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Zur kulturverändernden Kraft der Computertechnologie | APuZ 27/1989 | bpb.de

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APuZ 27/1989 Artikel 1 Entwicklung und Perspektiven der Schulverfassung in der Bundesrepublik Deutschland Schule und gesellschaftlicher Wandel Anforderungen an die Schule in den neunziger Jahren Zur kulturverändernden Kraft der Computertechnologie Informatorische Bildung oder Allgemeinbildung? Über den Bildungswert des Computers

Zur kulturverändernden Kraft der Computertechnologie

Walther Ch. Zimmerli

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Verwendung des Computers ist eine vierte Kulturtechnik. Der Computer schließt zum einen die drei Kulturtechniken Sprechen, Rechnen und Schreiben mit ein und hebt sie auf ein neues qualitatives Niveau; zum anderen erfüllt er die Bedingungen jeder Kulturtechnik, transferfähig und überlebensrelevant zu sein. In Übertragung der Gewinn-Verlust-Rechnung von der Kulturtechnik der Schrift auf die der Computer-verwendung zeigt sich, daß den neuen Möglichkeiten zur Repräsentation und Speicherung riesiger Datenbestände sowie zu deren nahezu fehlerfreier logisch-deduktiver Abarbeitung in großer Geschwindigkeit auf der einen Seite eine Überforderung unserer eigenen Fähigkeiten zu Kontrolle und Beurteilung auf der anderen Seite gegenübersteht. Daraus ergibt sich, daß in einer computerverwendenden Kultur nicht mehr so sehr die genaue Kalkulation, sondern die Abschätzung der Größenordnungen Lernziel der zu erwerbenden kulturtechnischen Fähigkeit in der Mensch-Maschine-Kooperation sein muß. Diese Fähigkeit zu stärker System-und größenordnungsbezogenem Denken ist es, die ein mögliches Hilfsmittel gegen die vielen von Computerkritikern namhaft gemachten verhängnisvollen Konsequenzen der Über-wie der Unterschätzung der Macht des Computers darstellt. Sowohl im neuen simulativen Wissens-typ als auch im Kontext computergestützten Handelns zeigen sich die spezifischen Erfordernisse im Ümgang mit dem Computer als Ein-und Abschätzungskompetenzen. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Frage der Verantwortbarkeit von computergestütztem Handeln, das in hohem Maß von der Normalsituation des Handelns abweicht und deswegen ein mindestens ebenso hohes Maß an kreativer Phantasie bei der gedanklichen Vorwegnahme von „worst cases“ erforderlich macht. Eine mögliche Konsequenz hieraus wäre die Reduktion weiterer Vernetzungen. In bezug auf die Computerisierung und Robotisierung der Arbeitswelt zeigt sich dies in unserer Kultur bereits in einer Verlangsamung der historischen Tendenz zur Ersetzung der menschlichen Arbeitskraft durch „intelligente“ industrielle Handhabungsgeräte (Roboter).

Zwei kardinale Denkfehler gibt es, die an einer angemessenen Beurteilung des Computers, seiner Bedeutung und seiner Wirkungen im Blick auf die Zukunft hindern: Es ist zum einen der Fehler, etwas, das man als Ursache erkannt hat, monokausal als die einzige Ursache zu interpretieren; und zum anderen ist es das Verkennen, daß etwas, was geschieht, überhaupt eine Ursache von etwas ist, d. h. Wirkungen hat. Und dieser doppelte Ursachen-Fehler findet sein Gegenstück im doppelten Wirkungsfehler: Dieser besteht darin, einerseits anzunehmen, daß etwas all die Wirkungen hat, die man sich überhaupt nur vorstellen kann; und andererseits anzunehmen, daß etwas völlig wirkungslos ist, solange man es bloß ignoriert.

Zwar ist es fraglos so, daß der Computer nicht die einzige Ursache für die teils bereits eingetretenen, teils noch zu erwartenden Veränderungen in unserer Gesamtkultur ist. Dies anzunehmen, entspräche dem Monokausalitätsfehler, alles immer auf eine Ursache zurückzuführen. Aber es darf auch nicht ignoriert werden, daß wir mit dem Computer über ein machtvolles Instrument verfügen, unsere geistige und gesellschaftliche Kultur mit zu prägen. Dies zu verkennen, würde dem Denkfehler der Wirkungsignoranz entsprechen, alles für wirkungslos zu halten, was man nicht kennt..

Um nun einen Weg zu gehen, der diese Denkfehler vermeidet und trotzdem nicht bloß bekannte Trivialitäten wiederholt, soll im folgenden zunächst eine Bestimmung dessen, was unter „Kultur“ und „Kulturtechnik“ verstanden wird, gegeben werden. Dabei wird sich herausstellen, daß das Denken, das ein wesentliches Ingrediens einer Kultur ausmacht, in starkem Maße von den Medien bestimmt wird, deren es sich bedient, was, auf die Computertechnik angewendet, zu interessanten Konsequenzen führt. Die Einsicht, daß neben den expliziten Denkprodukten auch die Art und Weise des Handelns in einer Welt deren Kultur bestimmt, zwingt uns dann zum Nachdenken über computergestütztes Handeln. Von hier ist der Schritt zur spezifischen Art des Handelns, die das Überleben der Spezies garantiert, zur Arbeit, nicht mehr weit. Mit der Analyse der spezifischen Auswirkungen des Computereinsatzes auf Denken, Handeln und Arbeit sind dann die Grundbestände skizziert, die nötig sind, um einige allgemeine Konsequenzen für unseren Umgang mit dem Computer abzuleiten.

