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Rebellion ist gerechtfertigt | APuZ 20/1988 | bpb.de

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APuZ 20/1988 Artikel 1 1968: Ein Laboratorium der nachindustriellen Gesellschaft? Zur Tradition der antiautoritären Revolte seit den sechziger Jahren Der Mythos der „kritischen Generation“ Ein Rückblick 1968 — Die Antwort der CDU: Programmpartei Rebellion ist gerechtfertigt

Rebellion ist gerechtfertigt

Michael Sontheimer

/ 27 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die „Post 68er“, Jugendliche, die in den Sog der Revolte des Jahres 1968 geraten waren, fühlten sich weniger von den Theorien der Studentenbewegung angesprochen als vom Gestus der Rebellion: An den Universitäten fanden sie Mitte der siebziger Jahre das Erbe von ‘ 68 in Form von kommunistischen Sekten aller Art vor — und die schwerste Erblast der Studenenbewegung, die RAF. Die 68er hatten sich derweil zumeist schon auf die eine oder andere Weise arrangiert; sie kämpfen um ihre Forschungsaufträge statt gegen den Staat. Nach dem „deutschen Herbst“ 1977, mit der Entführung und Ermordung Hans-Martin Schleyers und dem Tod der Führer der RAF schlug die Ratlosigkeit und Resignation in Aktivismus um. In den alternativen Gründerjahren 1978 bis 1980 ging es nicht mehr um marxistische Theorie, sondern um selbstbestimmte Praxis. Das „Netzwerk“, die „taz“ und die GRÜNEN markieren den Ausbruch aus dem gesellschaftlichen Ghetto. In den achtziger Jahren rebellieren Punks und Hausbesetzer gegen die „APO-Opas“. gleichzeitig ergreift die Friedensbewegung das Bildungsbürgertum und den Mittelstand. Kulturell sind die Ideen von ‘ 68 schon lange nicht mehr die einer kleinen, radikalen Minderheit; die politischen Ziele sind jedoch nach wie vor in weiter Ferne. Gleichwohl: ‘ 68 ist nicht mehr rückgängig zu machen, auch wenn neue Zeitgeister und alte Rechte die Revision des 1968 initiierten Wertewandels fordern.

I. Selbstbestimmung, Freiheit und Abenteuer

„Die Idole der Jugend bewohnen nicht mehr die Welt der Erwachsenen. “

Kollektiv RAF. 1971

Es war Ostern 1968. Wir hatten unsere Carrera-Autobahn aufgebaut und rasten durch die Steilkurven, als der Vater meines Freundes hereinkam. Er erklärte mehr sich selbst als uns, daß „diese Studenten jetzt völlig durchdrehen“ würden. Nach den Schüssen auf Rudi Dutschke hatten Demonstranten das Springer-Hochhaus belagert. Eine BZ lag auf dem Tisch und auf der ersten Seite prangte ein Foto mit brennenden Springer-Autos. Es hatte eine größere Faszinationskraft auf uns als die elektrischen Rennautos. „ 1968 fing der Planet Feuer“, sagt Dany Cohn-Bendit.

Wir waren gerade dreizehn geworden und kannten Rudi Dutschke aus den Zeitungen und aus dem Fernsehen. Er gefiel uns. Weniger, weil wir seine scharfsinnigen Analysen verstanden hätten, sondern weil er mit seinen Bartstoppeln wie ein Rebell aussah. Wir hatten das Gefühl, daß er gegen die Falschheit und den Stumpfsinn predigte, von denen wir uns eingekreist fühlten. Wir interessierten uns schon für Politik, lasen von der Ermordung Martin Luther Kings und den Ghettoaufständen der Schwarzen, vom Pariser Mai und dem elenden Ende des Prager Frühlings. Gleichwohl waren diese aufregenden Ereignisse weit weg von unserer Welt pubertärer Bürgerkinder.

Wir — das heißt Jahrgang 55. Wir gehörten naturgemäß nicht zum Kern der Revolte, doch wir gerieten sehr schnell in ihren Sog. Ohne daß es uns damals so recht bewußt wurde, formten uns die Ideen von 68. Wir fanden unsere Identität im Widerspruch zu den herrschenden Verhältnissen. Die Ideen von 68 — an ihnen sind die letzten 20 Jahre nicht spurlos vorübergegangen. Sie wurden modifiziert und reformiert, pervertiert und begraben, weiterentwickelt und verraten. Bei diesem Prozeß spielte unsere Generation eine nicht unwichtige Rolle. Wenn schon ein Etikett gefordert ist, dann sind wir „Post 68er“.

Wir kamen zunächst durch einen geographischen Zufall in Kontakt mit den Aktivisten der Studentenbewegung: An unserer Schule vorbei führte eine große Straße. Sie verband die heruntergekommenen Quartiere der Berliner Innenstadt mit Dahlem, wo die Freie Universität liegt. Wenn wir mittags von der Schule nach Hause trampten, luden uns Studenten in ihre Enten. Käfer oder R 4‘s. Es waren zumeist freundliche Figuren, die einen ernst nahmen — endlich mal Erwachsene, die einen ernst nahmen. Sie sprachen über Vietnam — und wir lauschten interessiert. Es gab Parties bei Studenten mit Matratzen auf dem Boden und lauter Musik. Das gefiel uns.

Von heute aus betrachtet, gerieten wir sehr zufällig in die Bewegung, jedenfalls war dies kein rationaler Prozeß. Uns zog die Auflehnung an. „Rebellion ist gerechtfertigt.“ Den Satz von Mao Tse-tung merkten wir uns schnell. Was uns abstieß, waren Gewalt, Unterdrückung und Krieg. Ich bin sicherlich nicht der einzige.der nie mehrjenes Foto vergessen wird, auf dem das angstverzerrte Gesicht eines namenlosen Vietcong festgehalten ist, Sekunden, bevor ihn der Polizeichef von Saigon auf offener Straße hinrichtet. Andere, noch schrecklichere Bilder, die — auch wenn das pathetisch klingt — mein Leben verändert haben, fand ich im Bücherregal meiner Eltern: einen Foto-Band mit dem Titel „Der gelbe Stern“ — über den Holocaust.

Mit unserem kindlichen Erschrecken über grausames Unrecht waren wir allein. Die Lehrer belästigten uns wieder und wieder mit ihren Geschichten aus Stalingrad oder der russischen Gefangenschaft. Die Erwachsenen sprachen nicht über die Jahre zwischen 1933 und 1945 oder sie stellten sich als die schändlichen Betrogenen hin. Sie waren als Vorbilder unbrauchbar, also suchten wir uns eigene. Die Rolling Stones sangen „I can’t get no satisfaction“. später „Street fighting man“. Janis Joplins message hieß: „Freedom isjust another word for nothing left to loose.“ Jim Morrison: „We want the world an we want it now!“ 1969 war die Studentenbewegung auch an unser ehrwürdiges Berliner „Gymnasium zum Grauen Kloster“ geschwappt, in Gestalt von zwei Lehrern. Im Deutsch-Unterricht wurde nicht mehr „Die Kraniche des Ibicus“ gepaukt, sondern über den Vietnamkrieg diskutiert. Wir hingen in der letzten Reihe, legten die Füße auf die Schulbank, rauchten und kamen uns wichtig vor. Als die beiden besagten 68er-Lehrer nach einem halben Jahr wieder entlassen werden sollten, organisierten wir ein „Sit In“ vor der Aula. Die Andacht zu Beginn des Schuljahres wurde zu einem „Teach In“ umfunktioniert.

