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Militärpolitische Aspekte der Sicherheit in den Ost-West-Beziehungen | APuZ 45/1987 | bpb.de

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APuZ 45/1987 Artikel 1 Strategie der Beschleunigung der sozialökonomischen Entwicklung der UdSSR Grundzüge der neuen sowjetischen Außenwirtschaftspolitik Ein neuer Generalsekretär im alten Sowjetsystem Perspektiven der Sowjetideologie Militärpolitische Aspekte der Sicherheit in den Ost-West-Beziehungen

Militärpolitische Aspekte der Sicherheit in den Ost-West-Beziehungen

Andrej Kokoschin

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Ein sowjetisch-amerikanisches Abkommen über die Abschaffung der Nuklearraketen mittlerer Reichweite und der operativ-taktischen Raketen ist in greifbare Nähe gerückt, eine atomwaffenfreie Welt vielleicht schon am Beginn des neuen Jahrtausends kein bloßer Wunschtraum mehr. Sind die Kernwaffen einmal vernichtet, könnten die Staaten nicht einfach zu der militärischen Lage zurückkehren, in der sich die Welt vor dem Beginn des Atomzeitalters befand. Tiefgreifende und konstruktive Veränderungen der internationalen Beziehungen werden erforderlich sein. Von großer Bedeutung ist hierbei die Gewährleistung einer zuverlässigen gegenseitigen Sicherheit. Die Militärdoktrinen, die strategischen und operativen Konzeptionen in West wie in Ost müssen einen klar ausgeprägten Verteidigungscharakter haben; ihre Weiterentwicklung darf nur in diese Richtung erfolgen. Es gilt, den gegenseitigen Argwohn und das gegenseitige Mißtrauen, die sich in vielen Jahren angestaut haben, zu beseitigen. Die Verteidigungsstrategien und das militärisch hinreichende Maß der Bewaffnung setzen eine solche Streitkräftestruktur der Staaten voraus, die sie befähigt, mögliche Aggressionen zurück-zuweisen. die Durchführung von Angriffsoperationen jedoch nicht zuläßt. Den Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland kommt in diesem Prozeß eine nicht unbedeutende Rolle zu. Es besteht die Möglichkeit, den Beziehungen zwischen beiden Ländern einen neuen Sinn zu verleihen.

I. Einleitung

Die Perspektive des Abschlusses eines sowjetisch-amerikanischen Abkommens über die Vernichtung der Raketen-Kernwaffen mittlerer Reichweite und der operativ-taktischen Raketen-Kernwaffen wirft die Fragen des weiteren Vorankommens bei der Abrüstung und der Herabsetzung der Gefahr eines Krieges — sowohl eines nuklearen als auch eines konventionellen — in ihrer ganzen Größe auf.

In den Ost-West-Beziehungen rücken heute solche Fragen deutlich in den Vordergrund wie: radikale Reduzierungen (um 50 Prozent) der strategischen Offensivwaffen der UdSSR und der USA bei strikter Einhaltung des ABM-Vertrages; eine Reduzierung der Streitkräfte und konventionellen Rüstungen; die Vernichtung der chemischen Waffen; das völlige Verbot von Kernwaffentests; die Schaffung von kernwaffenfreien Zonen und eine Reihe anderer Abrüstungsthemen.

Die Zerstörungskraft der Kernwaffen ist so groß, daß jegliche Versuche, eine zuverlässige Verteidigung des Territoriums eines Landes gegen einen Erstschlag unter Einsatz von nuklearen Raketen zu schaffen, vergeblich wären. Das müssen heute sogar viele eifrige SDI-Verfechter in den USA zügelten. Darum können solche Versuche vor allem als ein Mittel dafür betrachtet werden, den Schutz gegen einen stark abgeschwächten Gegenschlag zu gewährleisten — folglich auch als ein Mittel, welches die Möglichkeit sichert, einen entwaffnenden nuklearen Erstschlag zu führen, das heißt, als ein maximal destabilisierendes Mittel. Darin liegt gerade eine der überaus wichtigen Ursachen, die die Bedeutung des Vertrages über eine Begrenzung der Raketenabwehrsysteme für die Gewährleistung der strategischen Stabilität — die sich auf die Unmöglichkeit eines entwaffnenden nuklearen Schlages und auf die Unvermeidlichkeit der Vergeltung gründet — bestimmen. Was die Streitkräfte und die konventionellen Rüstungen betrifft, so ist hier die Wechselbeziehung zwischen dem Angriff und der Verteidigung anders. Darum muß die strategische Stabilität nach anderen Prinzipien gewährleistet werden.

Im Vordergrund bleibt die Aufgabe der Vernichtung der Kernwaffen. Die Lösung dieser Aufgabe würde die Spaltung der Welt in Länder, die Kernwaffen besitzen, und Länder, die keine solchen Waffen haben, beseitigen. Es würde die Zweiteilung des Begriffs „Sicherheit“ verschwinden, die heute dort zu beobachten ist, wo es zwar gelingt, den Frieden zwischen der UdSSR und den USA, zwischen der Organisation des Warschauer Vertrages und der NATO zu wahren, wo aber gleichzeitig in vielen anderen Regionen der Welt Dutzende von Kriegen geführt werden, die Millionen Menschenleben dahinraffen.

Im Ergebnis der Vernichtung der Kernwaffen würde man nicht einfach zu jener internationalen militärpolitischen Lage zurückkehren, in der sich die Welt vor dem Anbruch des Atomzeitalters befand. Beim Übergang zu einer Welt ohne Kernwaffen gilt es, die Beziehungen zwischen den Staaten, darunter auch die militärpolitischen, möglichst tief-greifend und konstruktiv zu verändern. Solche Erfordernisse und Möglichkeiten werden heutzutage viel besser erkannt als an der Wende von den fünfziger zu den sechziger Jahren, als der Plan einer allgemeinen und vollständigen Abrüstung erstmals erörtert wurde.

