beschreibt Rasputin das Fehlen aller moralischen Werte in einer sibirischen Dorfgemeinschaft Die Rede ist von Totschlag, Diebstahl, sinnloser Zerstörungswut, von Lug und Trug. Die Trunkenbolde haben sich zu einer Rotte „mit Ataman und Sowjet“ zusammengeschlossen. In sechs Dörfern seien, heißt es, innerhalb von vier Jahren durch Trunksucht, Übermut und Leichtsinn genauso viele Menschen umgekommen wie im Krieg gegen die Deutschen.

Als Iwan Petrowitsch, die Hauptgestalt der Erzählung, erfährt, daß Arbeiter mit Wodka zur Planer-füllung animiert werden, bricht es aus ihm heraus: „Plan, sagst du? Plan? Dann schon lieber ohne! Einen anderen Plan müßten wir einführen — nicht bloß für Festmeter, sondern für die Seelen.“ Iwan Petrowitsch will sich nicht damit abfinden, daß die Trennlinie zwischen Gut und Böse inzwischen bis zur Unkenntlichkeit ausgelöscht ist und es infolgedessen auch an Schuldgefühlen fehlt: Schlecht sei gut und gut schlecht geworden. Das Gewissen, das den Helden Rasputins plagt, ist dem Menschen „auf Geheiß einer unklaren gewaltigen Kraft“ gegeben. Es sei genauso unabhängig von äußeren Instanzen wie die Wahrheit, von der es heißt: „Die Wahrheit kommt aus der Natur selbst, sie ist weder durch die öffentliche Meinung noch durch Verordnungen zu korrigieren.“

Noch spektakulärer als Rasputins Werk ist Aitmatows Roman „Das Schafott“ in der Sowjetunion empfunden worden, ein Roman, in dem ein ehemaliger Priesterseminarist einen Weg zwischen der christlichen und der marxistisch-leninistischen Orthodoxie sucht Awdij Kallistratow, die Zentral-gestalt, versucht vergeblich, Rauschgifthändler und Antilopenjäger zur moralischen Umkehr zu überreden. Zum Schluß wird er jedoch gekreuzigt. Awdij wird auf eine vertrackte Art in der Nachfolge von Bernhard Stangl: Staat und Demokratie in der Katholischen Kirche Aus Politik und Zeitgeschichte, B 46-47/87, S. 32— 45

Der Beitrag versucht einen Überblick über die Entwicklung und den heutigen Positionsstand der Lehre und der Diskussion zu Staat und Demokratie in der katholischen Kirche zu geben.

Die katholische Kirche verfügt traditionell über eine eigene Lehre vom Staat. Diese beschränkt sich allerdings auf einige wenige zentrale Fragen: Ursprung und Träger der Staatsgewalt, Verhältnis von Kirche und Staat sowie Gemeinwohl. In jüngster Zeit scheint diese Lehre eher in den Hintergrund gerückt. Die katholische Kirche setzt — für jedermann sichtbar — auf die Menschenrechte, den Rechtsstaat und die Verfassungsdemokratie.

Angesichts der Tatsache, daß das Verhältnis zwischen Demokratie und katholischer Kirche historisch zeitweise sehr spannungsgeladen war, mag es überraschen, möglicherweise sogar verwirren, daß ihre traditionelle Staatslehre von der prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Staatsformen spricht und explizit eine Konzeption der Menschenrechte nicht kennt.

Als wichtigstes Ergebnis ist der Auffassungswandel der Kirche in der Frage der Verpflichtung des Staates gegenüber der sittlichen Wahrheit festzuhalten. Die katholische Kirche findet mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil ein klares Ja zum religiös-neutralen, aber nicht wertneutralen demokratischen Staat. Sie anerkennt die ihn tragende Realität: Die pluralistische Gesellschaft gibt das in seiner Tradition bis in die Antike zurückgehende Postulat der Staatskirche und des mit seiner Konfession verbundenen Staates auf. Christus gesehen, was durch den Dialog zwischen Christus und Pilatus am Ende des Romans noch besonders betont wird. In einem Interview erklärte Aitmatow, er habe als Atheist mit der Gestalt von Christus den Menschen etwas „Verborgenes“ mitteilen wollen: „Das Christentum gibt einen sehr starken Impuls mit der Gestalt von Christus. Der Islam, zu dem ich infolge meiner Herkunft gehöre, hat keine solche Gestalt, Mohammed war kein Märtyrer. Er hatte schwere, qualvolle Tage, aber daß man ihn für eine Idee gekreuzigt hätte — das gibt es nicht.“

