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Abtreibung: Das Versagen des Rechtsstaats | APuZ 14/1990 | bpb.de

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APuZ 14/1990 Abtreibung: Das Versagen des Rechtsstaats „Lebensschützer“ auf dem Rechtsweg Was wissen wir über den Schwangerschaftsabbruch? Ergebnisse eines empirischen Forschungsprojekts Schwangerschaftsabbruch — Betroffene Frauen berichten Weniger Abtreibungen — aber wie? Ein Beitrag zur Überwindung der Polarisierung

Abtreibung: Das Versagen des Rechtsstaats

Bernward Büchner

/ 28 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Schutz ungeborenen menschlichen Lebens ist primär Aufgabe des Rechtsstaats. Das Bundesverfassungsgericht hat für alle staatlichen Gewalten verbindlich entschieden, daß das Grundrecht auf Leben auch jedem Ungeborenen garantiert ist. Versuche, dies in Frage zu stellen, sind deshalb fruchtlos. Geborene und Ungeborene sind gleichwertig. Deshalb sind Abtreibungen auch in den Indikationsfällen Unrecht. Weder Unzumutbarkeit noch eine Gewissensentscheidung können die Tötung menschlichen Lebens rechtfertigen. Das anläßlich der „Reform des § 218“ erklärte Ziel, auf Dauer die Zahl der Abtreibungen zu senken und durch Beratung und Hilfe unter Rücknahme der Strafdrohung einen besseren Lebensschutz sicherzustellen. wurde verfehlt. Wesentlicher Grund hierfür ist, daß die geltenden Gesetze und ihre Praxis der verfassungsrechtlichen Schutzpflicht des Staates nicht genügen. Gegen verschiedene Regelungen bestehen gravierende verfassungsrechtliche Bedenken. Die verfassungsrechtlichen Mängel sind durch den Gesetzgeber, im Wege der Normenkontrolle bzw. in der Praxis der Behörden und Aufsichtsorgane zu beseitigen. Unzureichende Gesetze sind nachzubessern. Dabei ist dem Gebot des Grundrechtsschutzes durch geeignete Verfahren zu entsprechen. Die faktische Sicherung des Rechts auf Leben — die Rechtssicherheit auch für das ungeborene Kind — darf einer Abtreibungschancengleichheit nicht geopfert werden.

Wenn es um Abtreibung geht, stehen sich unterschiedliche rechtliche Interpretationen in der öffentlichen Meinung kontrovers gegenüber. Viele unter uns sind nicht bereit, sich von der Rechtsordnung Schranken zugunsten eines Wesens auferlegen zu lassen, das unseren Blicken verborgen ist, das sich noch nicht artikulieren kann und das man noch nicht als Mitglied der menschlichen Gesellschaft betrachtet. Die ohnehin beschränkte Akzeptanz rechtlicher Vorschriften zum Schutz ungeborenen Lebens wird durch divergierende Äußerungen führender Politiker zur Schutzfunktion des Rechts noch geschwächt. Während in anderem Zusammenhang, z. B. bezüglich des Schutzes der Embryonen in vitro oder bezüglich der Vergewaltigung in der Ehe, das Strafrecht hilfreich und geeignet erscheint, Bewußtsein für Unrechtstatbestände zu schaffen, wird ihm mit der Formel „Hilfe statt Strafe" eine Hilfsfunktion für das menschliche Leben in utero abgesprochen.

Das ändert jedoch nichts daran, daß der Schutz der Ungeborenen primär Aufgabe des Rechtsstaats ist. Er garantiert das Grundrecht auf Leben. Die im Grundgesetz normierten Regeln des Rechtsstaats sind dafür maßgebend, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen dieses Grundrecht eingeschränkt werden darf. Verfassungsrechtlich nicht legitimierte Eingriffe in das menschliche Leben sind dem Staat verwehrt. Solche von anderer Seite darf er nicht gesetzlich erlauben oder gar fördern; er hat sie vielmehr mit angemessenen Mitteln zu verhindern. Staatliche Bemühungen um den Schutz ungeborenen menschlichen Lebens werden immer nur von begrenztem Erfolg sein können. Abtreibungen gab es immer und wird es auch künftig geben. Diese nüchterne Erkenntnis ändert jedoch nichts an der Verpflichtung des Staates, einen effektiven Lebens-schutz in möglichst großem Umfang zu gewährleisten. Werden die geltenden Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch und ihre Praxi dieser Verpflichtung gerecht?