Für diese Aktion brauchte die „Ad hoc-Gruppe“ ein Megaphon, um die Mitschüler stilgemäß zu agitieren, also marschierten wir in eine Seitenstraße des Kurfürstendamm, wo die Kommune 2 residieren sollte. Dort übergab uns ein freundlicher Herr mit Brille das Megaphon, und zu unserer Verblüffung. ja Enttäuschung, entsprach er gar nicht dem bürgerscheckenden Schauerbild eines Kommunarden. Er hatte keine langen Haare und nicht mal einen Bart. Wir waren dennoch beeindruckt; es war unsere erste Begegnung mit einem Pionier des kollektiven Lebens — von dem wir alle träumten. Das „Elend der bürgerlichen Kleinfamilie“ hatten wir ja zur Genüge im Eltemhause studiert. Später, in den siebziger Jahren, zogen wir dann selber in Wohngemeinschaften.

In düsteren Kneipen, bei Rockkonzerten oder in den Gruppen und Komitees aller Couleur erlebten wir zuvor ein völlig neues Gefühl von Gemeinschaft. Ob Aristokratentochter oder Arbeitersohn, wir fühlten uns als brothers and sisters — es gab nur noch Genossen. Unser Ziel war die „klassenlose Gesellschaft“, das Ende der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Wir — das war zwar nur „eine kleine radikale Minderheit“, aber doch ein beträchtlicher Teil der Jugend Ende der sechziger Jahre, die in der Rebellion und der Verweigerung eine eigene Identität fand.

Die meisten meiner Freunde und mich faszinierte an der Studentenbewegung weniger die Auseinandersetzung um die demokratische Hochschule oder um Imperialismus-und Revolutionstheorien, als vielmehr unser eigenes Leben. Wir wollten leben, wie es uns gefiel: Selbstbestimmung, Freiheit und Abenteuer. „On the road“ von Jack Kerouac vermittelte dieses individual-anarchistische Lebensgefühl. Ebenso Allen Ginsbergs wilde Gedichte oder William S. Bourroughs düstere Drop Out-Romane. Die Beatniks predigten die permanente Ekstase und den Genuß von Drogen wie Marihuana und LSD. Das Bewußtsein wurde erweitert, oft auch nur verwirrt. Die Parole hieß Selbsterfahrung, Selbsterkenntnis, das Bedürfnis war Transzendenz. The summer of love in San Franzisco. Love, peace and freedom. Wir wurden Hippies. Alles Gute kommt aus Amerika.

Das galt paradoxerweise auch für unsere Eltern, die John F. Kennedy verehrten und daran glaubten, daß die Freiheit von Berlin mit Napalm in den Dschungeln Vietnams verteidigt werden muß.

Unsere Eltern nahmen wir damals ohnehin nicht ernst. Sie hatten sich ja nicht mal getraut, uns vernünftig aufzuklären. Wir redeten hingegen von der sexuellen Revolution und lasen Wilhelm Reich. Die Post 68er gingen da schon etwas unbelasteter heran, als die 68er, die von der Verklemmtheit der fünfziger Jahre geprägt waren. Wir kamen später — das hatte eine ganze Reihe von Vorteilen. Was uns allerdings nicht davor bewahrte, mit unseren Ansprüchen der Auflösung der „bürgerlichen Zweier-beziehung“ mit Besitzanspruch und Eifersucht ebenso zu scheitern wie die ersten Kommunen. „High sein, frei sein, Terror muß dabei sein.“ Trotz solcher radikaler Sprüche und rebellischer Posen: Zumindest anfangs waren wir harmlose Idealisten. Was uns allerdings nicht in den Kopf gehen wollte, war, daß dieses Land — wie Eltern, Lehrer und Politiker unentwegt beteuerten — der „freieste Staat auf deutschem Boden“ sein sollte. Die Reaktionen, die wir provozierten, sprachen eine andere Sprache: In der U-Bahn wurden wir wegen unserer langen Haare angepöbelt, Proleten beschimpften uns als „schwule Säue“. In der Großstadt ging es eigentlich noch. Als ein Freund von mir in einem niederbayerischen Bierzelt nicht aufstand, als die Blaskapelle „Alte Kameraden“ intonierte, fand er sich mit einem Schädelbruch im Krankenhaus wieder. Die Gewalt geht vom Volke aus. Der Nachhilfeunterricht in Staatsbürgerkunde, den uns die Polizei mit ihren Knüppeln auf der Straße verabreichte, tat sein übriges.

Wenn wir demonstrierten, brach sich das gesunde Volksempfinden freie Bahn: „Geht doch nach drüben“ war noch harmlos, „ab ins Arbeitslager“ normal. „alle vergasen“ nicht unüblich. Um uns herum — und das war eine bedrohliche Erkenntnis — ein Volk von Mitläufern, das vor 25 Jahren weniger vom Faschismus befreit, als zur Demokratie zwangsbekehrt worden war. Nazis in Amt und Würden. Daß Bachmann, der Dutschke niederschoß, ein Hitlerporträt über dem Bett hatte, paßte bestens in dieses Bild.

Wer da nicht radikal wurde, war in unseren Augen ignorant, feige oder korrupt — unser Reflex aufden Haß.der uns entgegenschlug, war Arroganz: „Spießer, Neckermänner, Faschisten.“

II. Das schwere Erbe von ‘ 68

„Ich bin gegen die Diktatur des Proletariats, weil ich gegen jede autoritäre Herrschaft bin. “

Dany Cohn-Bendit, 1968

Die Studentenbewegung von 1968 demonstrierte, wie schnell soziale Bewegungen scheinbar aus dem Nichts hervorbrechen, aber sich auch in Windeseile völlig verändern, ja geradezu umkippen können. „Alles drehte sich ungeheuer schnell vom Antiautoritären ins Autoritäre“, erinnert sich Astrid Proll, die nicht viel später bei der RAF landete. „Es wurde sehr ernst und es setzte sich eine Rigidität durch, die ich heute überhaupt nicht mehr nachvollziehen kann.“ Che Guevara, so Astrid Proll, zuvor noch strahlender Held, sei als „Abenteurer“ verurteilt worden. Bereits 1970 nach der Auflösung des Sozialistischen Deutschen Studentenverbandes, SDS, begann die Mehrheit der Studenten Lenin, Stalin. Trotzki, Thälmann und andere kommunistische Führer zu verehren. Man öffnete die Kostüm-kiste der internationalen Arbeiterbewegung, der „Proletkult“ brach aus: Die langen Hare mußten ab, Drogen waren fortan verpönt — ein anständiger Arbeiter säuft schließlich. Ein Bruch, der aus Erfahrung der eigenen Ohnmacht und der Suche nach politischen Bündnispartnern verständlich war, doch wir standen skeptisch am Rande. Die .deutsche Arbeiterklasse*, in der die Gründer der diversen kommunistischen Parteien das Heil wähnten, war und blieb uns suspekt. Wir, Anfang der Siebziger noch Schüler, glaubten nicht recht an die Revolution; vielleicht irgendwo in der Dritten Welt, aber nicht ausgerechnet in Deutschland. Schon da deutete sich ein Skeptizismus und Pragmatismus an.der uns von den 68ern, jedenfalls von ihrer selbst-ernannten Avantgarde, unterscheidet.