Die Gralswächter des Marxismus-Leninismus haben sich gegen die Schwarzmalerei und das Gottsuchertum Rasputins, Astafjews und Aitmatows verhältnismäßig vorsichtig ausgesprochen. Zum mindesten Rasputin und Aitmatow scheinen allerhöchste Protektion zu genießen. Es gehörte daher schon einiger Mut dazu, diese Schriftsteller überhaupt zu attackieren. Diesen Kritikern wiederum hielt J. Jewtuschenko entgegen, daß man nicht alles in Bausch und Bogen verdammen dürfe, was mit der Religion zu tun habe Die Bibel sei ein großes Kulturdenkmal. Nicht nur das Christentum habe seine dunklen Kapitel, sondern auch die kommunistische Bewegung. Es stehe in keinem sowjetischen Gesetz geschrieben, daß der Staat und der Atheismus nicht auch getrennt werden könnten.

Ein Paukenschlag:

Das ZK-Plenum vom Januar 1987 Die große Masse der sowjetischen Bevölkerung räumte der Glasnost sicher nicht den hohen Stellenwert ein, wie es die Intelligenz tat. Für ihr Urteil über die Politik war entscheidend, daß sich ihr Lebensstandard bisher nicht erhöhte. Die Partei schließlich zeigte insgesamt auch nicht den Enthusiasmus, den die neue Parteiführung brauchte, um die hochgesteckten Ziele zu erreichen. Gorbatschow mußte, wie er später sagte, bald erkennen, daß er den Widerstand gegen seine Politik unterschätzt hatte. Er kam nach einer neuerlichen Analyse der Lage zu dem Schluß, daß es wesentlich tieferer Einschnitte in das Gewebe der Partei und des Staates bedurfte, wenn man das Krebsübel der Bürokratie wirksam bekämpfen wollte.

Das ZK-Plenum, das zunächst für Oktober 1986 anberaumt worden war, dann aber dreimal verschoben werden mußte, sollte sich kritisch mit der Kaderpolitik befassen, die nach allen Erfahrungen eines der heißesten Eisen in der Sowjetunion ist. Kein Wunder, daß die Bürokratie, die um ihren bislang gesicherten Status fürchtete, die Absichten des Generalsekretärs behinderte, so gut sie konnte.

Wie heikel die rigorose Personalpolitik war, die Gorbatschow verfolgte, zeigte sich im Dezember 1986, als es in Alma Ata zu Tumulten nach dem Sturz des kasachischen Parteichefs D. Kunajew und der Ernennung des Russen G. Kolbin als dessen Nachfolger kam.

Das ZK-Plenum, das schließlich vom 27. bis 28. Januar 1987 zusammentrat, wurde mit einer mehrstündigen Rede Gorbatschows eingeleitet, die in ihrer Schärfe über die sonst übliche Kritik hinausging Nicht der Imperialismus, nicht der Persönlichkeitskult und auch nicht das Wetter wurden für die jüngsten Fehlentwicklungen verantwortlich gemacht, sondern im Grunde die Partei selbst. Die Anklage, die der Generalsekretär erhob, war ganz und gar nicht so emotional gefärbt wie die Rede Chruschtschows gegen Stalin auf dem XX. Parteikongreß, sondern wirkte wie der Bericht eines um Sachlichkeit bemühten Revisors. Gorbatschow bemängelte im einzelnen:

— Die Theorie des Sozialismus sei oft genug nicht über den Stand der dreißiger und vierziger Jahre (also über die Stalin-Zeit) hinausgelangt.

— Die führenden Organe der Partei hätten nicht rechtzeitig die Gefahr erkannt, daß krisenhafte Erscheinungen heranwachsen.

— Die Handlungsfähigkeit des Politbüros, des ZK-Sekretariats, des gesamten ZK sowie dessen Apparats und der Regierung sei in einer gewissen Etappe (in der Breshnew-Zeit) geschwächt gewesen.

— Viele aktuelle Themen seien auf den eher schematisch abgelaufenen Plenartagungen des ZK nicht behandelt worden.'

— Das sozialistische Eigentum sei in der jüngsten Vergangenheit so gut wie herrenlos gewesen, da es kaum noch kontrolliert worden sei.

— Das Plansystem sei deformiert worden.

— Teile der Bevölkerung seien gegenüber den Belangen der Gesellschaft gleichgültig oder skeptisch und hätten hemmungslos nach persönlicher Bereicherung gestrebt.

