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Das „freie Mandat“ des Abgeordneten | APuZ 5/1989 | bpb.de

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APuZ 5/1989 Artikel 1 Zum Abgeordnetenbild in den Landtagen Das „freie Mandat“ des Abgeordneten Das konsultative Referendum

Das „freie Mandat“ des Abgeordneten

Jürgen Lückhoff

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Das Bild des Abgeordneten ist für den Bundesbürger geprägt durch Berichte über die Plenardebatten im Fernsehen. Bereits weitergehende Interviews lassen eher den Repräsentanten einer Partei, eventuell noch einer Fraktion erkennen. Den rechtlichen Rahmen für die Ausübung des Abgeordneten-Mandats setzt neben dem Grundgesetz das Bundeswahlgesetz, das Abgeordnetengesetz und die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages. Weitere Vorgaben für die Mandatsausübung enthalten die Fraktionsgeschäfts-oder Arbeitsordnungen. Es muß jedoch gefragt werden, ob hier wirklich noch die Mandatsausübung der Abgeordneten gemeint ist, oder ob nicht vielmehr das parlamentarische Verfahren im allgemeinen und die Möglichkeiten der Fraktionen im besonderen eine Regelung erfahren. Die Ausübung des Mandats wird allerdings nicht nur durch gesetzliche und satzungsmäßige Regelungen eingeschränkt. Eine Vielzahl von Sachzwängen engen die „freie“ Mandatsausübung ein. Dazu gehören die Fraktions-und Parteimitgliedschaft ebenso wie das Überangebot an Informationen und die Vielfalt der politisch relevanten Themen. Lassen alle diese Vorgaben es noch zu, von einem „freien Mandat“ zu sprechen?

I.

Das Bild des Bundestagsabgeordneten entspricht in großen Teilen der Bevölkerung immer noch dem des liberalen Honoratioren-Politikers, der einerseits durch sein Auftreten im Parlament überzeugt, andererseits direkte Eingriffsmöglichkeiten gegenüber der Verwaltung hat. Bedingt wird ein solches Bild unter anderem durch die geringe Transparenz der Abgeordnetentätigkeit, die sich für den Bürger hauptsächlich in Plenumssitzungen zeigt. Über die Tätigkeit außerhalb des Plenums ist in der Öffentlichkeit weniger bekannt.

Dementsprechend sind die Eigenschaften, die vom Abgeordneten erwartet werden: Weltgewandtheit, finanzielle Unabhängigkeit und Orientierung am Erfolg. Erfordernisse wie Fleiß, Organisationsfähigkeit, Kompromißbereitschaft oder die Redner-gabe werden als zweitrangig eingestuft. Hans Apel, selbst Bundestagsabgeordneter, zitiert Eugen Kogon, der von Parlamentariern eine akademische Ausbildung in den Fächern Soziologie, Sozialwissenschaften und Geschichte verlangt, sowie eine längere Tätigkeit als parlamentarischer Sekretär. Apel stimmt diesen Forderungen zu. stellt aber auch fest, daß sich politisches Fingerspitzengefühl, Phantasie zur Bewältigung kommender Schwierigkeiten, Verhandlungsgeschick und Mut so nicht erwerben lassen. Er hält die Anforderungen an einen Wirtschaftsmanager, wie Durchsetzungsvermögen, Verhandlungsgeschick, Standfestigkeit und Phantasie. auch für einen Bundestagsabgeordneten geeignet

Gibt es über das Bild des Abgeordneten noch konkrete -wenn auch nicht unbedingt zutreffende — Vorstellungen, so stellt sich die Frage des „freien Mandats“ dem Wähler so gut wie gar nicht. Das »freie Mandat“ wird aus dem Art. 381 Grundgesetz (GG) hergeleitet, nach dem Abgeordnete an Auf-frage und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen sind. Es muß jedoch gefragt werden, ob diese Rechtsposition ausreicht, um den Rahmen der Mandatsausübung zu beschreiben, ob damit einer freien Mandatsausübung im Sinne einer selbstbestimmten politischen Tätigkeit eines Abge-ordneten Genüge getan wird.

Die Berufsstruktur der Abgeordneten läßt einerseits erkennen, wer für ein Abgeordnetenmandat abkömmlich ist, d. h. wer die Voraussetzungen erfüllt, für ein Mandat frei zu sein. Sie bestätigt andererseits die Erwartung, Abgeordnete müßten erfolgreich sein, durch die zunehmende Akademisierung des Bundestages und den geringen Anteil an Hausfrauen, Arbeitern und Rentnern. Sie macht außerdem deutlich, daß die Repräsentanten die Bevölkerung hinsichtlich der Berufsstruktur nur annähernd repräsentieren können. Überrepräsentiert sind unter den Bundestagsmitgliedern im Verhältnis zur erwerbstätigen Bevölkerung die Angehörigen des öffentlichen Dienstes und die Verbandsvertreter. Deutlich unterrepräsentiert sind die Bauern, Arbeiter und Hausfrauen. Abgeordnete, die einmal als Arbeiter tätig waren, haben danach in anderen Funktionen gearbeitet. Als Grund für ihre niedrige Zahl (9 im 11. Deutschen Bundestag = 1, 7 Prozent, Hausfrauen 11 = 2, 1 Prozent, Land-und Forstwirte 22 = 4, 2 Prozent) gilt auch die geringe Politiknähe ihres Berufes und damit verbunden ein erheblich größerer Aufwand zur Kandidatur. Der Anteil der freien Berufe im Bundestag beträgt 73 = 14, 1 Prozent, davon allein 47 = 9, 1 Prozent Rechtsanwälte und Notare. Dieser einst klassische Abgeordnetenberuf ist überproportional vertreten.