Der folgende Beitrag erörtert sicherheitspolitische Fragen aus aktueller sowjetischer Sicht. In diesem Zusammenhang verweist die Redaktion auf die Bei^üge, die in der vorhergehenden Ausgabe dieser Zeitschrift veröffentlicht wurden.

II. Die Voraussetzungen für die Stabilität bei einer radikalen Reduzierung der Kernwaffen

Fünfzigprozentige Reduzierungen der strategischen Offensivwaffen sind in einem breiteren und allgemeineren Kontext der notwendigen und möglichen weiteren Reduzierung der Kernwaffen bis hin zu ihrer völligen Vernichtung zu betrachten. Sowjetische Wissenschaftler und Fachleute betreiben seit vielen Jahren schon diesbezügliche Forschungen. So wurde zum Beispiel in einer von 1983 bis 1987 von der Arbeitsgruppe des Komitees der sowjetischen Wissenschaftler zum Schutz des Friedens gegen die Gefahr eines Kernwaffenkrieges erstellten Studie (unter Anwendung von speziellen Computermodellen) über Probleme der Gewährleistung der strategischen Stabilität unter den Bedingungen radikaler Reduzierungen von Kernwaffen erwogen, neben den 50prozentigen Reduzierungen auch Varianten zu berücksichtigen, die einen 75-bis 95prozentigen Abbau der heute vorhandenen Kemwaffenarsenale vorsehen. Diese Studie wurde in dem Artikel von Michail Gorbatschow „Realität und Garantien für eine sichere Welt“ vom 17. September 1987 hervorgehoben.

Bei der Untersuchung verschiedener Etappen der Reduzierungvon Kernwaffen wurde die Einhaltung folgender Bedingungen für die strategische Stabilität in verallgemeinerter Form vorgesehen:

1. Die politische und militärstrategische Situation ist derart, daß bei jeder Seite die Stimuli für den Ersteinsatz von Kernwaffen fehlen. Die Gegenmaßnahmen der Seite, gegen die die Aggression verübt worden ist, schließen die Möglichkeit aus, die Ergebnisse des Erstschlages rationell auszunutzen. 2. Keine der Seiten besitzt die Möglichkeit für einen Entwaffungsschlag. Bei einer beliebigen Angriffs-variante bleibt bei derjenigen Seite, die der Aggression ausgesetzt war, ein Potential, das es ihr ermöglicht, dem Angreifer einen unvertretbaren und vergleichbaren Schaden zuzufügen.

3. Es fehlen die Bedingungen für einen nichtsanktionierten und zufälligen Einsatz von Kernwaffen.

Die Erfüllung aller drei Bedingungen setzt das Vorhandensein von zuverlässigen, mehrfach redundanten, überlebensfähigen Leitungs-und Nachrichten-systemen sowie von Mitteln für die Warnung vor einem Raketenangriff auf beiden Seiten voraus. Das Vorhandensein solcher Systeme und Mittel wird zu einem der kritischsten Faktoren bei der Gewährleistung der strategischen Stabilität.

/Die von sowjetischen Wissenschaftlern unter Ausnutzung von speziellen Computermodellen unternommenen Berechnungen zu den Varianten des Abbaus der strategischen Kernwaffenarsenale der UdSSR und der USA um ungefähr 50 Prozent zeigen, daß bei einer ganzen Reihe von Kombinationen die Parameter der Stabilität des militärstrategischen Gleichgewichtes, die sich in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre herausgebildet haben, im großen und ganzen erhalten bleiben werden. Das heißt, daß die Seite, die dem Angriff ausgesetzt war (besonders, wenn dieser nicht völlig überraschend kommt), in der Lage sein wird, sowohl eine umfassende Zahl von Militärobjekten zu vernichten als auch der Bevölkerung und der Industrie des Aggressorenlandes einen unvertretbaren Schaden zuzufügen, also einen Akt der „garantierten Vernichtung“ zu vollziehen.

Dabei wurde festgestellt, daß das Vorhandensein einer lediglich „verdünnten“ Raketenabwehr des Landesterritoriums (mit einer Effektivität von 50 bis 60 Prozent gegenüber dem abgeschwächten Gegenschlag) bei derjenigen Seite, die den Erstschlag führt, eine Herabsetzung des „Sicherheitsgrades“ bei der Stabilität des militärstrategischen Gleichgewichts verursacht, ohne daß die andere Seite eine bestimmte Kategorie von Gegenmitteln anwendet. Eine ähnliche Auswirkung kann auch eine beträchtliche Erhöhung der Möglichkeiten der U-Boot-Abwehrmittel haben. Bei größeren Reduzierungen der Kernwaffenarsenale werden sich im Charakter des militärstrategischen Gleichgewichts entsprechende Veränderungen vollziehen.

Bei einer Analyse der Varianten von 75prozentigen Reduzierungen erweist sich, daß bei einem Gegen-schlag ein immer noch breiter Komplex von Militär-objekten vernichtet oder auch der Industrie und der Bevölkerung ein Schaden von einem Ausmaß zugefügt werden kann, der jenem nach einer 50prozentigen Reduzierung der strategischen Kernwaffenarsenale nahekommt. Selbst bei einer gleichmäßigen Verteilung der Ziele zwischen Militär-und Zivilobjekten wird der Bevölkerung noch immer ein gewaltiger Schaden zugefügt.

