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Individualisierung und Pluralisierung familialer Lebensformen | APuZ 13/1988 | bpb.de

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APuZ 13/1988 Artikel 1 Ehe und Familie in der modernen Gesellschaft Individualisierung und Pluralisierung familialer Lebensformen Unterschätzte Funktionen der Familie Sozialpolitik und Familie

Individualisierung und Pluralisierung familialer Lebensformen

Hans Bertram /Renate Borrmann-Müller

/ 25 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Auch heute noch steht die Familienforschung häufig unter dem Aspekt der „Krise der Familie“. Die „Normalfamilie“, die von einer solchen Forschungsperspektive normativ vorausgesetzt wird, ist in der Tat in einem Prozeß der Ausdifferenzierung begriffen, ohne daß man deshalb vorschnell vom Ende der Familie sprechen sollte. Allein aufgrund struktureller Wandlungsprozesse, die vor allem Jugendliche bzw. junge Erwachsene und Frauen betreffen, sind im Lebenszyklus neue Phasen entstanden. Das ist zum einen die Post-Adoleszenz im Übergang vom Jugendlichen-in den Erwachsenenstatus, die Gelegenheit bietet zum Erproben neuer Lebensformen. Das ist zum anderen die Abnahme der Geburten und die Verlängerung der Lebensdauer. Die „gewonnenen Jahre“ (Imhof) im Leben der Frauen verkürzen die Phase der aktiven Elternschaft und lassen die Hausfrauenrolle allein auf Dauer nicht attraktiv erscheinen; dem Paar tragen sie eine lange Phase der nach-elterlichen Gefährtenschaft ein. Unter Berücksichtigung solcher struktureller Wandlungstendenzen und einer wachsenden Individualisierung in industriellen Gesellschaften, die im Bereich von Partnerschaft und Erziehung zu verzeichnen ist, kann man die Veränderungen im Bereich von Ehe und Familie als Pluralisierung von Lebensformen verstehen.

I. Einleitung

Der Funktionsverlust der Familie in industriellen Gesellschaften, der unaufhaltsam zu Desorganisation und Verfall der Familie führe ist ein altes Thema der Familienforschung. Auch gegenwärtig findet sich dies in Publikationen zur Entwicklung der Familie in der Bundesrepublik Neben dem Verlust der Produktionsfunktion ist es vor allem die Erziehungsfunktion, die die Familie an staatliche Institutionen wie Kindergarten, Vorschule und Schule abgeben muß. Auf der anderen Seite scheint sich gerade im Bereich von Erziehung eine Verschiebung zu mehr Qualität abzuzeichnen. Die Bedeutung von Erziehung nimmt zu. damit steigt aber auch die Verantwortung für „richtige“ Erziehung Dies erweist sich um so schwieriger, als „Erziehungsleitbilder und Bildungsziele ihre Selbstverständlichkeit fragloser Normalisierung verlieren“ Zur Erziehungskrise tritt die Beziehungskrise: Die moderne Familie leidet unter einer Schwächung sozialer Lebenszusammenhänge infolge zunehmender Individualisierung; die Einbindung in familiäre Netze nimmt ab, und immer mehr Menschen suchen nach außerfamiliären Lebensformen.

Die jahrzehntealte Diskussion um Krise bzw. Verfall oder Stabilität der Familie hält sich deshalb so hartnäckig, weil an einem idealtypischen Bild von Familie in der Vergangenheit die Familie der Gegenwart gemessen wird. Nach diesem Muster lassen sich dann eine Reihe von Indikatoren aufführen. die belegen sollen, daß die „Normalfamilie" in Auflösung begriffen ist. Vokabeln wie „Heiratsmüdigkeit“, „steigende Scheidungsraten“, „wachsender Anteil Alleinerziehender“, „zunehmende Jugendkriminalität“ finden sich seit Jahren in den Medien und liefern Argumente zur Begründung sozialpolitischer und sozialpädagogischer Intervention im Bereich Familie. Die Argumentation klingt zwar überzeugend, ist aber keineswegs neu: Im Jahre 1929 berief der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt eine Wissenschaftlerkommission, unter ihnen die Familiensoziologen Ogburn und Tippitz, zur Beschreibung von Entwicklungsprozessen der amerikanischen Gesellschaft. In ihrem Bericht kam die Kommission zu dem Ergebnis, daß die moderne Familie in jener Zeit viele ihrer Funktionen verloren, die Stabilität des Familienzusammenhangs gelitten habe und die sozialen Netze, in die die Familien eingebettet seien, an Bedeutung eingebüßt hätten. Als Gründe wurden die steigenden Scheidungsraten in den Vereinigten Staaten zwischen 1920 und 1933 genannt. Auch hier bereits wird der Zustand der Gegenwartsfamilie mit einem idealisierten Bild der Familie des 19. Jahrhunderts kontrastiert, in dem angeblich ein Großteil der Verwandtschaft unter einem Dach lebte, gemeinsam wirtschaftete, gemeinsam die Kinder erzog und sich wechselseitig unterstützte.

Gegenüber dieser Defizitperspektive hat es viele kritische Einwände gegeben. Beispielsweise hat Gerhard Wurzbacher darauf hingewiesen, daß man nicht von einem Funktionsverlust oder einer Destabilisierung der Familie sprechen solle, sondern vom Strukturwandel familialer Lebensformen. Ganz ähnlich argumentiert Rosemarie Nave-Herz wenn sie anmerkt, daß Ehe und Familie in jüngster Zeit keinen Bedeutungsverlust erlitten, sondern einen Bedeutungswandel erfahren hätten unddaß die zeitgeschichtlich beobachtbaren Veränderungen weniger stark auf die Familie zu beziehen seien als vielmehr auf das Verhältnis zwischen den Ehepartnern. Eine Forschung, die strukturelle Wandlungstendenzen bei der Betrachtung familialer Lebensformen einbezieht, ist sehr viel eher in der Lage, die Entwicklungen im Bereich von Ehe, Familie und Kindererziehung zu interpretieren, als Ansätze, die sich global mit der Frage nach dem Funktionsverlust der Familie auseinandersetzen. Solche Ansätze zum Strukturwandel haben folgende Vorzüge gegenüber einer bloßen Defizitperspektive: 1. Sie gehen davon aus, daß zu allen Zeiten unterschiedliche familiale Lebensformen bestanden, variierend nach Region, kultureller oder religiöser Einbindung, historischer Entwicklung sowie ökonomischen Voraussetzungen. Es gab also auch im vorigen Jahrhundert nicht nur die Großfamilie, sondern ein Nebeneinander verschiedener Familien-formen. 2. Sie unterstellen infolgedessen nicht die normative Funktion einer früheren Großfamilie, sondern versuchen, die empirische Realität familialer Lebensformen zu unterschiedlichen Zeiten sozialhistorisch zu analysieren. Auf diese Weise wird nicht jede kurzfristige Entwicklung im Bereich familialer Lebensformen als Defizit gegenüber früher interpretiert und zur Begründung von politischem Handlungsbedarf herangezogen. 3. Sie sind notwendigerweise auf eine Längsschnittbetrachtung bei der Analyse familialer Lebensformen angewiesen und beurteilen in diesem Lichte auch sozialpolitische Interventionen des Staates. 4. Indem sie Entwicklungsverläufe im Bereich familialer Lebensformen herausarbeiten, können sie — bei vorhandener Datenlage — klare Vorstellungen für sozialpolitisches Handeln und sozialpädagogische Interventionen formulieren.

