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Gesellschaftliche Rahmenbedingungen und pädagogische Reflexion. Politische Bildung für Erwachsene | APuZ 51/1988 | bpb.de

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APuZ 51/1988 „Gewissenhafte Pflichterfüllung zum Wohle der Allgemeinheit“? Ein subjektiver Rück-und Ausblick auf 40 Jahre politische Bildung in der Bundesrepublik Deutschland Politische Bildung als Politikum — Ein unbewältigtes Problem. Rückblick und Ausblick eines Beteiligten nach zwanzig Jahren Streit Gesellschaftliche Rahmenbedingungen und pädagogische Reflexion. Politische Bildung für Erwachsene Perspektiven politischer Bildung zwischen „Tagespolitik" und „Zukunftsaufgaben“. Demokratie-Lernen und Neue Werteerziehung in relativer Autonomie gegenüber Staat und Parteien

Gesellschaftliche Rahmenbedingungen und pädagogische Reflexion. Politische Bildung für Erwachsene

Werner Lenz

/ 24 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Steuerung der Politik durch professionelle Mandatsträger entlastet, aber entmündigt auch die Staatsbürger bezüglich ihres direkten politischen Engagements. Der Rückzug aus der politischen Öffentlichkeit wird zudem durch die Komplexität der Probleme sowie durch das Kokettieren mit dem Weltuntergang gefördert. Erwachsenenbildung genießt seit jeher politische Aufmerksamkeit. Mit der zunehmenden Notwendigkeit der ständigen Weiterqualifizierung ist sie immer mehr ein Instrument ökonomischer Interessen geworden und hat ihren traditionellen emanzipatorischen Anspruch reduziert. Politische Bildung rückt an die Peripherie, sozialpolitische Aktivitäten erhalten deutliches Gewicht. Soll politische Bildung wieder mehr Bedeutung erhalten, dann müßten mit den Veränderungen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auch die didaktischen Zielsetzungen revidiert werden. Erkennen von Zusammenhängen. Einbeziehung der historischen Dimension und Reflexion des Sprachgebrauchs. Berücksichtigung der Alltags-und Berufserfahrungen sowie die Auseinandersetzung mit den institutionellen Gegebenheiten derjeweiligen Bildungseinrichtung bestimmen die Qualität politischer Bildung für Erwachsene.

I. Wenig Spielraum für politische Beteiligung

„Laßt mich zufrieden, ist der logos der Zeit. Die wenigen, die aufwachen und schreien, werden weg-gesteckt, und dann ist es wieder ruhig.“ Auf diese Weise drückte George Tabori seine Ansicht über unsere politische Kultur aus -Er hat nicht so unrecht. Wem gelingt es schon, ohne die machtvolle Unterstützung durch die Massenmedien die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit für länger und mit Konsequenzen auf ein politisches Problem zu lenken? Und wer die Medien nutzt, befindet sich sehr schnell im Sog öffentlicher Geschäftigkeit. Eine eigene Dynamik entwickelt sich, die Täter und Opfer verschlingt, auslaugt und bald ans Ufer öffentlicher Neugier spült. Zur Makulatur des Alltags reduziert, verkümmern die Reste versuchten Widerstandes. Nichts ist uninteressanter als die papierenen Neuigkeiten von gestern, nichts so schwer, wie das Interesse des Publikums über den Tag hinaus wach zu halten.

Ist der Wunsch nach politischer Bildung für Erwachsene eine schimmernde Illusion? Ein Glanz, der blendet und schon längst Entschiedenes als noch beeinflußbar erscheinen läßt? Vielleicht eine Hoffnung, noch den Fuß in die zufallende Tür stellen zu können? Oft wird die Forderung nach politischer Bildung von der Erwartung getragen, das politische Geschehen durch die Beteiligung der betroffenen Menschen mitbestimmen zu können. Dieser optimistischen Position, die Demokratie als aktive Anteilnahme möglichst vieler Staatsbürger interpretiert, steht eine pessimistische gegenüber. Sie erhebt die Forderung nach politischer Bildung aus der Sorge um den demokratischen Zustand unserer Gesellschaft. Der Bielefelder Pädagoge Hartmut von Hentig hat vor einigen Jahren die Bundesrepublik als eine „entmutigte Republik“ bezeichnet Die Bürger seien enttäuscht, daß viele Probleme ungelöst blieben. Es sei notwendig, meint Hentig. daß die Menschen lernten, „Mut zur Republik“ zu bekommen, sonst brächten die nächsten gesellschaftlichen Turbulenzen den Untergang der demokratischen Staatsform mit sich. „Untergang“ ist allerdings in den letzten Jahren ein vertrauter Begriff geworden. Wir haben rasch gelernt, damit zu leben. Das läßt mich an das eingangs angeführte Zitat von George Tabori erinnern: Katastrophen werden registriert, wir stecken sie weg und leben ungestört weiter. Besonders der Club of Rome hat mit seinen verschiedenen Studien darauf hingewiesen, daß sich unsere Welt am Rande des Abgrunds bewegt: Atomrüstung. Überbevölkerung, Hunger, Umweltzerstörung sind die Ursachen. Wie sehr aber zeigen wir uns davon berührt — was regt uns noch auf. was beunruhigt uns? Leben wir in einer großen trägen Masse, die sich über die Warnungen einzelner hinwegwälzt? Sind wir durch nichts mehr aufzuschrecken? Ist die bequeme Decke aus Wohlstand und Konsum so angenehm und zugleich so niederdrückend, daß sie niemand abwerfen kann und will? Wir sind in der Tat nicht mehr leicht zu beeindrucken. Auch Tschernobyl haben wir längst „weggesteckt“ oder das tägliche Verhungern tausender Kinder — eine kurze Information allenfalls, mehr ist es nicht

Oft höre ich, es gehe uns zu gut, deshalb rühre uns nicht, was sich um uns herum ereignet; deshalb kümmere uns das Leid unserer Mitmenschen und die Zukunft unserer Welt zu wenig. Ich schlage vor, einmal das Gegenteil zu bedenken: Vielleicht geht es uns zu schlecht, um uns um den Weiterbestand der Welt und das soziale Wohlergehen der Menschheit zu kümmern. Vielleicht geht es uns zu schlecht, um die Kraft und die Energie aufzubringen, uns zu entrüsten und zu wehren. Es gibtgenug Alltagssorgen. familiäre Querelen und Beziehungsprobleme, die den Blick über das Unmittelbare hinaus kaum erlauben. Es gibt das Überangebot an Information, die Verflochtenheit von Interessen, die Komplexität, die die eigene Ohnmacht bewußt macht und nicht den Mut zum Widerstand weckt. Es gibt den Verlust solidarischen Handelns und eines Zusammengehörigkeitsgefühls — wir erfahren uns vereinzelt. klein und schwach. Es gibt die Sorge um den Arbeitsplatz, den Druck durch die Intensivierung der Arbeit, den Lohn, der bis zur nächsten Auszahlung reichen soll, das Überangebot an einschläfernder Unterhaltung.