Ein Hauptziel der „Reform des Paragraphen 218“ im Jahr 1976 sollte es sein, „auf Dauer die Zahl der Aborte überhaupt einzudämmen“. Ein Vergleich seriöser Schätzungen der Abtreibungszahlen vor der Reform und heute ergibt, daß dieses Ziel nicht erreicht wurde, die Reform also insoweit gescheitert ist. Politiker und andere an der Beibehaltung des Status quo Interessierte leugnen demgegenüber immer wieder ein Ansteigen der Aborte bzw. sprechen von deren Rückgang. Dabei wird für die Zeit vor der Gesetzesänderung von mehr oder weniger stark überhöhten Zahlen ausgegangen. Beispielsweise hat der amtierende Bundeskanzler unlängst unter Berufung auf eine Antwort der SPD/FDP-Bundesregierung auf eine kleine Anfrage im Bundestag vom 25. März 1971 behauptet, „daß eine Mindestzahl von 400 000 illegalen Schwangerschaftsabbrüchen pro Jahr Mitte bis Ende der sechziger Jahre allgemein anerkannt wird“ Von den im Sonderausschuß des Deutschen Bundestages für die Strafrechtsreform (1972— 1974) angehörten Sachverständigen wurden jedoch wesentlich niedrigere Schätzwerte angegeben, nach denen die jährliehe Zahl illegaler Aborte zwischen 75 000 und 170 000 lag welche angesichts der damals ganz geringen Zahl legaler Aborte der Gesamtzahl fast gleichkam. Wie Manfred Spieker dargelegt hat, würden 400 000 Abtreibungen in den Jahren 1964 bis 1969 einer Abbruchquote (Verhältnis der Ab-brüche zu den Geburten) von etwa 40 Prozent entsprechen, die weit über den Abbruchquoten aus anderen europäischen Ländern gelegen hätte. In Untersuchungen für die Bundesrepublik Deutschland werde die damalige Abbruchquote auf etwa zehn Prozent geschätzt, was für 1964 bis 1969 einer Abtreibungszahl zwischen 90 000 und 106 000 entspreche. Für 1987 kommt Spieker aufgrund einer detaillierten Schätzung auf eine Mindestzahl von 200 000 bis 210 000 Abtreibungen, welche bei rund 640 000 Geburten einer Abbruchquote von minde-stens 30 Prozent entspricht. Die von der damaligen Bundesregierung Schmidt/Genscher in Auftrag gegebene Stimezo-Analyse ging 1985 von jährlich mindestens 260 000 Abtreibungen in der Bundesrepublik Deutschland aus, hielt aber eine Zahl von 300 000 bis 350 000 für wahrscheinlicher. Aus diesen Zahlen muß geschlossen werden, daß die Gesamtzahl der Abtreibungen heute erheblich über derjenigen vor der Reform liegt.

Selbst wenn es heute weniger Abtreibungen gäbe, könnte man sich damit nicht beruhigen. Eigentliche Aufgabe des Staates ist es nicht, die Abtreibungszahlen zu senken, sondern es obliegt ihm die „Verpflichtung zum individuellen Schutzjedes einzelnen konkreten Lebens . . . Der Effizienz der Regelung im ganzen darf der Grundrechtsschutz im einzelnen nicht geopfert werden.“ Gerade von einem wirksamen Grundrechtsschutz des einzelnen Ungeborenen durch die geltenden Gesetze und ihre Anwendung kann jedoch ernsthaft nicht die Rede sein. Das Recht Ungeborener auf Leben ist das praktisch am wenigsten geschützte Grundrecht unserer Verfassung. Wesentliche Gründe hierfür sollen im folgenden aufgezeigt werden.