Für die freien Berufe wird, trotz Diäten und Alterssicherung, als Handikap für eine Kandidatur immer noch das Risiko der Wiedereingliederung in den Beruf angeführt. Die Selbständigen sind mit 35 = 6, 8 Prozent angegeben. Zu ihnen zählen Fabrikanten, Unternehmer, Kaufleute und Handwerker, allerdings sind die 22 = 4, 2 Prozent Landwirte hinzuzurechnen. 41 = 7, 9 Prozent der Abgeordneten werden als Angestellte der Wirtschaft eingestuft, von denen 5= 1 Prozent Angestellte von Wirtschaftsorganisationen sind. 9 = 1, 7 Prozent sind Angestellte des öffentlichen Dienstes. Mitglieder und ehemalige Mitglieder von Regierungen sind 66 = 12, 7 Prozent der Mandatsträger. Zu Beginn der 11. Legislaturperiode gehörten dem Bundestag 72 = 14 Prozent Angestellte von Parteien, Fraktionen. Gewerkschaften oder sonstigen Organi17 sationen an. Der Beamtenanteil beträgt mit 167 = 32, 1 Prozent fast ein Drittel. Zu ihnen gehö-ren unteranderem politische Beamte. Richter, Pro fessoren und Lehrer

II.

Besondere Pflichten für Abgeordnete enthält lediglich die Geschäftsordnung des Bundestages (GOBT). so in § 13 die Pflicht an den Arbeiten des Bundestages teilzunehmen und sich an den Sitzungstagen in eine Anwesenheitsliste einzutragen. Bei Nichtbeachtung und fehlender Beurlaubung erfolgt ein Abzug von der Kostenpauschale. Nach § 17 GOBT hat der Bundestag eine Geheimschutzordnung beschlossen, zu deren Beachtung die Abgeordneten verpflichtet sind. Gemäß § 38 GOBT haben Betroffene den Sitzungssaal zu verlassen, wenn der Bundestagspräsident bei gröblicher Verletzung der Ordnung einen entsprechenden Ausschluß verkündet. Außerdem sind die Mitglieder des Bundestages verpflichtet, die Verhaltensregeln nach § 44 a des Abgeordnetengesetzes zu beachten.

Neben dem Art. 38 GG führt das Grundgesetz im Abschnitt III die von der Verfassung den MdB’s gewährten Rechte auf.

— Art. 41 GG legt fest, daß der Bundestag entscheidet, ob ein Abgeordneter die Mitgliedschaft verloren hat. Gegen die Entscheidung kann der betroffene MdB Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht einlegen. Dem willkürlichen Ausschluß unbequemer Abgeordneter ist damit ein Riegel vorgeschoben.

— Nach Art. 42 GG verhandelt der Bundestag öffentlich. Das Bundesverfassungsgericht folgert daraus die „Rede und Gegenrede der einzelnen Abgeordneten“ und daß sie im Plenum von ihrem Rede-recht selbständig Gebrauch machen können, schränkt aber an gleicher Stelle ein, daß das Rede-recht den „vom Parlament kraft seiner Autonomie gesetzten Schranken“ unterliegt

— Der Art. 461 GG sichert den Mandatsträgern Indemnität (Straffreiheit) für Abstimmungen oder Äußerungen zu. die sie im Bundestag oder in einem seiner Ausschüsse getan haben. Dies gilt nicht für verleumderische Beleidigungen.

— Im Abs. 2 gewährt Art. 46 GG die Immunität der Abgeordneten. So darf ein Abgeordneter wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung „nur mit Genehmigung des Bundestages zur Verantwortung gezogen oder verhaftet werden, es sei denn, daßer bei der Begehung der Tat oder im Laufe des folgenden Tages festgenommen wird.“ Strafverfahren. Haft oder Verfahren mit dem Ziel der Aberkennung von Grundrechten sind auf Verlangen des Bundestages auszusetzen. Von den 585 Anträgen auf Aufhebung der Immunität von der 1. bis 9. Wahlperiode wurden 419 genehmigt — Nach Art. 47 GG haben die Mitglieder des Bundestages das Zeugnisverweigerungsrecht über Personen, die ihnen in ihrer Eigenschaft als Abgeordnete oder denen sie in dieser Eigenschaft Tatsachen anvertraut haben. — Gemäß Art. 48II GG darf niemand daran gehindert werden, das Amt eines Abgeordneten zu übernehmen oder auszuüben. Eine Kündigung oder Entlassung aus diesem Grund ist unzulässig. — Art. 931 GG billigt den Abgeordneten als „Beteiligte, die durch dieses Grundgesetz oder in da Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgan mit eigenen Rechten ausgestattet sind“, das Recht zu. das Bundesverfassungsgericht anzurufen, um eine Entscheidung herbeizuführen.

Die GOBT, die sich der Bundestag nach Art. 401 GG gibt, ist eine wesentliche Grundlage für die Ausübung des Abgeordnetenmandats. Sie setzt eil Rederecht für die Abgeordneten voraus, schränkt dieses aber mit einer möglichen Begrenzung dei Redezeit wieder ein. Über die Wortmeldung entscheidet der Bundestagspräsident, so daß grundsätzlich erst einmal jeder Abgeordnete das Recht hat, zu Wort zu kommen — auch gegen den Willen seiner Fraktion. Ebenso kann er Zwischenfragen stellen, nachdem der Präsident das Einverständnis des Redners eingeholt hat. Ein MdB hat das Recht, sich an Wahlen und Abstimmungen zu beteiligen und Vorschläge für die Wahl des Bundestagspräsidenten oder seiner Stellvertreter zu machen. Dit GOBT gewährt in vielen Fällen das Recht zu kurzen Erklärungen, die nicht länger als fünf Minuten sein dürfen. Durch eine Erklärung zur Abstimmung z. B. kann der Abgeordnete eine von der Fraktionsmeinung abweichende, persönliche Überzeugung vor der Öffentlichkeit begründen.

Selbständige Vorlagen darf ein MdB nach den §§ 75 und 76 GOBT nicht einbringen, jedoch Änderungsanträge zur zweiten Beratung von Gesetzentwürfen, zu Vorlagen, die in nur einer Beratung behandelt werden und zu Vorlagen, die in der zweiten Beratung abschließend behandelt werden. Neben dem Recht auf Einsicht in die Akten, die sich in der Verwahrung des Bundestages oder eines Ausschusses befinden, hat jeder MdB das Recht der Teilnahme auch an Sitzungen der Ausschüsse, denen er nicht angehört, falls der Bundestag für einzelne Ausschüsse nichts anderes beschließt. Er kann mit beratender Stimme teilnehmen, wenn eine von ihm eingebrachte Vorlage behandelt wird. Ein für die parlamentarische Tätigkeit des einzelnen Abgeordneten nicht unbedeutendes Recht ist die Möglichkeit, nach § 105 GOBT kurze Einzelfragen zur mündlichen oder schriftlichen Beantwortung an die Bundesregierung zu richten. Nach der Geschäftsordnungsreform von 1980 kann außerdem jeder Abgeordnete pro Monat vier schriftliche Fragen stellen, die schriftlich beantwortet werden.