Viele Menschen beurteilen sich als vom gesellschaftlichen System und dessen Strukturen abhängig, empfinden sich wehrlos und ausgeliefert. Sie leben in der Rolle des Opfers. Der Sozialpsychologe Gerhard Vinnai hat sich mit dieser Mentalität auseinandergesetzt: „Wer sein Dasein bloß als Opfergang ansieht, solange noch die Möglichkeit besteht, mehr als das aus ihm zu machen, ist unterschwellig einer lähmenden Faszination verfallen, die von zerstörerischer Gewalt ausgeht. Immer mehr Menschen stellt sich die Realität als tot und zukunftslos dar, sie erfahren ihr Leben als sinnlos. Es sollte stutzig machen, daß diese Menschen nicht mehr Ausbruchsversuche aus ihrer Misere machen, wo sie doch, wenn sie ihre Einstellung wirklich ernst nähmen, eigentlich wenig zu verlieren hätten. Sie haben wohl unter anderem auch Angst, die erworbene Psyche zu verlieren, die sie masochistisch ans Bestehende fesselt. Daß man mehr Freiheit wünscht, heißt nicht, daß man sich nicht auch vor der Freiheit fürchtet, weil sich die unterdrückende Realität in die Psyche hineinverlängert.“

Mit dieser Widersprüchlichkeit — dem Wunsch nach und der Angst vor der Freiheit — läßt sich die psychische Voraussetzung für politisches Handeln und für politische Beteiligung eindrucksvoll charakterisieren. Demokratie lebt vom Engagement, sie zu bewahren; sie lebt von der Bereitschaft, an ihr mitzuwirken. Martin und Sylvia Greiffenhagen haben in ihrem Buch, das sich mit der politischen Kultur Deutschlands beschäftigt, ein wachsendes Demokratiepotential konstatiert. Sie bemerken eine Entwicklung des politischen Bewußtseins vom Obrigkeitsstaat weg und hin zur Demokratie. Leider wird aber, so urteilen die beiden Verfasser, diese Chance auf Demokratisierung durch manche Geschehnisse der praktischen Politik desavouiert. Die Autoren werfen den Politikern vor, den Demokratiewillen der Bevölkerung und vor allem der Jugend schlecht zu nutzen und sich an überkommenen Kriterien des deutschen Obrigkeitsstaates zu orientieren: „Anstelle einer pluralistischen Demokratie entwickelt sich gegenwärtig ein Grabensystem parteipolitischer Polarisierung, an die Stelle weltanschaulicher Weitherzigkeit treten Systeme von Grundwerten als tiefgestaffelte Festungslinien, statt eines freiheitlichen politischen Ideenaustausches wachsen die politische Inquisition und der Index verbotener Schriften, Schulbuchtexte, Fernsehfilme, Kommentare, Schülerzeitungen, Vereinigungen und politischer Aktivitäten.“

Ich beabsichtige nicht, Schuldzuschreibungen vorzunehmen. Das wäre eine Vereinfachung und der Komplexität politischer Abläufe nicht adäquat. Ich möchte nur als Ergebnis der ersten Überlegungen festhalten: — Das Erreichen von demokratischen Bedingungen gibt noch keine Gewähr für ihren Fortbestand. Demokratie bedarf der dauernden Anstrengung, um sie zu erhalten. — Die gesellschaftliche Situation mit ihren komplexen Problemen verleitet zur Resignation, zur Opferhaltung und zur Untergangsstimmung. Die Einstellung, sich selbst als Opfer des gesellschaftlichen Systems zu betrachten, lähmt positive Aktivität. — Dem artikulierten Wunsch nach Freiheit steht eine latente Angst vor Freiheit gegenüber. Ob vorhandenes Demokratiepotential genutzt wird, liegt nicht zuletzt an der realen Politik.

II. Politische Sozialisation als Hürde für politische Bildung

Menschen sind zugleich Produzenten und Produkte der Gesellschaft. Damit kommt zum Ausdruck, daß die Bedingungen und Umstände, unter denen wir leben, gestaltbar sind. Diese Aussage beinhaltet aber auch, daß wir unsere Lebensformen gemäß den Verhältnissen, in denen wir existieren, ausgestalten. Letzteres verweist auf unsere passive Übernahme von Einstellungen, Werten, Verhaltensweisen, Orientierungen und Normen, was mit dem Begriff „Sozialisation" ausgedrückt wird. Als „politische Sozialisation“ bezeichnet man den Prozeß, durch den die Voraussetzungen für die politische Existenz des einzelnen geschaffen werden. Soweit wissenschaftliche Erkenntnisse dazu vorliegen, sind die Einsichten nicht allzu ermutigend. Ich folge der Zusammenschau bei Bernhard Claußen — politische Kenntnisse und Einsichten sind in der Bevölkerung, besonders in den unteren Schichten, gering;

— gegenüber dem eigenen konkreten Lebensbereich wird Politik großteils als abstraktes Feld, das dem eigenen Handeln und Einfluß kaum zugänglich ist, verstanden; — mangelndes Interesse an der Herstellung und Sicherung demokratischer Verhältnisse sowie die Hinnahme bestehender Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten stabilisieren die herrschenden Zustände.

Die Verbindung zur politischen Bildung ist offensichtlich: Vermag sie etwas gegen die Verfestigungen, die in den Sozialisationsprozessen geschaffen wurden? Wissenschaftlich eindeutig läßt sich diese Frage nicht beantworten. Es ist allerdings erkennbar, daß die Sozialisationsvorgänge in der Kindheit keine endgültigen Determinierungen mit sich bringen. Wenn auch hier die entsprechenden Kriterien geformt und beeinflußt werden, so bleibt doch die Chance lebenslanger Neuorientierungen bestehen Ich halte eine diesbezügliche Bildungsarbeit für besonders wichtig. Die Menschen werden dann eben nicht bloß den sozialisatorischen Einflüssen überlassen, sondern erhalten die Möglichkeit, politische Vorgänge und gesellschaftliche Rahmenbedingungen als gestaltbar zu verstehen.

Sind die Erwachsenen politikverdrossen? Sind sie überhaupt an politischer Bildung interessiert? Auf den ersten Blick würde ich die erste Frage angesichts der bescheidenen Bildungsangebote und der oft demaskierenden Diskussionen, die unter dem Titel „Politik“ von Berufspolitikern über die Massenmedien verbreitet werden, mit „ja“, die zweite mit „nein“ beantworten. Doch so einfach ist es nicht.