I. Kultur und Kulturtechnik

„Kultur“, dieser aus dem Lateinischen stammende Begriff, der zunächst nichts anderes als „Ackerbau“ meinte, hat seit dem 17. Jahrhundert die Bedeutung eines dem Zustand der Natur gegenübergestellten Zustands der menschlichen Vergesellschaftung angenommen. Seit dem 18. Jahrhundert kommt die spezifische Bedeutung einer allgemeinen Bildung und Prägung gesellschaftlicher Niveaus hinzu. Kulturen (die so nun im Plural auftreten) sind zu bestimmen als die Menge der charakterisierenden Merkmale, die, objektiv wie funktional, die spezifischen Zusammenlebensformen von Völkern und Gemeinschaften charakterisieren -Welche Charakteristika wir für vordringlich halten, läßt sich . etwa exemplarisch ablesen an der Beantwortung der Frage, wonach wir suchen, wenn wir nach Zeugnissen vergangener Kultur fragen. Es handelt sich dabei stets um Objektivationen des Geistes, d. h. um Zeugnisse des Denkens, des Handelns und der Technik bis hin zur Kunst.

Und in einer noch spezifischeren Wendung pflegen wir dann von „Kulturtechniken“ zu sprechen, worunter wir genauerjene Kunstfertigkeiten verstehen, die zum sozialen und kulturellen Überleben in einer Kultur unverzichtbar sind. Bei genauerer Betrachtung läßt sich hier noch ein weiteres inhaltliches Merkmal anfügen: Unverzichtbar sind genau jene Kunstfertigkeiten, die zur kulturellen Kommunikation nötig sind, d. h. als ubiquitäre „Quertechniken“ alle anderen kulturellen Objektivationen verbinden. Die fundamentalste menschliche Kulturtechnik ist fraglos die des Sprechens. Welche philosophisch-linguistische Theorie man auch immer im Zusammenhang von Spracherwerb und Sprachkompetenz in Ansatz bringen möge, sicher ist jedenfalls, daß zwischenmenschliche sprachliche Kommunikation seit alters geradezu als Definiens des menschlichen Zusammenlebens, d. h.der Kultur aufgefaßt wurde. Den Menschen als das Sprache habende Lebewesen (zoon logon echon) aufzufassen, wie es unsere griechische Antike getan hat, ist Ausdruck dieser festen Überzeugung. Denkendes Sprechen ist aber nicht ausreichend, denn unsere abendländische Kultur wird von allem Anfang an auch durch das Kalkulierenkönnen, durch die hohe Kunst des Rechnens bestimmt, die nicht nur für die Haushaltsführung (Ökonomie), sondern auch für die Organisation des Gemeinwesens insgesamt eine entscheidende Bedeutung hatte.

Damit sind wir implizit schon bei der dritten und für unsere europäische Kultur wichtigsten Kulturtechnik angelangt: Voraussetzung sowohl für ein buchhalterisch-ökonomisches Kalkulieren als auch für Kulturzeugnisse ist nämlich, daß die Kommunikation und Überlieferung nicht allein mündlich geschieht. Die Schrift ist es, die hier den entscheidenden Schritt darstellt. Zweierlei wird mit der Schrift möglich: Es werden ganz neue Dimensionen der Kommunikationsspeicherung, d. h.des gemeinschaftlichen Gedächtnisses, eröffnet, und es werden, darauf aufbauend, lange Rechengänge und komplexe Operationen erschließbar. Was dabei immer in Erinnerung gehalten werden sollte, ist, daß die Kulturtechnik nicht etwas allein auf das Individuum Beziehbares ist (Wittgensteins Kritik an der Möglichkeit einer Privatsprache bezieht sich hierauf) sondern die Kunstfertigkeit gesellschaftlichen Kommunizierens definiert. Das bedeutet, daß mit der Schrift, wie primitiv sie im Anfang auch immer gewesen sein mag, die Fähigkeiten der menschlichen Spezies, die Leistungen eines überdurchschnittlich entwickelten Gehirns zu objektivieren, nun dadurch geradezu explodieren, daß die Leistungen unterschiedlicher Individuen zusammengenommen werden können. Die Schrift ist Kommunikationsmedium und Wissensspeicher eines Kollektivs, und hier genauer: eines raum-zeitlichen Kollektivs. Die simultane Präsenz unterschiedlicher Zeiten, anders: die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen wird durch die Schrift ermöglicht, wie sich am besten am Beispiel der Bibliothek belegen läßt. Wer sich in einer Bibliothek befindet, hat tendenziell Zugang zur — wenn auch einseitigen — Kommunikation mit allen Menschen, deren Gedanken schriftlich tradiert sind.

Der Grund hierfür ist in einer Eigenschaft der Schrift zu suchen, die einem Charakteristikum des Denkens entspricht, nämlich die objektivierte Verdoppelung der Welt, Repräsentation in einem Medium zu sein. Ähnlich wie wir in unseren Gedanken Weltzustände aussondem, miteinander verknüpfen und so repräsentieren, sondert und verknüpft die Kulturtechnik der Schrift nochmals das Gedachte in einem intersubjektiv zugänglichen Kommunikationsspeicher. Die spezifische Art und Weise der Repräsentation also ist es, die Denken und die verschiedenen Kulturtechniken miteinander verknüpft.

Am Beispiel der Mathematik läßt sich besonders deutlich zeigen, inwiefern hierdurch neue Qualitäten möglich werden. Die Repräsentation quantitativer Verhältnisse, das Rechnen in Proportionen, ermöglicht eine Repräsentation der geometrischen, der mechanischen und dynamischen Verhältnisse der Welt, mit denen operierend umgehen nur kann, wer den schwachen individuellen menschlichen Gedächtnisleistungen durch Vermittlung eines intersubjektiv zugänglichen Speichermediums aufhilft. Die schlichte Grundschulerfahrung, daß mit Kopfrechnen nur ein minimaler Bruchteil dessen geleistet werden kann, was allein schon Bleistift und Papier ermöglichen, bestätigt lebenspraktisch in eindrücklicher Weise diesen theoretischen Befund.