— Es sei sachfremd in die künstlerischen Angelegenheiten eingegriffen worden.

— In Usbekistan, Moldawien, Turkmenien, in Teilen Kasachstans, in Krasnodar, Rostow und Moskau sei es zu einer „Entartung der Kader“ gekommen. Gorbatschow mutete den einfachen Parteimitgliedern, sofern sie bisher ihrer Partei vertraut hatten, einiges zu. Wenn man die Negativposten addierte, ___________ • dann konnte es um die Unfehlbarkeit der Partei nicht zum besten stehen. Die KPdSU hatte ganz offenkundig nicht immer recht gehabt. Bereits 1923 hatte Trotzkij davon gesprochen, daß die alten Kader ihrem ursprünglichen Auftrag nicht mehr gerecht werden könnten Er hatte sich damit die Feindschaft des von Stalin kontrollierten Parteiapparats zugezogen. Bis auf den heutigen Tag wird in sowjetischen Geschichtsdarstellungen der KPdSU das Wort Trotzkijs von der möglichen „Entartung der Kader“ als Ausdruck schlimmsten parteifeindlichen Verhaltens zitiert

Um die Mißstände, die unter Breshnew um sich gegriffen hatten, in Zukunft einzudämmen oder sogar zu verhindern, schlug Gorbatschow eine stärkere Demokratisierung und eine strengere Kontrolle der Partei und der Regierung vor. Insbesondere die Wahlmodalitäten sollten geändert werden. Eigentlich trug Gorbatschow nur Vorschläge vor, die ohnehin an das ZK herangetragen worden sind, aber es drängt sich unwillkürlich der Schluß auf, daß er selbst die treibende Kraft der Neuerungstendenzen ist. Besonderes Interesse verdienten die Worte über die unausgeschöpften Möglichkeiten des Wahlverfahrens. Leiter von Betrieben sowie Brigadiere und Meister könnten — so Gorbatschow — gewählt werden. Parteilose sollten verstärkt zu bestimmten Ämtern zugelassen werden.

In seinen Vorschlägen zur Korrektur der Wahlmodalitäten unterschied Gorbatschow deutlich zwischen den Grundorganisationen, den mittleren Rängen und den zentralen Organen der Partei. Am ausführlichsten äußerte er sich über die Vorschläge zur Aktivierung des Parteimittelbaus, der sein größtes Sorgenkind ist. Gorbatschow versprach sich einiges davon, wenn in Zukunft die Sekretäre der Rayons-, Kreis-, Stadt-, Oblast-und Kraj-Komitees in geheimer Wahl bestimmt würden. Dabei war auch an die Aufstellung mehrerer Kandidaten gedacht. Über die Demokratisierung der höchsten Parteiorgane sprach Gorbatschow nur kurz. Die Partei sollte allerdings nach wie vor die Kontrolle über das Auf und Ab der Funktionäre behalten. Es wurde ausdrücklich betont, daß die übergeordneten Organe bei der Kaderauswahl nicht das Heft aus der Hand geben würden. Auf der Sowjetebene sollten ebenfalls mehrere Kandidaten zur Wahl stehen. Die Wahlkreise sollten vergrößert werden.

Aus den Worten Gorbatschows vor dem ZK-Plenum ging hervor, daß man auf einer schon verzweifelt zu nennenden Suche nach Mitteln und Wegen war, die Bürokratie zu entschlacken, zu verjüngen und zu aktivieren, und zwar im Sinne der Führung. Auch die jüngsten Kontrollen von oben und die Inspektionen, die im ganzen Land durchgeführt wurden, hatten Gorbatschow zufolge nicht den gewünschten Erfolg gehabt. Sie hatten im Gegenteil zu einer starken Behinderung des Arbeitsablaufs und zur Verunsicherung der Bevölkerung geführt. In Zukunft sollte, wie Gorbatschow erklärte, ein anderer Kontrollmechanismus versucht werden. Die gewählten Organe wurden aufgerufen, den Exekutivorganen schärfer auf die Finger zu schauen. Das ZK sollte Fragen an die Führungsorgane stellen.

Die Kontrolle von unten könnte, wenn sie Wirklichkeit würde, zu einer gewissen Veränderung des sowjetischen Herrschaftssystems führen. Im Grunde aber versuchte Gorbatschow die Quadratur des Kreises: Die KPdSU sollte gleichzeitig Regierungs-und Oppositionspartei sein.

