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Ehe und Familie in der modernen Gesellschaft | APuZ 13/1988 | bpb.de

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APuZ 13/1988 Artikel 1 Ehe und Familie in der modernen Gesellschaft Individualisierung und Pluralisierung familialer Lebensformen Unterschätzte Funktionen der Familie Sozialpolitik und Familie

Ehe und Familie in der modernen Gesellschaft

Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Ehe und Familie — und allgemeiner: Formen menschlichen Zusammenlebens — erfahren in jüngster Zeit einen Wandel, der sich anscheinend gegenüber dem säkularen Wandel in diesem Bereich, den wir seit langem beobachten, noch einmal beschleunigt hat. Im internationalen Vergleich zeigt sich, daß dieser Sachverhalt für alle entwickelten Gesellschaften gilt, und zwar offenbar unabhängig vom ideologischen Lager und politischen Regime. Dies läßt sich an einer Reihe von soziodemographischen Indikatoren ablesen. Von der Annahme ausgehend, daß die Formen menschlichen Zusammenlebens mit gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen in engstem Zusammenhang stehen, wird auf die Bedingungen der Moderne eingegangen. mit deren Hilfe der Wandel im Zusammenleben erklärt werden kann. Im Rahmen einer allgemeinen makrosoziologischen Theorie — dem Struktur /Kultur-Paradigma — werden diese Bedingungen als Produkt spezifischer Interaktionen zwischen strukturellen und kulturellen Dimensionen von Gesellschaften verstanden und theoretisch abgeleitet. Dieser Prozeß kulminiert in einer Entwicklung, die als zunehmende Individualisierung der Gesellschaft umrissen werden kann.

I. Einleitung

Tabelle 1: Index der Gesamtheiratshäufigkeit

Ehe und Familie gehören ohne Zweifel zu den ältesten Institutionen der Menschheit. In der jüdisch-christlichen Tradition hat sich im Abendland das Ideal einer monogamen Beziehung entwickelt, die im späten Mittelalter sogar zum Sakrament wurde Auf diesem Boden erwuchs im Verlaufe der letzten 200 Jahre die sogenannte „bürgerliche Familie“, die als schließlich weitgehend vom Staat kontrollierte Institution zu einer Art Idealtyp wurde

Tabelle 5: Index der Gesamtscheidungshäufigkeit (pro 1 000 Ehen), 1965— 1984

In jüngster Zeit erfahren nun Ehe und Familie — und allgemeiner: Formen des menschlichen Zusammenlebens im Primärbereich — einen Wandel, der sich anscheinend gegenüber den säkularen Veränderungen in diesem Bereich noch einmal beschleunigt hat. Dieser Wandel — wie auch seine Beschleunigung — gilt für alle entwickelten Gesellschaften, und zwar offenbar unabhängig von deren ideologischer Ausrichtung oder politischem Regime.

II. Sozio-Demographische Trends

Tabelle 2: Anteil nicht verheirateter Männer

Der Anteil der „vollständigen“ Familien an allen Haushalten hat in den letzten 20 Jahren ständig abgenommen In vielen europäischen Ländern ist dieser Anteil inzwischen unter 40 Prozent gesun-ken, in Schweden macht er sogar schon weniger als 30 Prozent aller Haushalte aus und in einer Stadt wie etwa Zürich nur noch 20 Prozent. Es erscheint sehr wahrscheinlich, daß dieser Trend sich fortsetzt. Der klassische Familienhaushalt hat damit definitiv einen „Minderheitsstatus“ erlangt. Betrachtet man als nächstes den Index der Gesamtheiratshäufigkeit, der Auskunft darüber gibt, wie groß der Anteil derjenigen ist, die bei Konstanz der gegenwärtigen Verhältnisse eine erste Ehe eingehen, so zeigt sich, daß in der Bundesrepublik nur rd. 58 Prozent aller Männer bis zum Alter von unter 50 Jahren heiraten. Aus Tabelle 2 ersieht man, daß der eben verwendete Index überzeichnen mag; man erkennt aber auch, daß (mit Ausnahme der 30— 39jährigen in Frankreich) in jeder Altersgruppe der Anteil der Nicht-Verheirateten zunimmt. Über nicht-eheliche Partnerschaften liegen nur aus den skandinavischen Ländern wirklich zuverlässige Daten vor. Wie Tabelle 3 zeigt, hat innerhalb eines kurzen Zeitraumes der Anteil derjenigen, die mit einem Partner Zusammenleben und verheiratet sind, stark abgenommen. Alle verfügbaren Informationen weisen darauf hin, daß ähnliches — wenn auch quantitativ noch weniger bedeutsam — auch für viele andere Länder, unter ihnen die Bundesrepublik, zutrifft Diese Sachverhalte müssen geradezu als dramatisch bezeichnet werden. konnte man doch noch von den beiden Nachkriegsdekaden als einem „goldenen Zeitalter“ der Familie sprechen Um die 90 Prozent jeder Alterskohorte heirateten, und mehr als 90 Prozent davon gründeten eine Familie. All dies hat sich grundlegend geändert.

Tabelle 6: Verheiratete Frauen (Eheschließungsjahrgänge 1963— 1982) mit Kindern unter 18 Jahren Quelle: W. Braun. Ehescheidungen 1983. in: Wirtschaft und Statistik, (1984) 12. S. 992.