Wie die Ergebnisse der Modellrechnungen zeigen, ist es unter den Bedingungen einer 75prozentigen Reduzierung für die Aufrechterhaltung der Stabilität des strategischen Gleichgewichts notwendig, eine Reihe von Parametern strenger zu beschränken als bei 50prozentiger Reduzierung. Die Stabilität wird dabei immer empfindlicher gegen die Erhöhung der Präzision der strategischen Kernwaffensysteme. Zu einem wesentlichen Faktor wird dabei das hypothetische landesweite Raketenabwehrsy-B stem. Unabhängig davon, ob ein solches System von einer oder von beiden Seiten aufgebaut wird, bildet sich sogar noch bei einer sehr geringen Wahrscheinlichkeit des Abfangens eine unstabile Situation heraus. Eine stabilisierende Rolle können hierbei asymetrische Gegenmaßnahmen gegen die landesweite Raketenabwehr, besonders gegen ihre weltraumgestützte Staffel, spielen. Dieser stabilisierenden Einwirkung sind jedoch, ebenso wie bei einem höheren Konfrontationsniveau, Grenzen gesetzt

Das militärstrategische Gleichgewicht wird ferner empfindlicher gegen die Möglichkeiten und Mittel des strategischen U-Boot-Kampfes beider Seiten. Das macht es noch dringender notwendig — als es unter den gegenwärtigen Bedingungen und auch in der Etappe der 50prozentigen Reduzierungen der Kernwaffen der Fall ist —, auf der Grundlage der Gegenseitigkeit Maßnahmen zur Erhöhung der Überlebensfähigkeit der U-Boot-gestützten ballistischen Raketen zu treffen, zum Beispiel durch die Schaffung von Zonen, die frei sind von U-Boot-Abwehr-Aktivitäten beider Seiten.

Es sei hier bemerkt, daß die Transformation der militärstrategischen Balance in einen Zustand, bei dem beide Seiten ungefähr die gleiche Zahl der strategischen Gefechtsladungen besitzen würden wie zu Beginn der siebziger Jahre (das entspräche einer 75prozentigen Reduzierung des Standes in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre), in militärstrategischer Hinsicht keine einfache Rückkehr zu der Situation bedeuten wird, die der Lage in jener Periode ähnlich wäre. Die Ursache hierfür liegt in den sich verändernden qualitativen Charakteristika der strategischen Kernwaffen, in erster Linie in der sich zunehmend erhöhenden Treffgenauigkeit.

Angesichts all dessen ist eine rapide Verringerung des Anteils derjenigen Träger, die eine große Zahl von Gefechtsladungen tragen und stark geschützte Ziele vernichten können, am Kräftebestand beider Seiten eine wichtige Bedingung für die Gewährleistung der strategischen Stabilität beim bestehenden Niveau der nuklearen Konfrontation.

Bei der Betrachtung von Varianten im Falle der 75prozentigen Reduzierungen der strategischen Kernwaffenkräfte der UdSSR und der USA gingen die Verfasser der Studie des Komitees der sowjetischen Wissenschaftler allerdings davon aus, daß solche Reduzierungen weder politisch noch militärisch möglich sein werden, wenn die anderen Kernwaffenmächte bis dahin sich nicht dem Prozeß der nu-klearen Abrüstung anschließen werden. Die durchgeführten Berechnungen zeigen, daß es für die Erhaltung der Stabilität des militärstrategischen Gleichgewichtes notwendig ist, daß die anderen Kernwaffenstaaten ihre Kernwaffenarsenale ungefähr proportional vermindern. Bei derart bedeutenden Reduzierungen der strategischen Kernwaffen wäre die Erhaltung des früheren Standes der Konfrontation bei den operativ-taktischen und taktischen Kernwaffen (nuklearen Gefechtsfeldwaffen) — unter dem Gesichtswinkel der strategischen Stabilität gesehen — ungerechtfertigt.

Was den Abbau der Kemwaffenarsenale beider Seiten um 95 Prozent betrifft, so wurde hierbei folgendes in Betracht gezogen: Die UdSSR und die USA behalten lediglich einige hundert Kerngefechtsköpfe auf ihren strategischen Trägern; die Nuklearwaffen mittlerer Reichweite sowie die operativ-taktischen und taktischen Mittel beider Seiten werden vernichtet; die Nuklearwaffen der kernwaffenbesitzenden „Drittmächte“ werden proportional reduziert oder völlig vernichtet; der ABM-Vertrag bleibt weiterhin in Kraft; es gilt das Verbot für die Stationierung von Weltraumangriffswaffen sowie für Satellitenabwehrwaffen aller Typen und Arten; das Abkommen über das allgemeine und vollständige Verbot der Nukleartests wirkt weiterhin; die Produktion von Spaltmaterial für Kerngefechtsladungen ist eingestellt worden.

Beim gegebenen Stand der militärstrategischen Balance beginnt die Aufstellung von vergleichbareren strategischen Kräften eine besonders große Rolle zu spielen, denn dadurch würde der Grad der Bestimmtheit im Sinne der Einschätzung dieser Balance durch die beiden Seiten erhöht. Die folgerichtige Analyse der erwähnten Reihe von Varianten der Zusammensetzung und der Struktur der Kräfte der Seiten legte den Verfassern der genannten Studie den Schluß nahe, daß folgende Variante für die gegenseitige Sicherheit optimal wäre: Jede Seite sollte ungefähr 600 leichte interkontinentale ballistische Raketen mit einem Gefechtskopf, darunter solche mit mobilen Startmöglichkeiten, besitzen. Alle anderen Arten von Kernwaffen und ihre Träger — schwere Bombenflugzeuge mit freifallenden Bomben als auch mit Flügel-und ballistischen Raketen, SSBN (atomangetriebene U-Boote mit ballistischen Flugkörpern) und SLBM (U-Boot-gestützte ballistische Raketen) und bordgestützte Flügelraketen wie auch alle anderen Arten und Typen von Kernwaffen — sollten völlig vernichtet werden.