Das Bundeswahlgesetz behandelt in § 45 den Erwerb, in § 46 den Verlust der Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag. Die Entscheidung über den Verlust fällt nach § 47 der Wahlprüfungsausschuß, der Ältestenrat des Bundestages oder der Bundestagspräsident. Der betroffene MdB kann eine Entscheidung im Wahlprüfungsverfahren beantragen und gegen den Beschluß des Bundestages Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht einlegen.

Die Geschäftsordnungen der Bundestagsfraktionen regeln hauptsächlich Verfahrensfragen. Sie gewähren ihren Mitgliedern den Anspruch auf Mitgliedschaft in Fraktionsarbeitsgruppen oder -kreisen. Lediglich die Geschäftsordnung der FDP-Fraktion enthält eine Regelung über einen Fraktionsausschluß. Bedenkt man, welche Auswirkungen es für den einzelnen Abgeordneten hat, wenn er nicht Mitglied einer Fraktion ist (GOBT § 5711: Die Fraktionen benennen die Ausschußmitglieder und deren Stellvertreter), so ist der Schutz seiner Fraktionsmitgliedschaft in einem Parlament der Fraktionen für seine Mandatsausübung unerläßlich.

Es kann festgehalten werden: Gesetze und Geschäftsordnungen schützen die Handlungen des Abgeordneten (Reden, Abstimmungen, Initiativen) in ausreichender Weise, aber gleichzeitig stehen ihm nur wenige rechtlich gewährte Handlungsmöglichkeiten zu. Initiativrechte fehlen. Das Rede-recht unterliegt den vom Parlament kraft eigener Autonomie gesetzten Schranken. Die GOBT sorgt in erster Linie dafür, daß der Bundestag als Ganzes seine Aufgaben erfüllen kann. Das Recht zu kurzen Erklärungen und die Möglichkeiten der Fragestunde reichen für die Ausübung eines „freien Mandats“ kaum aus. Die dem Abgeordneten zustehenden Initiativen sind deutlich zugunsten eines Parlaments der Fraktionen eingeschränkt.

III.

„Die Abgeordneten haben Anspruch auf eine angemessene, ihre Unabhängigkeit sichernde Entschädigung“ (Art. 48III). Es wird heute anerkannt, daß die Entschädigung der Förderung der freien, unabhängigen Mandatsträger dient. Dies wird auch dadurch deutlich, daß die Formulierung der Weimarer Verfassung um die Worte „ihre Unabhängigkeit sichernde Entschädigung“ ergänzt wurde. Nach dem Diätengesetz von 1950 erhielten die Abgeordneten an Aufwandsentschädigung, Tagegeld und Kosten-ersatz (Reise-sowie Übernachtungskosten) monatlich durchschnittlich 1 950 DM Eine wichtige Änderung des Diätengesetzes war 1968 die Einfüh-rung der Alters-und Hinterbliebenenversorgung. Ab 1969 erhielten die Abgeordneten 1 500 DM pro Monat für die Beschäftigung eines Mitarbeiters.

Auf Grund einer Verfassungsbeschwerde erging 1975 das sogenannte „Diäten-Urteil". Darin stellt das Bundesverfassungsgericht fest, daß die Entschädigung nach Art. 48IIIGG „eine Alimentation des Abgeordneten und seiner Familie ... für die Inanspruchnahme des Abgeordneten durch sein zur Hauptbeschäftigung gewordenes Mandat“ geworden ist. Sie solle eine Lebensführung gestatten, „die der Bedeutung des Amtes angemessen ist“ und müsse „nach Grundsätzen, die für alle gleich sind, der Besteuerung unterworfen werden“

Als Konsequenz aus dem Urteil trat 1977 das „Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Deutschen Bundestages“ (Abgeordnetengesetz) in Kraft. Das Gesetz regelt außerdem den Erwerb und Verlust der Mitgliedschaft, das Verhältnis Mandat und Beruf, sowie die sozialen Leistungen. Dieses Gesetz wurde zuletzt am 25. Juli 1988 geändert. Seitdem erhalten die Parlamentarier eine steuerpflichtige Entschädigung von 9 013 DM monatlich. Hinzu kommt eine steuerfreie Kostenpauschale in Höhe von 5 155 DM, die für die Unterhaltung des Wahlkreisbüros. Mehraufwendungen (Zweitwohnung) am Sitz des Bundestages, sowie für Fahrten in Ausübung des Mandats innerhalb der Bundesrepublik gedacht ist.

Von diesen Geldern haben di 013 DM monatlich. Hinzu kommt eine steuerfreie Kostenpauschale in Höhe von 5 155 DM, die für die Unterhaltung des Wahlkreisbüros. Mehraufwendungen (Zweitwohnung) am Sitz des Bundestages, sowie für Fahrten in Ausübung des Mandats innerhalb der Bundesrepublik gedacht ist.

Von diesen Geldern haben die MdB’s oft beträchtliche Summen an die Partei oder die Fraktionen abzuführen. Die — mittlerweile untersagten — Beiträge aller Fraktionsmitglieder im Bundestag machten 1981 38 Mio. DM aus 7). Neben Fraktionsbeiträgen werden noch Beiträge an die Landes-, Bezirks-und Kreisverbände der Parteien gezahlt. Nach einer Rechnung von Hartmut Klatt dürfte die Gesamtsumme der Abgaben 1975 monatlich „in der Größenordnung bis 1 400 DM für die SPD, rund 800 DM für die CDU und ungefähr 650 DM für CSU bzw, FDP“ gelegen haben 8). Der Erhebung der diversen Beiträge kann sich der Abgeordnete nur theoretisch entziehen. Er kann sich auf Art. 38 GG berufen und die Zahlungen verweigern. Die Konsequenz dürfte spätestens bei der Kandidaten-aufstellung zur nächsten Wahl folgen: die Nichtaufstellung und damit der Mandatsverlust. Faktisch kann sich der Abgeordnete diesen, wenn nicht Zwangs-, dann zumindest Pflichtbeiträgen nicht entziehen.