Kurz: Die Kultur einer Zeit, die sich in Objektivationen des menschlichen Geistes niederschlägt, wird ermöglicht durch die Entwicklung von Kultur-techniken. Diese sind aber nicht unabhängig voneinander, sondern können in ihrer wechselseitigen Verknüpfung ihre jeweilige Leistung erheblich verstärken. Die fürjede menschliche Kultur unabdingbare Einstiegskulturtechnik ist die der zwischenmenschlichen sprachlichen Kommunikation. Eine für unsere Kultur spezifische zusätzliche Kultur-technik ist die des Umgehens mit abstrakten quantitativen Verhältnissen, das Kalkulieren oder Rechnen. Beides, zwischenmenschliche Kommunikation und Kalkulieren, läßt sich durch die Kulturtechnik der Schrift auf ein neues qualitatives Niveau anheben. und erst die Kombination von allen dreien macht die spezifische Kultur aus, in der wir uns bis jetzt befanden.

Wenn wir uns allein die Erarbeitung der uns selbstverständlich erscheinenden Fähigkeiten einmal genauer ansehen, die unsere technisch-wissenschaftli27 ehe Kultur bis dahin geprägt haben, so läßt sich leicht erkennen, daß sie — von der formalen Logik über die Mathematisierung bis zur experimentell-technischen Überprüfung — ohne Schrift ebenso-wenig möglich gewesen wäre, wie die ganze schön-geistige Produktion, vielleicht aber sogar die der bildenden und bauenden Künste, die als spezifische Sprachformen zu interpretieren wir seit der Semiotik Umberto Ecos und anderer gelernt haben. McLuhans etwas übertriebene Formel, daß das Medium die Botschaft sei („the medium is the message“) läßt sich für unseren thematischen Zusammenhang sicherlich zutreffender aufdie Reduktionsformel bringen: Denken und Kulturtechnik sind in starkem Maße rückgekoppelt. Die vielen historischen Forschungen etwa der „oralist school“ (Ong, Havelock u. a.) haben hierfür einen reichen Bestand an Belegen zutage gefördert, und die formalistische und strukturalistische Sprachtheorie hat entsprechende Erklärungen dafür geliefert. Insoweit läßt sich sogar, bei allen Differenzen, eine gewisse Einigkeit feststellen.

II. Der Umgang mit Computern als Kulturtechnik

Ob der Umgang mit dem Computer bereitsjetzt alle Bedingungen einer Kulturtechnik erfüllt, ist umstritten Wenn man diese Auffassung teilt, dann ist man verpflichtet, die Konsequenzen aufzuzeigen, die sich aus der Kombination dieser These mit dem vorhergenannten weitgehend akzeptierten Theorem der gegenseitigen Abhängigkeit von Denken und Kulturtechnik ergeben: Es muß gezeigt werden können, inwiefern die Verwendung des Computers eine Veränderung der Denkform zur Folge hat. Zwar ist argumentationstheoretisch damit noch nicht die Wahrheit der These vom Computerumgang als der vierten Kulturtechnik erwiesen, aber es ist damit zumindest ein Falsifikationsversuch erfolgreich abgewehrt.

Schauen wir zunächst, nach welchen Merkmalen wir suchen müssen, und blicken wir zu diesem Zweck zurück auf die Kulturtechnik der Schrift. Was wurde durch sie verändert, was die Denkform betrifft? Ohne in die Details gehen zu können, sei hier festgehalten, was unbezweifelbar ist: Die Repräsentation des Wissens in Allgemeinbegriffen, die ihrerseits Voraussetzung für die Herstellung quantitativer Verhältnisse zwischen denselben ist (was wiederum Voraussetzung für eine Prädikatenlogik ist), ist fraglos ohne das sekundäre Repräsentationsmedium der Schrift nicht denkbar. Analoges gilt aus denselben Gründen im Hinblick auf die höhere Mathematik. Der Preis, der dafür bezahlt werden muß, ist, daß Abstraktions-und Speicher-mechanismen der mündlichen Tradition durch Übernahme dieser Funktionen seitens der Schrift dysfunktional werden: Personifikationen, Allegorien, mythische Darstellungen, gebundenes Sprechen und die sozialen Überlieferungsformen z. B.der reisenden Sänger werden verdrängt und erhalten ein Refugium in dem neu entstehenden separaten Bezirk der nun eigens so genannten „schönen Künste“.

Wenn wir unseren Blick nun auf den Umgang mit dem Computer richten, so zeigt sich uns eine ähnliche Gewinn-Verlust-Bilanz. Ebenfalls ohne Frage ermöglicht der Einsatz des Rechners zweierlei, was aufgrund der Schrift allein nicht möglich gewesen wäre: die Repräsentation und Speicherung riesiger Wissensbestände auf der einen und die logisch-deduktive Abarbeitung derselben in immenser Geschwindigkeit auf der anderen Seite.

Und hier taucht bereits ein erstes Problem auf: Schon bei diesen zwei Funktionen des Rechners geraten wir, was die Leistungsfähigkeit unseres eigenen Gehirns betrifft, hoffnungslos in Rückstand. Bereits so etwas Unscheinbares wie ein Taschenrechner übertrifft unsere eigene Speicher-und Rechenkapazität, sowohl was Quantität als auch was Geschwindigkeit betrifft, bei weitem.

Auf dem Gebiet des kalkulierenden Denkens oder Rechnens bedeutet dies, daß ganz andere Fähigkeiten dessen, was der menschliche Geist leisten muß. gefordert sind als vorher. Nicht so sehr das präzise Kopfrechnen ist gefragt, da dies der Computer bzw. Taschenrechner erheblich besser macht. Gefragt sind Fähigkeiten zur Abschätzung der Größenordnung. Jeder Gymnasiallehrer, dessen Schüler mit Taschenrechnern umgehen müssen, kann bestätigen, daß gegenüber anderen Generationen von Schülern zwar die Fähigkeit im rein technischen Umgang mit dem Rechner erheblich zugenommen. dafür aber die Fähigkeit zur Abschätzung von Größenordnungen drastisch abgenommen hat.