In diesem Aufsatz werden wir nun nicht die Gültigkeit der einen oder anderen These über die Krise der Familie prüfen, sondern den Versuch unternehmen, die widersprüchlichen Beobachtungen im Bereich familialer Lebensformen vor dem Hintergrund der Individualisierungs-und Pluralisierungshypothese zu diskutieren. Zu diesem Zweck werden wir zeigen, in welcher Weise strukturelle Wandlungstendenzen Veränderungen im innerfamilialen Bereich nach sich ziehen und wie sie zur Ausdifferenzierung familialer Lebensformen beitragen.

II. Strukturwandel, Pluralisierung und Individualisierung

Die Sozialstruktur unserer Gesellschaft hat sich sowohl auf der strukturellen Ebene als auch auf der individuellen Ebene von Lebensverläufen erheblich ausdifferenziert Während früher die Lebenslage von Familien weitgehend durch den Berufsstatus und das Erwerbseinkommens des Haushaltsvorstands bestimmt war, sind heute eine Reihe anderer Faktoren hinzugekommen.

Durch die Expansion des Sozialstaats hat die Bedeutung der Transfereinkommen erheblich zuge-nommen. Wenn es auch vorwiegend die Gruppe der Rentner und Pensionäre betrifft, die zwischen 1960 und 1980 von 7, 2 Millionen auf 11, 7 Millionen angewachsen ist, so gibt es daneben noch weitere „Sozialklientele", die auf wohlfahrtsstaatliche Leistungen angewiesen sind, und das ist heute neben Arbeitslosen ein großer Teil der Jugendlichen, Schülern und Studenten. Folglich ist der Aufbau der sozialen Schichtung nicht mehr allein von ökonomischen Faktoren abhängig, sondern „immer mehr von politischen Entscheidungen... über Höhe und Verteilung der Sozialausgaben“ Auch die Bildungsexpansion der sechziger und siebziger Jahre hat durch die gewachsene Bildungsbeteiligung unterer Schichten zu einer Modifikation der sozialen Schichtung beigetragen. „Ehemals bestehende Unterschiede der Lebenschancen (haben) sich verringert und individuelle Merkmale als Ursachen sozialer Differenzierung an Bedeutung ge10 wonnen“ Auf der anderen Seite hat dies dazu geführt, daß die traditionelle Normalbiographie der fünfziger und sechziger Jahre für viele, insbesondere für junge Erwachsene nicht mehr zutrifft. Während damals ein Großteil der Jugendlichen nach Ausbildungsabschluß und die jungen Erwachsenen nach Beendigung des Studiums einen bestimmten Berufsstatus erreichten, weil Ausbildungsabschluß und Berufsstatus eng miteinander verknüpft waren, ist heute aufgrund der schwierigen Situation des Arbeitsmarktes, insbesondere in der Altersgruppe der 20-bis 30jährigen, ein solcher Zusammenhang nicht mehr zwingend vorauszusetzen. Der erfolgreiche Abschluß einer Lehre garantiert noch keinen Arbeitsplatz, das Bildungspatent einer Hochschule berechtigt noch nicht zur Hoffnung auf einen ausbildungsadäquaten Einstieg in den Beruf. Daneben zeigen sich auch zunehmend regionale Unterschiede in der wirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik, die dazu führen, daß der Wohnort für die Lebenslage von Familien erheblich an Bedeutung gewinnt.

Diese hier nur angedeutete sozialstrukturelle Aus-differenzierung der bundesrepublikanischen Gesellschaft geht einher mit einer zunehmenden Individualisierung der Lebensläufe von Jugendlichen, jungen Erwachsenen. Männern. Frauen und alten Menschen in unserer Gesellschaft. Jugend-und Erwachsenenphase greifen nicht mehr nahtlos ineinander über. Vielmehr ist aufgrund der vorgenannten Entwicklungen im Bildungsbereich zwischen dem Status des Jugendlichen und des Erwachsenen eine Übergangsphase, die „Post-Adoleszenz". getreten, die einerseits teilweise mit einer vollständigen Integration in die Erwachsenenwelt, etwa im Konsumbereich, verknüpft ist. andererseits bestimmt ist von einer weitgehenden ökonomischen Abhängigkeit vom Elternhaus oder von staatlichen Transferleistungen. Zwar ist mehr Bildung notwendig. um konkurrenzfähig zu bleiben, gleichzeitig beschert die längere Verweildauer im Bildungs-und Ausbildungssystem spezifische Probleme. Die traditionelle Familiengründungsphase hat sich verschoben. Während früher in dieser Lebensphase zwischen 20 und 30 Jahren entsprechend den gesellschaftlichen Erwartungen Männer ihre Ausbildung äbschlossen, ökonomisch selbständig wurden und eine Familie gründeten. Frauen heirateten und Mutter wurden, stellt sich die Realität heute anders dar. Nicht nur der Schritt vom Bildungs-in den Berufsbereich, sondern auch eine mögliche Familiengründung ist gegenwärtig vielen verwehrt. Zudem sollen junge Frauen heute nach wie vor heiraten und Kinder bekommen, gleichzeitig aber auch ökonomisch unabhängig werden und erfolgreich den Einstieg ins Berufsleben bewältigen. Eine „Familienvorbereitungsphase“. in der früher der materielle Grundstock für die Ehe gelegt wurde, entfällt, so daß bei Eheschließung die Eltern finanziell in die Pflicht genommen werden. Diese vielfältigen Wandlungen führen dazu, daß Lebensverläufe keinen bestimmten Vorgaben mehr folgen können, es eine Vielzahl von Optionen gibt und jeder einzelne individuell seine Präferenzen bestimmen muß.

Zu den Veränderungen in der Jugendphase treten weitere Veränderungen im Lebenszyklus Eine Ehe dauert heute länger als in früheren Jahrhunderten. Mit der längeren Dauer ist die vorzeitige Auflösung einer Ehe und eine Wiederverheiratung wahrscheinlicher geworden. Zudem hat die ständig ansteigende Lebenserwartung — männliche Neugeborene heute 71, 5 Jahre, weibliche 78. 1 Jahre — in Verbindung mit dem Geburtenrückgang dazu geführt, daß die Phase der Kindererziehung nur eine relativ kurze Zeitspanne im Leben von Frauen einnimmt und in der Regel zwischen dem 40. und 50. Lebensjahr abgeschlossen ist. Das bedeutet für das Paar eine lange Phase der „nachelterlichen Gefährtenschaft“ oder des „leeren Nest“, für die es nach neuen Gemeinsamkeiten suchen, der Beziehung eine neue Grundlage geben muß. Für die Frau heißt das. wenn sie bislang ausschließlich Hausfrau und Mutter war. neue Aufgaben, einen neuen Lebensinhalt zu finden.