Als wir Mitte der siebziger Jahre an die Universitäten kamen, fanden wir dort das Erbe der Studentenbewegung vor, eine jämmerliche Hinterlassenschaft. Ein halbes Dutzend Studentenorganisationen der verschiedenen kommunistischen Parteien bekämpften sich ebenso unentwegt wie unerbittlich. Diese Vereine, hießen sie nun KSV, KHG, KSBML oder KB, belagerten rund um die Uhr den Campus mit ihren Büchertischen. Wer-sich allzu-sehr für eine Broschüre interessierte, mußte sich alsbald dagegen wehren, einer Rekrutierung zum Opfer zu fallen. Die einen sammelten für einen Landrover für die simbabwesische Befreiungsfront ZANU. die anderen für eine Poliklinik in Kreuzberg. Die einen waren erschüttert über den blutigen Militärputsch gegen die Unidad Populär Salvador Allendes in Chile, die anderen begrüßten ihn als verdientes Ende eines „Sozialfaschisten“. Es ging soweit, daß die Maoisten mit Eisenstangen auf die Trotzkisten einschlugen. Die politische Ohnmacht dieser Sekten führte dazu, daß sie sich wesentlich verbissener untereinander bekämpften, als den „Klassenfeind“, „die Bourgeoisie“ oder den „Imperialismus“, das alles umfassende Feindbild.

Unvergeßlich das Frühstück am 1. Mai 1975 in unserer Wohngemeinschaft: Als die Sponti-Fraktion in die Küche stürmte, um noch schnell einen Kaffee zu trinken, bevor wir zur Mai-Demonstration aufbrachen, saßen dort die beiden Maoisten in ihren Konfirmationsanzügen, weißen Hemden und Krawatten. Wir kriegten uns vor Lachen kaum ein über ihren Aufzug. „Heute ist der Festtag der Arbeiterklasse“. erklärten sie zutiefst beleidigt und weigerten sich, zusammen mit uns in unseren schmuddeligen Lederjacken zur Demonstration zu fahren.

Solche skurrilen Konflikte waren freilich nur ein Teil des Zerfallsprozesses der Bewegung. Uns verband immerhin noch das Primat des Politischen. Andere saßen längst zu Füßen verschiedenster Gurus. hatten sich karriereförderndere Meinungen zugelegt, sich in Landkommunen verkrümelt oder waren auf andere Weise resigniert.

Bei aller Verachtung des Sektenkrieges — auch unsere eigene gesellschaftliche Heimatlosigkeit brachte uns dazu, uns zu organisieren. Wir organisierten uns selbst, autonom, an der Universität in einer „Historikerinitiative“, außerdem in einer Stadtteilgruppe. Wir definierten uns gegen den Dogmatismus der K-Gruppen: Statt Kaderprinzip und Hierarchie vom Kandidaten bis zum ZK setzten wir Demokratie und Kollektiv. Inspiriert von der italienischen radikalen Linken nannten wir uns Spontaneisten. . Spontis* wurde das abgekürzt, und die traditionellen Linken wie Hermann Gremliza von „Konkret“ schmähten uns als „kleinbürgerliche Abenteurer“ oder Anarchisten. In Wirklichkeit machten wir eine undogmatische, vergleichsweise populäre Politik, die auf die Bedürfnisse der Leute einging. Statt die von der anonymen Massenuniversität verunsicherten Kommilitonen aus den ersten Semestern in den aktuellen Fragen des Klassenkampfs zu schulen, luden wir sie zu Kaffee und Kuchen ein, um gemeinsam über den „Uni-Frust“ zu lamentieren. „Das Persönliche ist politisch“, hieß die Devise; oft hatte das Ganze auch recht unpolitische Züge. Die Universität war eine Spielwiese; die Verbissenheit, mit der gegen das Hochschulrahmengesetz gekämpft wurde, hatte, von heute aus betrachtet, lächerliche Züge. Ebenso unser Vulgärmarxismus, für den das Postulat, daß die Geschichte eine Geschichte der Klassenkämpfe ist, wichtiger war, als die Details und konkreten Widersprüche eben jener Geschichte. Freilich verstiegen sich damals beide Seiten: Wenn wir beispielsweise seine Vorlesung zu einer Debatte über aktuelle hochschulpolitische Fragen umfunktionieren wollten, erblickte der Fachbereichsvorsitzende Emst Nolte in uns sofort marodierende SA-Horden.

Die wirklich ernste Politik hatte mit der Uni nichts zu tun. Das waren zum Beispiel die Hungerstreiks der RAF-Gefangenen und die verbotenen Demonstrationen nach dem Tod von Holger Meins, auf denen wir Tränengas schluckten und mal wieder vor den Knüppelgarden davonrannten. Die RAF war das fatalste Erbe, das uns die 68er hinterlassen hatten.

III. Die Emanzipation von ‘ 68

„Alle waren das ewige , Weg mit!“ und . Nieder mit!'leid, denn kaum einer wußte . was hoch?'

Gabriele Göttle Es war ein sonniger Wintertag im Februar 1978, als wir wieder einmal durch die Straßen Berlins zogen. Zehntausende aus der ganzen Bundesrepublik, aber auch Genossen aus Frankreich und Italien, waren zum „Tunix-Kongreß“ in die Stadt gekommen. Stundenlang wurde freudig eine schwarz-rot-goldene Fahne durch die dreckigen Straßen geschleift und schließlich am Ku-Damm angezündet. Das war den Exekutoren des staatlichen Gewaltmonopols dann doch zuviel: Sie knüppelten uns auseinander.