Die Daten vermitteln den Eindruck, daß Ehe und Familie als Institution immer schwächer und als soziale Gruppe zunehmend fragiler werden. Die Ehe verliert als Lebensform an Bedeutung; die Gründung von Familien nimmt ab, und die Anzahl neu gegründeter Familien verringert sich. Die Zahl der Kinder, die ja unter den heutigen Bedingungen im wesentlichen die Größe eines Familienhaushaltes bestimmt, beträgt in der Bundesrepublik inzwischen 1, 3 pro Frau, in der DDR trotz aller pronatalistischen Maßnahmen nur 1, 7. und ist selbst in Italien auf 1, 4 gefallen. Ehen und Familien lösen sich früher und zunehmend häufiger auf (in der Bundesrepublik dürfte bei einem Andauern des gegebenen Trends jede dritte Ehe geschieden werden), auch wenn Familien weniger früh und weniger schnell au und ist selbst in Italien auf 1, 4 gefallen. Ehen und Familien lösen sich früher und zunehmend häufiger auf (in der Bundesrepublik dürfte bei einem Andauern des gegebenen Trends jede dritte Ehe geschieden werden), auch wenn Familien weniger früh und weniger schnell aufgelöst werden als kinderlose Ehen (Tabellen 6 und 7). Wiederverheiratungen werden seltener und sind anscheinend noch mehr durch Scheidung gefährdet als Erst-Ehen 6). Kohabitationen sind, wie wir gesehen haben, zwar in Zunahme begriffen und ersetzen vielfach Ehen, jedoch noch nicht Familien. Sie zeichnen sich zudem durch ein noch höheres Maß an Instabilität aus als Ehen 7). Letzteres gilt auch für Wohngemeinschaften. Und als Single zu leben, scheint schließlich mehr als eine Mode zu sein. Kurz: Das Quasi-Monopol, das Ehe und Familie als Lebensformen jüngst noch besaßen, ist zerbrochen und durch eine Vielzahl individualisierter Lebensstile ersetzt worden, die sich in ebenso vielen Haushaltsformen niederschlagen und starken Fluktuationen unterliegen.

III. Familie und Gesellschaft: Eine makrosoziologische Perspektive

Tabelle 3: Frauen, 20— 34 Jahre alt, nach Art der Partnerschaft, 1975 und 1980/81

Wie könnte eine soziologische Erklärung dieser Sachverhalte aussehen? Jede Gesellschaft — sei sie so klein wie eine Zweierbeziehung oder eine Familie oder so groß wie die Weltgesellschaft — beruht auf zwei fundamentalen Prinzipien:

Tabelle 7: Im Jahre 1983 geschiedene Ehen (Eheschließungsjahrgänge 1963— 1982) nach Kindern unter 18 Jahren Quelle: W. Braun, 1984, S. 992

1. darauf, daß es ihren Elementen gelingt, sich eine Struktur zu geben (ein meist hierarchisiertes System von Positionen, die von Individuen, aber auch Gruppen, Schichten, Organisationen, Ländern etc. eingenommen werden und zwischen denen wechselseitige Abhängigkeiten und Verbindlichkeiten bestehen), und 2. darauf, daß diejenigen, die sie ausmachen, über eine gemeinsame Kultur (Werte, Normen. Institutionen, Vorstellungen, Einstellungen etc.) verfügen. Für Ehe und Familie treffen diese Grundvoraussetzungen halbwegs stabiler sozialer Systeme immer weniger zu. Das hat seine Gründe in Veränderungen gesamtgesellschaftlicher Natur. Bei dem Vorhaben. diese Veränderungen und damit die Bedingungen der Moderne soziologisch zu umreißen, lasse ich mich in erster Linie von einem Ansatz leiten, den ich als Struktur-Kultur-Paradigma bezeichne. Dieses Paradigma geht — sehr verkürzt -davon aus. daß Struktur und Kultur als zentrale gesellschaftliche Dimensionen angesehen werden können. Es wird eine wechselseitige Abhängigkeit dieser Dimensionen voneinander angenommen, aber auch postuliert, daß beide Dimensionen Eigendynamik entwickeln können.

Tabelle 8: Index der Gesamtheiratshäufigkeit von Geschiedenen (IGG) und durchschnittliche Zeitdauer seit der Scheidung (ZS) in der Schweiz, 1961-1984 Quelle: Bundesamt für Statistik. Die Wiederverheiratung der Geschiedenen. Statistische Hefte. Bem 1985. S. 9.

In den Mittelpunkt der Betrachtung stellt das Paradigma die Spannungen, die sich aus verschiedenen Arrangements von Struktur und Kultur innerhalb von und zwischen gesellschaftlichen Systemen ergeben. Diese Spannungen werden als Determinanten strukturellen und kulturellen Wandels angesehen, das heißt, sie machen die Dynamik von Gesellschaften aus. Das Problem der Spannung zwischen verschiedenen Systemen sei an einem Beispiel aus unserem Themenbereich erläutert: Die Struktur der Wirtschaft stellt bekanntlich prinzipiell auf Beschäftigte ab, die insofern „kinderlos“ sind, als Kinder und die Fürsorge dafür einem anderen gesellschaftlichen Subsystem — der Familie — überlassen bleiben. Folgt eine Frau also nicht dem traditionellen Rollenmodell und ist neben dem Manne erwerbstätig, so entsprechen die betreffenden Strukturen einander nicht mehr, und es steht zu vermuten, daß die Familie als schwächeres System eine Strukturänderung vornimmt, also zum Beispiel dieser Spannung durch eine Reduktion von Kinder-wunsch und -zahl ausweicht bzw.der Familienbildungsprozeß erst gar nicht in Gang kommt. Unter gewissen Randbedingungen — zum Beispiel Knappheit des Arbeitskräfteangebots infolge starken Geburtenrückgangs und daraus resultierend die Notwendigkeit, vermehrt Frauen rekrutieren zu müssen — kann die Spannung in das ökonomische System transferiert werden, welches dann seine Struktur ändern muß.