Die mit der Rationalisierung verbundene Dequalifizierung der Hausarbeit und die stärkere Berufs-orientierung von Frauen haben die Frauen in der Suche nach einem erfüllten Leben auf die außer-häusliche Berufsarbeit verwiesen. Die Möglichkeit des Scheiterns der Ehe und die Ungewißheit der Familienversorgung tragen das ihre dazu bei. daß Frauen sich nicht allein auf die Hausfrauenrolle festlegen können. Dies bedeutet, daß heute in der Familie die unterschiedlichen Anforderungen innerfamilialer Erwartungen, wie etwa Kindererziehung und Hausarbeit, mit den außerfamilialen Anforderungen seitens des Berufs, der Ausbildung oder auch der Mobilitätserwartungen in Deckung gebracht werden müssen. Das wiederum heißt, daß sich die Formen des Zusammenlebens in der Familie zu wandeln beginnen.

Begreift man dies als „Individualisierungsdynamik moderner Industriegesellschaften“, die nun auch die Familie erreicht hat, so läßt sich für die Zukunft prognostizieren: „Das Verhältnis von Familie und individueller Biographie lockert sich. Die lebenslange Einheitsfamilie, die die in ihr zusammengefaßten Elternbiographien von Männern und Frauen in sich aufhebt, wird zum Grenzfall, und die Regel wird ein lebensphasenspezifisches Hin und Her zwischen verschiedenen Familien auf Zeit bzw. nichtfamilialen Formen des Zusammenlebens. Die Familienbildung in der Biographie wird in der Zeit-achse im Wechsel zwischen Lebensabschnitten durchlöchert und so aufgehoben.“

III. Zur Individualisierung innerfamilialer Beziehungen

1. Anforderungen und Erwartungen an die Partnerschaft Empirische Untersuchungen zur Gestaltung der Paarbeziehung kommen zu dem Ergebnis, daß trotz des Wandels im Rollenverhalten der Frau — Berufsausbildung, Einstieg in den Beruf, Berufstätigkeit gleichzeitig mit Kindererziehung — in der Familie vieles beim alten bleibt: Neben einer rollentypischen Verteilung der Entscheidungsgewalt gibt es eine rollentypische Verteilung der innerfamilialen Arbeit, und zwar um so eher, je mehr die Rollen durch Kinder festgeschrieben werden Trotz Individualisierungstendenzen bleiben rollentypische Arrangements bestehen, trotz wachsender Scheidungsraten finden Ehe und Familie weiterhin unverändert große Zustimmung.

Es gibt zwei Entwicklungslinien, die die Widersprüchlichkeiten erklären können. Zum einen ist es die oben ausgeführte Konstanz in den Rollenzuschreibungen, die sich mit dem veränderten Erwerbsverhalten von Frauen auf die Dauer nicht ohne Konflikte vereinbaren läßt. Die Gültigkeit traditioneller Rollenzuschreibungen zeigt das Beispiel von Ein-Elternteil-Familien: Alleinstehende Väter sollen nicht zugunsten der Kinder die Berufs-karriere aufgeben, sondern für eine Fremdbetreuung der Kinder Sorge tragen. Alleinstehende Mütter hingegen sollen zu Hause bleiben und sich um die Kinder kümmern, wenn diese noch im Vorschulalter sind -Zum anderen sind im Zuge der wachsenden Individualisierung die Erwartungen an eine Partnerschaft gestiegen. Denn Partnerschaft ist nicht das Ergebnis vorgegebener Rollenerwartung und auch nicht das Ergebnis der Institution Ehe. Der Institutionencharakter von Ehe und Familie, der allgemein verbindliche Strukturen. Normen und Werte für das Zusammenleben lieferte, paßt nicht zu den Vorstellungen von einer Lebens-gemeinschaft, die einzig auf Liebe aufgebaut ist, für deren Zustandekommen und Fortbestand Liebe die einzig legitime Basis darstellt. Gerade „unter der Bedingung saturierter materieller Verhältnisse (hat) die persönliche Beziehungsqualität einen immer stärkeren Einfluß auf Zustandekommen und Aufrechterhalten von Partnerschaft und Ehe“ Die hohe subjektive Bedeutung, die die Ehe für den einzelnen hat, mag dazu führen, daß beim Auftreten von Disharmonien schneller an ein Abbröckeln der gemeinsamen Grundlage und an eine Auflösung der Ehe gedacht wird Hinzu kommt, daß der Gratifikationscharakter von Eheschließung abgenommen hat. Die Zuteilung einer Wohnung ist heute nicht mehr an die Eheschließung gebunden. Der Institutionencharaktervon Ehe kommt in Konflikt mit dem neuen Rollenverständnis der Frauen, die sich über die Berufs-und die Familienrolle definieren. Allerdings gibt es noch keine neuen, allgemein verbindlichen Vorstellungen und Organisationsmodelle von Ehe und Familie, so daß Partnerschaft als ständiger Prozeß des Aushandelns und Umdefinierens der Prinzipien des Zusammenlebens zu sehen ist. Die Freiheit zur individuellen Gestaltung geht auf Kosten eines allgemein verhindlichen Orientierungsrahmens, der sagt, was noch und was nicht mehr tolerierbar ist. Angesichts dieser Entwicklungen kann es nicht verwundern, daß neben die traditionellen Formen von Ehe und Familie neue Formen des Zusammenlebens getreten sind. 2. Die Vollendung der Individualisierungsansprüche: Nichteheliche Lebensgemeinschaften Zwischen 1972 und 1982 hat sich die Zahl der Männer und Frauen, die in nicht-ehelichen Lebens-gemeinschaften leben, verdreifacht. Unter den 18-bis 35jährigen leben im Jahre 1982 4, 4 Prozent der Frauen, 3, 8 Prozent der Männer in nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften Oder, in absoluten Zahlen, es existieren ca. eine Million Haushalte in der Bundesrepublik mit unverheiratet Zusammenlebenden. Trotz steigender Zahlen und wachsender Verbreitung herrscht Uneinigkeit über Motive für die Wahl dieser Form des Zusammenlebens und die Stellung von nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften zu „richtigen“ Ehen.