Die (finanzielle) Unabhängigkeit der Parlamentarier betreffen auch die Verhaltensregeln. Bereits 1951 war im Bundestag die Erstellung einer Ehren-ordnung geplant. Erst 1970 jedoch wurde die Problematik wieder aufgegriffen, als dem Abgeordneten Geldner für einen Fraktionswechsel ein Beratervertrag geboten wurde. 1972 erließ der Bundestag „Verhaltensregeln für die Mitglieder des Deutschen Bundestages“. Danach haben die Abgeordneten zur Veröffentlichung im Amtlichen Handbuch des Bundestages anzugeben: ihren Beruf, für wen sie beruflich tätig sind, sowie jede entgeltliche Tätigkeit im Vorstand oder einem sonstigen Organ einer Gesellschaft. Angehörige beratender Berufe haben die Art der Beratung anzugeben, Ausschutmitglieder haben Interessenverknüpfungen offen-zulegen, wenn sie beruflich oder auf Honorarbasis mit einem Gegenstand beschäftigt sind, der in einem Ausschuß des Bundestages zur Beratung ansteht. Die Verhaltensregeln dienen letztlich dazu, die Abgeordneten vor einer Einflußnahme durch Dritte zu schützen. Darin dürfte kaum eine Erschwerung der parlamentarischen Tätigkeit liegen. Die Einführung der Diäten und der Alterssicherung für Parlamentsmitglieder schloß die Entwicklung vom Honoratioren-zum Berufspolitiker ab, de» Max Weber bereits 1918 für „rein technisch unentbehrlich“ hielt. Er beschrieb den Berufsparlamen tarier als einen „Mann, der das Reichstagsmandat ausübt nicht als gelegentliche Nebenpflicht, sondern — ausgerüstet mit eigenem Arbeitsbüro und -personal und mit allen Informationsmitteln -als Hauptinhalt seiner Lebensarbeit“ 9). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dal die Grundgesetzformulierung über die die Unab hängigkeit sichernde Entschädigung die Voraussetzung für eine von finanziellen Zwängen freit Mandatsausübung ist. Die Unabhängigkeit von de: eigenen finanziellen Situation der MdB demokratisiert gleichzeitig die Zugangschancen zum Parlament. Der zur Zeit wieder diskutierte Vorschlag eine „Kommission von Autorität“ solle „periodisch einen Vorschlag zur angemessenen Aufwandsent Schädigung für Volksvertreter machen“ könnte erheblich zur allgemeinen Akzeptanz der Diätei beitragen.

IV.

Die gleichen Rechtsquellen, die den Abgeordneten ihre speziellen Rechte gewähren, beinhalten auch Einschränkungen der Abgeordnetenrechte. So wird aus Art. 20 II GG die Inkompatibilität, d. h. die Unvereinbarkeit der gleichzeitigen Ausübung zweier öffentlicher Funktionen durch eine Person-gefolgert. Die Unvereinbarkeit mit dem Abgeordnetenmandat gilt nach Art. 55 I GG für den Bundespräsidenten, nach Art. 94 I GG für die Bundesverfassungsrichter und nach Art. 137 I GG bedingt für Angehörige des öffentlichen Dienstes. Sie be trifft weiterhin die Mitglieder des Bundesrates und den Wehrbeauftragten. Die Inkompatibilität erfordert also eine Entscheidung zwischen dem Mandat und einer anderen Tätigkeit.

Nach der GOBT hat der Bundestagspräsident das Recht der Rüge, des Ordnungsrufes und des Wort-entzuges. Eine weiterreichende Maßnahme ist der Ausschluß von Parlaments-und Ausschußsitzungen.der gemäß § 48 GOBT bei gröblicher Verletzung der Ordnung bis zu dreißig Sitzungstage möglich ist. Über einen schriftlich begründeten Einspruch des Betroffenen MdB’s entscheidet der Bundestag ohne Aussprache, d. h. durch eine einfache Mehrheit können Abgeordnete bis zu dreißig Tagen ausgesperrt werden. Im Falle einer knappen Mehrheit kann hier willkürlichen Maßnahmen der Weg bereitet werden. Trotz des bisher mäßigen Gebrauchs — lediglich in der 1. und 3. Wahlperiode — bedeutet allein schon das Vorhandensein dieser Regelung eine Bedrohung für die freie Mandatsentfaltung der Abgeordneten.

Grundgesetz und GOBT nennen zahlreiche Minderheitenrechte. Mit der Geschäftsordnung von 1980 wurde für fast alle Minderheitenrechte die Fraktionsstärke, d. h. mindestens fünf Prozent der Bundestagsmitglieder, eingeführt. Der parteilose Abgeordnete wird damit von fast allen Minderheitenrechten ausgeschlossen. Für den einzelnen Abgeordneten kann es zu einer Beeinträchtigung seiner Mandatsausübung kommen, wenn er ein nach seiner Meinung erforderliches Handeln nicht herbeiführen kann. Andererseits können erweiterte Verfahrensrechte zu einem Mißbrauch und zur Obstruktion der parlamentarischen Arbeit führen. Nicht in Anspruch nehmen kann ein MdB z. B. so wichtige Initiativrechte wie die Einbringung von Gesetzentwürfen, von selbständigen Anträgen und Entschließungsanträgen, von Großen und Kleinen Anfragen.