Schon dies einfache Beispiel zeigt, daß eine andere Sorte von kalkulierendem Rechnen verlangt wird, wenn das menschliche Gehirn im Mensch-Maschine-Tandem rechnet, als wenn es auf sich allein angewiesen ist. Der schnelle Rohentwurf des Gesamtbildes bis hin zur Einschätzung der möglichen Größenordnung und einiger anderer Merkmale des zu erwartenden Resultats machen nun den Anteil des menschlichen Denkens am Rechnen aus. Die Kontrolle über das Rechnerergebnis besteht in der Entwicklung und Überprüfung von einigen Kontrollmechanismen, nicht aber im Nachprüfen des Rechenganges, was aus definitorischen Gründen unmöglich ist.

Wenn wir nun von solchen einfachen Beispielen auf komplexere übergehen, etwa auf den Umgang mit interaktiv programmierten Rechnern, zeigt sich das skizzierte Problem auf einer neuen Stufe. Beim Aufsuchen von Informationen aus großen in Datenbanken gespeicherten Wissensbeständen etwa wird der Benutzer eines Systems auf vorgegebene Klassifikations-und Suchstrategien des Systems reduziert. Zwar sieht es so aus, als reagiere das System auf die Aktionen des Benutzers, in Tat und Wahrheit aber reagiert dieser auf die vorgegebene Programmarchitektur. Und diese ist stets nach Verzweigungsbäumen oder analogen Heuristiken konzipiert. So kann es durchaus sein, daß sich das Denken des menschlichen Bestandteils an der Mensch-Maschine-Kombination auf die zwei systemischen Strukturen reduziert, die das Programm vorgibt. Eine zu frühe Einschränkung auf die Interaktion mit solchen Systemen könnte dann die Kreativität entscheidend einschränken, und um diese geht es, wie wir noch sehen werden, in ganz besonderem Maße in einer Computer-Kultur.

III. Verhängnisvolle Konsequenzen

Diese Frage reicht durchaus hinein bis in operationalisierbare Konsequenzen. Worum es nämlich hier geht, ist letztlich die Mensch-Maschine-Kommunikation, und in dieser diktiert bislang die Maschine, in welcher Form gesprochen wird Zwar werden seit langem große Anstrengungen unternommen, die Mensch-Maschine-Kommunikation auf Umgangssprache umzustellen, aber die hier erzielten Erfolge sind zum einen noch gering, und zum anderen herrschen, was das Programmieren betrifft, eindeutig noch die Programmiersprachen vor.

Es mag auch gut sein, daß es aus prinzipiellen Gründen niemals möglich sein wird, daß Menschen und Maschinen in jeglicher Hinsicht in menschlicher Umgangssprache miteinander kommunizieren, wie es der kalifornische Philosoph Hubert L. Dreyfus, einer der vehementesten Kritiker der mit dem Computer verbundenen Leistungsversprechen, vermutet. Wenn wir uns aber vollkommen auf die Rationalität der Computersprache einlassen, dann ist u. U. auch die Gefahr nicht mehr weit, vor der Dreyfus warnt: „Wir werden noch immer eine natürliche Sprache besitzen, weil wir noch immer einen gemeinsamen Hintergrund an Erfahrungen, Gefühlen, Personen und sozialen Artefakten haben werden. Aber wenn wir uns selbst dazu erzogen haben, berechnende Rationalität bei jeder Gelegenheit zu benutzen, wird es außer den Fakten und Abläufen, die wir mit unseren Maschinen gemeinsam haben, keinen Gesprächsinhalt mehr geben. (. . .) In einer solchen rationalisierten Kultur wird man in der Tat alles von Bedeutung in einen Code umwandeln können. Jenen, die dann den Code der Computer nicht sprechen, wird nichts mehr zu sagen übrigbleiben.“

Auf eine andere mögliche verhängnisvolle Einwirkung des Computers auf unsere Denkkultur soll wenigstens noch hingewiesen werden: In einer doppelten Weise nämlich könnte der Umgang mit dem Computer zu der Illusion führen, die Wirklichkeit zu kontrollieren. Zum einen nämlich ist die Programmwelt des Computers so strukturiert, daß in ihr im Prinzip alle Probleme, die formuliert werden können, auch lösbar erscheinen. Dies kann nun bei Menschen, die tagtäglich Problemlösungen programmieren, zu der sozusagen geistigen „optischen Täuschung“ führen, die komplexe soziale Wirklichkeit sei analog strukturiert. Und dies wiederum kann psychopathologische Reaktionen angesichts der fortgesetzten Enttäuschung dieser Erwartung auslösen, wie der zum Computerkritiker gewordene ehemalige Computer-Spezialist Weizenbaum verschiedentlich dargelegt hat

Zum anderen aber birgt im Rahmen der Erziehung, die die Kultur einer Zeit erst auf Dauer zu stellen vermag, der frühzeitige Umgang mit dem Computer die Gefahr der Entstehung von wahnhaften Machtvorstellungen, wie besonders eindrucksvoll der Computer-Kritiker Roszak formuliert hat: „Wenn man Schüler schon in jungen Jahren mit dem Computer vertraut macht und dabei den Eindruck erweckt, daß ihre kleinen Übungen im Programmieren und Spielen ihnen irgendwie Kontrolle über eine mächtige Technologie verleihen, kann dies eine verhängnisvolle Täuschung sein. Es lehrt sie nicht, in einer wissenschaftlich soliden Weise zu denken, es lehrt sie nur, sich zu fügen. Es gewöhnt an die Präsenz von Computern in allen Lebensbereichen und macht sie dadurch von der vermeintlichen Notwendigkeit und Überlegenheit der Maschine abhängig.“