Eine repräsentative Studie, die im Auftrag des Bundesministeriums für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit (BMJFFG) erstellt wurde, kommt zu dem Ergebnis, daß ein großer Teil der Befragten die nicht-eheliche Lebensgemeinschaft als Vorstufe zu einer späteren Ehe sieht. 28 Prozent der unverheiratet Zusammenlebenden waren sicher, ihren jetzigen Partner nicht heiraten zu wollen, neun Prozent waren grundsätzlich gegen eine Ehe. Dennoch ist die Folgerung nicht angebracht, von einer nicht-ehelichen Lebensgemeinschaft als „vorehelicher Lebensgemeinschaft“ oder „Ehe auf Probe“ zu sprechen. Nicht-eheliche Lebensgemeinschaften sind auch keine neue Form der Verlobung, die nicht als Alternative zur Ehe geplant sind, denn dazu ist die Zusammensetzung der nicht-ehelichen Lebens-gemeinschaften zu heterogen. Es gibt nicht-eheliche Lebensgemeinschaften mit und ohne Kinder; es gibt solche, die nach einer gescheiterten Ehe eingegangen werden und bei denen die Partner entweder aufgrund schlechter Erfahrungen keine weitere Ehe mehr eingehen wollen oder sich wegen materieller Verpflichtungen gegenüber Ehepartnern und Kindern aus ersten Ehen davor scheuen. Schließlich finden sich nicht-eheliche Lebensgemeinschaften zwischen älteren, bereits verwitweten Personen, die durch Heirat nicht ihre Versorgungsansprüche aus einer früheren Ehe verlieren wollen, ein Motiv, das ja aus den „Onkelehen“ der Nachkriegsjahre hinreichend bekannt ist, und für das sich der Begriff „Rentnerkonkubinate“ gefunden hat.

Die nicht-eheliche Lebensgemeinschaft ist als Erscheinungsform also keineswegs neu, dennoch ist sie als Form des Zusammenlebens unter jungen bzw. jüngeren Leuten Ausdruck einer Pluralisierung von Lebensformen. Sie läßt sich auch nicht als eine neue Art von Studentenehe deuten, denn die Mehrheit der in nicht-ehelicher Lebensgemeinschaft lebenden Personen hat weder Hochschulausbildung noch Abitur Allerdings beträgt der Anteil der Nicht-Berufstätigen (incl. Arbeitslose) 12 Prozent.

Nicht-eheliche Lebensgemeinschaften sind ein Phänomen. das sich in allen Altersgruppen quer durch die Bevölkerung findet und quer durch alle Bildungsschichten. Sie sind nicht Ausdruck einer generellen Ablehnung der Eheschließung, aber Ausdruck einer dezidierten anti-institutionellen Einstellung (Wingen). Als häufigstes Motiv, die nicht-eheliche Lebensgemeinschaft durch eine Ehe abzulösen, werden der Wunsch nach Kindern und die Sicherung der beruflichen Existenz genannt. Kinderwunsch und Kindererwartung als zentrale Beweggründe für die Eheschließung — das stützt die Behauptung von der unverändert erhalten gebliebenen Attraktivität von Ehe und Familie. Vor allem die Herausbildung dieser Form des Zusammenlebens „hat zu einer . kinderorientierten Ehegründüng* in den letzten Jahren geführt“

Trotz der grundsätzlich positiven Einstellung zur Ehe werden jedoch zahlreiche Bedenken genannt. Der Anspruch auf Dauerhaftigkeit führe zu trügerischer Sicherheit und Routinisierung des Zusammenlebens. Das Engagement für die Beziehung, die Aufmerksamkeit für den Partner lassen nach. Die Ehe bedeutet den Abbruch eigener Sozialbeziehungen und die Reduktion eigener Interessen und Bedürfnisse Auch hier wird von den Befragten auf die individuelle Gestaltbarkeit der Partnerschaft gepocht, die Betonung von Liebe als Lernprozeß findet demnach in der nicht-ehelichen Lebensgemeinschaft ihren konsequentesten Ausdruck, denn sie zeichnet sich durch Nicht-Reglementierung der Beziehungen aus und kommt somit den Individualisierungsbestrebungen am nächsten. 3. Die Individualisierung der Kindheit:

„Verinselung"

Ebenso wie es an verbindlichen Orientierungen für eine Partnerschaft fehlt, mangelt es an Leitbildern zur Erziehung, obwohl in der heutigen Zeit Kinder eine zentrale Stellung in der Familie einnehmen und immer weniger Kindern immer mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird Anfang dieses Jahrhunderts kamen auf 100 Ehen 393 Kinder, während in 100 Ehen der Eheschließungsjahrgänge 1973— 1977 nur noch 160 Kinder geboren wurden. Die durchschnittliche Kinderzahl pro Ehe geht hauptsächlich deshalb zurück, weil die Mehrkinderfamilie mit mehr als drei Kindern fast völlig verschwunden ist. Gab es zu Beginn des Jahrhunderts in fast der Hälfte aller Ehen, nämlich in 47 Prozent, vier und mehr Kinder, ist das heute nur noch in fünf von 100 Ehen der Fall; durchschnittlich werden in der Bundesrepublik 1, 6 Kinder pro Ehe geboren. Für Kinder heute ist es eine typische Erfahrung, ohne Geschwister nur im Beziehungsgefüge mit Erwachsenen aufzuwachsen, und es ist für Kinder auch eine typische Erfahrung, daß die Möglichkeit in der Nachbarschaft mit anderen Kindern zu spielen, recht gering ist, weil die Kinder fehlen. Während diese Entwicklung politisch nur in bezug auf die Abnahme der Bevölkerung und die damit entstehende Problematik der Rentenversorgung thematisiert wird, scheint es doch mindestens ebenso wichtig zu sein, darüber nachzudenken, welche pädagogischen Konsequenzen sich aus dieser Veränderung der kindlichen Lebenswelt ergeben.

Zumindest in Großstädten kann man heute davon ausgehen, daß die Aktivitäten von Kindern im Grundschulalter ganz ähnlich wie die von Erwachsenen und Jugendlichen auf verschieden entfernte Orte verteilt sind. Der Besuch der Spielgruppe, des Malkurses, der Musikschule, des Sportvereins etc.setzt immer voraus, daß das Kind durch die Mutter zu entsprechenden Orten gebracht wird und dort mit anderen Kindern für spezielle Zwecke unter der Aufsicht von Erwachsenen pädagogisch angeleitet wird. Für diese Funktionalisierung und Institutionalisierung des kindlichen Lebens schon im Grundschulalter haben Pädagogen und Soziologen den Begriff der „Verinselung" kindlicher Lebensverhältnisse geprägt, weil sich die kindlichen Aktivitäten nicht mehr spontan in der Spielgruppe der Nachbarschaft vollziehen, sondern Kinder heute, je nach Aufgabenstellung, mit ganz unterschiedlichen Personengruppen zu tun haben, die untereinander in keinerlei Beziehung stehen. Die traditionell ganzheitliche Erfahrung der Kinder wird ersetzt durch die Erfahrung in Inseln verschiedener Aktivitäten und Personen. Durch das Agieren in unterschiedlichen institutionellen Kontexten wird den Kindern auch die Möglichkeit genommen, gemeinschaftlich Spiele in Gruppen zu spielen, die als notwendige Voraussetzung für die Entwicklung des kindlichen Moralbewußtseins gelten Notwendig sind, so Piaget, die Erfahrung von Gleichheit, das Aushandeln von Regeln mit anderen sowie die Einsicht, daß bestimmte Ziele nur zu erreichen sind, wenn man sich an gemeinsame Spielregeln hält, die wechselseitig verpflichten.