Unser demokratisches System wird ja von der großen Mehrheit der Bevölkerung durch Nutzung des Wahlrechts mitgetragen, politische Veranstaltungen und Redner ziehen genug Aufmerksamkeit auf sich, politisches Geschehen beeinflußt die Gespräche und Diskussionen — und sei es auch nur entrüstet und schimpfend.

Die Lebensbedingungen in unserer Gesellschaft sollten uns veranlassen, darüber nachzudenken, unter welchen Voraussetzungen Menschen urteilen, entscheiden, handeln, in welchen Konstellationen sich politisches Bewußtsein entwickelt. Ich nenne einige Phänomene, die sich, unter dem Etikett des Fortschritts zunächst freudig akklamiert, deutlich gegen die humane Qualität menschlicher Existenz gewendet haben:

— Massenmedien bieten eine überschaubare Welt, doch wir leben im Unüberschaubaren: Die Welt wird offensichtlich kleiner, die Konsequenzen politischer Handlungen werden aber nicht absehbarer; die Überinformation verringert das Wahmehmen wirklich bedeutungsvollen Wissens und verstellt das Erkennen von Zusammenhängen.

— Unter immer mehr Menschen wird das Leben isolierter; es bestehen viele Kontakte, aber nur wenige vertrauensvolle Beziehungen; Bekanntschaften reduzieren sich auf oberflächliche Freundlichkeiten, individualistische Bindungen verringern die Chancen solidarischen Handelns. — Die Mobilität ermöglicht Bewegung und einen erweiterten Horizont, vermindert aber zugleich die Wertschätzung eines Lebensraumes; zurück bleiben die ausgebeutete, nicht regenerierbare Natur, Großstadtruinen, öde Landstriche, zerstörte Wälder und verseuchte Gewässer.

— Leben im Überfluß profitiert vom Leben im Elend; wir leben im Wohlstand und verlieren, konsumorientiert, das Maß für das Notwendige.

— Mit dem Ausbau der Expertokratie vermindern wir das Selbstvertrauen in unser eigenes Urteil; die Selbstbeschränkung in eigenen Entscheidungen fördert die Fremdbestimmung durch Machthaber.

— Der Fortschritt in der Entwicklung neuer Technologien erhöhte bislang die Abhängigkeit von bestehenden Herrschaftsstrukturen; die militärische Nutzung neuer Technologien, der Atomkraft und des Weltraums läßt unsere Unterwerfung und Abhängigkeit in der Zukunft beängstigend total erscheinen.

Wir haben in den letzten Jahrzehnten viel dem Staat und den politischen Mandataren übertragen und überlassen. Heute verwundert uns deren Macht und unsere eigene Ohnmacht. Wer politische Bildung im Sinne des Zurückgewinnens der eigenen Souveränität versteht und betreibt, muß erfahren, welcher Anstrengungen es dazu bedarf und wie schwer sich Machtverhältnisse verändern lassen. Das Zurückgewinnen von eigener Souveränität beabsichtigen die Bürgerinitiativen. Sie lehnen Problemlösungen im Rahmen traditioneller politischer Machtverteilung ab. Sie wollen aus der Welt des Verwaltet-und Versorgtwerdens ausbrechen und eigene Grundlagen für Entscheidungen suchen, die mit den etablierten Vorgehensweisen nicht übereinstimmen. Auf den Sektoren Umwelt, Frieden, Atomkraft, Frauenproblematik erwerben sich diese Gruppen Kompetenz, erarbeiten sie sich Wissen und erleben sie Auseinandersetzungen. Sie praktizieren politische Bildung.

Diese Initiativen folgen dem Prinzip, nicht für andere zu wissen, sondern zu versuchen. Betroffene zu aktivieren und deren selbständiges Lernen zu fördern Gerade für die Erhaltung demokrati-scher Verhältnisse ist die Funktion politischer Bildungsmaßnahmen nicht zu unterschätzen. Abgesehen von der Wissensvermittlung scheint mir ein besonderer Bedarf bezüglich der Persönlichkeitsund Verhaltensbildung zu bestehen. Denn wer will schon von sich behaupten, optimale Erziehungsbedingungen für das Leben in der Demokratie erfahren zu haben. Steckt nicht in uns allen noch sehr viel von Untertanenmentalität? Unser Umgang mit Autoritäten ist ja selbst noch von Epochen und Institutionen geprägt, in denen nicht die Mitbestimmung durch das Volk, sondern die Herrschaft der Obrigkeit dominierte. Wer im Bildungsgewerbe tätig ist, weiß, daß der Umgang mit Autorität ein offenes und dauerndes Problem im sozialen Geschehen allen Lehrens und Lernens darstellt. Wir sehen uns dabei Sozialisationsvoraussetzungen gegenüber, die nur sehr schwer mit demokratischen Verhaltensweisen in Beziehung zu setzen sind.

Zur Illustration erlaube ich mir eine literarische Anleihe. Heinrich Mann zeigt in seinem Roman „Der Untertan“ an der Hauptperson Diederich Heßling Erziehungs-und Entwicklungsmomente auf, die auch heute noch sehr nachdenklich machen. Ich habe ein Zitat ausgewählt, das Bedeutung und Wirkung von Autoritäten kurz und prägnant aufleuchten läßt: „Nach so vielen furchtbaren Gewalten, denen man unterworfen war, nach den Märchenkröten, dem Vater, dem lieben Gott, dem Burggespenst und der Polizei, nach dem Schornsteinfeger, der einen durch den ganzen Schlot schleifen konnte, bis man auch ein schwarzer Mann war, und dem Doktor, der einen im Hals pinseln durfte und schütteln, wenn man schrie — nach allen diesen Gewalten geriet nun Diederich unter eine noch furchtbarere, den Menschen auf einmal ganz verschlingende: die Schule . . . Denn Diederich war so beschaffen, daß die Zugehörigkeit zu einem unpersönlichen Ganzen, zu diesem unerbittlichen, menschenverachtenden, maschinellen Organismus, der das Gymnasium war, ihn beglückte, daß die Macht, die kalte Macht, an der er selbst, wenn auch nur leidend, teilhatte, sein Stolz war. Am Geburtstag des Ordinarius bekränzte man Katheder und Tafel. Diederich umwand sogar den Rohr-stock.“

III. Das politische Interesse an der Erwachsenenbildung

Einrichtungen des Bildungswesens fungieren als . Sozialisationsagenturen 4, wodurch sie auch für politisches Kalkül bedeutsam werden. Bei der Erwachsenenbildung ist das nicht so deutlich, weil der Grad ihrer Institutionalisierung wesentlich geringer ist als der von Schule und Universität. Doch politisches Interesse an der Erwachsenenbildung wie auch die politische Bedeutsamkeit der Erwachsenenbildung können belegt werden. Ich will dies mit einem Blick auf die Geschichte und die begrifflichen Veränderungen tun.