Der Vorzug der interkontinentalen ballistischen Raketen gegenüber den SSBN besteht vom Standpunkt der Systemeinschätzung der Stabilität des militärstrategischen Gleichgewichts — bei der viele Faktoren berücksichtigt werden — darin, daß mit ihnen eine viel zuverlässigere Verbindung unterhalten werden könnte, die zu jedem Augenblick zweiseitigen Charakter haben würde. Dadurch wird die Möglichkeit des unvorsätzlichen Starts, des zufälligen Ausbruchs eines Kernwaffenkrieges als Folge eines technischen Fehlers herabgesetzt. Die interkontinentalen ballistischen Raketen können im Unterschied zu den SSBN in relativ vorhersagbaren Flugbahnen gestartet werden. Dadurch wird die Aufgabe der Verhütung eines ungewollten Raketenangriffs für beide Seiten erleichtert. Im Unterschied zu den schweren Bombern können die ICBM (Interkontinentalraketen) ferner nicht in einen lokalen bewaffneten (nichtnuklearen) Konflikt einbezogen werden. Sie schaffen keine erhöhte Gefahr der Eskalation eines lokalen Zusammenstoßes in einen globalen, des nichtnuklearen in einen nuklearen.

Bei den 500 bis 600 Einheiten von Gefechtsköpfen, von denen je einer auf dem Träger installiert ist, der eine hohe Überlebensfähigkeit aufweist, wird ein solcher „schadenbegrenzender“ — für die andere Seite entwaffnender — Erstschlag völlig unrealisierbar. Bei der Betrachtung des Erstschlages wird man davon ausgehen müssen, daß, wenn ein solcher Schlag geführt werden wird, bei der Seite, die ihn gegen die strategischen Kräfte des Gegners führen wird, danach keine Mittel mehr für einen nachfolgenden Schlag gegen Industrieobjekte und große Ortschaften der anderen Seite übrigbleiben werden. Diejenige Seite aber, die dem Erstschlag ausgesetzt sein wird, wird einen bedeutenden Teil ihrer Kräfte (bei entsprechender Beweglichkeit und dem entsprechenden Grad des Auseinanderziehens eines bestimmten Teils von ICBM: einen sehr beträchtlichen Teil) für einen Vergeltungsschlag gegen die wichtigsten Industriezentren und Ortschaften des Aggressorlandes behalten. Damit wird die destabilierende Möglichkeit, einen Entwaffnungsschlag zu führen, fast auf den Nullpunkt gebracht.

Im Verlaufe der Studie wurden vom Komitee der sowjetischen Wissenschaftler mehrere Varianten nach folgender Zwischenetappe der Reduzierung betrachtet: von den 95prozentigen Reduzierungen (vom heutigen Stand) bis zu lOOprozentigen, bis die Nuklearpotentiale auf den Nullpunkt gebracht worden sind.

Bei der Einhaltung der gleichen Bedingungen für die Unverwundbarkeit (die Überlebensfähigkeit) der Waffen-und Steuerungssysteme wie in der Variante der militärstrategischen Balance, die sich im Ergebnis der 95prozentigen Reduzierung der strategischen Nuklearpotentiale herausbildet, wird die „gegenseitige garantierte Vernichtung“ bei einem niedrigeren Niveau der nuklearen Konfrontation nicht mehr möglich sein.

Ebenso wie bei der Variante der vorangegangenen Etappe der Reduzierung der Kernwaffen dürfen beide Seiten keine Stimuli und keine realen operativen wie technischen Möglichkeiten mehr für den Ersteinsatz von Kernwaffen haben, um einen Entwaffnungs-oder Verblendungsschlag zu führen. Die Bedeutung des nuklearen Faktors in der gesamten Gleichung der militärstrategischen Balance wird noch schneller abnehmen. Bei der Reduzierung der nuklearen Arsenale auf einige Dutzend Gefechtsköpfe auf jeder Seite können sich die potentiellen Verluste durch den Einsatz von Kernwaffen als mit jenen vergleichbar erweisen, die es in großen Kriegen der Vergangenheit unter Anwendung konventioneller Waffen gegeben hat.

Angesichts dieses Sachverhalts wie auch einiger anderer Umstände erscheint es unter dem Gesichtspunkt der Gewährleistung zuverlässiger Bedingungen für die Verhütung eines Krieges und die Festigung der strategischen Stabilität als zweckmäßig, den Übergang vom Niveau von ungefähr 600 strategischen Einheiten mit einem hohen Grad der Überlebensfähigkeit auf den Nullpunkt nicht allmählich zu verwirklichen, sondern die letzte Etappe der nuklearen Abrüstung in verhältnismäßig kurzer Zeit als einen einheitlichen Akt durchzuführen. Wir nehmen an, daß bis dahin die notwendigen und ausreichenden industriell-technischen und Verfahrens-bedingungen geschaffen werden.

Die Vernichtung derjenigen strategischen Kernwaffen, die nach einer 95prozentigen Reduzierung noch übrig bleiben werden, unter einer zuverlässigen Kontrolle durchzuführen, werden entsprechende Verfahren ermöglichen, die man bereits in der Etappe der 50prozentigen Reduzierungen und der Vernichtung der Raketen-Kernwaffen mittlerer Reichweite in Europa wird ausarbeiten und in der Praxis erproben müssen. Zugleich muß man im Auge behalten, daß in dieser Etappe eine zusätzliche Erhärtung des Systems der Kontrolle (sowohl mit nationalen technischen Mitteln als auch unter Ausnutzung der Inspektion vor Ort, darunter auch verschiedener Formen der internationalen Inspektion) erforderlich sein wird, damit eine solche Kontrolle wirklich die Vernichtung einer jeden Einheit von Kernwaffen und das Fehlen von Möglichkeiten für eine geheime Wiederaufnahme ihrer Produktion und Stationierung garantiert.

III. Fragen der Reduzierung konventioneller Streitkräfte und Rüstungen

Eines der Hauptargumente der westlichen Gegner einer Reduzierung der Kernwaffen, darunter auch der Herbeiführung eines Abkommens über die Mittelstreckenraketen, ist die Behauptung, daß die Sowjetunion (und die Organisation des Warschauer Vertrages im ganzen) angeblich eine Überlegenheit bei den Streitkräften und der konventionellen Rüstung in Europa besitze In diesem Zusammenhang werden verschiedene Ideen sowohl des „nuklearen Ausgleichs“ der zu vernichtenden Mittelstreckenraketen als auch der Aufstockung der konventionellen Kräfte der NATO vorgebracht.