Die heutige Organisation des kindlichen Alltags setzt jedoch voraus, daß auch schon sehrjunge Kinder sich kompetent und autonom in ganz unterschiedlichen Rollenkontexten verhalten, stellt also hohe Anforderungen an die Individualität des Kindes, so daß die Tendenz wachsender Individualisierung bereits im Kindesalter zu beobachten ist. Die Entwicklung der Individualität wird durch entsprechende Erziehung im Elternhaus unterstützt, die das Ideal der Selbständigkeit des Kindes und des Rechtes auf die eigene Entwicklung als wichtige Erziehungsziele betont. Autoritätskonflikte zwischen Eltern und Kindern haben eher ab-denn zugenommen, und das Verhältnis zwischen Jugendlichen und Eltern wird von beiden als positiv wahrgenommen Wegen der gestiegenen Erwartungen an Erziehung — Selbständigkeit bei gleichzeitiger Kindzentriertheit — schränken Kinder den Handlungspielraum des Eltempaares ein. Der „Eigenwert der Ehebeziehung“ tritt in den Hintergrund zugunsten der Eltem-Kind-Beziehung; das Kind wird zum zusätzlichen Partner in der Ehebeziehung was zu einer Vielzahl von Konflikten führen kann. Denn nun sind auch die Beziehungen zwischen den Betroffenen nicht mehr durch vorgegebene Rollenerwartungen (Vater/Kind, Mutter/Kind) definiert, sondern unterliegen einem Prozeß des Aushandelns.

Wenn auch eine zunehmend ausdifferenzierte Gesellschaft auf Individuen angewiesen ist, die in der Lage sind, sich in die komplexen Strukturen angemessen einzufügen, so darf doch nicht übersehen werden, daß eine überbetonte Förderung des Individualismus auch in bloßes Streben nach Selbstverwirklichung und Hedonismus umschlagen kann. Die Einbindung in soziale Beziehungen, die Erkenntnis der Notwendigkeit von Solidarität ist in einer Gesellschaft der wechselseitigen Abhängigkeiten so unerläßlich wie die Bereitschaft, bei aller individuellen Autonomie auch Solidarität zu üben Angesichts einer steigenden Zahl von Ein-Personen-Haushalten, Ein-Kind-Familien und sinkender Kinderzahlen bleibt die Frage, wo und wie derartige Fähigkeiten vermittelt werden können, da auch im weiteren Lebensverlauf die Einbettung in solche primären sozialen Bezugsgruppen nicht gegeben ist. 4. Von der „Verinselung" zur Vereinsamung:

Kinder und Eltern in Ein-Elternteil-Familien Auch unter den Ein-Elternteil-Familien oder Alleinerziehenden überwiegen bei weitem solche mit nur einem Kind. Im Jahre 1985 gab es in der Bundesrepublik 941 000 Ein-Elternteil-Familien, in denen Kinder unter 18 Jahren großgezogen werden; 138 000 davon waren alleinerziehende Väter, der Rest bestand aus alleinerziehenden Müttern. Von diesen waren 369 000 geschieden, 150 000 verwitwet und 127 000 verheiratet, aber dauernd getrennt lebend, schließlich 157 000 ledige Mütter. Bei den Vätern bestand der größte Teil ebenfalls aus Geschiedenen (57 000), gefolgt von Verwitweten und Verheirateten, aber dauernd getrennt lebenden.

Die Zahl von Ein-Elternteil-Familien nimmt weiter zu; es ist ein Wandel von Verwitweten hin zu Geschiedenen zu verzeichnen. Von 1981 bis 1983 ist die „Zahl der Scheidungs-und Trennungsfamilien um 2 Prozent gestiegen, die Zahl der unverheirateten gleich geblieben, und die Zahl der Witwerfamilien um 2 Prozent zurückgegangen“ -Diese Ergebnisse lassen nicht zu, Ein-Elternteil-Familien als Ausdruck eines „neuen familialen Selbstverständnisses“ zu werten, da die überwiegende Zahl doch aus einer vorhergehenden Ehe entstanden ist. Allerdings steigt die Zahl der nicht-ehelichen Geburten seit 1975 und entsprach im Jahre 1982 (52 750) nach zwischenzeitlicher Abnahme etwa der des Jahres 1964 (53 151). Der Anteil nicht-ehelicher Geburten hat sich indessen seit 1966 (45, 6 je 1 000 Lebendgeborene. 1982: 84. 9) kontinuierlich erhöht Das mag Rückschlüsse auf ein neues Selbstverständnis von Frauen zulassen, die heute möglicherweise eher bereit sind, die Verantwortung dafür zu übernehmen, ihre Kinder allein groß-zuziehen.

Doch sollten diese Ergebnisse nicht darüber hinwegtäuschen, daß Ein-Elternteil-Familien im Vergleich zu „vollständigen“ Familien sich sozio-ökonomisch in einer wesentlich schlechteren Position befinden. Von den geschiedenen Müttern lebt ca. ein Viertel von Sozialhilfe, am schlechtesten sind die ledigen Mütter dran. Etwa die Hälfte von ihnen hat ein monatliches Einkommen von weniger als 1 400 Mark, jede vierte ist arbeitslos. Vor allem Ein-Elternteil-Familien mit Vorschulkindern sind benachteiligt. Sie können keiner Erwerbsarbeit nachgehen, denn häufig haben sie keine Betreuungsmöglichkeit für das Kind: Zwei Drittel der ledi-gen Frauen mit Kindern unter drei Jahren leben von Sozialhilfe.

Zu der ökonomischen Deprivation tritt die soziale Wegen mangelnder materieller Möglichkeiten werden keine Kontakte zu Freunden aufrechterhalten, die Familien vereinsamen. Das trifft auch auf die Kinder zu, die davor zurückseheuen, Freunde mit ihrer unzulänglichen Wohnsituation zu konfrontieren und sich deswegen lieber zurückziehen. Selbst Ein-Elternteil-Familien, in denen die Eltem(teile) erwerbstätig sind, haben Probleme, angemessene, das heißt ausreichend große und finanziell erschwingliche Wohnungen zu finden. Sie müssen unverhältnismäßig hohe Mieten zahlen, da viele Vermieter Alleinerziehende als soziale Rand-gruppen ansehen denen sie andere Mieter vorziehen. Häufig müssen sie in städtische Randgebiete oder in Wohnsilos mit nur unzureichender Infrastruktur ziehen, die die soziale Isolation weiter verstärken.