Dies paßte wiederum wunderbar in unser Bild vom „Modell Deutschland“. Wir registrierten, daß Sozialdemokraten Berufsverbote gegen Linksradikale und Kommunisten verhängten. Ulrike Meinhof unter dubiosen Umständen in Stammheim zu Tode kam. während für das ehemalige SS-Mitglied Schleyer Staatstrauer angeordnet wurde. Als im „Deutschen Herbst“ 77 die RAF Hanns Martin Schleyer und später dann einen Lufthansa-Jet entführte, fühlten wir uns mit dem Rücken zur Wand. Der Moralismus der RAF war vollends zu Zynismus und Unmenschlichkeit pervertiert. Politiker dachten ihrerseits öffentlich darüber nach, die Todesstrafe für Terroristen einzuführen. Und wer sich nicht eindeutig auf Seite des Staates schlug, war schon ein Sympathisant des Terrorismus — fanatischer Fundamentalismus auf beiden Seiten der Front im nichterklärten Bürgerkrieg.

Wir waren nicht für die RAF, aber für eine politische Auseinandersetzung mit ihrer tödlichen Ideologie und Praxis. Das Info-BUG, die Hauspostille der Berliner Spontis, das immer auf diesen Dialog gesetzt hatte, wurde wegen des „Verdachtes der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung“ kriminalisiert. Als Grundlage diente eines der Anti-Terror-Gesetze der Sozis, dieser „ewigen Verräter*. Wir fühlten uns auch von den meisten 68ern verraten, die um Planstellen oder Forschungsaufträge kämpften, anstatt gegen die Repression. Sie hatten sich arrangiert, während wir schutzlos den Lawund Order-Politikern ausgesetzt waren. Wir hatten die Schnauze voll.

Johnny Eisenberg ist ein paar Monate jünger als ich. Er gehörte damals zu den Initiatoren des Tunix-Kongresses, der unter dem von den Bremer Stadt-musikanten entliehenen Motto stand: „Etwas besseres als den Tod finden wir überall.“ Er erinnert sich: „Viele von uns wollten damals auswandern, weil sie schlicht keine Lust mehr hatten, in diesem Scheißland zu leben, mit seiner verkommenen Sozialdemokratie, die staatliche Repressionsapparate perfektionierte, wie es noch niemand in diesem Land getan hatte.“ Tunix war, ohne daß wir das damals bemerkt hätten, der Beginn unserer Wende — zwar nicht gleich zum westdeutschen Staat, aber doch zu seiner Kultur und Gesellschaft. Das Motto „Tunix“ verkehrte sich hinter unserem Rücken in sein Gegenteil. Johnny: „Schon während Tunix tauchte dort Peter Glotz auf mit seiner Theorie der zwei Kulturen und erprobte die Strategie des Dialogs und der Integration, die zumindest dem Bedürfnis unserer Generation, gehört zu werden, Rechnung trug.“

Bis dahin hatten wir gegen den Vietnamkrieg, gegen die Verschulung der Universitäten, gegen die Berufsverbote, gegen die unmenschlichen Haftbedingungen der RAF-Gefangenen demonstriert. Immer gegen irgendeine Aktion des Staates, immer in der Defensive, zumeist ohne etwas zu verhindern oder zu verändern, immer in einer Konfrontation mit dem Staat, in der wir ohnehin keine andere Chance hatten, als uns Strafverfahren oder Schläge zu holen.

Bis dahin herrschte die dumpfe Vorstellung: „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen“, zuerst müsse man die Revolution machen und dann wird die neue Gesellschaft aufgebaut. Die RAF zeigte, wie der Moralist als Revolutionär zum Monster mit Endsiegmentalität verkam, und spätestens Pol Pot begrub die Illusion von der Internationalen Solidarität der Unterdrückten dieser Erde auf den „Killing fields" Kambodschas.

Aus Tunix wurde Tuwas, es begannen die alternativen Gründerjahre. Was hat es für Sinn, immer einer fernen Utopie hinterherzulaufen, ewig in der Negation zu verharren. Das neue Ziel war die konkrete Utopie. 1968 hatte Franz-Josef Degenhardt „Vatis Argumente“ verhöhnt: „Ärmel aufkrempeln. zupacken, aufbauen“. Zehn Jahre später machten wir uns diese Devise selber zu eigen. Zunächst wurde das „Netzwerk“ auf die Beine gestellt, ein Fonds zur finanziellen Unterstützung der alternativen Projekte, die allenthalben aus dem Sponti-Sumpf sprießten. 1978 entstand die Alternative Liste in Berlin und kurz darauf in der Bundesrepublik die GRÜNEN. Ich persönlich landete bei der „taz“, der überregionalen alternativen Tageszeitung. „Wir warten nicht auf bessere Zeitungen“ hieß unser Werbeslogan; die „Drei Tornados“ reimten: „Lieber Hämmern, Sicheln, statt Jammern und Picheln.“ Johnny Eisenberg: „Die Alternativbewegung schäumte innerhalb kurzer Zeit auf, und in sie ließen sich erneut viele Hoffnungen investieren.“ (Wie diese dann wieder schmerzhaft von der Realität des alternativen Alltags relativiert wurden, ist eine andere Geschichte.)

Heute ist Johnny gelegentlich als Justitiar für die taz tätig, ansonsten ist er ein erfolgreicher Rechtsanwalt. Vor der Tür seiner Kanzlei steht sein Mercedes, nicht mehr der rostige mit einem roten Stern hinten drauf, sondern ein metallicgrüner Combi. „Mein Verhältnis zu diesem Land hat sich völlig verändert“, befindet er. „Inzwischen gehöre ich zu denen, die die zwanzigjährigen Autonomen nicht zu Wort kommen lassen. Als Anwalt bin ich Teil des Repressionsapparates. Ich kann mir Gehör verschaffen und nicht wenige aus meiner Generation sind Parlamentarier, höhere Beamte, Journalisten, Ärzte oder Künstler geworden.“ Auch wenn wir immer über die Grünen herziehen, sind wir im Grunde heute grüne „Realos“.

Bei den Post 68em vollzog sich diese Wende zur realexistierenden Gesellschaft meist schneller als bei den 68em. Weniger befangen in kruder Theorie, verfügten wir über den Pragmatismus, die alternativen Projekte zu realisieren. Weniger im dogmatischen Marxismus verfangen, hatten wir zudem frühzeitig die Brisanz eines entscheidenden politischen Konflikts der Zukunft erkannt.

1973 begannen Winzer und Bauern in einem bis dahin unbekannten Dorf namens Whyl von sich reden zu machen. Ihre Parole hieß „KKW Nein“, sie leisteten Widerstand dagegen, daß ihnen ein Atomkraftwerk vor das Haus gesetzt werden sollte. Sie besetzten gar den Bauplatz und lieferten sich Schlachten mit der Polizei. Gierig auf alles, was nach Revolte roch, begannen wir Broschüren von Bürgerinitiativen zu lesen und verstanden zumindest. daß ein Atomkraftwerk die gefährlichste Maschine ist, mit der man Wasser heiß machen kann.