Weitere Einschränkungen enthalten die Fraktionsgeschäftsordnungen, die unter anderem festlegen, daß die Fraktion die Redner bestimmt, daß Fragen für Fragestunden über den Parlamentarischen Geschäftsführer einzureichen sind, oder Initiativen, die nicht von der Fraktion eingebracht werden sollen, vorher dem Fraktionsvorstand vorzulegen sind. Diese Regelungen fallen alle unter den „gemeinsamen Nenner, die Pflicht zur Arbeit für das Wohl der Fraktion*. Sie laufen alle darauf hinaus, den Abgeordneten darauf festzulegen, nicht nur nichts gegen, sondern auch nichts ohne Zustimmung der Fraktion zu tun.“

V

Das „freie Mandat“ nach Art. 38 I GG wird heute -bedingt durch den Wandel zum Parteienparlament — vor allem als Schutz des Abgeordneten gegenüber der Partei, weniger gegenüber dem Wähler und kaum noch gegenüber der Regierung betrachtet. Auf Partei-und Fraktionsebene hat es nicht nur Schutzcharakter, sondern soll die Meinungs-und Mehrheitsbildung durch die von Aufträgen und Bindungen der Gliederungen freien Abgeordneten, die nicht bei jeder geänderten Sachlage von neuen Beschlüssen der Basis abhängig sind, wie es z. B. das imperative Mandat fordert, ermöglichen. Da die Vorentscheidungen bereits (spätestens) in den Fraktionssitzungen fallen, ist es für die Mandatsträger wichtig, dort ihre Meinung vertreten zu können. Da weder Wähler noch Parteigliederungen sie zwingend binden können, steht es ihnen frei, sich sowohl in der Fraktion wie im Parlament entsprechend ihrer Überzeugung zu äußern und zu entscheiden. Benutzt ein Abgeordneter unter Berufung auf sein Gewissen Art. 38 GG häufiger als Notbremse, läuft er Gefahr, dadurch seine parla-* mentarische Fahrt zu beenden. Konkret heißt dies: Besteht er gegenüber Partei und Fraktion auf seiner Unabhängigkeit, droht ihm von dort die Gefahr, daß er bei der nächsten Wahl nicht wiederaufgestellt wird. Der Schutz ist ihm also nur insofern geboten, als ihm sein Mandat in einer laufenden Wahlperiode nicht genommen werden kann. So mißt Leibholz Art. 38 I GG lediglich die Bedeutung zu, die äußersten Konsequenzen eines Parteienstaates zu verhindern. In „einer logisch zu Ende gedachten parteienstaatlichen Demokratie .. . erscheint der Abgeordnete als grundsätzlich fremdem Willen unterworfen ... In ihr sind nicht die Abgeordneten, sondern die Parteien in ihren Entschließungen frei und an Aufträge nicht gebunden.“

Die Enquete-Kommission Verfassungsreform, die den Auftrag hatte, zu prüfen, ob das Grundgesetz den gegenwärtigen oder voraussehbaren zukünftigen Erfordernissen anzupassen sei, stellte 1976 fest, daß „das freie Mandat sowohl als Kernstück der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie unverzichtbar wie auch für die Funktionsfähigkeit der innerparteilichen Demokratie von wesentlicher Bedeutung ist“

Als ein Eingriff in die freie Mandatsausübung wird oft die Fraktionsdisziplin dargestellt. Dabei wird leicht übersehen, daß im Parteienparlament erst die Fraktion dem Abgeordneten die Basis für sein politisches Wirken bietet. Er benötigt ihre Unterstützung zur Durchsetzung seiner politischen Vorstellungen. Hinzu kommt, daß es sich bei den Mitgliedern einer Fraktion nach § 10 GOBT um MdB’s handelt, „die derselben Partei oder solchen Parteien angehören, die aufgrund gleichgerichteter Ziele in keinem Land miteinander im Wettbewerb stehen.“ Daraus folgt, daß eine gewisse Fraktionssolidarität selbstverständlich ist, da der Abgeordnete sich freiwillig seiner Partei angeschlossen hat. Es entspricht außerdem demokratischen Grundsätzen, daß ein MdB sich einer Mehrheitsentscheidung seiner Fraktion fügt.

Der Übergang von Fraktionsdisziplin zu Fraktionszwang dürfte fließend sein. Nach Art. 38 GG ist Fraktionszwang gar nicht möglich. Es ist aber nur eine Frage der Formulierung, wenn eine Fraktion einem MdB, der offensichtlich das Mißfallen der Fraktionsführung erregt hat, den Vorsitz eines Arbeitskreises entzieht oder einen bestimmten Ausschußsitz streitig macht. Die Fraktion hat die Sanktionsmöglichkeit des sogenannten „Ausschuß-Recall's", da sie nach § 57 II GOBT die Ausschußmitglieder benennt. So zog 1972 die SPD-Fraktion die Abgeordneten Hupka, Seume und Bartsch kurz vor der Entscheidung über die Ost-Verträge aus dem Auswärtigen Ausschuß zurück, da sie mit dem Abweichen der Parlamentarier von der Fraktionslinie rechnen mußte. Geöffnet wird die Fraktionsdisziplin gegebenenfalls für sogenannte Gewissensentscheidungen. Dazu wurden bisher die Verjährung von Nazi-Verbrechen, die Frage der Todesstrafe oder der § 218 StGB gerechnet. Während hier offiziell die Abstimmung freigegeben wird, muß ein MdB in anderen Fällen, beruft er sich auf sein Gewissen, mit Pressionen oder Sanktionen rechnen. Also „Gewissensfreiheit zugestanden erst und nur durch Genehmigung Dritter.“

Das stärkste Sanktionsmittel ist der Fraktionsausschluß, durch den der Parlamentarier auch die Mitwirkung an Minderheitenrechten verliert. Damit ist jedoch kein Mandatsverlust verbunden. Wäre dies der Fall, könnte eine Fraktionsmehrheit jederzeit andersdenkende Abgeordnete durch Druck zur Meinungsänderung zwingen. Ebenfalls keinen Mandatsverlust beinhaltet der Parteiausschluß. Wäre dies möglich, würde die Sicherung der Gewissensentscheidung durch Art. 38 GG aufgehoben, die Partei könnte die Mandate ihrer Fraktion mit willfährigen Parteimitgliedern besetzen.

Der Abgeordnete Wüppesahl trat im Mai 1987 aus der Partei der Grünen aus. Die Fraktion schloß ihn im Januar 1988 aus. Er hat seitdem in den Ausschüssen nur noch das Recht Anträge zu begründen, die er als Erstunterzeichner vor dem Ausschluß unterzeichnete. Nach Absprache des Bundestagspräsidiums kann er alsjeweils letzter Redner zu einzelnen Tagesordnungspunkten im Plenum reden.