Bei der historischen Betrachtung der Erwachsenenbildung fällt auf, daß sie immer in Verbindung mit gesellschaftspolitischen Absichten betrieben wurde. Bildun^sbemühungen für Erwachsene waren stets mit dem Anliegen gekoppelt, Sympathien und Aktivitäten für die jeweiligen gesellschaftlichen Gestaltungsvorhaben zu wecken. Drei Beispiele, um das zu erläutern: 1. Das Bürgertum wollte mittels Bildungsanstrengungen „dem Adel des Blutes den Adel des Geistes“ (Wilhelm von Humboldt)

entgegensetzen. Die Bürger betrieben ihre Bildung und Aufklärung in Salons, durch Wochenschriften und durch institutionell organisierte Maßnahmen.

2. Die Arbeiterklasse versuchte etwa ab Mitte des 19. Jahrhunderts durch Arbeitervereine und im Kampf um eine „Volksschule“ die Verbindung von Bildung und politischen Interessen zu realisieren. 3. In ihrer Intention sehr deutlich waren auch die Bildungsmaßnahmen der Kirche. Durch die Kolpinghäuser, die christlichen Arbeitervereinigungen oder direkt über die Pfarren suchte sie, Bewußtsein und Handeln der Menschen zu beeinflussen.

Neben der gesellschaftspolitischen Funktion erfüllte die Erwachsenenbildung bereits im 19. Jahrhundert auch eine sozialpolitische. So sollte die Volksbildung sowohl das soziale und ethische Niveau der Menschen fördern als auch den Armen eine Chance für ein besseres Leben ermöglichen. Horst Dräger hat darauf hingewiesen, daß die Volksbildung im vorigen Jahrhundert intensiv mit der Armenpflege beschäftigt war. Besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verdeutlichte sich diese politische Absicht, als Erwachsenenbildung die „soziale Frage“, die Verelendung der sich mit der industriellen Produktion herausbildenden Arbeiterklasse, lösen helfen sollte. Volksbildung wurde eindeutig als Teil der Sozial-und Gesellschaftspolitik eingesetzt. Sie war zugleich Instrument und Hoffnungsträger sozialer Bewegungen. Besonders der soziale Bezug ist es, der in der Gegenwart leicht vergessen wird, der aber historisch in der Erwachsenenbildung immer bedeutungsvoll war. Aber so fremd ist diese Verbindung zwischen Bildung und Sozialpolitik ja auch heute nicht. Erwachsenenbildung wird gegenwärtig zunehmend zu einem Instrument, um Arbeitslose und Randgruppen wieder in die Gesellschaft zu integrieren oder zumindest sozial zu befrieden. Die sozialen und ökonomischen Beziehungen der Weiterbildung werden uns noch beschäftigen — es zeichnet sich hier eine Entwicklung ab, bei der Bildung immer mehr in ihrer ökonomischen Verwertbarkeit und immer weniger in ihrem Beitrag zur humanen Entwicklung der menschlichen Gesellschaft gesehen wird.

Die Veränderungen des Selbstverständnisses von Erwachsenenbildung, ihre Funktionen und Zielsetzungen finden in der Begriffsbildung ihren Ausdruck. Die Bezeichnungen „Volksbildung“, „Erwachsenenbildung“, „Weiterbildung“, „lebenslanges Lernen“ oder „befreiende Erziehung“ sind ja nicht zufällig in Gebrauch, sondern sie repräsentieren bestimmte Konzepte von Erwachsenenbildung

Volksbildung steht für das Bemühen, dem ganzen, meist sozial unterprivilegierten Volk Bildung zukommen zu lassen. Mit dem Aufheben dieses Begriffs zugunsten von Erwachsenenbildung drückte sich eine Wende zur Bildung des Individuums aus. Dabei — so wird oft bemängelt — sei vergessen worden, daß man in der Vergangenheit versucht habe, die sozialen Probleme mit solidarischen, kollektiven Anstrengungen zu bewältigen. Erwachsenenbildung stehe dagegen mehr für individualistische Anstrengung als für gesellschaftliche Veränderungen durch solidarische Aktionen.

Der Begriff Weiterbildung wurde in der Bundesrepublik in den sechziger Jahren geprägt und gebräuchlich. Er sollte vor allem die berufliche Orientierung in diesem Bildungsbereich stärker betonen und zum Ausdruck bringen, daß Fortbildung stets auf eine vorausgegangene Grundbildung zu folgen habe. Zugleich wurde die bildungspolitische Forderung erhoben, Weiterbildung als gleichberechtigten Teil des öffentlichen Bildungswesens zu installieren

In diesem Zusammenhang ist auf das Konzept des lebenslangen Lernens hinzuweisen Es kann als Ergebnis von zwei Intentionen betrachtet werden: Zum einen sollte die ständige Weiterqualifizierung für wirtschaftliche Erfordernisse erreicht und zum anderen der Wunsch nach gebildeten Staatsbürgern als Voraussetzung für die Erhaltung der Demokratie erfüllt werden. Doch bald wurden kritische Einwände erhoben. Dem Konzept des „lebenslangen Lernens“ wurde vorgeworfen, nicht der Bildung, sondern der Produktion ökonomisch verwertbarer Qualifikationen dienstbar zu sein. Außerdem wurde kritisiert, daß mittels Bildung auch „geistige Kolonialisierung“ betrieben würde. Dies monierten vor allem die Praktiker und Theoretiker der Bildungsarbeit in der Dritten Welt. Sie förderten und forderten das Konzept der befreienden Erziehung, in dem den Menschen Selbstbestimmung in allen Bereichen zukommt. Diese Kritiker unserer Gesellschaftsordnung fürchteten, daß mit der Bildungsarbeit der industrialisierten Welt auch deren Ideologie und Werthaltungen auf andere Völker übertragen werde

Ein Konzept, das die Bildungsbedürfnisse der Bevölkerung in den Ballungsräumen stärker in den Vordergrund stellt, als dies durch die traditionelle Unterrichtstätigkeit geschieht, ist das der Stadtteil-arbeit. Im Prinzip gehen solche Maßnahmen davon aus, zunächst die Bedürfnisse einer bestimmten Zielgruppe zu erkunden, und dann erst — gemeinsam mit den Betroffenen — Bildungsmaßnahmen zu konzipieren. Als Grundtenor gilt: Die Betroffenen bestimmen ihre Bildung selbst und werden nicht von außen bestimmt

Dieser kursorische Überblick sollte zeigen, wie eng Erwachsenenbildung mit dem sozialen Geschehen und den gesellschaftspolitischen Entwicklungen verbunden war und ist. Analog zur Schule und Hochschule steht auch die Erwachsenenbildung stets unter gesellschaftlich-politischem Einfluß.