Der Marxismus prophezeit die gesellschaftliche Emanzipation durch die Entwicklung der Produktivkräfte als nahezu zwangsläufigen Prozeß: Elektrifizierung plus Sowjets sei Sozialismus, hatte Lenin geglaubt, und die Renaissance des Marxismus in den sechziger Jahren hatte mit diesem kritiklosen Glauben an das Heil durch Technik nicht gebrochen. Die Berichte des Club of Rome lassen dagegen keinen anderen Schluß zu, als daß der Planet dem ökologischen Kollaps zutreibt. Ob das Gift aus einem volkseigenen Betrieb oder einem kapitalistischen kommt, ist für den Fluß ziemlich unerheblich. Die ökologische Frage wirbelt auf die Dauer die bislang festgefügten und nach dem Rechts-Links-Schema wohlgeordneten Fronten gründlich durch-B einander. In Gorleben demonstrierten nicht viel später Bauern neben uns Linksradikalen, trafen wir ältere Frauen ebenso wie kritische Wissenschaftler. Wir kletterten über den hohen Tellerrand des Ghettos, in dem wir bis dahin gelebt hatten.

Auf der ersten bundesweiten Demonstration gegen die Atomenergie in Bonn im Sommer 1979 traf ich Rudi Dutschke. Wir saßen lange aufdem Rasen des Hofgartens und Dutschke malte leidenschaftlich, in seiner einmaligen suggestiven Art zu sprechen, die Chancen einer grünen Partei aus. Sie war es, die letztlich 68er und Post 68er wieder zusammengeführt sowie Dissidenten aller Art integriert hat.

Inzwischen hat die Republik den einstigen Frankfurter Sponti-Häuptling Joschka Fischer als ersten grünen Minister erlebt. Die Spontis waren der entscheidende Motor für die Emanzipation von dem Fundamentalismus von ‘ 68 und seinen Dogmen. Gleichzeitig repräsentiert die fundamentalistische Strömung der Grünen die von den kommunistischen Sekten geprägte Ghetto-Mentalität der siebziger Jahre.

Rudi Dutschke hat den nachhaltigen Erfolg der Grünen nicht mehr erlebt. Er starb wenige Wochen vor der Gründung der Partei an den Spätfolgen des Attentats auf ihn aus dem Jahre 1968. Seine Frau schreibt heute: „Ich arbeite für die grüne Bewegung der Vereinigten Staaten, denn die Grünen sind unser Vermächtnis.“ Das klingt fast kitschig, doch es macht auch Mut.

IV. APO-Opas, Friedensbewegte, Autonome

„Mollis statt Müsli“ — Berliner Grafitti, 1981

Dezember 1980. eine Vollversammlung der Hausbesetzerbewegung, die gerade in den Westsektoren Berlins für Furore sorgt: „Seid ihr eigentlich vollkommen bekloppt, ausgerechnet ALDI plündern, dieses junkfood zieht ihr euch rein!“ Juppi, einer der Vorzeige-Alternativen von der UFA-Fabrik kann es nicht fassen. „Geh doch nach Hause Bio-Brot backen, du APO-Opa“, kontert ein Punk.

Die Kulturrevolution, die 1977 in London mit „Anarchy in the U. K.“, „No Future“ und anderen rohen Gesängen der Punk-Gruppe Sex-Pistols begann, hat auch hierzulande Epigonen gefunden. Ihre Haare sind kurz, stachlig und bunt. Sie rebellieren nicht nur gegen das „Schweinesystem“, sondern auch gegen die ergrauten 68er und die etablierten Alternativen, die ihnen in Gestalt von Eltern oder Lehrern auf die Nerven fallen: „Scheißhippies, Theoriewichser, Sozialärsche, Müslis . . .“ Solche Anwürfe machen den vormaligen Revolutionären von ‘ 68 mehr zu schaffen, als alle Kritik von rechts. Sie beklagen ihrerseits die Sprachlosigkeit, die Theoriefeindlichkeit, den Nihilismus der neuen Rebellen. Es gibt auch Studenten unter den Hausbesetzern, doch sie versuchen ihre Bildung zu verstecken. „Studi“ ist ein Schimpfwort geworden, der Rebell von ‘ 81 hat keine Arbeit und keine Perspektive.

Die Nächte zwischen den Barrikaden sind wie ein Rausch. „Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran“, heißt die Bewegungs-Hymne. Ein Wunsch freilich: Obwohl es in diesen Tagen auch in Zürich, London und Amsterdam brennt, der Aufstand der Hausbesetzer auch viel radikaler und militanter ist als die Studentenrevolte — er wird es gleichwohl in der Historiographie höchstens zu einer Fußnote bringen. Geschichte wurde 1968 gemacht.

Die Polizei verzweifelt, denn die Bewegung hat keine Führer mehr, an die sie sich halten könnte. Sprachen die Studenten oft in schwer verständlichen Begriffen, so verweigern die Rebellen von ‘ 81 schlicht den Dialog. Sie haben keine wirkliche Utopie mehr; sie haben wenig zu verlieren und dementsprechend schlagen sie zu. „Dagegen waren wir ja harmlose Bürschchen“, staunt SDS-Veteran Tilman Fichter nach einer großen Straßenschlacht. Er ist mittlerweile in der SPD, auf der anderen Seite der Barrikade. Die Rolle der realpolitischen Abwiegler der Bewegung fällt den „Post 68ern“ zu.

Die Autonomen spekulieren darauf, den Aufstand auszuweiten, sie träumen ebenjenen Traum von der Revolution, von dem wir uns verabschiedet haben. Wir treten in der Lokalredaktion der taz dafür ein, mit dem Senat und den Wohnungsbaugesellschaften um Verträge für die okkupierten Häuser zu verhandeln. Für die jungen, radikalen Wortführer der Bewegung sind wir Agenten des . allgegenwärtigen Schweinesystems', die die Bewegung integrieren und unschädlich machen wollen: Verräter, . etablierte Arschlöcher'. Die kleine, radikale Minderheit des Jahres 1981 will nicht mehr Springer enteignen, dessen Blätter genüßlich gegen die „Chaoten“ hetzen, sie radaliert lieber in den Redaktions41 räumen der taz. Trotz der zur Schau gestellten Verachtung der Jungen, der Punks und der Autonomen gegenüber den APO-Opas solidarisieren sich viele 68er mit den 81ern. Linke Professoren halten Vorlesungen in besetzten Häusern, ziehen dort ein, um Polizeiübergriffe bei Räumungen zu verhindern. Eine neue Generation der Revolte funktionalisiert die alte.

Eines wird uns klar: Jahrelang haben Mieterinitiativen Unterschriften gegen die katastrophale Wohnungspolitik gesammelt, es geschah nichts. Erst als auf dem Ku-Damm die Scheiben klirrten und Barrikaden in Flammen aufgingen, übertrafen sich die Politiker darin, die verfehlte Wohnungspolitik zu kritisieren. Rebellion ist nicht nur gerechtfertigt, sie kann auch erfolgreich sein. Über siebzig besetzte Häuser kann der Berliner CDU-Senat nicht räumen. Die Vision von der Selbstverwaltung der „rechtsfreien“ Räume ist allerdings in den meisten Häusern schon nach wenigen Monaten im Dreck und Psychoterror untergegangen.