Abbildung 1

Wenn man den Weg, der zu dem führt, was man die Bedingungen der Moderne nennt, soziologiehistorisch betrachtet, so sind hier mindestens drei Namen zu nennen: Ferdinand Tönnies, Emile Durkheim und Max Weber, die auf je verschiedene und doch tendenziell übereinstimmende Art diesen Weg beschrieben haben; der vorliegende Aufsatz will die gegenwärtige Situation benennen und deuten. Im folgenden soll nun die heutige Gesellschaft charakterisiert werden, indem der Wandel ihrer strukturellen und kulturellen Charakteristika und deren Interdependenz beschrieben wird. Nur um der Vereinfachung willen werden zur Bezeichnung eines Entwicklungskontinuums mit vielerlei Brüchen. Rückwendungen und Ungleichgewichten die plakativen Konzepte „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ verwendet, ohne dabei die mit Tönnies verbundenen Konnotationen im einzelnen zu übernehmen Bei dieser Beschreibung kommt es darauf an, aufzuzeigen, daß zwischen bestimmten strukturellen Charakteristiken der Gesellschaft auf der einen und kulturellen auf der anderen Seite ein gleichsam notwendiger Zusammenhang besteht.

Hinsichtlich der Subkategorie „Wandel“ ist sicher eine Binsenwahrheit, daß im Verlaufe der jüngeren Zeit „Gemeinschaft“ — verstanden als gesellschaftliches System mit relativ stabiler und selbstverständlicher Struktur und Kultur, die sich nur langsam wandeln — durch ein System — „Gesellschaft“ — abgelöst wurde, dessen Entwicklung durch eine partielle Auflösung struktureller Fixierungen und kultureller Bindungen gekennzeichnet ist. Dies erfolgte bei einem schnellen und vor allen Dingen ungleichgewichtigem und asynchronen Wandel von Struktur und Kultur.

„Gesellschaft“ ist — im Gegensatz zu „Gemeinschaft“ — durch eine sehr differenzierte Struktur gekennzeichnet, deren hervorstechendstes Merkmal bürokratisierte Institutionen sind. Ihr kulturelles Pendant ist ein Universalismus im Wertbereich, der in spezifischen Normsystemen zum Ausdruck kommt, die auf die Erreichung spezieller Zwecke ausgerichtet sind und den einzelnen eher kategorial als personal erfassen.

„Gesellschaft“ ist durch eine sehr komplexe Struktur ausgezeichnet, der kulturell ein weltanschaulicher Pluralismus entspricht, weil sich strukturelle Komplexität der Unterordnung unter ein Sinnprinzip entzieht, und zwar zwangsläufig. Das impliziert Optionen auf Weltanschauungen und Lebensformen, ein Prinzip, das dem Sozialtypus „Gemeinschaft“ fremd ist. Damit einher geht — wiederum zwangsläufig — der Verlust bindender Orientierungen. Im Gegensatz zum Sozialtypus „Gemeinschaft“ ist „Gesellschaft“ durch relativ offene Strukturen gekennzeichnet, was die Chance der Mobilität impliziert. Soziale Positionen und Lebenschancen sind nicht zugeschrieben, sondern prinzipiell erwerbbar. Das heißt aber auf der kulturellen Seite, daß Leistungs-und Konkurrenzideologie dominierend werden.

„Gesellschaft“ impliziert multiple und damit partielle Mitgliedschaften in verschiedenen Strukturen. Das bedeutet gleichzeitig auch lediglich partielle soziale Integration und Kontrolle sowie partielle Einbindung in die jeweiligen entsprechenden Kulturbereiche. Dies ist eine wichtige Voraussetzung individualistischer Selbstdeutungen, die für das System „Gesellschaft“ kennzeichnend, dem System „Gemeinschaft“ hingegen fremd sind. Die nur partielle Inanspruchnahme durch Institutionen gesellschaftlichen Typs bedeutet Freiheit und Kompartementalisierung (Aufsplitterung) der Existenz zugleich. Die Chance der Selbstdeutung auf individueller Ebene geht einher mit einer Entindividualisierung im gesellschaftlichen Bereich, die unter anderem in der leichten Ersetzbarkeit von Trägem spezialisierter Rollen zum Ausdruck kommt.

„Gesellschaft“ ist schließlich strukturell durch eine breite Mittelschicht und die Existenz des Wohlfahrtsstaates geprägt, die das Phänomen extremer sozialer Ungleichheit im wesentlichen auf das Verhältnis der oberen und unteren Randgruppen des Systems der sozialen Schichtung reduzieren. Das in den hochentwickelten Gesellschaften erreichte Wohlstands-und Wohlfahrtsniveau bedeutet für den weitaus überwiegenden Teil der Bevölkerung die Abwesenheit existentieller materieller Not und den Zugang zu vielerlei Gütern und Dienstleistungen. Diesen strukturellen Bedingungen entsprechen auf der kulturellen Seite die Idee der Demokratie und eine Ideologie der Gleichheit und Partizipation.

Man könnte diesen Versuch, die Bedingungen der Moderne durch das Aufzeigen einer Reihe von interdependent miteinander verbundenen Struktur-und Kulturmerkmalen zu verdeutlichen und theoretisch zu verklammern, ohne Zweifel fortsetzen. Die eher impressionistische Skizze dürfte aber für den postulierten Zweck ausreichen. Im weiteren wird es nun darum gehen, einige der damit verbundenen Implikationen und Probleme schärfer herauszuarbeiten und uns einer Erklärung der uns interessierenden skizzierten Phänomene zu nähern.