Immer mehr westliche Fachleute ziehen solche Behauptungen begründet in Zweifel, ihre Schlußfolgerungen stimmen mit den Einschätzungen der UdSSR und ihrer Verbündeten überein, die dahin gehen, daß heutzutage bei allen vorhandenen Asymmetrien ein annäherndes Gleichgewicht der Kampfpotentiale, der Kampfmöglichkeiten der Organisation des Warschauer Vertrages und der NATO besteht (unter Berücksichtigung der Luft-streitkräfte, der Landstreitkräfte, der Seestreitkräfte sowie der Gesamtheit der geographischen, wissenschaftlich-technischen und ökonomischen Faktoren). Zugleich sei darauf verwiesen, daß die Aufgabe der Gewährleistung einer zuverlässigen gegenseitigen Sicherheit sich — wie die Untersuchungen zeigen — bei weitem nicht in der Aufrechterhaltung dieser asymmetrischen Balance erschöpft, weil bei der fortdauernden Entwicklung der Kriegstechnik und der militärischen Konzeptionen sowohl im Bereich der konventionellen Rüstungen als auch auf dem Gebiet der strategischen Kernwaffen selbst die Erhaltung der Parität die Stabilität nicht sichern wird.

Gegenwärtig reift der Übergang zu einer neuen Etappe der konventionellen Streitkräfte und Rüstungen heran. Es werden Waffen entwickelt, die in ihrer Effektivität mit Massenvernichtungswaffen Vergleichbar sind. Darüber hinaus wird die stark gewachsene Reichweite konventioneller Waffen es ermöglichen, außer den Grenzgebieten auch weitere größere Teile von Ländern mit Kampfhandlungen zu erfassen, was in den Kriegen der Vergangen-heit nicht der Fall gewesen ist. Der qualitative Sprung bei der Entwicklung konventioneller Kampfmittel zieht eine Veränderung des Charakters der Vorbereitung und der Führung von Operationen nach sich. Das führt seinerseits zu der Möglichkeit, Kampfhandlungen unter Einsatz konventioneller Mittel in vernichtenderen Formen zu führen, als dies früher der Fall gewesen ist.

Die Anwendung der automatisierten Truppen-und Waffenleitungssysteme, die Schaffung von globalen Aufklärungssystemen sowie Aufklärungs-und Angriffskomplexen, die vollständige Mechanisierung und hohe Truppenbeweglichkeit wie auch die Anwendung militärischer Robotertechnik bedingen die Übertragung einer immer größeren Anzahl der Funktionen, die bisher der Mensch ausgeübt hat, auf den Automaten. Die kurze Dauer der Kampfhandlungen und die rasche Veränderung der taktischen und operativen Lage, die gleichzeitige Einbeziehung großer Territorien einer Reihe von Ländern in die Kampfhandlungen, die vorsätzliche Zerstörung der Verbindungskanäle und die Führung von Kampfhandlungen zu jeder Tageszeit und unter beliebigen Witterungsverhältnissen machen es, wie Armeegeneral Schabanow zu Recht feststellt, für die politische und höchste militärische Führung wegen des Zeitmangels unmöglich, die zu fassenden Beschlüsse zu sanktionieren. In extremen Fällen kann das zu einer unumkehrbaren Eskalation der Kampfhandlungen bis hin zum Einsatz taktischer Kernwaffen führen. Der Übergang von den Kampfhandlungen nur unter Einsatz von konventionellen Waffen zu Kampfhandlungen unter Anwendung von Massenvernichtungswaffen kann überraschend, unvoraussagbar sein. Daraus ergibt sich aber das Bestreben, die eigenen Kernwaffen in erhöhter Kampfbereitschaft zu halten, was seinerseits die Gefahr des Ausbruchs eines Kernwaffenkrieges und seiner Eskalation wesentlich steigert.

Beim massenhaften Einsatz von konventionellen Waffen ist ein vorsätzlicher oder zufälliger Angriff auf nukleare und chemische Mittel des Gegners, darunter auch auf Lager von nuklearer oder chemischer Munition, auf Startvorrichtungen sowie Behältnisse für den Transport von Kerngefechtsköpfen und -geschossen und andere ähnliche Objekte nicht ausgeschlossen. Nach seinen Folgen kann sich das als der Anwendung von entsprechenden Massenvernichtungsmitteln gleichkommend erweisen, das Gleichgewicht bei den taktischen Kernwaffen zerstören und unvoraussagbare Gegenmaßnahmen hervorrufen. Die Schläge unter Einsatz konventioneller Waffen können auch zahlreiche europäische zivile Kernkraftwerke zerstören. Das Ergebnis wäre faktisch mit einem Überfall unter Einsatz von Kernwaffen gleichbedeutend, die Folgen aber würden viel spürbarer als bei der Havarie in Tschernobyl sein.

Das von den Mitgliedsländern des Warschauer Vertrages im Budapester (Juni 1986) und im Berliner (Mai 1987) Aufruf des Politischen Beratenden Ausschusses der Organisation des Warschauer Vertrages (OWV) vorgeschlagene grundsätzlich neue Herangehen an das Problem der Reduzierung der Streitkräfte und konventionellen Rüstungen ist auf eine radikale Wende der Lage auf diesem Gebiet der Balance der Streitkräfte und konventionellen Rüstungen orientiert. Im Unterschied zu der Formel der Wiener Verhandlungen über eine Reduzierung der Streitkräfte und Rüstungen in Mitteleuropa geht es in diesen konzeptionellen Vorschlägen des Politischen Beratenden Ausschusses der OWV nicht nur um eine viel größere quantitative Reduzierung der Streitkräfte und konventionellen Rüstungen schlechthin, sondern um die diese Reduzierung begleitende Festigung der strategischen Stabilität, die qualitative Veränderungen in den einander gegenüberstehenden Gruppierungen erfordert.