August 1984, Mutlangen, ein Friedenscamp gegen die Stationierung der Pershing II: Für ein paar Wochen hausen Hunderte von Pazifisten in Zelten und Zirkuswagen und verwalten sich selbst. Da Demokratie nicht die Unterdrückung der Minderheit durch die Mehrheit sein soll, heißt die Devise „Basisdemokratie und Konsensprinzip“. Alle sollen über alles entscheiden, und es wird solange diskutiert, bis sich alle einig sind. Unser Tagwerk besteht aus dem Besuch von Sprecherräten, „Fischbekken“, Bezugsgruppenversammlungen oder Konsensfindungskreisen. Trotz harter Arbeit ist das Ergebnis meist Untätigkeit. Da man sich nie auf einen Aktionsvorschlag einigen kann, wird letztlich gar nichts gemacht. Eine Stadt oder ein Land, das sich so demokratisch verwalten würde, wäre innerhalb kürzester Zeit verhungert. Über allem schwebt das Gebot der bedingungslosen Friedfertigkeit. Auf den zahlreichen Versammlungen darf nicht gelacht, geklatscht oder geflucht werden, damit die jeweiligen Redner oder Rednerinnen nicht unter Druck gesetzt werden. Stundenlang muß man sich gleich-bleibend freundlich den größten Unsinn anhören. Die absurdeste Szene: Zwei Kinder, die das für Erwachsene obligatorische „gewaltfreie Training“ nicht absolviert haben, streiten sich um einen Ball und gehen ernsthaft aufeinander los. Vollkommen entsetzt und unfähig, dazwischenzugehen, stehen die Friedensaktivisten daneben. Sie singen wie schon bei den Ostermärschen der sechziger Jahre „We shall overcome". Etliche 68er sind dabei, noch mehr, die ‘ 68 verschlafen haben.

Nachdem die Polizei so schlau ist, Heinrich Böll, Günther Grass und andere Prominente nicht wegzuschleifen und festzunehmen und die wochenlang geprobte Inszenierung einfach sabotiert, fangen ein paar gelangweilte Aktivisten an, die Straße vor dem US-Militärcamp aufzumeißeln und Blumen zu pflanzen. „Laßt das“, verlangt ein friedensbewegter Schwabe, „das ist Gewalt“.

Mindestens ebenso absurd und lächerlich wie die Mystifizierung der „Randale“ durch die Autonomen ist die rituelle Beschwörung der absoluten Friedfertigkeit. In Mutlangen herrschte größere Angst vor den Autonomen, die die wochenlang geprobte Blockade durcheinanderbringen könnten, als vor der Polizei. „Es gab keine produktive Vermittlung von Erfahrungen zwischen den politischen Generationen“, beschreibt der ehemalige SDS-Mann Klaus Hartung das Dilemma. Nicht nur die Diskussion der Gewaltfrage dreht sich seit 1968 mit wechselnden Akteuren im Kreise.

Ich war nach Mutlangen gefahren, um meine Vorurteile gegenüber der Friedensbewegung zu korrigieren. Sie erschien mir jedoch schlimmer, als ich es mir mit der bösesten Phantasie ausgemalt hatte. In der Friedensbewegung dominieren Sozialdemokraten, Pfarrer, Lehrer, Mütter, Ärzte, der neue Mittelstand. Uns dämmert, daß der alternative Spießer nicht das ist, was wir uns einmal unter dem „freien Individuum“ vorgestellt haben. Gabriele Göttle spottet über diese Spezies: „Sie schlafen auf Roßhaarmatratzen den bleiernen Schlaf der Selbstgerechten.“

V. Schrecken eines Sieges

„Die 68er Bewegung hat den Alltag fest in der Hand. “

Rainer Langhans. 1988 „Das meeting war vielleicht uncool. Die ganzen Machokisten, die da abliefen, voll abtörnend. Ein einziger Frust, jeder war irgendwie auf einem anderen Trip. Wir haben echt zwei Tage gebraucht, um uns wieder zu relaxen.“ In diesem Stil — wenn auch nicht ganz so schlimm — redeten wir Mitte der siebziger Jahre. Nur: Wenn wir damals gewußt hätten, was das für verheerende Folgen haben sollte. Heute ist diese verkommene Sprache bis in jedes zweitklassige Femsehspiel, bis in jede Bankfiliale vorgedrungen. Aus dem Jargon der linksradikalen Subkultur ist gängiges Neudeutsch geworden.

Das Phänomen läßt sich auf verschiedene Weise formulieren. Erste Variante: 1968 begann die einzige Revolution auf deutschem Boden, die wirklich in den Köpfen der Menschen etwas verändert hat. Zweite Variante: In den Sphären der Mode und der Kultur wurden die Symbole von ‘ 68 integriert, um sie so ihres sozialen und politischen Hintergrundes zu berauben, konsumierbar und unschädlich zu machen.

So oder so. Die Diskrepanz zwischen der kulturrevolutionären Durchschlagskraft der Studentenbewegung und ihrer politischen Erfolglosigkeit ist eklatant. So sinnvolle Forderungen wie nach dem Nulltarif für öffentliche Nahverkehrsmittel sind heute ebenso utopisch wie vor zwanzig Jahren. Dagegen hatten die Polizisten, die uns Mitte der siebziger Jahre knüppelschwingend auf Demonstrationen gegen die Erhöhung der Bus-und U-Bahn-preise hinterherspurteten, schon längere Haare als wir weiland in den Sechzigern.

Was aus den Ideen der kleinen radikalen Minderheit wurde, nachdem sie von der Mehrheit aufgesaugt wurden, kann ihre altgedienten Protagonisten nur zur Verzweiflung bringen. Dem Aufstand der SDS-Frauen gegen die . Macker'dankt beispielsweise heute eine christdemokratische Frauenbeauftragte ebenso ihren Job wie die Inhaberinnen im besten Bürokratendeutsch so genannter „Gleichstellungsstellen“. Was in chaotischen Wohngemeinschaftsdebatten begann, endete in der Therapiegesellschaft. Das Brechen der Tabus der Sexualität ebnete das Terrain für die widerliche Porno-Industrie.