Aus der Feststellung eines schnellen strukturellen und kulturellen Wandels in modernen Gesellschaften und einer Asynchronie dieses Wandels folgt mindestens dreierlei: Erstens sind die für menschliches Zusammenleben unabdingbaren, aber nur noch ad hoc zu entwickelnden Normen von geringer Stabilität. Die gesellschaftliche Situation muß als anomisch bezeichnet werden. Zweitens befinden wir uns deshalb auf einer permanenten Suche nach handlungsleitenden und -stabilisierenden Orientierungen. Aus beidem ergibt sich eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für individuell verschiedene Resultate der Suche, was selbstverständlich nicht ausschließt, daß diese sich zu statistischen Regelmäßigkeiten zusammenfügen. Drittens stehen die auf einer instabilen Kultur aufbauenden und deshalb nicht mehr hinreichend legitimierten Strukturen permanent zur Diskussion.

Von Normen und Strukturen, die als schnell wandelbar, unverbindlich und zur Disposition stehend wahrgenommen werden, fällt eine Loslösung leicht. Selbst wenn dies (noch) nicht in allen Teilbereichen der Gesellschaft gilt, so darf man annehmen, daß solche Erfahrungen — mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung vielleicht — auch die (noch) stabileren Bereiche tangieren werden. Wie die rapide gestiegenen Scheidungszahlen und die Zunahme der Zahl der Alleinlebenden (Singles) zeigen, sind Ehe und Familie von dieser Entwicklung nicht mehr ausgeschlossen: Ehen und Familien werden als Strukturen instabil.

Die moderne Gesellschaft wird als eine hochgradig differenzierte und bürokratisch organisierte Struktur gekennzeichnet. Die entsprechend spezialisierten Organisationen übernehmen eine Vielfalt von Funktionen, die früher in gemeinschaftlich strukturierten sozialen Systemen, insbesondere der Fami-B lie und Verwandschaft, erfüllt wurden Dazu gehören in erster Linie die „ökonomische Funktion“, die „Sozialisationsfunktion“ und die „Status-und Plazierungsfunktion“. Mit deren Fortfall oder Schwächung entfallen aber familiale Interaktionsfelder, das heißt die familialen Bindungen nehmen zugunsten von „peer-group“ -Bindungen (sozial und altersmäßig homogene Gruppen) ab. Es ginge zu weit, festzustellen, die Familie habe jegliche Bedeutung für den Prozeß der Primärsozialisation und der Statuszuweisung und -Vererbung verloren. Sie ist jedoch in dieser Hinsicht weniger wichtig als früher, womit sich sowohl das Verhältnis der Kinder zu den Eltern als auch die Bedeutung der Kinder (als Nachfolger und Sachwalter familialen Erbes) für die Eltern entscheidend ändert. Verfügbar sind und angeboten werden weitere Funktionen, die deshalb inzwischen von der Familie mehr oder weniger abgehoben sind. So sind sexuelle Beziehungen kein „Privileg“ einer ehelichen Verbindung. Die „Schutz-und Pflegefunktion“ wird von gesellschaftlichen Institutionen (Polizei, Krankenhäuser, Pflegeheime, Wohlfahrtsorganisation etc.) wahrgenommen und zur Verfügung gestellt.

Daraus folgt, daß wir in gesellschaftlichen Strukturen erheblich weniger als in gemeinschaftlichen auf einzelne andere (Kinder) und Gemeinschaften (wie die Familie) angewiesen sind, um bestimmte Existenzvoraussetzungen vorzufinden. Daß damit die Chancen für eine isolierte und anonymisierte Lebensform erhöht werden, ist selbstverständlich Wenn Ehe und Familie in funktionaler Hinsicht an Bedeutung verloren haben, dann heißt dies gleichzeitig. daß die strukturellen Zwänge zur Eheschließung und Familienbildung nachgelassen haben, ein Sachverhalt, der ohne Zweifel auch zur Erklärung der erwähnten Trends zur Entinstitutionalisierung und Vereinzelung herangezogen werden muß.

Der Komplexheit der Struktur der modernen Gesellschaft entspricht im Kulturbereich ein weltanschaulicher Pluralismus. Das impliziert Optionen auf Weltanschauungen und Lebensformen, die zwangsläufig immer vielfältiger und individueller werden. Im Extrem kann jeder einzelne seine private Philosophie entwickeln. Gemeinschaft setzt nun aber geteilte, das heißt überindividuelle Sinn-und Wirklichkeitsdeutung voraus etwas, was dem Sozialtyp „Gesellschaft“ gerade nicht eignet. Dagegen ist allerdings festzuhalten, daß es keinen sozialen Zusammenhang ohne ein Mindestmaß an Übereinstimmung, Ineinssetzung und Ähnlichkeit zwischen denjenigen geben kann, die ihn bilden. Hat der Wertepluralismus, der eine Folge des beschleunigten strukturellen Wandels und des davon bestimmten kulturellen Wandels ist, erst die Grenze zum absoluten Individualismus erreicht, so wird auch „Gesellschaft“ in Frage gestellt und letztlich unmöglich. Bringt man die erwähnte Abnahme struktureller Zwänge in Zusammenhang mit der generellen Tendenz zur Individualisierung, so muß man die Frage stellen, was denn noch als Grundlage von Partnerwahl und Eheschließung dient.