Im Anschluß an die Rede Gorbatschows fand eine ungewöhnlich intensive und offensichtlich zeitweise hitzige Debatte statt, an der sich 34 Redner beteiligten; insgesamt hatten sogar 77 Personen das Wort gewünscht. Die einzelnen Diskussionsbeiträge wurden — aller Glasnost zum Trotz — nicht in der sowjetischen Presse veröffentlicht. Ein Teilnehmer des ZK-Plenums, der sich energisch für den Gorbatschow-Kurs engagiert hatte, berichtete einem italienischen Korrespondenten, daß seine Wortmeldung von Gemurmel, Protesten und Pfiffen der „Altkonservativen“ begleitet worden sei Umstritten waren sowohl die Perestrojka wie die Glasnost. Die Kühnheiten in der sowjetischen Presse wie auch die jüngsten Werke von Aitmatow, Astafjew und Rasputin wurden aufs Korn genommen

Nach Beendigung der Diskussion hielt Gorbatschow eine kurze Schlußrede in der er seine Kontrahenten , überfuhr*: Zur „Perestrojka“ gebe es keine Alternative; daher solle man Schluß mit der Diskussion darüber machen, ob sie nötig sei oder nicht. Der gelegentliche Mißbrauch der Glasnost sei kein Grund zur Beunruhigung. Die Bevölkerung werde schon auf alle Exzesse in der gehörigen Form reagieren. Die Mehrheit des ZK stand zum mindesten in einigen entscheidenden Fragen nicht auf der Seite des Generalsekretärs. Sie fürchtete um ihre Interessen oder sogar um ihre Sessel, wenn das Tempo der Erneuerung nicht verlangsamt würde. Gorbatschow wiederum sah im ZK, dessen Bestand eigentlich erst 1991 auf dem nächsten Parteikongreß aufgefrischt werden konnte, ein großes Hindernis für seine Absichten. Als er auf dem ZK-Plenum den Wunsch nach einer Parteikonferenz vortrug, spielte er wohl mit dem Gedanken, die widerstrebenden ZK-Mitglieder auf einer solchen Konferenz gegen neue austauschen oder doch zum mindesten psychologisch unter Druck setzen zu können. Falls Gorbatschow geglaubt haben sollte, seine Autorität reiche aus, um seine Opponenten umstimmen zu können, wurde er enttäuscht. In der Resolution, die am Ende der Plenartagung gefaßt wurde, waren die Vorschläge Gorbatschows eindeutig verwässert. Von geheimen Wahlen und auch von der Allunions-Parteikonferenz war nicht einmal mehr die Rede. Das hinderte Gorbatschow aber nicht, einen Monat nach dem Januar-Plenum die Parteikonferenz, die Mitte 1988 stattfinden soll, wieder ins Auge zu fassen.

Fragen des Stalinismus Nachdem die Zensur zugunsten einer offeneren Informationspolitik zurückgedrängt worden war, konnte es nicht ausbleiben, daß wagemutige Publizisten versuchen würden, in das Dunkel und Halbdunkel der offiziellen Parteigeschichte hineinzuleuchten. Es waren vor allem einige Schriftsteller, die die Erinnerung an die Greuel der Kollektivierung und an den Terror Stalins beschworen. Mitte 1986 hatte Gorbatschow vor Schriftstellern noch empfohlen, die Vergangenheit ruhen zu lassen Es muß ihm aber bald klar geworden sein, daß die Schwierigkeiten der Gegenwart kaum zu meistern waren, wenn deren historische Wurzeln nicht aufgedeckt würden. Auf dem Januar-Plenum des ZK war Gorbatschow bereits wesentlich schärfer mit der Breshnew-Ära ins Gericht gegangen als auf dem XXVII. Parteikongreß, aber auch jetzt wagte er es nicht, den Namen Breshnews auch nur zu erwähnen. An einer Aufarbeitung der allerjüngsten Vergangenheit ist der Parteiführung auch heute nicht gelegen. Die gegenwärtigen Spitzenpolitiker haben letztlich unter Breshnew ihre Sporen verdient. Einem Historiker, der ein kleines Buch über die Zeit nach 1960 schreiben wollte, hat man dies zwar nicht untersagt, aber immerhin empfohlen, das Projekt fallen zu lassen, da sich das Urteil über diese Jahre noch nicht abgeklärt habe

J. Afanasjew, der Rektor des Moskauer Instituts für historische Archive, der sich mehrfach für eine neue Sicht der Sowjetgeschichte eingesetzt hat, hält hingegen die Perioden von 1917 bis 1929 und von 1956 bis 1965 für besonders erforschungswürdig, da die Erfahrungen dieser Zeit für die Gegenwart den größten Nutzen haben könnten Es ist jedoch nicht klar, ob die Parteiführung mit solchen Intentionen einverstanden ist. Vieles spricht dafür, daß die neue Mannschaft im Kreml das Interesse der Historiker auf die Stalin-Zeit ablenken will, die in der Tat das dunkelste Kapitel der Sowjetunion ist.