Zum Problem des Wohnraums treten die Schwierigkeiten, der Sorge für die Kinder und den Anforderungen im Beruf nachkommen zu können. Krankheitsfälle gelten als „Katastrophe“, die den mühsam ausbalancierten Tagesablauf über den Haufen werfen. Die Dreifachbelastung Beruf. Haushalt und Kinder ist kaum zufriedenstellend zu bewältigen. Mehr Zeit für den Beruf aufzubringen, bedeutet Vernachlässigung der Kinder; genießen die Kinder Priorität, heißt das, auf berufliches Weiterkommen zu verzichten. Die Bewältigung des Alltags hängt bei Alleinerziehenden davon ab, daß keine unvorhergesehenen Zwischenfälle eintreten. „Krisenzeiten“ können nur mit Hilfe des „familialen Stützsystems“ bewältigt werden, das vor allem für Ein-Elternteil-Familien eine wesentliche Funktion hat. Es sind weniger die Freunde oder Nachbarn, die helfen, sondern in erster Linie die Eltern, die immer wieder einspringen Ein-Elternteil-Familien müssen mit ungleich mehr Schwierigkeiten fertig werden als Zwei-Eltem-Familien, in denen die Rollenteilung oder das gemeinsame Ausüben der Ernährer-und Erzieherrolle eine wesentliche Entlastungsfunktion hat. Bis auf wenige, die sich bewußt für diese Lebensform entschieden haben, war die Lebensplanung auf Partnerschaft angelegt. Die Betroffenen selbst nehmen sich kaum als gesellschaftliche Avantgarde einer neuen Lebensform wahr. Sie wünschen sich zum überwiegenden Teil wieder eine Partnerschaft, wenn auch keine Ehe. Eher als Frauen wollen alleinerziehende Männer wieder eine Ehe eingehen. Entsprechend weist die Wiederverheiratungsstatistik aus, daß sich geschiedene und verwitwete Väter schneller und häufiger als Mütter wieder verheiraten. Die Zahlen der Wiederverheiratungen nehmen für beide Gruppen ab, was aber eine nicht-eheliche Lebensgemeinschaft mit einem neuen Partner nicht ausschließt. Man kann jedoch annehmen, „daß die Zahl der Allein-erziehenden weiter steigen wird und daß immer mehr Kinder in Ein-Elternteil-Familien aufwachsen werden“

IV. Strukturwandel und soziale Netze

Aufgrund dieser Tendenz wie mit der zunehmenden Verkleinerung der Familie wird der Zusammenbruch sozialer Netze prognostiziert. Nach allem. was wir heute wissen, hat es aber in NordwestEuropa die erweiterte Großfamilie, in der die Großeltern mit den Eltern und Kindern sowie weiteren Verwandten unter einem Dach lebten und Hilfeleistung in Krisenfällen erbringen konnten, als vorherrschenden Familientypus wohl nie gegeben. Familienhistoriker wie Laslett in England, Mitterauer/Sieder in Österreich und Flandrin in Frankreich konnten nachweisen, daß auch in früheren Jahrhunderten immer die sogenannte Kleinfamilie dominierte

Für unser Jahrhundert zeigt ein Vergleich der Zahlen aus der amtlichen Statistik vor 1940 mit den aktuellen Zahlen, daß sich die Haushaltstypen nur wenig geändert haben. So gab es 1920 ca. 70 Prozent Haushaltungen, die als Haushalte mit Ehepaaren ohne Kindern, mit Kindern oder Großeltern oder Verwandten zu klassifizieren waren; 1925 und 1939 waren es 77 Prozent. Die Zahlen aus der letzten Volkszählung im Mai 1970 weichen mit 72 Prozent kaum von den Zahlen aus den Jahren 1920 und 1925 ab. Dramatisch verändert hat sich die Zahl der Haushalte, in denen nichtverwandte Personen miteinander lebten. Waren es 1910 noch 24 Prozent, so sind es heute, das heißt zum Zeitpunkt der Volkszählung von 1970, lediglich noch rund zwei Prozent aller Haushaltungen. Als völlig neuer Haushaltstypus ist der Einpersonenhaushalt entstanden, der zu Beginn des Jahrhunderts nur sieben Prozent betrug und der heute 25 Prozent aller Haushaltungen ausmacht.

Zieht man dazu noch einzelne Stadtuntersuchungen heran, in denen die Haushaltstypen weiter untergliedert worden sind, so läßt sich relativ gut nachweisen, daß die größeren Haushalte in der Vergangenheit im wesentlichen solche waren, in denen Untermieter, Schlafleute oder aber Gesinde lebten. Haushaltungen, die wir heute als erweiterte Familie bezeichnen würden, waren eher selten, soweit überhaupt Daten aus den letzten 100 bis 200 Jahren über die Entwicklung von Haushalten und Familientypen im Deutschen Reich bzw. in der Bundesrepublik auf Makroebene zusammengetragen worden sind. Aus dem Vergleich des Altersaufbaus der Bevölkerung im Deutschen Reich im vorigen Jahrhundert mit dem der Bundesrepublik wird deutlich, warum solche erweiterten Familienhaushalte selten gewesen sind. Hatten 1977/79 50 Prozent eines Jahrgangs die Chance, 73 Jahre (Männer) bzw. 80 Jahre (Frauen) alt zu werden, so lag die wahrscheinliche Lebensdauer unter den Sterblichkeitsverhältnissen von 1870/80 bei rund 37 Jahren für Männer bzw. 43 Jahren für Frauen Schon aus demographischen Gründen war also die Wahrscheinlichkeit, daß etwa die Großeltern die Eltern bei der Kindererziehung oder auch bei der Haushaltsführung unterstützen konnten, relativ gering. Peter Laslett stellt aufgrund seiner Untersuchungsergebnisse sogar die Hypothese auf, daß Unterstützungsleistungen für Familien in Notsituationen nicht zu den Pflichten von Verwandtschaftsbeziehungen in der traditionellen englischen Gesellschaft gehört haben. Personen, die in Not geraten waren, wandten sich auch an karitative Organisationen, um eine stete Unterstützung zu erhalten. Für die Gegenwart hat Günther Lüschen die Verwandtschaftsbeziehungen im Zeitraum der Jahre 1969 und 1984 in Bremen. Köln, Helsinki und Dublin verglichen, um die Dichte und Unterstützungsleistungen durch Verwandte zu analysieren. Bei diesem Zeitvergleich konnte Lüschen zeigen, daß nicht nur die Besuche durch Verwandte zugenommen hatten, sondern auch die materielle Unterstützung von Familien mit Kindern durch Verwandte erheblich gestiegen war. Nicht nur Familien mit Kindern genießen Unterstützungsleistungen durch die Verwandtschaft, umgekehrt wird auch die Großelterngeneration von den Kindern betreut