I. Die Fakten

Das Verständnis für den Schutz ungeborenen Lebens setzt die Kenntnis der wesentlichen Fakten voraus. In unserer aufgeklärten Gesellschaft müßte man sie eigentlich voraussetzen können. Aber immer wieder stößt man auf erstaunliches Unwissen über das vorgeburtliche Leben. Viele wissen nicht, weil sie nicht wissen wollen. Bei ihrem Verlangen nach Aufklärung denken sie nur an Sexualität und Empfängnisverhütung. Ist letztere mißlungen, heißt die Devise oft „verdrängen statt aufklären“, wird verschleiert und verharmlost. Was bei der Empfängnis entsteht und sich dann entwickelt, ist für manche „Schwangerschaftsgewebe“, „Gebärmutterinhalt“ oder nur eine „Vorstufe menschlichen Lebens“

Nach gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnis beginnt mit der Verschmelzung von Ei-und Samen-zelle das menschliche Leben, das sich von diesem Zeitpunkt an ohne entscheidende qualitative Zäsuren kontinuierlich weiterentwickelt Von dieser Erkenntnis ist z. B. auch der 56. Deutsche Juristen-tag in einem fast einstimmigen Beschluß ausgegangen Von Anfang an sind die geistigen und körperlichen Anlagen wie Begabungen, Blutgruppe, Farbe der Augen und der Haare festgelegt. Schon frühzeitig verfügt der Embryo über eigene funktionierende Organe. Bereits am Ende der dritten Woche schlägt sein Herz und versorgt den Körper über einen eigenen Blutkreislauf. Spätestens mit zwölf Wochen ist sein ganzer Körper berührungs-und auch schmerzempfindlich Die neuerdings vertretene These, der Embryo sei Teil der Schwangeren, bilde mit ihr eine untrennbare Einheit, sei also kein eigenständiges Wesen ist wissenschaftlich nicht haltbar. Sie widerspricht auch dem Empfinden der Frau, die z. B. während der Schwangerschaft auf Rauchen und Alkoholkonsum mit Rücksicht aufdas in ihr heranwachsende Kind verzichtet. Sie selbst spricht von ihrem „Kind“, wird auf ihr „Kind“ angesprochen. Der Arzt spricht von „Kindsbewegungen“. Diesem natürlichen Sprachgebrauch entsprechend, war schon in bald 200Jahre alten Gesetzen von „ungeborenen Kindern“ die Rede und wird diese Bezeichnung auch heute wieder üblich. Manche jedoch sprechen noch immer vom „werdenden Leben“, als wäre der geborene Mensch weniger ein werdender als der ungeborene. Leben vernichten, heißt töten. Deshalb stellt Abtreibung selbstverständlich eine Tötung dar Eine das Leben des Ungeborenen negierende Meinungsströmung versucht das wegzuinterpretieren, indem sie sich gegen den „Tötungsvorwurf" wendet Es geht jedoch nicht um einen pauschalen Vorwurf, schon gar nicht einseitig gegen Frauen, vielmehr um die Anerkennung eines Faktums.

Zur Realität der Abtreibung gehört auch, daß ihr Opfer nicht allein das Kind, sondern auch die Frau ist. Abtreibung ist ein Akt, der gegen ihre Natur gerichtet ist und oft schwere psychische Folgen bei ihr auslöst Es gilt auch der Tatsache gerecht zu werden, daß es echte Notsituationen sind, in denen sich Frauen zur Abtreibung entschließen; oft werden sie vom Partner oder den Eltern dazu gedrängt oder alleingelassen. Hier ist Verständnis und Hilfe geboten. Aber nicht immer ist echte Not der Grund für den Abbruch. Die Meinung, Abtreibung sei kein zu hoher Preis für ein lustvolles Leben, ist sicher nicht allein die von Jutta Ditfurth. Andere sehen in der Abtreibung einen „Akt weiblicher Kreativität“. Aus dem Bereich des Sports wurde berichtet, es gebe Athletinnen, die sich vor wichtigen Wettkämpfen zur Mobilisierung von Kraftreserven eine Schwangerschaft „verschaffen“, um dann später abzutreiben („Babydoping“). Man kann also wohl nicht behaupten, es gebe keine leichtfertigen Abtreibungen.