Im Februar 1987, zwei Wochen nach dem Januar-Plenum des ZK, hat Gorbatschow erklärt, daß es keine „weißen Flecken und vergessenen Namen“ in der Literatur und der Geschichte geben dürfe Es sei schlimm, wenn „ganze Zeiträume“ verdrängt und vergessen würden. Man solle vor allem diejenigen der Vergessenheit entreißen, die tatsächlich die Oktoberrevolution gemacht hätten. Entweder hatte Gorbatschow den Mund zu voll genommen oder er ahnte nichts von der Tragweite seiner Ankündigung. Nach Gorbatschows Worten schien der Weg für eine Rehabilitierung L. Trotzkijs, G. Sinowjews, L. Kamenews oder N. Bucharins als historische Persönlichkeiten (nicht aber als Vertreter einer ideologischen Richtung) frei zu sein. Aber selbst diese bescheidene Revision des Geschichtsbildes erwies sich als schwierig. Wie sollte man die Person Trotzkijs von seinen Überzeugungen trennen?

Die ehemaligen Mitarbeiter Lenins, die von Stalin verfemt wurden, werden seit geraumer Zeit von einigen Autoren ohne die sonst üblichen Unterstellungen genannt, von anderen dagegen nach wie vor verurteilt. Ein ehemaliger Trotzkist konnte immerhin Trotzkij als einen hervorragenden Kommunisten bezeichnen I. Mine, der Doyen der sowjetischen Parteihistoriker, 91 Jahre alt, war allerdings nicht bereit, Trotzkijs „Fehltritte“ zu verzeihen. Nicht so schwierig könnte dagegen die Neubewertung Bucharins sein

Die Sowjetunion begeht am 7. November 1987 den 70. Jahrestag der Oktoberrevolution. Es wäre an der Zeit, Trotzkijs und Bucharins Rolle im Jahr 1917 ohne Wenn und Aber zu schildern. Ein Weiterspinnen der alten Geschichtslegenden ist mehr als anachronistisch. Man kann vielleicht erwarten, daß in Zukunft wenigstens die wichtigsten biographischen Daten der prominenten Stalin-Opfer veröffentlicht werden. Wenn Gorbatschow von „ganzen Zeiträumen“ sprach, die in Vergessenheit geraten sind, so müßte er vor allem die Kollektivierung und die Große Säuberung im Auge gehabt haben — Zeiten, in denen Millionen von Menschen umgekommen sind. Die Hast und die Brutalität der Kol-lektivierung ist gelegentlich schon in Frage gestellt worden, aber man behandelt das Thema insgesamt äußerst vorsichtig.

Im Zentrum der historischen Neubewertung steht wahrscheinlich die „Große Säuberung (1936 bis 1938), in der die alte Garde Lenins, viele Militärs, Tausende und Abertausende von Namenlosen in den Tod und Millionen in Lager geschickt wurden. In einer illustrierten Zeitschrift kam der Diplomat F. Raskolnikow zu Wort, der aus dem Ausland an Stalin geschrieben hatte, die Schauprozesse in Moskau seien derart unglaubwürdig und grauenerregend, daß sie selbst die Hexenprozesse des Mittelalters in den Schatten stellten Gorbatschow hat im Juli 1987 erklärt, daß die Ereignisse von 1937/38 nicht verziehen oder gerechtfertigt werden könnten Dies scheint darauf hinauszulaufen, daß K. Radek und Bucharin von den Vorwürfen, die seinerzeit gegen sie erhoben wurden, freigesprochen werden. Der Prozeß gegen Sinowjew und Kamenew scheint dagegen vorerst ausgeklammert zu werden. 1956 hatte Chruschtschow auf dem XX. Parteitag nicht nur einen Teil von Stalins Verbrechen in der Großen Säuberung geschildert, sondern auch schon die Rolle Stalins im Krieg gegen die Deutschen kritisiert. Zwanzig Jahre später wird nun ein neuer Anlauf genommen, die Vergangenheit sachgerechter darzustelln. Dabei geht es nicht nur um eine Revision der Parteigeschichte, was vergleichsweise leicht wäre, sondern im Grunde um die Legitimation der Partei. Wenn unter Stalin im Namen der Partei die schlimmsten Verbrechen begangen werden konnten, wenn sich darüber hinaus die Partei in den Breshnew-Jahren vieler Versäumnisse und Fehler schuldig gemacht hat, so erhebt sich für jeden kritisch Denkenden die Frage, wie die KPdSU ihr alleiniges Recht auf Herrschaft begründen will. Würde man. darüber hinaus einräumen, daß 1923 Trotzkijs Kritik an der wachsenden Bürokratie und 1929 Bucharins Votum gegen die brutale Kollektivierung stichhaltig waren, dann drängt sich der Schluß auf, daß die Mehrheit der Partei nicht immer die richtige Linie vertritt. Daraus könnte nun der eine oder andere folgern, daß die Rechte der Minderheit geschützt werden müßten, ja daß die Minderheit für ihre Ideen unbehindert werben sollte. Aus diesem Gedankengang läßt sich ablesen, wie schnell die Bewältigung der sowjetischen Vergangenheit an die Grenzen des sowjetischen Herrschaftssystems stößt.