Wie Schumacher und Vollmer ein weiteres Mal nachweisen, hat in bezug auf die Partnerwahl in der Tat eine Emotionalisierung und Individualisierung stattgefunden. An die Stelle struktureller (und nicht zuletzt ökonomischer) Präferenzen, die als vergleichsweise leicht kalkulierbar gelten können, sind zunehmend emotionale Kriterien getreten, die nach Meinung der Autoren „als besonders risikoträchtig angesehen werden müssen“. Daraus folge eine Strategie, „deren Ziel es ist, angesichts der Probleme, vor denen Partnerschaften heute mehr denn je stehen, die mit . Bindung'verbundenen Risiken zu minimieren“ Ein solches Verhalten ist dabei nichts anderes als die Konsequenz der aufgezeigten makrosoziologischen Veränderungen auf der Individualebene. Konkret ist die eben benannte Strategie darauf gerichtet, die Umwandlung einer Partnerschaft in eine Ehe aufzuschieben oder gar zu vermeiden und nach geschlossener Ehe deren Erweiterung zu einer Familie zu verzögern bzw. zu unterlassen oder allenfalls nur wenige Kinder zu haben. Dies sind theoretische Ableitungen, die empirisch fundiert sind. „Die Sehnsucht des Menschen nach verläßlichen Beziehungen“ war historisch nie eine notwendige Bedingung für eine andauernde Partnerschaft. Es erscheint klar, daß sie auf keinen Fall eine hinreichende sein kann.

„Gesellschaft“ ist durch offene Strukturen und im Vergleich zu „Gemeinschaft“ durch relativ große Möglichkeiten der Mobilität gekennzeichnet. Diese Mobilität ist sowohl geographisch als auch sozial, und häufig ist geographische Mobilität Voraussetzung der sozialen. Mobilität vollzieht leichter, wer unabhängig von sozialen Bindungen verpflichtender Art (bindungslos) ist oder diese leicht aufgeben kann. Die Folgen der durch geographische und so-ziale Mobilität noch geförderten Vereinzelung und des zunehmenden Reproduktionsverzichts reichen von einer Vereinsamung, besonders im Alter, über die Bildung von alters-und schichtspezifischen Subkulturen (mit der Konsequenz des Verlustes an sozialer Erfahrung) bis zu siedlungssoziologischen, makroökonomischen und sogar geopolitischen Effekten Isolierung, Anonymität und soziale Entwurzelung gehen oft einher mit einer fundamentalen Verunsicherung und insbesondere einem Gefühl des Identitätsverlustes. Ebenso wie Mobilität als struktureller Faktor der Stabilität von Lebensformen abträglich ist, ist dies auch ihr kulturelles Pendant, die Leistungs-und Konkurrenzideologie, wenn sie die Lebenswelt von Primärgruppen „kolonisiert“. Das eine wie das andere beeinträchtigt die Gründung wie die Aufrechterhaltung dauerhafter Beziehungen. Ebenso dürfte der Wunsch nach Kindern von den geschilderten Lebensbedingungen unterdrückt werden.

Zu dem bezüglich multipler und partieller Mitgliedschaften Ausgeführten bleibt wenig hinzuzufügen. Die auch davon bestimmte erhöhte Möglichkeit individualistischer Selbstdeutung fördert ohne Zweifel die Destabilisierung sozialer Zusammenhänge. Wenn in vielen Bereichen partielle Mitgliedschaften dominieren, dann mag zudem die Tendenz bestehen, sich Gemeinschaften mit ihrem totaleren und umfassenderen Anspruch zu entziehen oder deren Charakter und Anspruch zu verkennen. Die Konsequenz dürfte ein Rückzug daraus und die Meidung neuer verpflichtender gemeinschaftlicher Bindungen sein. Von den neuen Bindungsformen weiß man, daß sie im Vergleich zur Gemeinschaft als weniger verpflichtend empfunden werden und auch weniger dauerhaft als diese sind. Die Tatsache, daß das, was früher — vielleicht aus ideologisch begründetem Protest gegen „bürgerliche“ Lebensformen — als „Lebensgemeinschaft“ bezeichnet wurde, heute meist den Namen „Wohngemeinschaft“ führt, mag als ein weiteres Indiz für das Dargelegte sprechen.

Die moderne Gesellschaft hält eine Vielfalt von Gütern und Dienstleistungen bereit, die marktmäßig — oder vom Wohlfahrtsstaat angeboten — zur Verfügung stehen und deshalb individuell erwerbbar sind. In dem Maße, in dem das Angebot zunimmt. erhöhen sich die Chancen, unabhängig von enger Bindung an andere Personen leben zu können. Damit haben wir einen weiteren bedeutenden Faktor genannt, der unseres Ermessens die Daten über das Beziehungsverhalten erklären hilft: Unsere Gesellschaft hat Strukturen entwickelt, die „Gemeinschaften“ als für die persönliche Lebensführung und -gestaltung entbehrlich erscheinen lassen. Daraus muß nicht folgen, daß deshalb auch auf Bindungen emotionaler Natur verzichtet werden müßte. Sie können und werden wohl auch nach dem beschriebenen Muster partieller (und gelegentlich wohl auch multipler) Bindungen gestaltet. Diese Sachverhalte bedeuten ohne Zweifel einen Zuwachs an persönlicher Freiheit und Autonomie. Aus überindividueller Sicht ist allerdings die Frage zu stellen, ob bei einer Zunahme der Kategorie der Singles und der neuen Beziehungsmuster zum Beispiel die biosoziale Reproduktion der Gesellschaft gewährleistet werden kann. Damit wird selbstverständlich auf einen Wert rekurriert, nämlich die Selbsterhaltung der Gesellschaft, von dem man bisher glaubte annehmen zu dürfen, daß darüber Konsensus besteht. Auch die erwähnte Gleichheitsideologie mag den beschriebenen Tendenzen förderlich sein. „Gemeinschaft“ ist — zumindest historisch gesehen — durch etablierte und durch die Selbstverständlichkeit der Tradition legitimierte Strukturen charakterisiert. Ihre Kultur und Struktur waren nicht gerade durch Gleichheit ausgezeichnet, im Idealfall allerdings durch das Prinzip der „Reciprocität"