II. Verfassungsrechtliche Vorgaben: Die Schutzpflicht des Staates

1. Das Abtreibungsurteil des Bundesverfassungsgerichts Mit dem Urteil vom 25. Februar 1975 hat das Bundesverfassungsgericht die damals geltende Fristenregelung für nichtig erklärt. Dieses Urteil ist für den verfassungsrechtlichen Schutz ungeborenen menschlichen Lebens von grundlegender Bedeutung. Mit seiner Begründung bindet es die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden Ausgangspunkt des Urteils ist die Feststellung, daß Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG): „Jeder hat das Recht auf Leben“ auch das sich im Mutterleib entwickelnde Leben als selbständiges Rechtsgut schütze. Leben im Sinne der geschichtlichen Existenz eines menschlichen Individuums bestehe nach gesicherter biologisch-physiologischer Erkenntnis „jedenfalls 14. Tage nach der Empfängnis (Nidation, Individuation) an“. Das Recht auf Leben werde jedem gewährleistet, der „lebt“; zwischen einzelnen Abschnitten des sich entwickelnden Lebens vor der Geburt oder zwischen ungeborenem und geborenem Leben könne hier kein Unterschied gemacht werden. . Jeder“ im Sinne des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG sei „jeder Lebende“ und daher auch das noch ungeborene menschliche Wesen Ob der „nasciturus“ (die grundsätzlich noch nicht rechtsfähige, aber bereits erbfähige ungeborene Leibesfrucht) selbst Träger des Grundrechts auf’Leben sei, könne dahingestellt bleiben da die Grundrechte zugleich eine objektive Wertordnung verkörpern, die als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelte.

Aus dem Lebensrecht des Ungeborenen und der ihm zukommenden Menschenwürde folge eine umfassende Schutzpflicht des Staates. Sie verbiete „nicht nur — selbstverständlich — unmittelbare Eingriffe in das sich entwickelnde Leben, sondern gebietet dem Staat auch, sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen, das heißt vor allem, es auch vor rechtswidrigen Eingriffen von Seiten anderer zu bewahren“

Die Schutzpflicht des Staates bestehe grundsätzlich auch gegenüber der Mutter. Da der „nasciturus“ ein selbständiges menschliches Wesen sei, das unter dem Schutz der Verfassung stehe, komme dem Schwangerschaftsabbruch eine soziale Dimension zu, die ihn der Regelung durch den Staat zugänglich und bedürftig mache. Das Recht der Frau auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit könne „niemals die Befugnis umfassen, in die geschützte Rechtssphäre eines anderen ohne rechtfertigenden Grund einzugreifen oder sie gar mit dem Leben selbst zu zerstören“. Da der Schwangerschaftsabbruch immer Vernichtung des ungeborenen Lebens bedeute, müsse bei der Abwägung mit dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren nach dem Prinzip des schonendsten Ausgleichs konkurrierender grundrechtlich geschützter Positionen dem Lebensschutz des nasciturus der Vorrang eingeräumt werden, und zwar grundsätzlich für die gesamte Dauer der Schwangerschaft

Welche Maßnahmen zur Erfüllung der staatlichen Schutzpflicht er für zweckdienlich und geboten halte, entscheide in erster Linie der Gesetzgeber. Dabei gelte der Leitgedanke des Vorrangs der Prävention vor der Repression Auf eine klare rechtliche Kennzeichnung des Schwangerschaftsabbruchs als „Unrecht“ könne jedoch nicht verzichtet werden. Der Gesetzgeber könne die grundgesetzlich gebotene rechtliche Mißbilligung dieses Vorgangs auch auf andere Weise zum Ausdruck bringen als mit dem Mittel der Strafdrohung. Entscheidend sei, „ob die Gesamtheit der dem Schutz des ungeborenen Lebens dienenden Maßnahmen, seien sie bürgerlich-rechtlicher, öffentlich-rechtlicher, insbesondere sozialrechtlicher oder strafrechtlicher Natur, einen der Bedeutung des zu sichernden Rechtsgutes entsprechenden tatsächlichen Schutz gewährleistet“. Die Strafdrohung müsse als letztes Mittel („ultima ratio“) eingesetzt werden, wenn anders ein effektiver Lebensschutz nicht zu erreichen sei Der Einsatz des Strafrechts werfe bei der Frau die Frage der Zumutbarkeit auf, d. h. die Frage, ob der Staat in Fällen, in denen die Schwangerschaft zu einer Belastung der Frau führe, die wesentlich über das normalerweise mit einer Schwangerschaft verbundene Maß hinausgehe, deren Austragung mit dem Mittel des Strafrechts erzwingen dürfe. Über den gesetzlich bereits geregelten Fall der medizinischen Indikation (§ 218 b Nr. 1 StGB) hinaus stehe es dem Gesetzgeber frei, „auch bei anderen außergewöhnlichen Belastungen für die Schwangere, die unter dem Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit ähnlich schwer . . . wiegen, den Schwangerschaftsabbruch straffrei zu lassen“. Hierzu könnten die Fälle der eugenischen, der ethischen (kriminologischen) „und der sozialen oder Notlagenindikation zum Schwangerschaftsabbruch“ gezählt werden In allen anderen Fällen bleibe der Schwangerschaftsabbruch „strafwürdiges Unrecht“. „Wollte der Gesetzgeber auch hier auf die strafrechtliche Ahndung verzichten, so wäre das nur unter der Voraussetzung mit dem Schutzgebot des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG vereinbar, daß ihm eine andere gleich wirksame rechtliche Sanktion zu Gebote stände, die den Unrechtscharakter der Handlung (die Mißbilligung durch die Rechtsordnung) deutlich erkennen läßt und Schwangerschaftsabbrüche ebenso wirksam verhindert wie eine Strafvorschrift.“