Wir können also aufgrund der vorgetragenen Ergebnisse das idealisierte Bild der traditionalen Familie, die sich wechselseitig half und unterstützte, relativieren. Statt dessen gewinnt gerade in der Gegenwart die Unterstützung durch Familie und Verwandtschaft an Bedeutung. Offenkundig ist sie Teil jener verwandtschaftlichen Solidarbeziehungen, die sich im sicheren Bewußtsein der Einbindung in ein familiales Netzwerk entwickeln Auch wenn die generelle Behauptung vom Zusammenbruch der sozialen Netze falsch ist, läßt sich mit der These der Pluralisierung der Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik nachweisen, daß es zunehmend Menschen geben wird, die auf solche Unterstützungsleistungen und Einbindungen in verwandtschaftlich organisierte soziale Netze nicht rechnen können. Denn Unterstützungsleistungen durch die Familie und Verwandtschaft setzen notwendigerweise voraus, daß entsprechende familiale Netzwerke tatsächlich existieren

Angesichts der gegenwärtigen Entwicklung der Bevölkerung und der Familienstrukturen können wir nicht davon ausgehen, daß auch in Zukunft entsprechende familiäre und verwandtschaftliche Beziehungen für alle Mitglieder unserer Gesellschaft bestehen bleiben werden. 1985 gibt es bereits 8. 863 Millionen Einpersonenhaushalte gegenüber nur vier Millionen Einpersonenhaushalte 1961; das sind nur um eine Million weniger als Familienhaushalte, das heißt Haushalte, in denen Eltern mit ledigen Kindern Zusammenleben. Zieht man zur Entwicklung der Haushaltsstruktur noch die demographische Entwicklung heran, so wird deutlich, daß bei der gegenwärtigen Tendenz zur Einkind-, allenfalls Zweikinderfamilie bei gleichzeitigem Anstieg kinderloser Paare und Alleinlebender in Zukunft kaum mehr familiale Netze für Solidarleistungen vorhanden sein werden. Möglicherweise werden sich hier stärkere regionale Differenzierungen ergeben. Während für die Bevölkerung in ländlichen Regionen oder in kleineren Städten auch in Zukunft familiäre Unterstützungssysteme zur Verfügung stehen, lebt in größeren Städten eine wachsende Anzahl von Menschen, die auf solche Leistungen nicht mehr zurückgreifen können und deshalb langfristig auf staatliche Intervention angewiesen sein werden.

V. Schlußfolgerungen

In unserem Beitrag haben wir versucht, deutlich zu machen, daß gesellschaftlicher Strukturwandel und Individualisierung zu Veränderungen im Bereich familialer Lebensformen führen, die sich nicht verkürzt auf den Nenner „Krise der Familie“ zurückführen lassen.

Der Übergang vom Jugendlichen-in den Erwachsenenstatus verläuft heute sehr viel differenzierter als noch vor 20 Jahren. Die Phase der „Post-Adoleszenz“ bis zum Eintreten „der beruflichen und familiären Etablierung und Integration“ entstanden durch verlängerte Ausbildungszeiten und eine verstärkte Bildungspartizipation, bedeutet eine längere ökonomische Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen oder Unterstützung durch die Eltern. Ein verschärfter Druck auf den Arbeitsmarkt durch geburtenstarke Jahrgänge verhindert den problemlosen Übergang ins Beschäftigungssystem und erfordert mehr Engagement in zusätzlichen Qualifikationsangeboten Die Phase der Familiengründung hat sich dadurch für einen größeren Prozentsatz innerhalb einer Generation zeitlich hinausgeschoben.

Von diesen Veränderungen sind Männer wie Frauen in gleicher Weise betroffen. Frauen sind überdies in besonderer Weise Individualisierungsprozessen unterworfen. Wandlungen im weiblichen Rollenverständnis setzen heute voraus, daß Frauen einen Beruf erlernen und ausüben. Die Kontinuität in der Berufsbiographie sichert ihnen mehr Selbständigkeit und größere Unabhängigkeit in der Partnerschaft. Infolgedessen nehmen institutioneile Zwänge ab, die Bedeutung von Liebe für den Bestand einer Beziehung wächst. Die Abstimmung der Partner wird zugleich in dem Maße schwieriger, in dem vorgegebene Rollendefinitionen an Verbindlichkeit verlieren. Letztlich führt es dazu, daß Frauen die Berufsrolle zusätzlich zur traditionellen Hausfrauenrolle ausüben.

Auch die mit der Mutterrolle verbundenen Pflichten und Erwartungen haben sich gewandelt. Mit der Betonung der Individualisierung und der Verstärkung des Konkurrenzdrucks auf die Kinder bereits im Grundschulalter wächst der Druck auf die Eltern, vor allem auf die Mutter, die Leistungsfähigkeit und die funktionalen Kontakte des Kindes zu fördern und es zur Autonomie zu erziehen. Für die Erziehung von weniger Kindern ist heute ungleich mehr Zeit aufzuwenden als in früheren Jahren und Jahrzehnten.

Weniger Kinder und mehr Alleinerziehende — in Zukunft wird es infolgedessen zu einem Rückgang verwandtschaftlicher Unterstützungssysteme kommen, statt dessen könnten jedoch nachbarschaftliche Unterstützungssysteme entstehen, die zugleich neue Kommunikationsformen über den Rahmen der Familie hinaus bieten. Strukturwandel und Individualisierung tragen dazu bei, daß Familienbildung und -entwicklung künftig nicht mehr einem einheitlichen Muster folgen werden. Ehe und Familie sind deshalb nicht zum Verschwinden verurteilt, aber es kommt zu einer Pluralisierung von Lebensformert.

Fussnoten

Fußnoten

  1. W. F. Ogburn, Why the Family is changing, in: Sociologus, 4 (1954), S. 160-170.

  2. BMJFFG (Hrsg.), Dritter Familienbericht, Bonn 1979, S. 15; E. Noelle-Neumann/R. Köcher, Die verletzte Nation, Stuttgart 1987, S. 78.

  3. E. Beck-Gemsheim, Wieviel Mutter braucht der Mensch? Geburtenrückgang und der Wandel der Erziehungsarbeit, in: S. Hradil (Hrsg.), Sozialstruktur im Umbruch. Opladen 1985, S. 272 ff; die Autorin weist darauf hin, daß heute über den Eltern ständig das Damoklesschwert des „Leistungsversagens“ ihrer Kinder durch unzureichende Förderung hänge.

  4. E. Pankoke, Schwächen und Stärken familialer Vernetzung — Rat und Hilfe zur Entwicklung von Lebenszusammenhängen, in: Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit. Sonderveröffentlichung zum 71. Deutschen Fürsorgetag, München 1986, S. 206.

  5. W. Ogbum/N. Tippitz, President-Commission-Report, 1933.

  6. G. Wurzbacher, Leitbilder gegenwärtigen deutschen Familienlebens, Dortmund 1951.

  7. R. Nave-Herz. Kontinuität und Wandel in der Bedeutung, in der Struktur und Stabilität von Ehe und Familie in der Bundesrepublik Deutschland, in: dies. (Hrsg.). Wandel und Kontinuität der Familie in der Bundesrepublik Deutschland. Stuttgart 1988, S. 61.