Katastrophenprognosen dieser Art haben nur in ganz seltenen, meist irrelevanten Fällen die Aufgabe, in der Tat auf den Weltuntergang vorzubereiten. Zumeist sind sie im Sinne der alttestamentlichen Unheilsprophetien Aufrufe und Warnungen im Sinne eines optimistischen Instrumental-Pessimismus: Sie erfüllen die Kriterien von „worst case“ -Analysen, von denen ausgegangen werden muß, um das Eintreten wenigstens der schlimmsten Folgen zu verhindern

In diesem Zusammenhang gilt es, noch zwei Gefahren zu skizzieren, die mit einem fast schon mythisch gewordenen Bestand Zusammenhängen, den wir „Künstliche Intelligenz“ (KI) nennen. Und zwar sind dies die reziprok zusammengehörenden Gefahren der Über-und der Unterschätzung „intelligenter Maschinenleistungen“.

Die Überschätzung hängt nicht zuletzt mit der, wie vielfach bedauert worden ist, unglücklichen Benennung des gesamten Forschungsgebiets als „Artifi-cial Intelligence“ zusammen die mit der Doppeldeutigkeit des englischen Ausdrucks „intelligence“ behaftet ist und sowohl menschliche Intelligenz als auch schlicht Informationsverarbeitung bedeuten kann. Zwar ist das eine nicht unabhängig von dem anderen, aber die Überschätzung hat sich natürlich immer an der anspruchsvolleren Bedeutung festgemacht. Das Leistungsversprechen bestand in nichts weniger als darin, Programme zu entwickeln und zu implementieren, die die Leistungsfähigkeit der menschlichen Intelligenz zu simulieren oder sogar zu überbieten in der Lage wären. Die lange Geschichte dieser Überschätzung, die natürlich durch die Notwendigkeit, diesen neuen Forschungszweig zu finanzieren, getrieben war, hat zu vielen Kontroversen geführt und ist bei weitem noch nicht abgeschlossen.

Die Unterschätzung dagegen beruht auf einer Verharmlosung, die die systemische und qualitative Differenz übersieht, die zwischen der Computer-technologie und anderen Techniken besteht. Der Computer ist ja — so wird argumentiert — nichts anderes als ein technisches Instrument, das vom Menschen hergestellt worden ist, und daher kann er auch immer nur das, was der Mensch ihm beigebracht hat. Der Computer ist und bleibt, wie auch immer er programmiert sein mag, dumm — so ist die These.

Über-wie Unterschätzung führen fraglos zu Fehl-haltungen, die man nur beseitigen kann, wenn man das qualitativ Neue dieser Technologie im Hinblick auf ihre mögliche kulturverändernde Kraft adäquat faßt. Weder die panische Angst vor einer Super-Intelligenz noch die offensichtlich unsinnige Behauptung, ein Computer sei nichts anderes als eine raffinierte weiterentwickelte Art von Schraubenzieher, treffen nämlich die wesentliche Charakteristik. Diese besteht vielmehr darin, daß der Umgang mit dieser Technologie erlaubt, eine wesentliche kognitive Eigenschaft des Menschen drastisch zu verbessern: die Fähigkeit, Erfahrungshandlungen intellektuell vorwegzunehmen. Das „Gedankenexperiment“ oder die Simulation sind hier das Entscheidende. Mit dem Computer wird das Durchspielen von Möglichkeiten, das Kalkulieren von Alternativen und’die Durchführung von extrem langen und komplexen Kombinationsoperationen möglich, was eine extrazerebrale Weiterentwicklung fort vom simplen „trial and error" -Prinzip ist.

Auf der anderen Seite aber wird dieser neue simulative Wissenstyp, der im übrigen längst den faktischen Wissens-und Wissenschaftsbetrieb entscheidend verändert hat, um einen Preis erkauft, den es genau zu bedenken gilt: Während im Falle aller anderen Techniken und Technologien die Menschen die Kontrolle darüber, ob das gewünschte Ergebnis erzielt wird, mit ihrem eigenen Gehirn vornehmen, delegiert die datenprozessierende Informationstechnologie nun eben auch noch diese Kontrolle an ein technisches System, und zwar so effizient, daß von Geschwindigkeit und Datenmenge her unsere menschliche Intelligenz restlos überfordert wäre, auch nur einen Bruchteil dessen zu kontrollieren, was ein Computer rechnet.

Damit sind wir erneut bei der Konsequenz, die bereits angesprochen worden ist: Das Denken der Menschen wird sich im Zusammenhang simulativer und ihrerseits in ihrer Ergebnisrichtigkeit kaum mehr durch menschliche Intelligenz kontrollierbarer Leistungen des Computers in stärkerem Maße eine kreative Abschätzungs-Kompetenz erwerben müssen. Anders als Computerkritiker wie Dreyfus es befürchten, wird meiner Auffassung nach die kreative und intuitive Kapazität des Menschen sich steigern müssen im Umgang mit dem Computer. Nicht umsonst sind „Folgenabschätzung“ und „Zukunft“ Schlüsselworte unserer Gegenwart. In allen Gebieten unseres menschlichen Wissens wird daher wohl die in diesem Kontext gefragte Fähigkeit zum phantasievollen Entwurf und zur ebenso phantasievollen Imagination möglicher (auch schlechter) Folgen zur gefragtesten intellektuellen Qualifikation arrivieren.