Diesseits von Gut und Böse Es fehlt nicht nur in det Geschichtsschreibung bis heute an der nötigen Redlichkeit, sondern auch auf fast allen anderen Gebieten. Die Einsichtigsten haben erkannt, daß die Partei nicht der Hort und die Hüterin von Wahrheit und Moral ist. Sie haben sich daran gemacht, die dunkle Vergangenheit, vor allem den Stalinismus, zu durchdringen und nach soliden moralischen Grundlagen zu suchen. Bei Solschenizyn hieß es schon vor einer Reihe von Jahren, daß ein großer Schriftsteller so etwas wie eine zweite Regierung sei Heute ist es vor allem eine Reihe von Schriftstellern und Wissenschaftlern, die die Sinnfrage stellt und die mit einem ungewöhnlichen Emst über das politische Koordinatensystem der Moral nachdenkt.

A. Jakowlev, eine der sichersten Stützen Gorbatschows im Politbüro, hat erst vor kurzem eingeräumt, daß die sowjetische Ideologie in der Bevölkerung kein hohes Ansehen genießt: „Wenn der Mensch beginnt, über die , ewigen‘, quälenden Fragen des Sinns des Lebens, der moralischen Wahl, der ethischen Begründung seiner Handlungen nachzusinnen, so wendet er sich meist nicht an berufsmäßige Philosophen, um eine Antwort zu erhalten.“

Gorbatschow selbst hat mehrfach den Unfehlbarkeitsanspruch erschüttert, wenn er etwa erklärte, daß niemand im Besitz der Wahrheit sei Dadurch konnte sich die unabhängige Intelligenz in ihrer Suche nach sicheren moralischen Kategorien nur bestätigt fühlen. D. Granin hat beispielsweise versucht, der „Barmherzigkeit“, die aus dem sowjetischen Sprachgebrauch zu verschwinden drohte, wieder zu ihrem Recht zu verhelfen Andere Autoren beziehen sich immer wieder auf die „Güte“ oder das individuelle Gewissen.

Jewtuschenko erzählte folgende Anekdote: „Es hat bei uns den legendenumwobenen und hervorragenden Chirurgen . . . Vojno Jasenetzkij gegeben, der auch Priester war. Eine der Legenden erzählt.... daß er eines Tages von Stalin gerufen wurde, der ihn leicht ironisch fragte: , Wie können Sie bloß an die Existenz der sogenannten Seele glauben? Sie haben doch schon so viele Körper obduziert. .

haben Sie dabei jemals irgendeines Seele entdeckt? Vojno Jasenetzkij antwortete: , Und Sie, glauben Sie denn an die Existenz des Gewissens?'— Stalin dachte nach und sagte erst nach einer Weile: JJa, daran glaube ich. * — . Sehen Sie, bei der Obduktion der Körper habe ich auch kein einziges Mal das Gewissen entdeckt . . ." Das Akademie-Mitglied D. Lichatschow verlangte erst kürzlich nach einer „Geschichte des Gewissens“, in der auch das Gute in der Religion, Literatur, Kunst und Wissenschaft festgehalten werden sollte