Die Stern-Kolumnistin Paula Almquist verbreitet sich unter dem Motto „Gefühle ‘ 88" über das „Zeitgeist-Phänomen“ der „Beziehungskiste“. Im Sponti-Slang der siebziger Jahre stand „Kiste“ noch für etwas sperriges, man laborierte an „Autoritätskisten“ wie an „Beziehungskisten“. In der Sponti-Postille „Info-BUG“ wurde alsbald heftig über Macker und Softis debattiert. Daß Frau Almquist den Ursprung der „Beziehungskiste“ recherchieren würde, ist offensichtlich zu viel verlangt. Sie kommt stattdessen zu folgenden Erkenntnissen: „In der Beziehungskiste begnügt man sich nicht mit so läppischen Fragen wie der, mit wie vielen Männern/Frauen der andere schon geschlafen hat. Sondern schließt in die Penetration der Partnerseele sowohl Beates Vorfahren wie auch Bernds Nachmieter ein.“

Ob je — das Bildungsbürgertum hat die Emanzipationsdebatten in einer Geschwindigkeit aufgesaugt, die wir uns nie haben träumen lassen. Das Niveau, auf dem sie dort heute vielfach verwest werden, hätten wir allerdings in keinem Alptraum antizipieren können. Positiv hingegen: Der Feminismus, ursprünglich ein Zerfallsprodukt der Bewegung von ‘ 68, hat sich zwar nicht mit seinen radikalen Forderungen durchgesetzt, aber doch die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern in nahezu allen gesellschaftlichen Sphären vorangebracht. Neben der Entdeckung der Ökologie haben die Ideen des Feminismus einen breiten Bewußtseinswandel, ein Stück reale Veränderung erreicht.

Schon 1983 war im „Pflasterstrand“ zu lesen: „Wo jeder sich als Dissident fühlt, und sei es hinter der verschlossenen Reihenhaustür, verliert der Revoltierende die Aura des Unerhörten und damit ein Stück der Gewißheit seiner Bedeutung.“ Ein Freund, inzwischen Abgeordneter des Europa-Parlaments, spottet über den daraus oft resultierenden elitären Dünkel: „Jahrelang konnte man sich als einsame Avantgarde gefallen, und wenn dann die Massen endlich die propagierten Ideen übernehmen, ist man beleidigt.“

Weniger beleidigt als deprimiert kann man angesichts dessen sein, welche der politischen Ziele von ‘ 68 erreicht wurden. Es soll hierbei gar nicht von der Revolution die Rede sein, sondern von den radikal-demokratischen, humanistischen Forderungen. Nach dem Urteil von Heinrich Albertz ist das „nichts oder fast nichts“. „Wir haben die Erfahrungen der späten 60er Jahre gemacht“, schreibt der ehemalige Regierende Bürgermeister West-Berlins. „als die junge Generation, vor allem Studenten, letztlich aus einem einzigen Grunde rebellierte; der Unglaubwürdigkeit der Mächtigen, dem Widerspruch zwischen Gesagtem und Getanem, dem Zerfall der Wertvorstellungen in einer Gesellschaft, in der Freiheit vor allem die Freiheit der Ellenbogen des Stärkeren bedeutet.“

Für Albertz, der regierte, als am 2. Juni 1967 der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten getötet wurde, wurde dieser Tag zu einem Wendepunkt. Heute sagt er: „Wir zerstören systematisch die Schöpfung Gottes, wir beuten die Völker der Dritten und Vierten Welt rücksichtslos aus, wir rü43 sten uns zu Tode .. . Der Graben der Widersprüche ist seit 1967 nur noch breiter geworden.“ Karl-Heinz Roth, ein ehemaliger Hamburger SDS-Aktivist, urteilt noch viel verbitterter und härter: „Wir leben in einer spätnazistischen Gesellschaft mit pseudoparlamentarischem Überbau.“

Anlaß zur Verzweiflung bietet sich genug. Zwanzig Jahre nach ‘ 68 wird ein Jugendlicher wegen Anschlägen auf Strommasten zu neun Jahren Gefängnis verurteilt; die Polizisten, die einen Demonstranten — zumindest fahrlässig — mit einem Wasserwerfer zermalmen oder jugendliche Autodiebe erschießen. brauchen nach wie vor keine Angst zu haben, dafür hinter Gittern darben zu müssen. Die Konfrontation zwischen rebellierenden Jugendlichen und der Staatsgewalt ist immer härter geworden: Gegen die Polizisten, die an den Zäunen von Wackersdorf dem Atomstaat sein brutales Gesicht geben, erscheinen die Schupos des Jahres ‘ 68 mit ihren Tschakos geradezu operettenhaft — und viele Autonomen von heute sind gegen die Anarchisten der sechziger Jahre brutale fighter.

Die letzten zwanzig Jahre lassen sich allerdings auch ganz anders interpretieren: Die Gesellschaft ist der Politik weit voraus geeilt, die politische Klasse hat dank Lambsdorff, Vietor oder Barschel und manch anderen ihre Glaubwürdigkeit in einem Maße verloren, das 1968 nicht vorstellbar war. So gut wie niemand glaubt heute einem Umweltminister mehr, daß er die Atomwirtschaft wirklich kontrollieren kann. Kein Arbeitsloser nimmt den Politikern das Gerede vom Aufschwung ab. Es existiert allerdings ein entscheidender Unterschied zwischen 1968 und 1988: Das kritische Bewußtsein wird kaum noch in politisches Handeln umgesetzt.

VI. Neue Zeitgeister und alte Rechte

„Rebellion war 1968 keine Kunst.“

Markus Peichl „Nicht die 68er Revolte erscheint mir heute lächerlich. sondern ihre Kinder. Die Zuspätgeborenen, die glauben. Rudi Dutschke sei erst gestern vom Fahrrad geschossen worden. Die Revolutionsromantiker, die von der RAF schwärmen und sich beim Schwarzfahren in die Hose machen.“ Der dies schrieb, heißt Lukas Koch und ist Redakteur des Zeitgeist-Magazins „Tempo“.

Sie haben es auch wirklich schwer, die jungen Männer, die in den letzten Jahren zum Kampf gegen die Hegemonie der 68er im Kulturbetrieb und in den Medien angetreten sind. Sie leiden, denn wohin sie auch blicken — überall sind schon 68er. „Sie halten das Feuilleton besetzt wie ein verstopftes Klo“, giftet der 29jährige „Tempo“ -Chefredakteur Markus Peichl. „Sie überschütten das ganze Land mit ihrer Jammerkultur, delektieren sich am Innerlichkeitsgeseire des deutschen Autorenkinos.“ Es scheint kein rechter Platz mehr zu sein für die Protagonisten des aktuellen Zeitgeistes in der Heldengalerie der Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Also wird „der blauäugige Traum der Hippie-Ära“ posthum geschmäht, oder man mokiert sich über den „heroischen Widerstand der Linken“.