  8. U. Beck. Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt/M. 1986; E. Beck-Gernsheim, Vom „Dasein für andere“ zum Anspruch auf ein Stück „eigenes Leben“: Individualisierungsprozesse im weiblichen Lebens-zusammenhang, in: Soziale Welt, 34 (1983) 3; H. Bertram, Zum Strukturwandel der Familie. Vortrag auf der Experten-tagung „Die Familie heute — eine Standortbestimmung“, Hanns-Seidel-Stiftung, Wildbad Kreuth 1987; T. Olk, Jugend und Gesellschaft, in: W. Heitmeyer (Hrsg.), Interdisziplinäre Jugendforschung. Weinheim 1986; W. Zapf u. a., Individualisierung und Sicherheit. Untersuchungen zur Lebensqualität in der Bundesrepublik Deutschland, München 1987.

  9. S. Hradil (Hrsg.), Sozialstruktur im Umbruch, Opladen 1985; Beck und Zapf ebda.

  10. Zukunftsperspektiven gesellschaftlicher Entwicklung, erstellt im Auftrag der Landesregierung von Baden-Württemberg, Stuttgart 1983, S. 68.

  11. W. Zapf (Anm. 8), S. 21.

  12. A. E. Imhof. Die gewonnenen Jahre. München 1981; U. Lehr, Zur Situation der älterwerdenden Frau. München 1987.

  13. H. Bertram/H. Bayer. Berufsorientierung erwerbstätiger Mütter, DJI-Forschungsbericht, München 1984.

  14. U. Beck (Anm. 8), S. 188.

  15. BMJFFG (Hrsg.), Familie und Arbeitswelt, Bd. 143, Stuttgart 1984. S. 98.

  16. A. Napp-Peters, Ein-Elternteil-Familien. Soziale Rand-gruppe oder neues familiales Selbstverständnis?, Weinheim 1985, S. 112 ff.

  17. W. Schulz, Von der Institution „Familie" zu den Teilbeziehungen zwischen Mann, Frau und Kind, in: Soziale Welt, 34 (1983) 4. S. 416.

  18. „Der statistische Anstieg von Ehescheidungen könnte somit als ein Indikator dafür gelten, daß heute unharmonische Beziehungen und zerrüttete Ehen eher als in früheren Jahren aufgelöst werden.“ Zit. nach R. Nave-Herz (Anm. 7), S. 85.

  19. BMJFFG (Hrsg.), Vierter Familienbericht, Bonn 1986. S. 36.

  20. M. Wingen. Nicht-eheliche Lebensgemeinschaften. Formen — Motive — Folgen, Zürich 1984.

  21. BMJFFG (Hrsg.), Nichteheliche Lebensgemeinschaften in der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 170. Stuttgart 1985, S. 27.

  22. R. Nave-Herz (Anm. 7), S. 67.

  23. BMJFFG (Anm. 21), S. 41.

  24. H. Schenk, Freie Liebe — wilde Ehe. Über die allmähliche Auflösung der Ehe durch die Liebe, München 1987.

  25. M. Wingen (Anm. 20). S. 54.

  26. E. Beck-Gemsheim (Anm. 8); Y. Schütze, Zur Veränderung im Eltern-Kind-Verhältnis seit der Nachkriegszeit, in: R. Nave-Herz (Anm. 7), S. 95— 114.

  27. J. Piaget, Das moralische Urteil beim Kinde, Frankfurt/M. 1974.

  28. H. Bertram. Jugend heute. Die Einstellungen der Jugend zu Familie, Beruf und Gesellschaft. München 1987.

  29. Y. Schütze (Anm. 26), S. 104.

  30. H. Bertram (Hrsg.), Gesellschaftlicher Zwang und moralische Autonomie, Frankfurt/M. 1986.

  31. C. Swientek, Alleinerziehende — Familien wie andere auch? Zur Lebenssituation von Ein-Eltern-Familien, Bielefeld 1984, S. 18.

  32. Ebda., S. 23.

  33. A. Napp-Peters (Anm. 16), S. 73 f.

  34. C. Swientek (Anm. 31), S. 50ff.; A. Napp-Peters (Anm. 16), S. 59ff.

  35. „Das einzige zuverlässige informale Stützsystem, auf das alleinstehende Eltern . . . zurückfallen können, ist die erweiterte Familie, insbesondere Verwandte ersten Grades“, vgl. A. Napp-Peters (Anm. 16), S. 104.

  36. C. Swientek (Anm. 31), S. 28.

  37. P. Laslett, The World we have lost, Cambridge 1971; M.

  38. Auch wenn es aufgrund der Änderung der Kategorien der amtlichen Statistik schwierig ist, vor 1950 Angaben über die Häufigkeit von erweiterten Familienhaushalten zu finden. da für die Zeit zwischen 1900 und 1939 alle Familien-haushalte von Ehepaaren ohne Kindern bis hin zu Familien-haushalten mit Verwandten in einer Rubrik zusammengefaßt wurden.

  39. Vierter Familienbericht (Anm. 19).

  40. P. Laslett, Familiale Unabhängigkeit im Spannungsfeld zwischen Familien-und Einzelinteressen, in: P. Borscheid/H. J. Teuteberg, Ehe, Liebe, Tod. Studien zur Geschichte des Alltags, Münster 1983, S. 150— 169.

  41. G. Luschen, Familial-verwandtschaftliche Netzwerke, in: R. Nave-Herz (Anm. 7), S. 145— 172.

  42. Zu diesem Ergebnis kommen sowohl ältere Studien (Reuben Hill, Family Development in Three Generations. A longitudinal Study of Changing Family Patterns of Planning and Achievement, Cambridge 1970) als auch Untersuchungen jüngsten Datums (Repräsentativerhebung des Deutschen Jugendinstituts „Familien in den 80er Jahren“).

  43. G. Lüschen (Anm. 41) und A. Napp-Peters (Anm. 16) weisen darauf hin, daß Unterstützungsleistungen durch Freunde und Nachbarn dagegen vergleichsweise gering sind. Analog zeigen andere Studien, daß solche Leistungen vorwiegend über das Familien-und Verwandtschaftssystem organisiert werden. Vierter Familienbericht (Anm. 19); Th. Caplow et al., Middletown Families. Minneapolis 1982.

  44. R. v. Schweitzer. Altern in unserer Gesellschaft. Vortrag auf dem Symposium „Familie und Selbsthilfe“. Deutsches Jugendinstitut. München 1986.

  45. Zukunftsperspektiven (Anm. 10). S. 59.

  46. H. -P. Müller, Wertwandel und Arbeitsmarktkrise. Zehn Thesen zur Diskussion um die „Krise der Arbeitsgesellschaft“. Besprechungsessay, in: KZfSS, 39 (1987) 3, S. 580— 587.

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