Im Zeichen der Glasnost kam es nicht nur zu Worten, sondern auch zu Aktionen des Nonkonformismus. In Alma Ata gingen die Kasachen, in Moskau die Krimtataren, in Vilnius die Litauer, in Tallinn die Esten und in Riga die Letten für ihre nationalen Interessen auf die Straße. Damit war in den Augen der engherzigen Parteifunktionäre die Grenze der Toleranz bereits überschritten worden. Ligatschow, der ranghöchste ZK-Sekretär nach Gorbatschow, hat sehr früh schon vor den Auswüchsen der Glasnost gewarnt. Er äußerte sein Befremden über die Schwarzmalerei in der Belletristik wie auch in der Darstellung der Sowjetgeschichte. Noch stärker scheint ihn irritiert zu haben, daß in einigen Werken jeglicher Hinweis auf den Kommunismus fehlte Im September 1987 warf der KGB-Chef W. Tschebrikow den westlichen Geheimdiensten vor, sowohl bei den Demonstrationen in Alma Ata, Moskau wie in den baltischen Hauptstädten ihre Hände im Spiel gehabt zu haben „Die Gegner“ der Sowjetunion versuchten die künstlerische Intelligenz zu Krittelei, Demagogie und Nihilismus anzustacheln. Nach deren Willen sollten einige Etappen der Sowjetgeschichte angeschwärzt und die Hauptaufgabe der sozialistischen Kultur, die arbeitenden Menschen zu erheben, abgelehnt werden. Diese massiven Vorwürfe, die zum Teil gegen den Westen, aber noch viel stärker gegen alle Nonkonformisten in der Sowjetunion gerichtet waren, können nur als Rückfall in die alten sowjetischen Denkmuster angesehen werden.

Auch Gorbatschow hat, kaum aus dem Urlaub zurückgekehrt, Ende September alle diejenigen gewarnt, die innerhalb wie außerhalb der Sowjetunion versuchten, Extremisten und Nichtsozialisten zu animieren Allerdings fügte er sofort beruhigend hinzu, diese negativen Erscheinungen seien nicht allzu verbreitet. Für alle Fälle erklärte er dann jedoch: „Diejenigen, die Hoffnung haben, daß Demokratie und Umgestaltung zu einer sozialen und politischen Wende in der Sowjetunion führen, irren sich.“

Zwischen Gorbatschow auf der einen und Tschebrikow sowie Ligatschow auf der anderen Seite scheint es in der Frage, wie gefährlich die „Exzesse“ der Glasnost und der Demokratisierung seien, keine Einigkeit zu geben. Gorbatschow, der das Image eines aufgeklärten Generalsekretärs pflegt, will ganz offensichtlich die zum Nonkonformismus neigende Intelligenz, die große Erwartungen in ihn setzt, nicht vor den Kopf stoßen, daß er deren Sympathien völlig verscherzt.

Die vielen Fragezeichen hinter Gorbatschow Die Sowjetunion steht nicht vor dem Zusammenbruch, und sie ist auch nicht auf dem Weg zu einer westlichen Demokratie. Alle von Gorbatschow gewünschten Veränderungen spielen sich bislang im Zirkelschlag der Einparteienherrschaft ab. Ganz sicher gibt es aber sowohl in der Intelligenz, bei den Nationalitäten und in den Religionsgemeinschaften die Hoffnung auf eine Ausweitung der Menschenrechte.

Die Sowjetunion heute ist für den Beobachter insofern schwer zu fassen, als sie mit den Schatten ihrer Vergangenheit nichts zu tun haben will und mit dem Glanz der lichten Zukunft noch nichts zu tun hat. Wer die Zukunft der Sowjetunion auch nur ungefähr ermessen will, müßte zum einen wissen, was Gorbatschow und die Seinen wirklich wollen, und zum anderen eine Vorstellung davon haben, wie stark der Widerstand im Politbüro, im ZK, in der Partei und in der Bevölkerung gegen die Vorhaben des neuen Generalsekretärs ist. Trotz seiner zahllosen Selbstdarstellungen gibt Gorbatschow uns noch viele Rätsel auf. Entweder kennt auch er noch nicht den genauen Weg in die bessere Zukunft oder aber er hält mit einem Teil seines Wissens bewußt hinterm Berg. Einiges, was er anzielt, wirkt unrealistisch: etwa die Verdoppelung des Nationaleinkommens oder die Erneuerung aller Maschinen bis zum Beginn des nächsten Jahrtausends. Es ist auch schwer vorstellbar, daß es Gorbatschow gelingt, die Menschen so zu motivieren, daß sie hart und angestrengt arbeiten. Dies ist Lenin schon nicht gelungen. Ungereimt bleibt, daß Gorbatschow — dem Anschein nach — hier und da das Wahrheitsmonopol der Partei aufgibt, in der Praxis aber daran festhält. Tschebrikow hat in seiner jüngsten Rede am 11. September 1987 den Spielraum für nonkonformes Denken dagegen sehr eng abgesteckt. Jakowlew hält ebenfalls an der Partei als dem eigentlichen Wegweiser eindeutig fest: „Aber, wie man sagt, Gott, was Gottes ist, der Kirche, was der Kirche ist, und uns, den Marxisten, die Fülle der Wahrheit.“ Man kann, ja man muß daran zweifeln, daß die KPdSU für sich die „Wahrheit“ in An-, spruch nehmen kann. Es ist jedoch nicht daran zu zweifeln, daß sie bis heute bestimmt, was als richtig und was als falsch angesehen werden soll.