IV. Ungleichheit durch Erwachsenenbildung?

Nach dem Ersten Weltkrieg finden wir eine neue Situation in der Bildungspolitik. Nun machte es sich der demokratische Staat zur Aufgabe, Bildung als Mittel zur Wahrung und Erhöhung der Lebensqualität seiner Staatsbürger einzusetzen. Damit beginnt die, wenn auch bald wieder unterbrochene, Geschichte der Erwachsenenbildung in der Demokratie

Inzwischen hat sich das Bildungswesen im demokratischen Staat seinen bedeutsamen Platz geschaffen. Es bietet die Grundbildung, die es erlaubt, im politischen Geschehen potentiell als aktiver Staatsbürger zu agieren. Außerdem vermittelt es Qualifikationen, die für berufliche Tätigkeiten Voraussetzungen sind. Dadurch wird das Bildungswesen zum Ort, wo über die späteren sozialen Chancen gewichtig mitbestimmt wird. Als gesellschaftliche Einrichtung dient das Bildungswesen schließlich auch der Erhaltung des politischen Systems: Loyalität gegenüber der bestehenden Gesellschaftsordnung wird erzeugt.

Allen Staatsbürgern gleiche Bildungschancen zu gewähren, Privilegien auf dem Bildungssektor abzubauen, freie Berufswahl und optimale Entfaltung der Persönlichkeit zu bieten, sind Anliegen eines demokratischen Bildungswesens. Diesbezüglich befinden wir uns in einem Prozeß, dessen Ende noch nicht erreicht ist. Erwachsenenbildung vertritt innerhalb dieser Zielsetzungen zumindest zwei übergreifende Intentionen: die kompensatorische und die emanzipatorische. Die kompensatorische Aufgabe bezieht sich auf das Nachholen von Bildungsabschlüssen, die in der Phase der Erstausbildung nicht erreicht wurden, auf das Nachliefern von Kenntnissen. Fähigkeiten und Qualifikationen, die sich im Laufe des Erwachsenenlebens für Alltag und Beruf als wichtig herausstellen. Der emanzipatorische Anspruch basiert auf dem Grundsatz, jedem Bildungswilligen seine Chance auf Entwicklung zu geben, sowie auf der Einsicht, daß ein demokratisches Staatswesen sich ständig weiterbildender Bürger bedarf.

Seit den fünfziger Jahren wurde Bildung immer mehr als Faktor wirtschaftlicher Überlegungen wahrgenommen. Zur Erhaltung wirtschaftlicher Konkurrenzfähigkeit, aber auch um neuen Produktionsweisen zu entsprechen, sollten Grund-und Weiterbildung stärker als bisher die notwendigen Qualifikationen für die Wirtschaft liefern In der Erwachsenenbildung wurde das Anlaß zu einer „realistischen Wende“: Der beruflichen Fortbildung wurde größere Aufmerksamkeit gewidmet, ständige Weiterbildung wurde propagiert und die Etablierung eines neben Schule und Hochschule gleichberechtigten Weiterbildungssystems gefordert. Die Vertreter der Erwachsenenbildung glaubten, wenn sie sich die Erfordernisse der Wirtschaft nach qualifizierten Berufstätigen zu eigen machten, auch ihre Hoffnungen auf eine ausgebaute Erwachsenenbildung realisieren zu können. Diese Hoffnungen haben sich nicht erfüllt.

Als Konsequenz der „realistischen Wende“ fallen zwei Neuorientierungen auf: 1. Es gibt Angebote, die dem Markt, der Nachfrage nach bestimmten Qualifikationen, gerecht werden wollen — damit folgt die Fortbildung wirtschaftlichen Erfordernissen und den dafür bereitgestellten Geldmitteln. 2. Als neuer Bereich etablieren sich sozialfürsorgerische Aufgaben (z. B. Bildungsmaßnahmen für Arbeitslose); die Erwachsenenbildung soll Lösungen für Probleme finden, deren Ursachen auf wirtschafts-, gesellschafts-und arbeitsmarktpolitischer Ebene liegen. Zunehmend wurde somit Erwachsenenbildung in den Dienst politischer Interessen gestellt, die ihre Finanzierung mit der Forderung nach Effektivität koppelten. Die Instrumentalisierung der Erwachsenenbildung ließ die emanzipatorischen Zielsetzungen — Entwicklung demokratischen Bewußtseins, Beurteilung gesellschaftlicher Vorgänge, Entfaltung der Persönlichkeit — immer mehr in den Hintergrund treten

Mit dem Wandel in der Aufgabenstellung läuft damit die Erwachsenenbildung Gefahr, vorhandene Ungleichheit eher zu verstärken als abzubauen. Denn auch dort, wo Erwachsenenbildung helfen soll. Qualifikationsdefizite abzubauen — also besonders bei Arbeitslosen —, werden eher die Besserqualifizierten gefördert Dies bestätigt einen empirisch erfaßbaren Trend: Vermehrt kommt Erwachsenenbildung Personen zugute, die bereits über eine gute Grundausbildung und über solide berufliche Qualifikationen verfügen Wer hat.dem wird noch mehr gegeben!

Sieht man Demokratisierung auch als Politisierung, so ist mit dem Abbau der emanzipatorischen Zielsetzung auch eine Verringerung des Potentials an politischer Bildung in der Erwachsenenbildung zu konstatieren. Dieser Trend wird durch Entwicklungen in Arbeit und Beruf unterstützt. Ohne auf die komplexe Diskussion und die umfassende Forschung einzugehen, möchte ich an dieser Stelle nur einige Ergebnisse resümieren Es zeichnet sich eine Segmentierung auf dem Arbeitsmarkt ab, die etwa folgender Aufteilung entspricht:

— Rationalisierungsgewinner (Produktions-Facharbeiter, Instandhaltungsspezialisten);

— Rationalisierungsdulder (ältere, wenig qualifizierte Arbeiter, Frauen, Ausländer);

— Arbeiterin Krisen-Branchen (unsichere Arbeitsplätze aufgrund der instabilen Lage der Produktionszweige);

— Arbeitslose (zunehmend geringere Chancen, wieder in die Produktion aufgenommen zu werden).

Die Konsequenzen in Zusammenhang mit der Weiterbildung sind rasch genannt:

— mit der Segmentierung nehmen die Prozesse der Entsolidarisierung zu;

j — Weiterbildung wird Teil des Konkurrenzkampfes um bessere Arbeitsplätze; — für viele Arbeitnehmer verliert Weiterbildung an Attraktivität, weil sie in ihrer Position ohnehin nicht mehr mit einem sozialen Aufstieg rechnen; — die Trennung von Bildung und Arbeit vertieft sich; — die Forderung nach beruflicher Weiterqualifizierung läßt Angebote allgemeiner und politischer Bildung zunehmend ins Abseits rücken.