Diese Veränderungen — gemeinsam oder parallel verwirklicht — sollten daraufhin orientiert werden, die Möglichkeit eines Überraschungsangriffs und der Durchführung von Angriffsoperationen durch beide Seiten auszuschließen. Ein erster Schritt zu einer neuen, stabileren Gestaltung der Konfrontation der Gruppierungen der OWV und der NATO könnte die kontrollierte Rückführung von nuklearen und anderen Angriffswaffen von den Grenzen und die nachfolgende Schaffung von Zonen verdünnter Rüstungen und von entmilitarisierten Zonen entlang der Grenzen werden.

In diese Richtung gehen auch die Vorschläge der DDR und der CSSR für die Schaffung eines kernwaffenfreien Korridors im Herzen Europas, aus dem entfernt werden müßten: Kernminen, operativ-taktische und taktische Raketen, Kernwaffen-Artillerie, Kernwaffen-Trägerflugzeuge der taktischen Angriffsfliegerkräfte wie auch Fla-Raketenkomplexe, die Kernwaffen einsetzen können.

Reale Perspektiven für die Erhöhung der strategischen Stabilität in den Beziehungen zwischen der OWV und der NATO auf dem Zentralabschnitt ihrer Konfrontation eröffnet der Jaruzelski-Plan. Er sieht unter anderem vor, neben den Kernwaffen (operative und taktische Raketen, Kernwaffenartillerie, Kernwaffen-Trägerflugzeuge, Kernladungen) bestimmte, gemeinsam vereinbarte Arten und Mengen konventioneller Waffen schrittweise abzuziehen und/oder zu reduzieren. Diese Maßnahmen sollten in erster Linie jene Arten von Waffen umfassen, die die größte Zerstörungskraft und Treffgenauigkeit besitzen und für Angriffsoperationen vorgesehen sind, einschließlich eines Überraschungsangriffs. Dazu gehören insbesondere die Angriffsfliegerkräfte, Panzer, Kampfhubschrauber und Fernkampfartillerie (darunter auch die Raketenartillerie). Von Nutzen wäre auch ein Austausch der Listen von Waffen, die jede Seite als die gefährlichsten und im höchsten Grade offensiven betrachtet. Eine wichtige Rolle würden bei solchen Aktionen die Sowjetunion und die Bundesrepublik Deutschland wie auch andere zu der entsprechenden Zone gehörende Staaten spielen.

Im ganzen wird vorgesehen, die Stabilität auf einem herabgesetzten Niveau unter Berücksichtigung der Vorteile bei den einen oder anderen Rüstungsarten, die beide Seiten besitzen, zu erreichen; die UdSSR und ihre Verbündeten sind für die Beseitigung des Vorsprungs, der bei beiden Seiten hinsichtlich irgendwelcher Elemente entstanden ist. Aber nicht durch die Eskalation bei jener Seite, die zurückgeblieben ist, sondern durch Reduzierungen bei jener Seite, die der anderen voraus ist. Dabei muß man nicht nur die vorhandenen, sondern auch künftige Waffensysteme — darunter auch solche, die auf neuen physikalischen Prinzipien beruhen — in Betracht ziehen.

Solche Schritte zur Schaffung von verdünnten Streifen und entmilitarisierten Zonen längs der Grenzen könnten, wie uns scheint, in verhältnismäßig kurzer Frist verwirklicht werden, ohne dabei beide Seiten in eine allgemeine „Diskussion über Zahlen“ einzubeziehen.

Die Übereinkünfte über eine Begrenzung und Reduzierung der Streitkräfte und konventionellen Rüstungen müssen durch verschiedenartige zuverlässige Methoden und Verfahren für ihre Kontrolle, einschließlich der Inspektion vor Ort, abgesichert werden. Viele dieser Methoden sind bereits gut erprobt und werden auf anderen Gebieten erfolgreich angewandt. Zugleich sind auch neue, zusätzliche Mittel und Verfahren notwendig, die sich für die allgemeinen Streitkräfte und konventionellen Waffen eignen. Ein guter Vorlauf für die Gewährleistung der Kontrolle in diesem Bereich wurde durch die Beschlüsse der Stockholmer Konferenz über die vertrauensbildenden Maßnahmen (KVAE) der „zweiten Generation“ geschaffen, die erfolgreich realisiert werden.

All das würde im Endergebnis zusammen mit den politischen, humanitären und ökonomischen Aspekten der Sicherheit darauf hinzielen, daß eine Welt, in der es bedeutend weniger Kernwaffen gibt — von einer kernwaffenfreien Welt gar nicht zu reden — nicht zu einer Analogie dessen würde, was in Europa vor dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg zu beobachten war.

Bei den vertrauensbildenden Maßnahmen muß man weitergehen. Die Sowjetunion schlug insbesondere vor kurzem vor, zwischen der Organisation des Warschauer Vertrages und der NATO Konsultationen über den Abbau militärischer Aktivitäten und die Beschränkung des Umfangs der Aktivitäten der Seestreitkräfte und der Luftstreitkräfte im Bereich der Ostsee, der Nordsee, des norwegischen und des grönländischen Meeres wie auch über die Ausdehnung der vertrauensbildenden Maßnahmen auf diese Bereiche zu beginnen. Zu solchen Maßnahmen könnten auch die Vereinbarungen über die Beschränkung der Rivalität bei den U-Boot-Abwehrwaffen, die Benachrichtigung über große Übungen der See-und Luftstreitkräfte, die Einladung von Beobachtern aus allen Teilnehmerstaaten des gesamteuropäischen Prozesses zu großen Übungen der See-und Luftstreitkräfte gehören.