Nur, was ist die Alternative? Nehmen wir Matthias Horx. einen Post 68er und ehemaligen „Tempo" -Redakteur, der seit Jahren die kulturellen Folgen von ‘ 68 publizistisch ausweidet. Er feiert „die unmoralischen 80er Jahre“, in denen „die konsequenten Weltbilder auseinanderbröseln wie alter Käse“. Seine Vision: „Man stelle sich einmal vor, wenn es erst richtig losgeht mit dem produktiven Durcheinander. Wenn, sagen wir. die Bodybuilder philosophisch werden und die Yuppies links, die Liberalen radikal und die Spießer rebellisch, das Banale intellektuell und das Intellektuelle banal . . .“

Alles so schön bunt hier. Die Dekoration hat den Sinn verdrängt, der Effekt die Logik, die Form den Inhalt. Zeitgeist Horx über die gesellschaftlichen Auswirkungen der Revolte von ’ 68: „Seit zwanzig Jahren hat das gesellschaftliche Ökosystem große Mengen mutationsfähiger Spezies hervorgebracht. Die Subkulturen und Sub-Subkulturen, das ganze Panoptikum vom Landfreak bis zum Turnschuhmanager. Aber es hat dies nicht getan, um sich zu ändern, sondern um stabiler zu werden. Mehr noch: Es hat Utopien, Revolten und Radikalismen nur deshalb hochkochen lassen, um große Brüche und Radikalprogramme oder radikale Umverteilungen ein für allemal zu verhindern!“

Fazit: Es ändert sich ohnehin nichts. Also das Heil in einer schönen Welt der beliebigen Banalitäten suchen? Sich darüber ereifern, wer der Superstar der Saison ist? Die Frage, ob der neueste Megatrend gerade noch „in“ ist oder schon wieder „out“, verblaßt leider gegen die Fragen, die die 68er aufgeworfen haben, zur völligen Bedeutungslosigkeit. Das allerdings scheint auch der „Tempo" -Chefredakteur Markus Peichl zu ahnen: „Unsere Generation“, schreibt er, „hat keine Visionen, keine Utopie, keine Ideologie.“ Es wird nichts von ihr bleiben.

In ihrem Bemühen. ‘ 68 zu überwinden, treffen sich die jungen Zeitgeister mit den alten Rechten dieses Landes. „Nicht nur in Frankreich spricht man von der Generation der 68er“. so Franz-Josef Strauß in einer Rede im Jahre 1983. „Aber die damals ausgelösten Erschütterungen wirkten in Deutschland stärker und weiter als in allen westlichen Ländern.“ Werte wie „Disziplin. Ordnung, Leistung“ seien diffamiert worden. „Nicht nur hinter Begriffen wie Heimat, Vaterland, Dienst, Opferbereitschaft wurde ein angeblich reaktionärer, wenn nicht gar faschistoider Hintergrund ausgemacht.“ Strauß fordert: Obsta principiis. „Hitler haben wir, wenn auch vielleicht noch nicht endgültig, bewältigt“, schrieb der konservative Vordenker Ludolf Herrmann. „Nicht bewältigt aber haben wir die Bewältigung Hitlers, wie sie zur Studentenrebellion von 1968 und zu den fundamentalen Umwertungen der Folgezeit geführt hat.“ Herrmanns Forderung: „Die Wende, die wir benötigen, besteht nicht darin, daß wir ein weiteres Mal 1933 oder 1945 verdauen, sondern daß wir den nachträglichen Ungehorsam gegen Hitler überwinden.“

Die deutschen Tugenden, in deren Namen das Land zwei Weltkriege entfachte, sind tatsächlich in dem von ‘ 68 ausgehenden Wertewandel untergegangen. Das Utopia des Bundesbürgers ist nicht mehr der Arbeitsdienst, sondern der Freizeitpark. Konservativ, was deutsche Tugenden anbelangt, sind höchstens noch die Idealisten, die sich in ihrem Alternativprojekt der Selbstausbeutung unterwerfen. Der ÖTV-Funktionär, der sich über eine drohende Kürzung von luxuriösen Beamtengehältern präventiv ereifert, hat sich die 68er-Parole „Nieder mit dem Leistungszwang“ auf absurde Art und Weise zueigen gemacht. Jürgen Habermas nennt es den „subkutanen Wandel der Einstellungen und Vorstellungen“. ‘ 68 läßt sich nicht mehr rückgängig machen. Diese Erkenntnis ist auch schon in der CDU weit vorgedrungen, genauer gesagt, christdemokratische 68er haben sie durchgesetzt. Wulf Schönbohm studierte in den sechziger Jahren in Berlin und mußte erschüttert feststellen, „daß die CDU auf die zentralen Fragestellungen der Studentenbewegung überhaupt keine Antwort wußte“. Heute ist er Leiter der Planungsabteilung im Bonner Konrad Adenauer-Haus und entwickelt moderne Strategien zum Machterhalt.

Sie haben ebenso wie der CDU-Querdenker Kurt Biedenkopf erkannt, daß es sinnlos ist, trotzig auf eine Revision der Nachkriegsgeschichte zu pochen. „Vor zwanzig Jahren waren die Deutschen Militärs und Saubermänner“, charakterisiert der 68er Klaus Wagenbach den Wandel des gesellschaftlichen Szenarios. „heute sind sie vergleichsweise unordentlich. unsauber und friedlich“. Es geht voran.

Literatur:

Gerhard Bauß: Die Studentenbewegung der sechziger Jahre, Köln 1983 Dany Cohn-Bendit: Wir haben sie so geliebt, die Revolution, Frankfurt 1987 Ulrich Chaussy: Die drei Leben des Rudi Dutschke. Frankfurt 1986 Peter J. Grafe: Schwarze Visionen — Die Modernisierung der CDU, Reinbek 1986 Matthias Horx/Albrecht Sellner/Cora Stephan (Hrsg.): Infrarot — Wider die Utopie des totalen Lebens — Zur Auseinandersetzung mit Fundamentalopposition und „neuem Realismus“, Berlin 1983 Matthias Horx: Die wilden Achtziger — Eine Zeitgeist-Reise durch die Bundesrepublik, München 1987 Claus Leggewie: Der Geist steht rechts — Ausflüge in die Denkfabriken der Wende, Berlin 1987

Mario Krebs: Ulrike Meinhof — Ein Leben im Widerspruch, Reinbek 1988

Kursbuch 65: Der große Bruch — Revolte 81, Berlin 1981 Kursbuch 89: Blüh im Glanze, Berlin 1987 Wilhelm Pevny: Die vergessenen Ziele — Wollen sich die 68er davonstehlen? Wien 1988 Reden über das eigene Land: Deutschland, Band 2, München 1984 Die alte Straßenverkehrsordnung — Dokumente der RAF — Mit Beiträgen von W. Pohrt, K. Hartung, G. Goettle, J. Bruhn, K. H. Roth, K. Bittermann, Berlin 1986

Fussnoten

Weitere Inhalte

Michael Sontheimer, geb. 1955 in Freiburg; Studium der Neueren Geschichte sowie der Politologie und Publizistik an der Freien Universität Berlin; 1979 Mitbegründer der „tageszeitung" (taz) in Berlin; seit 1985 Redakteur beim Dossier der ZEIT in Hamburg. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Benny Härlin) Potsdamer Straße — Sittenbilder und Geschichten. Berlin 1983; (zus. mit Jochen Vorfelder) Antes & Co. — Geschichten aus dem Berliner Sumpf, Berlin 1986; (Herausgeber zus. mit Otto Kallscheuer) Einschüsse — Besichtigung eines Frontverlaufs zehn Jahre nach dem Deutschen Herbst, Berlin 1987.