Diese Entwicklungen klingen für alle Absichten im Zusammenhang mit politischer Bildung nicht sehr ermutigend. Doch es ist klar: Grundlegende gesellschaftliche Veränderungen werden nicht über Bildung, sondern durch politische Maßnahmen erreicht. Der Stellenwert von politischer Bildung liegt in der Aufklärung, der notwendigen Information, der gemeinsamen Reflexion und in der Auseinandersetzung — so entsteht Orientierung für das Handeln.

Für diese Aufgaben politischer Bildung sehe ich in unserer Gesellschaft genügend Bedarf, aber auch Ansatzpunkte und Chancen. In Hinblick auf die praktische Durchführung von Bildungsarbeit in politischer Absicht skizziere ich im letzten Abschnitt einige Gedanken zu pädagogischen Grundsatzfragen und zur Didaktik einer politischen Bildung für Erwachsene.

V. Grundsätzliche und didaktische Aspekte politischer Bildung

Schulisches Lernen ist meist auf Zukunft gerichtet. Gelehrt und gelernt wird, was man später — „im Leben“ — braucht. Das macht wohl manchmal die Demotivation und Abwehr bei den Jugendlichen aus, sich Lehrinhalte anzueignen. die sie wenig oder gar nicht mit ihrer unmittelbaren Lebenswelt in Beziehung setzen können. Häufig entwickelt sich ein Automatismus: Gelernt wird, was man vorgesetzt bekommt mit dem Nahziel, Prüfungen zu bestehen und die Erwartungen von Lehrern oder Eltern zu erfüllen. Lernen geschieht in diesem Fall großteils fremdbestimmt; es orientiert sich an Belohnungen und Bestrafungen, die von außen vorgegeben werden.

Diese Art der Fremdbestimmung existiert auch dann, wenn Erwachsene lernen: nämlich dann, wenn das Betriebsinteresse oder die Angst um den Arbeitsplatz drängend sind, wenn die Autorität des Lehrenden kaum Selbststeuerung zuläßt oder wenn der Lernende in freiwilliger Unterwerfung das Angebot ohne Reflexion konsumiert. Auch die Erwachsenenbildung will „für das Leben“ wirksam sein. Aber Erwachsene brauchen das Weiterlernen meist unmittelbar für ihren Beruf, zum Ausgleichen konkreter Lerndefizite oder zur Lösung anstehender Lebensprobleme.

Dieses „Brauchen“ verdient noch etwas Aufmerksamkeit. In internationalen Studien über die Motive, an Weiterbildung teilzunehmen, wurde der Wunsch nach Nützlichkeit und Brauchbarkeit des Gelernten als wichtigster eruiert. Diese Einsicht referiert Tough: „Zahlreiche Untersuchungen in mehreren westlichen Ländern lassen die Aussicht auf Nutzen oder Anwendung der zu erlernenden Kenntnisse und Fertigkeiten als wichtigstes Motiv der meisten Lernbemühungen erkennen. Die meisten Erwachsenen und schulentlassenen Jugendlichen sind in ihrem Lernen dadurch motiviert, daß eine relativ kurzfristig anstehende Schwierigkeit, Aufgabe oder Entscheidung bestimmte Kenntnisse und Fertigkeiten verlangt. Relativ selten beruht ein Lernprojekt auf dem Wunsch des Betreffenden, einen ganzen Stoffbereich vollständig zu beherrschen.“

Vielleicht ergibt sich hier ein Ansatzpunkt für eine Erwachsenenbildung, die politische Bildung betreiben will: Das Angebot ist daraufhin zu überprüfen, ob es Lehrinhalte umfaßt, die den Teilnehmern in politischen Belangen unmittelbare Unterstützung, Hilfen und Lösungen bieten. Für eine Erwachsenenbildung, die es für ihr Anliegen hält, individuelle und kollektive Emanzipation zu fördern und die Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche voranzutreiben, zeigen sich jedoch einige gegenläufige Tendenzen: — Die materielle Basis, der jahrelange Wohlstand für alle, der sichere Arbeitsplatz sind in Frage gestellt. Mit der ökonomischen Unsicherheit beginnen sich Standpunkte zu polarisieren. Sündenböcke werden gesucht, Polemik behindert Argumentation; die Chancen für Populisten, Agitatoren und Demagogen nehmen zu. — Es wird zunehmend schwieriger, Kritik zu äußern. Sie wird nicht konstruktiv angenommen, sondern als feindselig und störend abgetan. Die öffentliche Diskussion bleibt wenigen Wortführern überlassen. Viele wenden sich enttäuscht oder verbittert von den politischen Angelegenheiten ab — sie wollen „in Frieden“ gelassen werden. Denjenigen, die den Widerspruch wagen, begegnet man mit Drohungen, Ämterentzug oder Parteiausschluß. Es wird wieder, wie Voltaire einmal formulierte, gefährlich, in Dingen recht zu haben, in denen große Leute unrecht haben. — Das Leben der Staatsbürger spielt sich in einem Netz von Maßnahmen ab, die soziale Sicherheit, Ruhe und Ordnung versprechen. Dabei verkümmern die politischen Fähigkeiten des einzelnen, sich zu äußern, sich zu wehren oder praktische Solidarität zu üben. Vereinzelt nehmen wir das gesellschaftliche Geschehen als einen Ablauf wahr, den wir eher teilnahmslos betrachten. Paul Watzlawick bemerkt dazu: „Wie die Zoodirektoren im kleinen, so haben es sich die Sozialstaaten im großen Maßstabe zur Aufgabe gemacht, das Leben des Staatsbürgers von der Wiege bis zur Bahre sicher und glücktriefend zu gestalten. Dies ist aber nur dadurch möglieh, daß der Staatsbürger systematisch zur gesellschaftlichen Inkompetenz erzogen wird.“ „Können politische Bildungsmaßnahmen gegen diese Umstände etwas ausrichten?“ „Ist es nicht ein hoffnungsloses Unterfangen, in dieser Situation auf politische Bildung zu bauen?“ „Politische Bewußtseinsbildung erfolgt am besten in der direkten Aktion und nicht im Lehrsaal!“ Solche Fragen und Meinungen sind häufig zu hören, wenn es um die Beurteilung der Chancen von politischer Bildung geht.

Bildung ereignet sich immer dort, wo Auseinandersetzung im Denken und Orientierung für das Handeln gesucht werden. Sie hilft. Distanz zum unmittelbaren Geschehen zu gewinnen, nachzudenken, Informationen einzuholen, Urteile abzuwägen und Handeln vorzubereiten. Bildungsprozesse regen Reflexion an, gehen dem Handeln voraus und arbeiten die beim Handeln gewonnenen Erfahrungen wieder auf. Darin liegt ihre Bedeutung.