IV, Computergestütztes Handeln, Verantwortung und Arbeitskultur

Schon bei diesen Überlegungen zeigt sich, daß der anfangs gemachte scharfe Trennstrich zwischen Denken und Handeln, zwischen Theorie und Praxis, zwischen geistiger und körperlicher Arbeit sich nicht aufrechterhalten läßt. Denn zwar sind die bisher angestellten Überlegungen allesamt auf den programmierten oder zu programmierenden Computer als „Denkzeug“ gerichtet gewesen aber das, was aus seinem Einsatz resultiert, hat natürlich unmittelbare Konsequenzen für das menschliche Handeln, und hier insbesondere für dessen produktive Form, die Arbeit.

In der philosophisch-terminologischen Fachsprache pflegen wir zu sagen, daß computergestütztes Handeln „in-kontinent" sei Mit diesem Ausdruck wird eine Situation bezeichnet, die von der Normal-Situation von Handlungen abweicht. Diese nämlich läßt sich durch ein Standardmodell so kennzeichnen, daß eine menschliche Handlung durch eine Zielvorstellung, durch ein bestimmtes Wissen über einzusetzende Mittel, durch die Überzeugung, daß die Ausführung der Mittelhandlungen zur Realisierung des Zieles führt, und durch die Möglichkeit, den Effekt der Anwendung jedes einzelnen Mittels stets zu kontrollieren und — so rückgekoppelt — Korrekturhandlungen ausführen zu können, charakterisiert ist. Solches Handeln nennen wir wegen der an mehreren Stellen eingebauten Transparenz „kontinentes Handeln“. Es ist u. a. Voraussetzung dafür, daß Handlungsfolgen dem Handlungssubjekt verantwortbar zugeschrieben werden können.

Nun lassen sich, wie bereits die antike Ethik wußte, verschiedene Möglichkeiten aufzeigen, diesen Zusammenhang der Kontinenz zu durchbrechen. Sie alle lassen sich auf Veränderungen der äußeren und der inneren Handlungsbedingungen zurückführen. Wenn wir etwa einen Nagel einzuschlagen versuchen, dann kann die Kontinenz dieses Handlungszusammenhanges durch ein Erdbeben (Veränderung der äußeren Bedingungen) oder durch zu hohen Alkoholgenuß (Veränderung der inneren Bedingungen) zu einem nicht-kontinenten Handlungszusammenhang werden: Wenn entweder die Wände schwanken oder ich selbst schwanke, ist das Ausführen gezielter Hammerschläge und nötigenfalls deren Korrektur nicht mehr etwas, was allein in meiner willentlichen Macht steht.

Das computergestützte Handeln nun scheint dem klassischen Handlungsmodell nicht mehr zu genügen. Das kann man sich klarmachen, wenn man sich daran erinnert, daß die Leistung, die der Computer zu ersetzen hat, die Denk-und Kontrolleistung ist. Daraus ergibt sich, daß wir entweder nur solche Teilhandlungsschritte als Mittel zur Erreichung des vorgegebenen Zielzustandes einsetzen dürfen, die wir bereits kennen, oder daß wir ihrerseits computergestützte oder allein von Computern ausgeführte Kontrollhandlungen einbauen müssen.

Die einzige effektive Möglichkeit zur Kontrolle von Rechnerresultaten besteht nämlich in der Einführung von Redundanzen: Nur ein Rechner von gleicher oder größerer Kapazität und Prozessiergeschwindigkeit ist in der Lage, die Resultate und die Korrektheit der Prozesse eines anderen Rechners zu kontrollieren. Es ist auch nicht der Pilot, der — abgesehen von durch die Sinnesorgane festzustellenden Fehlern — etwa die Arbeit der Bord-und Bodencomputer im Blindlandeverfahren kontrolliert, sondern es sind andere Rechner u. U. mit anders formulierten Programmen, die diese Kontrolleistungen übernehmen. Hierin besteht das „informationstechnologische Paradox“ das in desto stärkerem Maße für unser zukünftiges Handeln relevant werden wird, je mehr dieses von Computer-unterstützung durchzogen werden wird: In dem Maße nämlich, in dem Kontrolltechnologien höherer Stufe eingeführt werden, vermindert sich die menschliche Kontrollfähigkeit.

Das hat eine erstaunliche Konsequenz: Während wir gemäß dem Standardmodell des klassischen Handlungstyps nur verantwortlich gemacht werden konnten für Handlungsfolgen in kontinentem Handeln, d. h. für solches, was wir hätten vorhersehen bzw. abwenden können, beginnt sich nun die Verantwortung für Handlungsfolgen auch auf solche des inkontinenten Handelns zu erstrecken, d. h. auf solche, die wir aus prinzipiellen Gründen weder vorhersehen noch abwenden konnten.

Auch hier wird also (nun aber im Bereich des moralisch relevanten Handelns, das Gegenstand der Ethik ist) durch die Einführung des Computers eine entscheidende Veränderung der Kultur resultieren. Die Menschen stehen vor der Alternative, entweder die Computerunterstützung zu minimieren oder aber sich in einer neuen intellektuellen wie moralischen Tugend zu üben, die ebenfalls dem Schätzverfahren im theoretischen Denken analog ist: Wir müssen uns nämlich darüber klar werden, daß es unterschiedliche Arten des Nichtwissens gibt. Aus prinzipiellen Gründen nicht wissen zu können, ob ein Rechner korrekt rechnet, heißt noch nicht, gar nichts darüber zu wissen. So wissen wir etwa, daß systemische Fehler in nicht-vernetzten Systemen erheblich weniger Schaden anrichten als in vernetzten Systemen.

Entgegen allen Prophezeiungen bin ich daher der Auffassung, daß eine stark dezentralisierte, auf kleine, voneinander gut abgeschottete Einheiten aufbauende Computerisierung den richtigen Weg darstellt. Wie uns sowohl der erste computerinduzierte Börsenkrach in der Menschheitsgeschichte als auch der Einsatz von Computerviren gezeigt haben, sind große Netze mit weitgehend unbeschränkten Zugängen schwerfällig und daher auch leicht zu blockieren. Kleine integrierte, in ihren Auswirkungen begrenzbare und notfalls wieder aufzulösende Netze scheinen mir daher die „Therapie der Wahl“ zu sein Der Gedanke vom Mensch-Maschine-Tandem dem zufolge — von CAD bis zum Verkehrsleitsystem — der „Computer-Privatverkehr“ und nicht die generelle flächendeckende Lösung den Vorrang hat, hat vieles für sich.