Neben dem Fraktionsausschluß gibt es den Fraktionswechsel unter Mitnahme des Mandats. Kritiker sind der Meinung, Art. 38 GG schütze nur die Ausübung des Mandats, nicht jedoch seinen Erwerb oder Verlust. Die Mitnahme des Mandats wird als Eingriff in das Recht der Wähler bezeichnet, die nach Art. 20 II GG die Staatsgewalt durch Wahlen ausüben und deren Wahlentscheidung gegenstandslos würde. Der Mandatsverlust sei berechtigt, da vor allem die Partei und ihr Programm gewählt werden. Da bei geringen Mehrheiten nur wenige wechselnde Abgeordnete einen Regierungswechsel u. U. herbeiführen, können diese von einer anderen Fraktion oder Dritten z. B. durch Geldbeträge dazu veranlaßt werden. Umgekehrt können sie mit der Drohung des Fraktionswechsels ihre Fraktion unter Druck setzen bzw. die Fraktion von zu starkem Druck und straffer Führung abhalten. Die Enquete-Kommission Verfassungsreform „hält jede Sanktion eines Partei-oder Fraktionswechsels durch Mandatsverlust für geeignet, den Abgeordneten bei seiner nach Art. 38 GG , nur sei„nem Gewissen'unterworfenen Willensbildung unter Druck zu setzen und seinen repräsentativen Status zu beeinträchtigen“ Die FDP beschloß 1972 „Mandatsträger einer anderen Partei, die einen Fraktionswechsel vollziehen, in keinem Fall in die Bundestagsfraktion der FDP . . . aufzunehmen oder als Gast hospitieren zu lassen“

Eine neue Art der Mandatsaufgabe kam mit dem Rotationsprinzip der Grünen in den Bundestag. Auch ihre Abgeordneten können nicht zur Man-datsaufgabe gezwungen werden. Vor der Wahl ab-gegebene Erklärungen, sich der Rotation zu unter- haben keine rechtliche Bindung. Mittler-weile verzichten die meisten Landesverbände der Partei auf die vorzeitige Rotation ihrer Bundestags-werfen,

VI.

Die freie Mandatsausübung des Abgeordneten unterliegt nicht nur der Einschränkung durch gesetzliehe und satzungsmäßige Regelungen. Im parlamentarischen Alltag werden ihm Sachprobleme, Termine, Wahlkämpfe etc. vorgegeben. Seinen Entfaltungsmöglichkeiten wird ein enger Rahmen gesetzt. Von 68 erstmals in den Bundestag eingezogenen Abgeordneten klagten 62 Prozent über eine zu starke Fremdbestimmung bei der Arbeitsplanung und zu wenig Einfluß auf die Ministerialbürokratie, 60 Prozent über zu wenig Zeit für ihr Privatleben Diese Abgeordneten nannten als Hauptursache für das oft leere Plenum Termin-und Arbeitsüberlastung und die Tatsache, daß die politischen Entscheidungen woanders fallen. Die Abwesenheit wird den MdB’s erleichtert, da sie in ihren Büros den Debattenverlauf über das Hausfernsehen verfolgen können.

Eine Befragung von Abgeordneten ergab 1972, daß die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit der Parlamentarier in Sitzungswochen 86, 9 Stunden, in sitzungsfreien Wochen 78, 4 Stunden beträgt Aus den Antworten ist zu erkennen, daß die Abgeordneten zwar an vielen Sitzungen parlamentarischer Gremien teilnehmen, aber verhältnismäßig wenig Zeit haben, sich inhaltlich auf anstehende Fragen vorzubereiten, geschweige denn selbst politische Themen zu erarbeiten.

Eine Art der Mandatsausübung ist die immer stärker werdende Spezialisierung auf ein Fachgebiet. Die Experten der Fraktionen wirken in den Ausschüssen und nehmen für die Fraktion an Kongressen und Diskussionen im Bundesgebiet und im Ausland teil. Hier bietet sich für den Abgeordneten, der weder zu den Wahlkreislöwen noch zum Fraktionsestablishment gehört, die Möglichkeit, sich auf einige Sachbereiche zu konzentrieren und damit Einfluß auf die Politik seiner Fraktion zu gewinnen.

Die politischen Tätigkeitsfelder, auf denen der Abgeordnete aktiv werden kann, werden ihm in Abstimmung mit der Fraktion vorgegeben. Eine entscheidende Rolle spielt dabei die Fraktionsführung. Die Mitglieder der Fraktionsvorstände gelten als die Entscheidungsträger ihrer Parteien im Parlament. Ein besonderes Gewicht haben die Parlamentarischen Geschäftsführer gewonnen, die im Ältestenrat den Parlamentsablauf bis hin zu den Plenarsitzungen beeinflussen.

Ausschuß-und Arbeitskreisvorsitzende können die Behandlung politischer Sachfragen steuern. Ihre Macht wird unter anderem darin deutlich, daß sie sich oft selbst auf die Rednerliste setzen, da der Auftritt im Plenum auch eine Prestigefrage ist und als Maßstab für das politische Ansehen des jeweiligen Abgeordneten gilt. Für den Abgeordneten ist die Möglichkeit, im Ausschuß zu Wort zu kommen und auf Entscheidungen Einfluß zu nehmen, größer als im Plenum. Es darf aber nicht übersehen werden, daß die politischen Richtlinien auch hier vorgegeben sind und die Entscheidungsfreiheit der MdB’s beeinflussen. Eine Arbeitsteilung wird durch die umfassenden Sachprobleme erforderlich, so daß sich mit einem Problem neben den Obleuten der Fraktionen vor allem die Berichterstatter des Ausschusses befassen. Den weiteren Ausschußmitgliedern bleibt oft nichts anderes übrig, als sich auch hier den Fraktionssprechern anzuschließen. In den Arbeitskreisen bietet sich für den einzelnen Abgeordneten die Gelegenheit, eigene politische Vorstellungen in die Diskussion einzubringen. Die verschiedenen Arbeitskreise sind zwar normalerweise allen Fraktionsmitgliedern zugänglich, aber neben fehlendem Fachwissen macht die zeitliche Überschneidung der Sitzungstermine eine Teilnahme an verschiedenen Arbeitskreisen oft unmöglich.

VII.