Wo explizit politische Bildung angeboten werden soll, halte ich folgende Überlegungen grundsätzlicher Art für erwägenswert. Ich verstehe sie als Beitrag, darüber nachzudenken, was Bildungsarbeit mit Erwachsenen im Hinblick auf politische Themenstellungen überhaupt leisten soll. 1. Zur politischen Bildung gehört das Nachdenken über die persönlichen Zielsetzungen im eigenen Leben. Dies beinhaltet das Suchen nach einer und das Entscheiden für eine individuelle Lebensform, die in Beziehung zur sozialen Umwelt steht und entwikkelt wird. 2. Unterdrückung und Abhängigkeit entstehen nicht nur durch Druck von außen, sondern werden von den Betroffenen mitproduziert. Politische Bildung stellt die freiwillige Unterwerfung in Abrede und fragt den stummen Autoritätsgehorsam nach seiner Berechtigung. 3. Ungerechtigkeiten hinzunehmen und zu erdulden, Widerspruch nicht zu äußern oder manifeste Macht ertragen zu müssen, bringt psychische und physische Beeinträchtigungen mit sich. Politische Bildung wehrt das „Hineinfressen“ ab. ermutigt und befähigt zum Widerspruch. Sie leistet einen Beitrag zum befreienden Ungehorsam. 4. Politische Bildung produziert keine brauchbaren Untertanen. Sie macht vielleicht das Zusammenleben schwieriger, weil ihr Ziel nicht der sich reibungslos anpassende Untertan ist, sondern ein pro und contra bedenkender Staatsbürger. Anstelle von Verwertbarkeit und Nützlichkeit als Maß für den Menschen werden Besinnung und Eigenwert postuliert. 5. Gegen die Vorstellung, daß der Mensch die Welt beherrschen solle, will politische Bildung die Einstellung vermitteln, daß der Mensch die Welt und ihre Geschöpfe als Lebensraum bewahren solle. Dies beachtet die komplexen Beziehungen und Interdependenzen zwischen Mensch und Umwelt und will statt der Herrschaft von Menschen über Menschen das Miteinander von Menschen erreichen. 6. Politische Bildung klärt über unterschiedliche individuelle und kollektive Interessen der Menschen auf. Sie will diese widersprüchlichen und konfliktreichen Situationen nicht idealistisch wegdiskutieren, sondern dazu beitragen, daß die daraus entstehenden Probleme in humaner Form bewältigt werden können.

Sollen diese Zielsetzungen in der politischen Bildungsarbeit praktisch wirksam werden, halte ich folgende didaktische Elemente für bedeutungsvoll:

— Die eigenen Erfahrungen sind zu artikulieren und aufzuarbeiten; der Zusammenhang zwischen individuellen Handlungen und gesellschaftlichen Bedingungen zeigt den einzelnen als Produzent und Produkt der Sozietät.

— Sprache dient als Mittel des Ausdrucks und als Mittel, Probleme zu bezeichnen; Rhetorik — in ihrem politischen Gehalt — will nicht nur „reden können“ erreichen, sondern das Selbstbewußtsein und das Selbstwertgefühl, die nötig sind, in der Öffentlichkeit die Stimme zu erheben.

— Es ist die Fähigkeit einzuüben, Konflikte als solche zu benennen und auszutragen; nicht Verdrängen, Übergehen oder von vornherein Resignieren ist angebracht, weil sich die Probleme dann kumulieren; Konflikte sollen auf ihre Ursache hin untersucht und bezüglich eventueller Lösungsmöglichkeiten bearbeitet werden.

— Lebenssituationen des Alltags (z. B. Arbeit, Wohnen, Ernährung, Familie, Bildung) sind in ihrem politischen Gehalt darzustellen und nicht auf scheinbar bloß individuelle Entscheidungen zu reduzieren. — Die bestehenden Macht-und Herrschaftsverhältnisse sind nicht naturgegeben, sondern Produkte menschlicher Interessen; die Welt als eine sich verändernde und durch den Menschen veränderbare zu begreifen, ist ein wichtiges Ziel; die Bedeutung und die Schwierigkeit von individueller Zivilcourage und solidarischem Handeln sind aufzuzeigen. — Wissensgebiete, die in der schulischen Grundbildung zu wenig vermittelt werden und im Erwachsenenalter anderes Interesse und Verständnis finden, sind anzubieten; dazu gehören z. B. Ökonomie, Ökologie, Arbeit, Außenbeziehungen, Abhängigkeiten und Komplexität nationaler und internationaler politischer Entscheidungen; ohne einen neuen Wissensberg zu schaffen, sollte abrufbares Basiswissen für Erwachsene entwickelt werden. — Wissensvermittlung und Verhaltensbildung gehören zusammen; der Erwerb von Kenntnissen, die Fähigkeit, Probleme zu analysieren und die Bereitschaft zu handeln sind gleichermaßen Anliegen einer politischen Bildung, die einen Beitrag zur humanen Lebensgestaltung bieten will.

Wird Politik nicht nur als Steuerung und Verwaltung des Gegebenen, sondern auch als Möglichkeit des Eingreifens und Veränderns aufgefaßt, dann erhält politische Bildung eine dynamische Funktion. Eine solche politische Bildung wendet sich gegen die bequeme Anpassung an bestehende Verhältnisse. Sie will nicht schulmeisterlich belehren, sondern Probleme aufzeigen und zu konkretem Engagement ermutigen. Sie bietet einen Beitrag zur Demokratisierung der sozialen Lebenswelt.

Institutionen und Lehrende werden an ihren eigenen Voraussetzungen und Verhaltensweisen beurteilt werden, davon, wie weit sie den Zielsetzungen politischer Bildung entsprechen, wie weit sie bei sich selbst etwa Mitbestimmung erlauben und Solidarität üben. Für die Bildungsinstitutionen, deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ergibt sich daraus die wichtige Aufgabe, das Umfeld, in dem politische Bildung für Erwachsene geschieht, für politische Auseinandersetzung zu öffnen. Vorauseilender Gehorsam von Verantwortlichen, selbstauferlegte Zensur bei Auswahl und Inhalt von Veranstaltungen oder auch die Zielsetzungen von Bildungseinrichtungen werden selbst zum Gegenstand politischer Bildungsarbeit. Diese Reflexion der eigenen Voraussetzungen und Gegebenheiten stellt einen wichtigen Maßstab dar. inwieweit politische Bildung für Erwachsene heutzutage möglich ist und ernsthaft betrieben wird.

Fussnoten

Fußnoten

  1. George Tabori. Tode am Nachmittag, aus: Die sehr kurzen Memoiren eines älteren Bühnen-Arbeiters, in: Unterammergau oder Die guten Deutschen. Frankfurt 1981, S. 190.