Auch hier allerdings ist noch mit Inkontinenz zu rechnen. Und das bedeutet, daß auch hier Kreativität verlangt wird, die allerdings nicht im kognitiven, sondern im ökonomisch-ökologisch-sozial-moralischen Sektor liegt. Sich mit Bewußtsein für möglicherweise nicht abschätzbare Folgen computergestützten inkontinenten Handelns verantwortlich zu erklären, erfordert viel Phantasie im Hinblick auf die „worst-case“ -Vorstellungen.

Aus diesen Überlegungen resultiert auch die Antwort auf die Frage, wie denn der Computer jenen Basisbereich unserer Kultur beeinflussen wird oder beeinflußt, durch den wir uns selbst am Leben erhalten: die gesellschaftliche Arbeit. Rein extrapolative Überlegungen führen zwingend zu dem Ergebnis, daß unserer Gesellschaft die Arbeit ausgeht was wiederum ganz entscheidende kulturelle und moralische Konsequenzen hätte. Etwas Wahres ist sicher an dieser Trendvorstellung. Wenn wir uns allerdings die Gründe dafür ansehen, daß unsere gesamte Arbeitswelt nicht schon längst computerisiert und — dies ist besonders wichtig — robotisiert ist, so ist der Hinweis auf den noch nicht erreichten technischen Stand mit Sicherheit nicht ausreichend. Schon längst nämlich könnten wir, was die technische Machbarkeit betrifft, einen weit höheren Anteil an robotisierter Produktion haben. Andere, soziale, gewerkschaftliche und moralische Überlegungen scheinen es zu sein, die abbremsend auf diesen Trend einwirken.

Und auch hierin wiederum steckt ein Stück praktischer Vernunft: Von Computern gesteuerte sowie von in industrielle Handhabungsgeräte implementierten Computern vorgenommene Entwicklung, Produktion und Distribution von Gütern wären wiederum nur unter der Voraussetzung großer vernetzter Systeme denkbar, die eben deswegen anfällig und vom Menschen nicht kontrollierbar wären, in denen also das Maß an Inkontinenz übergroß wäre. Wenn man so will, kann man hieran einen typischen Fall jener Lehre von der mittleren Tugend sehen, die der griechische Philosoph Aristoteles vertrat Zuviel Computerisierung und Robotisierung in der Arbeitswelt schafft ein zu großes Maß an Inkontinenz, als daß die Produkte der Arbeit noch verantwortungszurechnungsfähig wären; zu wenig an Computerisierung und Robotisierung in der Arbeitswelt würde die Preisgabe von Chancen zur Erleichterung und Humanisierung bedeuten. Beides also sind Wege, die wir vermeiden sollten

Dieses Theorem aus der philosophischen Ethik ist in der Ökonomie auch als die Lehre vom Grenznutzen bekannt, und auch hier wieder kommt es auf die Fähigkeit zum Abschätzen des rechten Maßes an.

V. Ausblick

Alles in allem: Der Computer wird vermutlich unsere Kultur in entscheidender Weise so verändern, daß er 1. Definiens der Standards unserer „Neu-Alphabetisierung“, ist. Die Forderung nach einem „Informationstechnik-Führerschein“ die hierzulande gewisse Wellen geschlagen hat, ist viel zu schwach, verglichen mit der in den Vereinigten Staaten üblichen Formulierung von der „Computer Literacy“; 2. unsere Kalkulations-und Kommunikationsfähigkeiten nicht etwa in Richtung auf entweder mathematisch-rationale Perfektionierung oder dumpfe Verknechtung unseres Verstandes, sondern in Richtung auf die Weiterentwicklung kreativer und phantasievoller Abschätzungsheuristiken zwingen wird; 3. durch seine Einbeziehung in unsere Handlungszusammenhänge den Typ des inkontinenten Handelns zur Regel machen wird, was einerseits eine Dezentralisierung und Minimierung von Vernetzungen, andererseits kreative Phantasie bei der möglichen Abschätzung von zu verantwortenden Folgen erzwingen wird; und 4. in seiner Einbeziehung in die Arbeitswelt in analoger Weise eine kreative Abschätzungskompetenz erforderlich macht, die den Kollaps aufgrund unkontrollierbar großer Produktionsnetze ebenso vermeidet wie den nur parasitär möglichen Versuch, ganz aus der Entwicklung auszusteigen.

Die Computerkultur muß in diesem Sinne eine abschätzende, kreative, aber vorsichtige Kultur sein, oder sie wird gar nicht sein.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. E. Cassirer. Was ist der Mensch? Versuch einer Philosophie der menschlichen Kultur (1946). Stuttgart 1960.

  2. Vgl. L. Wittgenstein. Philosophische Untersuchungen. 1953, 202, Schriften 1, Frankfurt/M. 1969. S. 382; vgl. zur hier zusätzlich einzuführenden Unterscheidung von „privatem Ausdruck“ und „Ausdruck für Privates“ sowie zur Kritik dieser Argumentation Wittgensteins F. v. Kutschera, Sprachphilosophie, München 1975 2, S. 183 ff.

  3. M. McLuhan, Understanding Media, New York 1964; vgl. hierzu E. A. Havelock, The Greek Concept of Justice, Cambridge (Ma.) — London 1979, bes. Epilogue, S. 335 ff.