Auf weitere bedeutsame Ausführungen des verfassungsgerichtlichen Urteils wird im folgenden noch einzugehen sein. Erwähnt werden soll an dieser Stelle noch, daß in dem zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts abgegebenen Minderheitsvotum der Richterin Rupp v. Brünneck und des Richters Dr. Simon zwar eine Pflicht des Gesetzgebers zum Erlaß von Strafnormen verneint, jedoch ebenfalls die Auffassung vertreten wird, daß das Leben jedes einzelnen Menschen selbstverständlich ein zentraler Wert der Rechtsordnung sei. Unbestritten umfasse die verfassungsrechtliche Pflicht des Staates zum Schutz des Lebens auch seine „Vorstufe vor der Geburt“. Soweit es sich um die Abwehr staatlicher Eingriffe handele, könne selbstverständlich nicht zwischen dem vor-und nachgeburtlichen Entwicklungsstadium unterschieden werden; der Embryo sei insoweit als potentieller Grundrechtsträger durchgängig in gleicher Weise zu schützen wie jedes geborene Menschenleben 2. Darf der Staat die Abtreibung erlauben?

Mit der Anerkennung von Indikationen stellt sich die Frage, ob Abtreibungen in den Indikationsfällen erlaubt (gerechtfertigt) oder lediglich straffrei gestellt sind, und damit die noch grundsätzlichere Frage, ob der Staat die Tötung Ungeborener überhaupt erlauben darf. In der Rechtswissenschaft ist die Meinung verbreitet, die Indikationen stellten Rechtfertigungsgründe dar Diese Meinung hat auch die Bundesregierung wiederholt vertreten Sie wird im wesentlichen damit begründet, daß der Gesetzgeber bei der Normierung der Indikationstatbestände im Interesse aller Mitwirkenden sowie der Durchführbarkeit der „flankierenden Maßnahmen“ eine volle Legalisierung indizierter Schwangerschaftsabbrüche angestrebt habe und ein Verständnis der Indikationen als Schuld-oder Strafausschließungsgründe strafrechtssystematisch unbefriedigend sei und bedenkliche praktische Konsequenzen habe (z. B. Nichtigkeit des ärztlichen Behandlungsvertrages, Möglichkeit der Nothilfe zugunsten des Ungeborenen).

Wederein — im Gesetz nicht objektivierter — möglicher Wille der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten noch ein Bedürfnis nach Systemgerechtigkeit können jedoch ausschlaggebend sein. Vielmehr ist die Frage nach Recht oder Unrecht indizierter Abtreibungen letztlich nach dem Verfassungsrecht, welches dem einfachen Gesetzesrecht stets vorgeht, zu beantworten. Vor dem Grundgesetz, obgleich es das Recht auf Leben unter Gesetzesvorbehalt stellt (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG), kann die These vom rechtfertigenden Charakter der Indikationen nicht bestehen. Sie läßt sich vor allem nicht vereinbaren mit der Gleichwertigkeit geborenen und ungeborenen Lebens, mit der Schutzpflicht des Staates auch für das ungeborene Leben, mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und dem Prinzip des schonendsten Ausgleichs in Fällen der Grundrechtskollision, mit der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG und mit dem Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG. Vor allem aufgrund dieser verfassungsrechtlichen Einwände, mit denen eine ernsthafte Auseinandersetzung bisher nicht stattgefunden hat, wird die Rechtfertigungsthese inzwischen in der Literatur überwiegend abgelehnt

Manche Vertreter der Rechtfertigungsthese glauben sich jedoch auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Fristenlösung stützen zu können. Dort sei, was zutrifft, von „gerechtfertigten“ Fällen die Rede und von solchen, in denen das Austragen der Schwangerschaft der Frau „nicht zumutbar“ sei, von ihr „nicht verlangt werden“ könne. Die grundsätzlichen Aussagen des Urteils sprechen jedoch klar gegen die Annahme, das Gericht wolle die Indikationen als Rechtfertigungsgründe verstanden wissen.