  2. Vgl. Hartmut von Hentig. Die entmutigte Republik, in: Süddeutsche Zeitung v. 8. /9. 3. 1980.

  3. Vgl. Dennis Meadows u. a., Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Reinbek 1973; Aurelio Peccei. Das menschliche Dilemma, Wien 1979; Willem L. Oltmans (Hrsg.), „Die Grenzen des Wachstums“. Pro und Contra. Reinbek 1974.

  4. Vgl. dazu James Grant (Hrsg.). Zur Situation der Kinder in der Welt 1984, Wuppertal 1984.

  5. Gerhard Vinnai, Die Innenseite der Katastrophenpolitik. Zur Sozialpsychologie der atomaren Bedrohung, in: Heiner Boehncke/Rainer Stollmann/Gerhard Vinnai, Weltuntergänge, Reinbek 1984, S. 187.

  6. Martin und Sylvia Greiffenhagen, Ein schwieriges Vaterland, Zur Politischen Kultur Deutschlands, München 1979, S. 321.

  7. Bernhard Claußen (Hrsg.). Politische Sozialisation in Theorie und Praxis. Beiträge zu einem demokratienotwendigen Lernfeld, München 1980. S. 6.

  8. Ebenda, S. 8.

  9. Vgl. z. B. Bernt Armbruster, Lernen in Bürgerinitiativen. Ein Beitrag zur handlungsorientierten politischen Bildungsarbeit. Baden-Baden 1979; Christian Ehalt/Ursula Knittler-Lux/Helmut Konrad (Hrsg.), Geschichtswerkstatt, Stadtteil-arbeit, Aktionsforschung. Perspektiven emanzipatorischer Bildungs-und Kulturarbeit, Wien 1984; Gerd Iben u. a., Gemeinwesenarbeit in sozialen Brennpunkten. Aktivierung, Beratung und kooperatives Handeln. München 1981; Robert Jungk/Norbert R. Müllert, Zukunftswerkstätten. Wege zur Wiederbelebung der Demokratie, Hamburg 1981; Peter Cornelius Mayer-Tasch, Die Bürgerinitiativbewegung. Der aktive Bürger als rechts-und politikwissenschaftliches Problem, Reinbek 19814.

  10. Heinrich Mann, Der Untertan. München 1982 (erschienen 1918). S. 7f.

  11. Horst Dräger, Volksbildung in Deutschland im 19. Jahrhundert. Bd. 1, Braunschweig 1979. Bd. 2, Bad Heilbrunn 1984.

  12. Vgl. dazu Werner Lenz, Lehrbuch der Erwachsenenbildung. Stuttgart 1987.

  13. Vgl. Deutscher Bildungsrat, Strukturplan für das Bildungswesen. Empfehlungen der Bildungskommission, Stuttgart 1970.

  14. Vgl. Paul Lengrand, Permanente Erziehung, München-Pullach-Berlin 1972; Council of Europe, Permanent Education, Strasbourg 1970.

  15. Vgl. Paolo Freire, Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit, Reinbek 1973; ders., Dialog als Prinzip. Erwachsenenalphabetisierung in Guinea Bissau, Wuppertal 1980; Heinrich Dauber/Etienne Verne (Hrsg.), Freiheit zum Lernen. Alternativen zur lebenslänglichen Verschulung. Die Einheit von Leben, Lernen, Arbeiten, Reinbek 1976.

  16. Vgl. Lutz von Werder, Alltägliche Erwachsenenbildung, Weinheim-Basel 1980.

  17. Zur Geschichte der Erwachsenenbildung liegen zahlreiche Publikationen vor. davon nur zwei Beispiele: Franz Pöggeler (Hrsg.), Geschichte der Erwachsenenbildung. Band 4 des Handbuchs der Erwachsenenbildung. Stuttgart 1975; Hans Tietgens (Hrsg.). Zugänge zur Geschichte der Erwachsenenbildung, Bad Heilbrunn 1985; zur Geschichte der politischen Bildung vgl. Klaus Peter Hufner. Politische Erwachsenenbildung. Ihre Geschichte und Entwicklung in der Bundesrepublik. in: Aus Politik und Zeitgeschichte. B 50/85. S. 19-31.

  18. Politisch äußerten sich diese Vorstellungen in der Verabschiedung des Arbeitsförderungsgesetzes (1969). das die Arbeitslosigkeit vermeiden und die Beschäftigungspolitik sichern sollte.

  19. Vgl. dazu Dietlinde Führenberg u. a.. Weiterbildung in der Krise — Krise der Weiterbildung? Perspektiven beruflicher Weiterbildung im Zeichen von Massenarbeitslosigkeit. Zirkular der „Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik“. Memo-Forum. Bremen 1984; W. Lenz (Anm. 12).

  20. Frank Glücklich. Kapitulation vorder Dauerarbeitslosigkeit — Welchen Weg nimmt die Bundesrepublik?, in: (Hrsg.). Stiftung Berufliche Bildung — Arbeitslosenbildungswerk. Hamburg 1988.

  21. Vgl. dazu Infratest Sozialforschung: Berichtssystem Weiterbildungsverhalten 1982. in: Bildung. Wissenschaft aktuell, Nr. 1. Bonn 1984; Gerold Lenhardt. Berufliche Weiterbildung und Arbeitsteilung in der Industrieproduktion. Frankfurt 1974; Karlheinz Geißler u. a. (Hrsg.). Opfer der Qualifizierungsoffensive. Texte und Dokumente zur Politischen Bildung. Tutzinger Studien. Nr. 1/1987. hrsg. von der Evangelischen Akademie Tutzing.

  22. Vgl. dazu Horst Kern/Michael Schumann. Das Ende der Arbeitsteilung? Rationalisierung in der industriellen Produktion: Bestandsaufnahme. Trendbestimmung. München 1984; Martin Baethge/Herbert Oberbeck. Zukunft der Angestellten. Frankfurt 1986.

  23. Allen Tough. Die Förderung selbständigen individuellen Lernens, in: Helga Thomas. Lernen im Erwachsenenalter. Ausgewählte Beiträge aus Veröffentlichungen der OECD. Frankfurt 1986, S. 113.

  24. Paul Watzlawick. Anleitung zum Unglücklichsein. München-Zürich 1983. S. 13.

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Werner Lenz, Dr. phil., geb. 1944; seit 1984 o. Prof, für Erziehungswissenschaften mit besonderer Berücksichtigung der Erwachsenenbildung an der Karl-Franzens-Universität Graz; Leiter der Abteilung für Erwachsenenbildung und der Arbeitsgruppe „Arbeit und Bildung“ des Interuniversitären Forschungsinstitutes für Fernstudien. Veröffentlichungen u. a.: Grundlagen der Erwachsenenbildung, Stuttgart 1979; Lehrbuch der Erwachsenenbildung, Stuttgart 1987.