Eine Reduzierung der konventionellen Streitkräfte und Rüstungen in Europa (selbstverständlich unter Teilnahme der USA und Kanadas) würde zu einer beträchtlichen Einsparung von Mitteln und Menschenreserven, die für Militärzwecke bereitgestellt werden, führen. Um so gerechtfertigter ist die Umstellung der einander gegenüberstehenden Gruppierungen auf ausgesprochen defensive Strukturen, denn die Organisation der Verteidigung ist in der Regel weniger kostenintensiv als der Angriff. Es besteht aller Grund zur Annahme, daß eine solche Entwicklung unter Teilnahme aller in ökonomischer Hinsicht hochentwickelten Staaten der Welt auch das Verhalten vieler Entwicklungsländer günstig beeinflussen würde, die ungeachtet ihrer schweren sozialökonomischen Lage ihre konventionellen Rüstungen oft schneller eskalieren als höher entwickelte Länder.

IV. Die Gewährleistung der defensiven Ausrichtung der Militärdoktrinen

Von großer Bedeutung ist bei der Gewährleistung einer zuverlässigen gegenseitigen Sicherheit und bei der Festigung der strategischen Stabilität, daß Militärdoktrinen, die strategischen und operativen Konzeptionen beider Seiten, einen deutlich ausgeprägten Verteidigungscharakter haben, daß ihre konzeptionelle Entwicklung nur in dieser Richtung erfolgt. Es gilt, den gegenseitigen Argwohn und das gegenseitige Mißtrauen, die sich in vielen Jahren angestaut haben', zu beseitigen. Hierfür scheint eine unvoreingenommene Analyse der Militärdoktrinen und -konzeptionen beider Seiten sowie die Ausarbeitung einer einheitlichen Meinung über deren weitere Entwicklung nützlich zu sein.

Ein wichtiger Schritt der UdSSR und ihrer Verbündeten in dieser Richtung war die Annahme des Dokuments „Über die Militärdoktrin der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrags“ auf der Berliner Tagung des Politischen Beratenden Ausschusses der OWV (29. Mai 1987). Wie der sowjetische Verteidigungsminister Jasow festgestellt hat, besteht die Besonderheit der Militärdoktrin des War-schauer Vertrages darin, daß sie der Lösung der Kardinalaufgabe, vor der die Menschheit steht, untergeordnet ist — nämlich der Aufgabe, weder einen nuklearen noch einen konventionellen Krieg zuzulassen.

Die Strategie und die Militärdoktrin im ganzen befaßten sich mit dieser Frage bisher nicht in einem solchen Umfang und derart eindeutig.

Die Militärdoktrin der sozialistischen Länder hat zum Ziel, eine Verteidigung entsprechend dem Prinzip des vernünftig hinreichenden Maßes der Militärpotentiale der Staaten, das auf dem XXVII. Parteitag der KPdSU aufgestellt wurde, zu gewährleisten. Der Verteidigungscharakter unserer Militärdoktrin findet seinen Ausdruck in folgenden prinzipiellen Leitsätzen: — Die Sowjetunion wird nie, unter keinen Umständen, Kampfhandlungen gegen welchen Staat oder gegen welches Staatenbündnis auch immer beginnen, wenn sie selbst nicht zum Objekt eines bewaffneten Überfalls werden wird. — Die Sowjetunion hat keine Gebietsansprüche an welchen Staat auch immer in Europa und außerhalb Europas, sie braucht keine Erweiterung ihrer Staatsgrenzen. — Um einen Überfall von außen zurückzuweisen, wird die Sowjetunion im gleichen Maße sich selbst und einen jeden sozialistischen Teilnehmerstaat des Vertrages verteidigen. — Die Sowjetunion betrachtet keinen Staat, kein Volk als ihren Feind. Sie ist im Gegenteil bereit, ihre Beziehungen zu ausnahmslos allen Ländern der Welt auf der Grundlage der gegenseitigen Berücksichtigung der Interessen der Sicherheit und der friedlichen Koexistenz aufzubauen. — Die Sowjetunion wird nicht als erste Kernwaffen einsetzen und sie nie gegen jene Staaten richten, die keine solche Waffen auf ihrem Territorium haben. Die UdSSR wird alles in ihren Kräften Stehende unternehmen, um die angehäuften Vorräte an Kernwaffen abzubauen und später auch zu vernichten.

Die Verpflichtung, Kernwaffen nicht zuerst einzusetzen, ist keine verbale Beteuerung, sondern eine unumstößliche Forderung bei unserem militärischen Aufbau. Sie wird realisiert bei der Ausbildung von Kommandeuren, Stäben und Truppen, der Organisation einer strengen Kontrolle, die die Nichtzulassung eines nichtsanktionierten Einsatzes von Kernwaffen gewährleistet, der Erhöhung der Gefechtsbereitschaft der Truppen zur Zurückweisung einer Aggression, ihrer technischen Ausstattung, der Vervollkommnung der Leitung und Verbindung sowie der Erhöhung der politisch-moralischen Verfassung der Militärangehörigen.

Eine ähnliche Verpflichtung, Kernwaffen nicht als erster Staat anzuwenden, übernahm auch die Volksrepublik China. Seitens der USA, Frankreichs und Großbritanniens liegt keine solche Verpflichtung vor. Mehr noch — der Ersteinsatz von Kernwaffen ist in einer Reihe von offiziellen militärpolitischen und operativ-strategischen Dokumenten der USA direkt vorgesehen.

Wir haben keinen Grund, uns voll und ganz auf die Beteuerungen der westlichen Seite zu verlassen, daß der Ersteinsatz von Kernwaffen zum Beispiel in Europa nur für den Fall einer Aggression seitens der OWV vorgesehen ist. In diesem Zusammenhang muß auf die durch und durch negative Rolle der Konzeptionen eines „begrenzten" Kernwaffen-krieges verwiesen werden, die unter der gegenwärtigen US-Administration einen neuen Inhalt erhalten haben. Es sei betont, daß die sowjetische Militärtheorie und die Militärdoktrin die Idee eines „begrenzten“ Kemwaffenkrieges ablehnen.