In nicht einmal drei Jahren hat Gorbatschow vieles ins Werk gesetzt. Es ist ein neues kulturelles Klima entstanden. Eine Reihe von politischen Gefangenen ist inzwischen frei. Auf vielen Gebieten wird diskutiert und experimentiert. Aber das Neue, das sich zeigt, ist nicht unwiderrufbar. Der Sowjetunion ist der Konstitutionalismus demokratischer Staaten fremd. Es gibt allerdings Rechtsreformen, die auf lange Sicht, wenn sie Schritt für Schritt ausgebaut würden, mehr Rechtssicherheit gewähren könnten Das Gesetz über die Verwaltungsgerichts-barkeit, das am 1. Januar 1988 in Kraft tritt, ist allerdings noch kein Bollwerk gegen Machtmißbrauch, vielleicht aber eine Erweiterung des Rechtsschutzes. Wenn aber die Demonstrationen der Kasachen, Krimtataren und Balten weiterhin so eindeutig negativ beurteilt werden, wie dies der KGB-Chef getan hat, dann werden die Hoffnungen auf eine grundlegend neue Haltung gegenüber den Menschenrechten gedämpft. Sicher will die neue Führungsmannschaft im Kreml deutlich unter dem Ausmaß westlicher Freiheit bleiben, aber andererseits möchte sie auch das Ausmaß der Unfreiheit, das unter Breshnew existierte, hinter sich lassen. Wenn dies gelänge, wäre dies schon ein Gewinn.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der Spiegel. 7. 9. 1987. S. 21.

  2. Time. 6. 7. 1987. S. 40.

  3. Pravda. 26. 2. 1986.

  4. Pravda. 28. 2. und 27. 2. 1984.

  5. Literaturnaja gaseta, 2. 7. 1986.

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  8. Ebda., S. 46.

  9. Ebda.. S. 57.

  10. Tsch. Aitmatow. Placha, in: Nowij mir. 1986. Nr. 6. 8 und 9. Hierzu „Christus in den sowjetischen Medien“, in: Aktuelle Analysen des BlOst. Nr. 3/1987.

  11. Literaturnaja gaseta. 13. 8. 1986.

  12. Komsomolskaja pravda. 10. 12. 1986.

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  18. Iswestija. 30. 2. 1987.

  19. Frankfurter Rundschau. 18. 9. 1986.

  20. Kommunist. (1987) 12. S. 75.

  21. Sowjetskaja kultura. 21. 3. 1987.

  22. Pravda. 14. 2. 1987.

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  29. Pravda. 14. 2. 1987 und Iswestija. 17. 2. 1986.

  30. Literaturnaja gaseta, 18. 3. 1987.

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  32. D. Lichatschow, in: Probleme des Friedens und des Sozialismus. (1987) 5. S. 633-636.

  33. Sowjetskaja kultura. 7. 7. 1987.

  34. Pravda. 11. 9. 1987.

  35. Pravda. 30. 9. 1987.

  36. Vestnik AN SSSR. (1987) 6. S. 69.

  37. Hierzu K. Schmid. Aktuelle Analysen des BIOst. Nr. 8/1987 und 34/1987.

Weitere Inhalte

Heinz Brahm, Dr. phil., geb. 1935; Leitender Wissenschaftlicher Direktor, Forschungsbereichsleiter im Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln. Veröffentlichungen u. a.: Trotzkis Kampf um die Nachfolge Lenins, Köln 1964; Pekings Griff nach der Vormacht, Köln 1966; Der Kreml und die ÖSSR 1968— 1969, Stuttgart 1970; (Hrsg.), Opposition in der Sowjetunion, Düsseldorf 1972; Der 27. Parteitag der KPdSU — eine Wendemarke?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 15/86; Gorbatschows Glasnost, in: Osteuropa, (1987) 8.