Neu in den Bundestag gewählte Abgeordnete benötigen in der Regel ein bis zwei Jahre, bis sie sich im parlamentarischen Verfahren, in der Organisationsstruktur des Bundestages und in der Zusammenarbeit mit den Ministerien zurechtfinden. Es kann eine Legislaturperiode dauern, bis ein MdB das parlamentarische System effektiv nutzen kann. Dazu gehört auch, herauszufinden, welche der im Übermaß eingehenden Informationen wichtig sind und ihm helfen, den Wissensvorsprung von Regierung und Verwaltung geringer werden zu lassen.

Jedem Abgeordneten stehen pro Monat 9 802 DM für Mitarbeiter zur Verfügung. 1984 wurden 1 425 Mitarbeiter beschäftigt, 673 in Bonn und 752 im Wahlkreis. Als erforderlich wird eine Sekretärin für die Büro-und Schreibarbeit angesehen, sowie möglichst ein wissenschaftlicher Mitarbeiter. Für die Parlamentarier kann dies zu einer erheblichen Entlastung und damit zu einer freieren Mandatsausübung führen. Eine Grenze findet die Hilfe jedoch spätestens dort, wo die Verantwortung des Abgeordneten eigene Entscheidungen verlangt.

Frühere Typologien richteten ihre Klassifizierungen von Abgeordneten meist nach deren personellen, finanziellen und materiellen Unterstützungen aus. Die allgemeine Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Parlamentarier legen eine andere Beschreibung nahe; zum „Establishment“ gehört beispielsweise: „Das Management des Bundestages: die Kerngruppe der Initiatoren. Vermittler, Organisatoren, Koordinatoren sowie Repräsentanten politischer Entscheidungen und parlamentarischer Arbeit.“ Hans Apel verwandte den Begriff „Oligarchisierung“ bei seiner Feststellung, daß in der 4. Legislaturperiode im Parlament 8 Prozent der CDU-Abgeordneten 34 Prozent der CDU-Reden, bei der FDP 16 Prozent der Abgeordneten 50 Prozent der Reden und bei der SPD 11 Prozent der Fraktion 50 Prozent der Reden hielten

Im parlamentarischen Regierungssystem ist die Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative einer Teilung zwischen Regierung und Regierungspartei(en) einerseits und der parlamentarischen Opposition andererseits gewichen. Deutlich macht dies unter anderem die Zahl der Gesetzesinitiativen, die zum großen Teil von der Regierung kommen. Der Einfluß der Exekutive wird auch in den Ausschüssen sichtbar. „In diesem Stadium fällt den zehn bis 30 Beamten der Ministerialbürokratie ... eine kaum beachtete Rolle zu . . . sie allein kennen die Daten, die Details, die dünnen Stellen und Möglichkeiten.“ Für den einzelnen Abgeordneten hat sich die Situation so entwickelt, daß er zur Kontrolle der Regierungsbürokratie auf ihre Auskünfte und die Zusammenarbeit mit derselben angewiesen ist.

VIII.

Eine zeitlich aufwendige Belastung bringen die Wahlkreistermine. Die Partei möchte vor Ort durch ihre Abgeordneten gerne überall vertreten sein. Den sogenannten Wahlkreislöwen, die im Bundestag in der Fragestunde hauptsächlich lokale Probleme vorbringen, wird vorgeworfen, sie tragen erheblich zu einer Verzerrung der Abgeordnetentätigkeit in der Öffentlichkeit bei. Durch ihre häufige Präsenz bei Sport-und Heimatfesten sowie in der lokalen Presse zwingen sie die politische Konkurrenz zu einem ähnlichen Verhalten, da sie sich um die Wählerstimmen sorgen muß.

In den sitzungsfreien Wochen erwartet die Partei vor Ort die Teilnahme der Abgeordneten an ihren Sitzungen und die Information über die Arbeit in Bonn. Vielen MdB’s ist es kaum möglich, wenigstens einmal im Jahr jeden „ihrer“ Ortsverbände zu besuchen. In ländlichen Flächenwahlkreisen gibt es bis zu 700 Dörfer, Großstädte haben teilweise 40 Ortsverbände in einem Wahlkreis. Hinzu kommt noch die Teilnahme an Bezirks-, Landes-und Bundesvorstandssitzungen und -parteitagen. Zusätzliche Arbeit bringen die Wahlkämpfe aller Art, bei denen die Abgeordneten als Parteiprominente in vorderster Linie gefragt sind.

Auf Grund der Vielzahl von Funktionen, die Abgeordnete außerhalb des Parlaments wahrnehmen, wird ihnen oft Ämterhäufung vorgeworfen. Nehmen sie diese Funktionen jedoch nicht wahr, ergeht der Vorwurf fehlender Basisnähe, und die Abgeordneten begeben sich der für eine Wiederwahl erforderlichen Hausmacht. Für die Wiederwahl gilt als Voraussetzung eine ausreichende innerparteiliche Selbstdarstellung. Nicht die Wähler oder die Arbeit in der Fraktion sind ausschlaggebend, sondern eine Hausmacht in den örtlichen und regionalen Parteigremien, mit der es gelingt, mögliche Konkurrenten schon im Vorfeld auszuschalten. Für den Parlamentarier bedeutet dies, bei seinen politischen Entscheidungen Rücksicht auf die Meinung dieser Gremien zu nehmen. Eine Vernachlässigung der Parteibasis kann auch für prominente Abgeordnete Auswirkungen haben, wie bei der Kandidatenaufstellung für die Bundestagswahl 1987 die Beispiele der Abgeordneten Apel und Renger zeigten.

Die Häufigkeit der Wiederwahl hat durch den Einzug der Grünen ins Parlament und durch ihr Rotationsprinzip abgenommen. Von 1976 erstmals gewählten 117 Abgeordneten, also vor dem Einzug der Grünen, wurden 99 = 84, 6 Prozent einmal, 88 = 75, 2 Prozent zweimal und 70 = 59, 8 Prozent 1987 zum dritten mal wiedergewählt

IX.

Sowohl von den Theoretikern wie von den Abgeordneten selbst wurden wiederholt Reformen gefordert, die auf eine Stärkung des „freien Mandats“ und größere Unabhängigkeit von Fraktionen hinausliefen. 1984 wurden unter den Abgeordneten Unterschriften für „erste Überlegungen und Vorschläge zur Berücksichtigung des Art. 38 Abs. 1 GG in der parlamentarischen Arbeit“ gesammelt. In einer Vorbemerkung ging man von der persönlichen Mitverantwortung der Abgeordneten für die Glaubwürdigkeit und das Ansehen des Parlamentes. für das Gesetzgebungsverfahren, die politische Willensbildung und die Kontrolle der Regierung und Exekutive aus. Konkrete Vorschläge wurden zur Belebung des individuellen Rederechts und zur Verbesserung des Kontrollrechts gemacht.