Nun wird — wie wir wissen — die Mehrheit der heutigen Familien, sind sie erst einmal gegründet, insofern (noch) „traditional", als wir bald die bekannte ungleiche Arbeits-und Rollenteilung vorfinden. Viele der heutigen Familien sind deshalb im eben erwähnten Sinne „Gemeinschaften“, aber -und dies ist von größter Bedeutung — sie sind nicht mehr Teil eines größeren Sozialsystems vom Typus „Gemeinschaft“, sondern Subsystem von „Gesell-schäft“, die zumindest dem Prinzip nach durch „Gleichheit“ gekennzeichnet ist. Die Tatsache, daß die Kultur der Gesamtgesellschaft und des Subsystems Familie nicht mehr übereinstimmen, führt notwendigerweise zu Widersprüchen und damit verbundenen Problemen. Solange Frauen (und natürlich entsprechend auch Männer) bereit sind, die geschlechtsspezifisch zugeschriebenen Rollen zu akzeptieren — ist die strukturelle Reproduktion der Familie gesichert (obgleich nicht notwendigerweise auch die Reproduktion der Bevölkerung). Die traditionalen gesellschaftlichen und familialen Rollen sind aber unzweifelhaft mit einer Diskriminierung von Frauen verbunden. Dies führt Heintz und Obrecht zu dem Schluß, diese Diskriminierung (sprich ungleiche Chancen) sei der zentrale Faktor im Hinblick auf die strukturelle Reproduktion der Familie. Das heißt: Die Verbesserung des gesellschaftlichen Status von Frauen ist eine weitere wichtige Determinante der Auflösung der traditionellen Familie und des Aufkommens anderer Lebensformen. „Gleichheit“ als Teil der Kultur von Gesamt-„Gesellschaft“ erscheint unvereinbar mit der Struktur traditionaler Primär-„Gemeinschaft“, Mit anderen Worten: Die gesamtgesellschaftliche Kultur der Gleichheit und Partnerschaft hat im Primärbereich menschlicher Beziehungen noch keine ihr angemessene Struktur gefunden.

Es wäre deshalb keinesfalls richtig, aus der Tatsache, daß (immer noch) der überwiegende Teil aller erwachsenen Personen eine Ehe eingeht, zu folgern, die traditionelle Ehe sei auch als kulturelles Beziehungsmuster selbstverständlich. Es zeigt sich vielmehr, „daß eine Anerkennung und Rechtfertigung der traditionellen Familie erst durch die faktische Übernahme der familiären Rollen erzeugt wird. Die kulturelle Reproduktion der traditionellen Familie ist nicht eine Voraussetzung, sondern eine Folgeerscheinung ihrer strukturellen Reproduktion“ Diese ist ihrerseits „eine (resignative) Antwort auf wenig befriedigende Arbeitsbedingungen und Mobilitätsbehinderungen“, denen viele Frauen ausgesetzt sind. Solche ohne Zweifel — wenn auch soziologisch legitim — auf das Strukturelle reduzierten Befunde legen es jedenfalls nahe, anzunehmen, daß der Trend zur „Entehelichung" der Gesellschaft und die damit verbundenen Konsequenzen in dem Maße fortschreiten, in dem sich die im vorhergehenden genannten strukturellen und kulturellen Elemente unserer Gesellschaft weiterentwickeln. Wie schnell dies geschieht, ist — insbesondere angesichts der gegebenen ökonomischen Bedingungen und der Probleme, die sich daraus für Frauen ergeben — nur schwierig vorauszusagen. Daß wir auf diesem Weg aber fortschreiten werden, erscheint wahrscheinlich.

IV. Die Zukunft der Familie

Tabelle 4: Index der Gesamtfruchtbarkeit (durchschnittliche Zahl von Lebendgeburten pro Frau bei jeweils gegebener altersspezifischer Fruchtbarkeitsrate), 1960— 1985

Was könnte die Zukunft der Familie sein, wenn sie überhaupt eine hat? Es gibt wenig Grund anzunehmen, die Familie — wie wir sie kennen, und das ist weitestgehend die traditionelle bürgerliche Familie -könne und werde als „mainstream“ -Modell für zukünftige Lebensmuster überleben. Die traditionelle Familie, die sich in unseren Gesellschaften zu einem universellen und quasi-natürlichen Phänomen entwickelt hat, befindet sich nicht einfach in einem Prozeß weiteren Wandels, sondern ist dabei, sich aufzulösen. In dieser Hinsicht ist es weniger bedeutsam, daß Ehe und Familie weiterhin als rechtliche Institutionen existieren. Wichtiger ist. daß Ehe und Familie sich als soziale Institutionen auflösen, das heißt als internalisierte, sozial geteilte und kontrollierte Muster von Rollen und Normen für eine bestimmte Art des Zusammenlebens. Selbstverständlich lassen sich bei diesem Prozeß nationale, regionale und sozialstrukturelle Unterschiede ausmachen: zwischen weniger und höher entwickelten Regionen und Ländern; zwischen katholischen und protestantischen Bevölkerungen; zwischen Stadt und Land; zwischen unterschiedlichen Lebenslagen und zwischen verschiedenen Sozialmilieus usw. Es erscheint aber evident, daß die Existenz der traditionellen Familie begünstigende sozio-kulturelle Umfelder im Schwinden begriffen sind. Und es ist ebenfalls klar, daß dort, wo dies der Fall ist, alle Versuche, den einen oder anderen traditionellen Familientyp zu neuem Leben zu erwekken, zum Scheitern verurteilt sind.