Sehr wesentlich ist im Rahmen der allgemeinen defensiven Ausrichtung der Militärdoktrinen also die Frage der völligen Übereinstimmung ihrer politischen und ihrer militärischen Komponenten. In diesem Zusammenhang betonen die militärischen Führer des Warschauer Vertrages, daß die Leitsätze der Militärdoktrin der OWV ein obligatorischer Bestandteil der Strategie und des Aufbaus der verbündeten Armeen sind. Die Hauptmethode der Handlungen der sowjetischen Streitkräfte bei der Zurückweisung einer Aggression werden, wie der Stellvertreter des Generalstabschefs der Streitkräfte der UdSSR, Generaloberst Garejew, betont, defensive Operationen und Kampfhandlungen sein.

Dieser sehr wichtige Leitsatz des militärtechnischen Teils der gegenwärtigen Militärdoktrin der UdSSR und der OWV kann, wie mir scheint, in bestimmtem Maße als eine Antwort auf die Frage zu den sowjetischen „operativen Manövergruppen“ dienen, die oft im Westen, darunter auch in der Bundesrepublik, aufgeworfen wird. Zugleich muß festgestellt werden, daß die Länder des Warschauer Vertrages allen Grund haben, die NATO-Konzeption des „tiefgestaffelten Schlages“ negativ aufzufassen, die eine leibliche Schwester der unverhohlen offensiven amerikanischen Konzeption der „Luft-und Landeoperation (des Luft-und Landgefechtes)“ ist. Mit der Annahme der Konzeption des „tiefgestaffelten Schlages“ in der Strategie der NATO, darunter auch der Bundesrepublik, geht es bereits nicht mehr um die Verteidigung der Zwischenstellungen bis hin zum Rhein, sondern um die Führung von Schlägen durch das Kommando der Korps und der Armeegruppen bis tief ins Innere des Territoriums der Länder des Warschauer Vertrages. Einen offensichtlich aggressiven und gefährlichen Charakter (letzten Endes für beide Seiten) hat auch die gegenwärtige militärisch-maritime Strategie der USA, die mit dem Namen von Admiral James Watkins und des ehemaligen Ministers für Seestreitkräfte der USA, John Lehman, verknüpft wird. Derartige strategische und operative Konzeptionen der USA und der NATO sind mit den Erklärungen über den defensiven Charakter der NATO-Doktrin unvereinbar.

Die Verteidigungsstrategie und das militärisch hinreichende Maß setzen eine solche Struktur der Streitkräfte voraus, daß sie nur für die Zurückweisung einer möglichen Aggression, nicht aber für die Führung von Angriffsoperationen ausreichen. Das bezieht sich in erster Linie auf die Konfrontation der Organisation des Warschauer Vertrages und der NATO. Hierbei erscheint es als notwendig, eine solche Lage der Dinge herbeizuführen, bei der es für jede Seite offensichtlich ist, daß die Verteidigungsmöglichkeiten der OWV die Möglichkeiten für die Durchführung von Angriffsoperationen der NATO übertreffen, und dementsprechend die Möglichkeiten der Verteidigung, über die die NATO verfügt, die Angriffsmöglichkeiten der Kräfte der OWV übertreffen.

Bei ihrer Einstellung zur Bundesrepublik Deutschland zieht die Sowjetunion deren Potential und Möglichkeiten, deren Stellung in Europa und in der Welt in Betracht; sie geht davon aus, daß die jahrhundertealte Geschichte der Beziehungen zwischen beiden Ländern, in der es sowohl viel Schweres als auch Positives gegeben hat, sie verpflichten, einander gebührend zu behandeln. Die Qualität der Beziehungen zwischen unseren Ländern wird jetzt und in Zukunft eine adäquate Antwort seitens der sowjetischen Führung finden — dies betonte Michail Gorbatschow beim Treffen mit Richard von Weizsäcker am 7. Juli 1987. Sie braucht aber eine Politik, die keinen Schwankungen, keiner konjunkturbedingten Reaktion auf die vergänglichen Ereignisse unterliegt und nicht irgend jemandes, sondern eigene Interessen widerspiegelt. Es besteht eine Möglichkeit dafür, den Beziehungen zwischen beiden Ländern einen neuen Sinn zu verleihen. Die UdSSR ist dazu bereit. In diesem Sinne gilt es aber, sich von Komplexen, von politischen Mythen, von antisowjetischen Feindbildern zu befreien.

Die Qualität der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR würde eine wirklich historische Bedeutung haben. Beide Staaten können in der Weltentwicklung eine große Rolle spielen und dabei in ihren Systemen und in ihren Bündnissen verbleiben. Die Stabilität der Beziehungen zwischen ihnen bedeutet die Stabilität in Europa; dies entspricht ihren eigenen Interessen und den Interessen der europäischen Staaten und der Welt-gemeinschaft. Die UdSSR und die Bundesrepublik Deutschland können ungeachtet der politischen und ideologischen Unterschiede gute Partner sein. Hierfür bedarf es eines neuen, umfassenden Herangehens im Geiste der Zeit; es bedarf konkreter Taten, Kontakte und Beziehungen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ausführlicheres in: Weltraumwaffen: Ein Dilemma der Sicherheit. Redaktion J. P. Welichow /R. S. Sagdejew /A. A. Kokoschin /M. Mir. 1986. S. 128-157.

  2. Die Einschätzungen der Balance der Streitkräfte unterscheiden sich gegenwärtig recht wesentlich voneinander. Das scheint in beträchtlichem Maße eine Folge der wichtigen Unterschiede der angewandten Berechnungsmethoden zu sein. Daher besteht eine der Aufgaben, die zu lösen sind, um auf diesem Gebiet weiter voranzukommen, darin, entweder eine gemeinsame Methodologie der Einschätzungen der Balance auszuarbeiten oder die Unterschiede zwischen diesen Methodologien genauer zu erkennen und entsprechende Korrekturen vorzunehmen.

Weitere Inhalte

Andrej Kokoschin, geb. 1945; Professor, Experte für militärpolitische Probleme; Stellvertreter des Direktors des Instituts für die USA und Kanada der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Zahlreiche Veröffentlichungen zu internationalen und militärpolitischen Themen.