Eine Straffung der Redezeiten in der 10. Legislaturperiode führte immerhin dazu, daß bei gleich langer Gesamtdebatte mehr Abgeordnete im Plenum zu Wort kommen können. In der gleichen Wahlperiode wurde eine „überfraktionelle Initiative Parlamentsreform“ aktiv, die auf Anregung der Abgeordneten Hildegard Hamm-Brücher zustandegekommen war. Erste Vorschläge zur Parlamentsreform wurden von 110 Abgeordneten unterstützt. Sie führten zur ersten Selbstverständnisdebatte des Bundestages, der wenig später die Einsetzung der „Ad-hoc-Kommission Parlamentsreform“ folgte. Der Bericht dieser Kommission wurde im Juli 1985 vorgelegt, im Januar 1986 folgte eine zweite Selbstverständnisdebatte. Ergebnis war, daß der § 13 GOBT ergänzt wurde: „Jedes Mitglied des Bundestages folgt bei Reden, Handlungen, Abstimmungen und Wahlen seiner Überzeugung und seinem Gewissen.“ Außerdem wurde beschlossen, daß der 11. Bundestag die Arbeit an der Reform fortsetzt. Wiederum auf Betreiben der Abgeordneten Hamm-Brücher fand sich die überfraktionelle Initiative zusammen, deren grundsätzliche Anliegen 1987 von 137 Abgeordneten unterstützt wurden

Im September 1988 erzielte der Ältestenrat Einvernehmen darüber, probeweise für ein halbes Jahr zwei Maßnahmen zur Verbesserung des parlamentarischen Verfahrens einzuführen. So sollen Vorlagen, für die der Ältestenrat ein vereinfachtes Verfahren vereinbart hat, ohne Aussprache zusammengefaßt in einer einzigen Abstimmung überwiesen werden. Außerdem wurde eine Befragung der Bundesregierung eingeführt. Regierungsmitglieder sollen vorrangig zur vorangegangenen Kabinettssitzung befragt werden können. Ein erster Versuch dieser Art war 1985 nach nur drei Befragungen wieder abgebrochen worden.

Das in Art. 38 GG festgeschriebene „freie Mandat“ ist in der Verfassungswirklichkeit zu einem nur noch bedingt „freien Mandat“ geworden. Hauptursache ist die verstärkte Entwicklung zum Parteien-parlament. Änderungen im Sinne einer „freieren“ Mandatsausübung sind möglich, sie müssen aber von den Abgeordneten gewollt werden. Mehr Freiheit bedeutet jedoch auch mehr Verantwortung. Der Kreis der Abgeordneten, die sich für Reformen zugunsten des „freien Mandats“ einsetzen, setzt sich aus selbstbewußten politischen Charakteren zusammen. Ihre Zahl nimmt auf Grund der politischen Sozialisation durch die Parteien kaum zu.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Hans Apel, Ein Plädoyer für den Berufspolitiker, in: «Neue Gesellschaft, (1967), S. 129.

  2. Die Zahlen für den 11. Deutschen Bundestag sind entnommen: Emil-Peter Müller. Interessen der Sozialpartner im XI. Deutschen Bundestag, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen. (1988) 2. S. 187 ff.

  3. BVerfGE 10. S. 12.

  4. Zahlen nach: Peter Schindler, Deutscher Bundesta 1949— 1983: Parlaments-und Wahlstatistik, in: Zeitschnt für Parlamentsfragen, (1983) 4, S. 471.

  5. Vel.ders., Entwicklung der Diäten für Bundestagsabge-ordnete seit 1949, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, (1973) 3, S. 353.

  6. BVerfGE 40, S. 296.

  7. Max Weber. Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland. Mai 1918, in: Gesammelte politische Schriften. Tübingen 19582. S. 352.

  8. Theodor Eschenburg, zit. nach: Frankfurter Rundschau vom 25. 7. 1988.

  9. Heinhard Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems. Eine Untersuchung zur rechtlichen Stellung des Deutschen Bundestages. Berlin

  10. Gerhard Leibholz. Die Repräsentation in der Demokratie, Berlin-New York 1973, S. 238.

  11. Schlußbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform. Bundestagsdrucksache 7/5924 vom 9. 12. 1976 S. 25.

  12. Hildegard Hamm-Brücher. Der Politiker und sein Gewissen, München 1983. S. 14.

  13. Anm. 13. S. 27.

  14. Martin Müller. Fraktionswechsel im Parteienstaat, Opladen 1974, S. 46.

  15. Vgl. Ewald Rose/Joachim Hofmann-Göttig, Selbstverständnis und politische Wertungen der Bundcstagsabgeordneten, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, (1982) 1, S. 68.

  16. Vgl. Paul Kevenhörster/Wulf Schönbohm, Zur Arbeitsund Zeitökonomie von Bundestagsabgeordneten, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, (1973) 1, S. 18 ff.

  17. Frank Grube/Gerhard Richter/Uwe Thaysen, Das Management des 6. Deutschen Bundestages, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, (1970) 2, S. 152.

  18. Vgl. Hans Apel, Der deutsche Parlamentarismus. Unreflektierte Bejahung der Demokratie?, Reinbek 1968, S. 244.

  19. Henric L. Wuermeling, Werden wir falsch repräsentiert? Sinn und Widersinn des heutigen Parlamentarismus, München 1971, S. 88.

  20. Vgl. Heino Kaack, Zur Abgeordnetensoziologie des Deutschen Bundestages: Zugehörigkeitsdauer und Alters-Schichtung, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, (1988) 2, >. 1/0

  21. Vgl. Hildegard Hamm-Brücher. Materialien zur Parlamentsreform, o. J.

Weitere Inhalte

Jürgen Lückhoff, M. A., geb. 1950; Studium der Politischen Wissenschaft, der Soziologie undd Öffentlichen Rechts in Bonn; zur Zeit wissenschaftlicher Mitarbeiter eines Bundestagsabgeordneten.