Kann soziologische Phantasie sich nun soziale Gruppen vorstellen, die dem skizzierten Trend der gesellschaftlichen Entwicklung entsprechen und auf die der Begriff „Familie“ noch angewendet werden kann? Konkret: Kann man sich eine Familie vorstellen (zunächst noch eng definiert als dauerhafte und in einem Haushalt zusammenlebende Gruppe, bestehend aus mindestens einem Kind und seinen Eltern), die nicht eine „Gemeinschaft“, sondern eine „Gesellschaft“ ist? Historisch gesehen, verdanken „Gemeinschaften“ wie die Familie ihre soziale Stabilität im wesentlichen der interindividuellen, also der wechselseitigen Abhängigkeit ihrer Mitglieder. Diese Abhängigkeit voneinander war die Voraussetzung ihrer sozialen Existenz und oft ihres physischen Überlebens. In „Gesellschaften“ vermindert sich die Abhängigkeit von anderen Personen und wird durch funktionale (kontraktuelle) Abhängigkeit, zum Beispiel von Organisationen, ersetzt: Nicht Personen, sondern Funktionen sind miteinander verknüpft. Solche aus dem ökonomischen System in die Privatsphäre vordringende Muster können auf Lebensstile wie ein informelles und kurzzeitiges Zusammenleben angewendet werden. Für die Befriedigung emotionaler Bedürfnisse, für die die „Gesellschaft“ keinen Raum haben mag, können diese Muster durchaus hinreichend sein. Sehr wahrscheinlich sind sie aber keine Grundlage für die Gründung und Aufrechterhaltung einer Familie. Wenn wir einmal von der wohl plausiblen Annahme ausgehen, daß der Wunsch nach Kindern nicht vollständig verschwindet, dann kann man sagen, daß mit der Geburt eines Kindes auch ein Element von „Gemeinschaft“ ins Leben tritt. Schließlich ist die Unabhängigkeit von Personen voneinander — als Charakteristikum von „Gesellschaft“ — begrenzt auf Beziehungen von Erwachsenen. Kinder und Jugendliche sind noch abhängig und werden es wohl auch bleiben, und zwar nicht nur in funktionaler Hinsicht.

v Nun nimmt die Zahl der Familien zu, in denen Mann und Frau materiell voneinander unabhängig sind. Diese Familien — seien sie ehelich oder nicht — stellen einen „hybriden“ Typus von Sozial-system dar: In den Begriffen unseres theoretischen Ansatzes ist dies eine Familie, die hinsichtlich der Beziehungen ihrer erwachsenen Mitglieder eine „Gesellschaft“ ist, jedoch eine „Gemeinschaft“, wenn man die Beziehungen der Kinder zu den Eltern betrachtet. Dieser Familientyp wird wahrscheinlich zunehmend die Regel unter den in der nahen Zukunft gegründeten Familien darstellen. Er wird jedoch ebenso wahrscheinlich nicht besonders stabil sein. Dieser „hybride“ Familientypus ist wohl als ein Übergangsphänomen anzusehen. Es erscheint nämlich nicht abwegig anzunehmen, daß unsere Gesellschaften dahin tendieren, die Abhängigkeit von Kindern von ihren Eltern zu vermindern, ihre Beziehungen zumindest in Teilen ebenfalls vermehrt kontraktuell zu gestalten und damit konsequenterweise auch Kinder und Jugendliche als unabhängige Individuen zu betrachten: Denn schließlich hat die Gesellschaft das Individuum zu ihrer Grundeinheit gemacht (ein wahrscheinlich historisch einmaliger Vorgang), und das Individuum ist wiederum die Voraussetzung für die weitere Entwicklung von „Gesellschaft“.

Abhängigkeit ist jedoch nicht nur materieller Art. Es gibt auch emotionale Abhängigkeit. In der historischen Entwicklung von „Gemeinschaft“ zu „Gesellschaft“ spielen Emotionen für die Partnerwahl bzw. die Entscheidung für oder gegen Kinder eine zunehmend wichtigere Rolle. Familienhistoriker haben dies überzeugend nachgewiesen Emotionen allein genommen können allerdings nicht gerade als besonders stabile Grundlagen für dauerhafte Sozialsysteme gelten. Man kann sogar sagen, daß alle Typen von Primärgruppen dazu tendieren, unter exzessiven Streß zu geraten, je mehr es ihnen an Struktur mangelt und je weniger institutionalisiert sie sind; wenn also Emotionen und emotionale Abhängigkeiten das einzige Band sind, das sie zusammenhält. Es ist soziologisch gesichert, daß die Aufgabe, eine fundamental anomische (das heißt destrukturierte, der Routinen und Selbstverständlichkeiten verlustig gegangene) Situation permanent und immer wieder aufs neue zu strukturieren, sowohl das Individuum als auch die Gruppe ständig überfordert.