  4. W. J. Ong, The Presence of the Word, New Haven (Conn.) 1967; E. A. Havelock (Anm. 3).

  5. Vgl. hierzu vom Verfasser, Allgemeinbildung und technischer Wandel. Herausforderung der Schule angesichts der Diskussion um die neuen Technologien, in: W. E. Traebert (Hrsg.). Die neuen Technologien in Schule und Unterricht, Düsseldorf 1987, S. 61— 77, bes. S. 74ff.; ders., Computer: Die Zukunft des Denkens?, in: Mensch und Computer, (1988) 1, S. 12-21, bes. 15 f.

  6. Diesen Terminus übernehme ich von H. Müller-Merbach, Künstliche Intelligenz — eine Sackgasse? Plädoyer für Mensch-Maschine-Tandems, in: technologie & management, 36 (1987) 4, S. 6-8.

  7. Vgl. hierzu die Beiträge von W. Strombach, S. Krämer, G. Görz, W. v. Hahn. M. Kesselheim. M. Kugler-Kruse, H. Gerlach, B. Hellingrath und P. Schreiber zum Thema „Mensch-Maschine-Kommunikation: Wessen Sprache wird

  8. H. Dreyfus. Werden wir die Sprache der Computer sprechen?. in: H. Schauer/M. E. A. Schmutzer (Hrsg.). Computer und Kultur. Wien-München 1987. S. 55.

  9. Vgl J. Weizenbaum, Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, Frankfurt/M. 1977; aber auch S. Turkle, Die Wunschmaschine. Hamburg 1984.

  10. Th. Roszak, Der Verlust des Denkens. Über die Mythen des Computer-Zeitalters, München 1986, S. 319.

  11. In diesem Sinne eines optimistischen Pessimismus ist auch das berühmt gewordene Theorem des „Vorrangs der schlechten vor der guten Prognose“ zu verstehen, wie es entwickelt wird in: H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, FrankfurtAI. 1979, S. 70 ff.

  12. Vgl. P. McCorduck, Machines Who Think. A Personal Inquiry into the History and Prospects of Artificial Intelligence, San Francisco 1979, S. 93ff., bes. S. 96f.

  13. Zum Problem der Simulation vgl. S. M. Gergely. Wie der Computer den Menschen und das Lernen verändert. München-Zürich 1986. S. 164 ff.; spezifischer auf Simulation mentaler Prozesse bezogen die Beiträge von K. M. Sayre. J. McCarthy. R. C. Schank und Th. W. Simon in: M. Ringle (ed.). Philosophical Perspectives in Artificial Intelligence. New York 1979.

  14. Vgl. K. Haefner/E. Eichmann/C. Hintze, Denkzeuge: was leistet der Computer? was muß der Mensch selbst tun?, Basel-Boston 1987.

  15. Vgl. C. Mitcham. Information Technology and the Problem of Incontinence, in: ders. /A. Hüning (eds.). Philosophy and Technology II: Information Technology in Theory and Practice, Dordrecht-Boston-Lancaster-Tokyo 1986, S. 247-255.

  16. Vgl. vom Verfasser, Who is to Blame for Data Pollution? On Individual Moral Responsibility with Information Technology, in: ebd.. S. 291— 305. bcs. S. 296ff.; dcrs.. Künstliche Intelligenz. Die Herausforderung der Philosophie durch den Computer, in: Forum für interdisziplinäre Forschung. (1988) 1. S. 45-51, bes. S. 49f.

  17. Vgl. vom Verfasser. Fordert der Computer eine neue Moral?, in: M. Horvat (Hrsg.), 10 Jahre Personal Computer, Wien 1989 (im Druck).

  18. Siehe Anm. 6.

  19. Vgl. F. Fürstenberg. Geht der Arbeitsgesellschaft die Arbeit aus?, in: Universitas. (1987) 3. S. 209— 217; W. Ch. Zimmerli, Vom „Glück der Arbeitslosigkeit“, in: ebd., S. 243-254.

  20. Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1106b 36— 1107 a 8.

  21. Vgl. bereits J. Friedrich/F. Wicke/W. Wicke u. a., Computereinsatz: Auswirkungen auf die Arbeit. Reinbek bei Hamburg 1982; G. Friedrichs/A. Schaff (Hrsg.), Auf Gedeih und Verderb. Mikroelektronik und Gesellschaft. Bericht an den Club of Rome, Wien-München 1982; W. Wobbe, Menschen und Chips. Arbeitspolitik und Arbeitsgestaltung in der Fabrik der Zukunft, Göttingen 1986; W. Ch. Zimmerli, Von der Ethik der Arbeit. Homo faber und die Angst vor der Konsequenz des Denkens, in: P. Meyer-Dohm/E. Tuchtfeldt/E. Wesner (Hrsg.), Der Mensch im Unternehmen, Bern-Stuttgart 1988, S. 521 — 546.

  22. K. Haefner. Mensch und Computer im Jahre 2000. Ökonomie und Politik für eine human computerisierte Gesellschaft, Basel-Boston-Stuttgart 1984. S. 334.

Weitere Inhalte

Walther Ch. Zimmerli, Dr. phil., geb. 1945; seit 1978 o. Professor für Philosophie an der TU Braunschweig und Dozent an der Universität Zürich; seit 1984 Vorsitzender des Bereichs Mensch und Technik beim Verein Deutscher Ingenieure; seit 1987 European Editor von „Research in Philosophy & Technology“; seit 1988 Ordinarius für Philosophie an der Universität Bamberg. Veröffentlichungen u. a.: Die Frage nach der Philosophie, Bonn 1986 2; (Hrsg.) Technologisches Zeitalter oder Postmoderne, München 1988; (Mithrsg.) Geist und Natur, Bern—München 1989; zahlreiche Veröffentlichungen zur Wissenschafts-und Technikphilosophie, Politischen Philosophie, Ethik, Ästhetik sowie zur Geschichte der Philosophie.