Gerade weil aber institutionelle Restriktionen reduziert wurden oder sogar völlig verschwanden (zusammen mit existentiellen Abhängigkeiten), sind Primärgruppen zu einem „Reich der Freiheit“ geworden, in dem alles möglich erscheint. Die Formel der „anarchistischen Erkenntnistheorie“ Paul Feyerabends „anything goes“ ist auch hier anwendbar. Ehe und Familie haben diesen Zustand zum Teil im Verlaufe einer historischen Entwicklung erreicht; andere Lebensformen wie Kohabitation und Kommunen sind von Anfang an ein solches „Reich“. Dies erlaubt Individuen, unter einem System „gesellschaftlicher“ Werte (persönliche Autonomie, Selbstverwirklichung, Emanzipation etc.), die zentraler Teil der Ideologie des Individualismus sind, zusammenzuleben und enge Primärbeziehungen zu unterhalten. Es erscheint fast paradox, daß die De-Institutionalisierung und Individualisierung zum einen die andauernde Attraktivität solcher Lebensmuster ausmachen, zum anderen aber gleichzeitig Ursache ihrer Fragilität sind. Dies wird sich voraussichtlich in der absehbaren Zukunft kaum ändern. Es ist jedoch nicht unwahrscheinlich, daß mit abnehmender Institutionalisierung auf der einen und zunehmender Individualisierung auf der anderen Seite ein Leben als „Single“ eine zunehmend attraktive Alternative zur Gründung einer dauerhaften Primärgruppe wird. Daß dies strukturell und kulturell nicht nur ermöglicht, sondern sogar nahegelegt wird, haben wir hinreichend begründet. Hat die Familie somit überhaupt keine Zukunftschancen? Es ist unwahrscheinlich, daß es in absehbarer Zeit noch einmal ein Muster des Zusammenlebens geben wird, das so dominant und langlebig sein könnte wie das der „bürgerlichen“ Familie. Ebenso scheint mir die von Lesthaeghe/Meekers und Simons ausgesprochene Vermutung, es könne sich ein gesamtgesellschaftlicher „Fundamentalismus“ dauerhafter Art einstellen, der Elternschaft zu einer „moralischen Verpflichtung“ mache aktuell nicht begründbar. Es ist vielmehr von einer großen Varietät permanent wechselnder und nicht sehr stabiler Lebensformen auszugehen, die mehr oder weniger an „gesellschaftliche“ Bedingungen und deren Wandel angepaßt sind und die dauerhafte gesamtgesellschaftliche Anomie zum Ausdruck bringen. Aus dem skizzierten Paradigma abgeleitete theoretische Erwägungen lassen einen Familientyp als chancenreichsten erscheinen, dessen Mitglieder in zwei Haushalten „getrennt Zusammenleben“. „Living apart together" hat sich inzwischen als Fachterminus eingebürgert. Es ist dies eine andere Version eines „hybriden“ Sozialsystems, in dem Charakteristika von „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft" zusammenkommen.

Es ist allerdings sehr unwahrscheinlich, daß dieser Familientyp je eine „starke“ Institution werden wird. Er könnte jedoch stabiler sein als die Familienform, deren Auflösung wir prognostiziert haben, denn er entspricht am ehesten der „gesellschaftlichen“ Ideologie des Individualismus und der Gleichheit. Gleichzeitig erlaubt er emotionale Erfüllung, ohne — und dies ist von größter Wichtigkeit — die emotionalen Beziehungen, die als letzter Kitt einer Partnerschaft und Familie verbleiben, übermäßig bei ihrer Aufgabe zu belasten, die Verbindung aufrechtzuerhalten. Das „living apart together“ erscheint geeignet, das ebenso banale wie ernsthafte Problem — und die damit verbundenen Belastungen und Konflikte — zu reduzieren, die sich bei der Daueraufgabe stellen, den Alltag des Zusammenlebens immer wieder erneut strukturieren zu müssen. Diese Aufgabe ist wahrscheinlich leichter zu bewältigen, wenn die Familie nicht in einem Haushalt zusammenlebt. Organisationen und soziale Netzwerke verschiedenster Art könnten eine solche locker verbundene Familie unterstützen. Schließlich würden der Zusammenbruch und die Auflösung einer solchen Familie sehr wahrscheinlich sowohl für die Eltern als auch für die Kinder weniger traumatisch sein als das Scheitern einer konventionellen Familie, da sie von Anfang an eine „doppelte“ Ein-Eltern-Familie ist. Angesichts der hohen und weiter zunehmenden Scheidungsraten ist dies keineswegs eine abwegige Perspektive. Ein-Eltern-Familien nehmen im übrigen an Zahl und als Anteil an allen Familien massiv zu und sind dabei, sich als eigenständige Familienform zu etablieren. Auch dies ist ohne Zweifel eine Lebensform der Gegenwart und noch mehr der Zukunft. Wenn wir uns aber abschließend ins Gedächtnis zurückrufen, daß Anomie, also ein Zustand mangelnder selbstverständlicher Ordnung, eine der fundamentalen Bedingungen der Moderne ist, dann müssen wir innerhalb des Rahmens, der durch „Gesellschaft“ gesetzt wird, mit einer weiteren Zunahme von Beziehungs-Experimenten, Bewegungen aller Art und sozio-kulturellen Moden rechnen. Sogar wieder vermehrt zu heiraten, Kinder zu haben und traditionelle Familien zu gründen, mag kurzfristig als eine der vielfältigen Reaktionen und Bewegungen gegen Anomie — und letztlich gegen „Gesellschaft“ und ihre zahlreichen Ambivalenzen und Dilemmata — dazu gehören. Solche Reaktionen und Bewegungen sind integraler Bestandteil der Moderne. Es wäre jedoch naiv anzunehmen, darin drücke sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt mehr aus als eine unspezifische Nostalgie und der diffuse Wunsch, den Dilemmata und Ambivalenzen von „Gesellschaft“ zu entkommen. Wer wünscht denn wirklich ein retour au pass? In der voraussehbaren Zukunft wird das Rad der Geschichte nicht zurückgedreht, und die Wiederherstellung von „Gemeinschaft“ wird auf sich warten lassen. Dies gilt für die Gesellschaft als Ganzes und ebenso für die Familie. Mehr zu sagen, wäre historische Prophetie.

Fussnoten

Fußnoten

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