Das Bundesverfassungsgericht stellt selbst fest: „Jedes menschliche Leben — auch das erst sich entwikkelnde Leben — ist als solches gleich wertvoll und kann deshalb keiner irgendwie gearteten unterschiedlichen Bewertung oder gar zahlenmäßigen Abwägung unterworfen werden.“ Die damit anerkannte Gleichwertigkeit ungeborenen und geborenen menschlichen Lebens folgt, soweit es um das Lebensrecht geht, schon aus dessen Anerkennung für „jeden“, auch für jeden Ungeborenen. Sie wird nicht etwa in Frage gestellt durch die unterschiedliche Behandlung von Mord. Totschlag, Kindestötung und Abtreibung im Strafrecht, die nicht auf einem etwa verschiedenen Wert des jeweiligen Opfers, sondern auf der unterschiedlichen Beurteilung der Strafwürdigkeit des jeweiligen Delikts durch den Gesetzgeber beruht.

Wegen der Gleichwertigkeit allen menschlichen Lebens verbietet es sich von vornherein, die Auffassung zu vertreten, das Leben eines Menschen könne einem anderen unzumutbar sein mit der Folge, daß dieser berechtigt sei, jenes Leben zu vernichten. Wenn das Bundesverfassungsgericht von Unzumutbarkeit in bestimmten Situationen außergewöhnlicher Belastung spricht, so kann dies deshalb nur dahingehend verstanden werden, daß in solchen Fällen der Zwang zum Austragen der Schwangerschaft „mit dem Mittel des Strafrechts“ als unzumutbar angesehen werden kann, nicht aber im Sinne einer rechtfertigenden Unzumutbarkeit.

An einer von Abtreibungsbefürwortern gerne zitierten Stelle des Urteils ist die Rede von einer Konfliktlage. in der die Entscheidung zum Abbruch der Schwangerschaft den „Rang einer achtenswerten Gewissensentscheidung“ haben könne Dieser im Kontext der übrigen Ausführungen — Vorrang des Lebensrechts des Ungeborenen vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren — zu lesende Satz, bei welchem das Gericht wohl an ganz extreme Fälle gedacht hat, kann nicht so verstanden werden, daß das Anerkennen einer Gewissensentscheidung der letztlich entscheidende Grund für den Rückzug des Strafrechts oder gar für eine Rechtfertigung von Abtreibungen sei. Andernfalls wäre eine Indikationenregelung ebensowenig wie eine Fristenregelung begründbar. Denn das Gewis-sen ließe sich weder an gesetzliche Indikationen noch an Fristen binden. Der Gedanke an eine rechtfertigende Gewissensentscheidung erscheint jedoch abwegig. Weder gibt die Gewissensfreiheit das Recht, einen anderen zu töten, noch ist es denkbar, daß das Gewissen solches gebieten könnte

III. Verfassungsrechtliche Bedenken gegen Gesetze und Praxis

Aufgrund des verfassungsgerichtlichen Urteils von 1975 war der Bundesgesetzgeber gehalten, die für nichtig erklärte gesetzliche Regelung durch eine neue zu ersetzen. Die damalige Regierungskoalition war dabei bestrebt, eine Regelung zu treffen, deren Praxis zumindest derjenigen einer Fristenlösung gleichkommt. Daß man mit den Reformgesetzen sogar die Abtreibung auf Wunsch ermöglichen wollte, belegen die Ausführungen der damaligen Parlamentarischen Staatssekretärin im Bundeskanzleramt, Maria Schlei (SPD), nach denen sie am 18. Mai 1976 öffentlich erklärt hat: „Die Reform des § 218 und das noch wichtigere Strafrechts-Ergänzungsgesetz setzen Mann wie Frau erstmals in die Lage, zu bestimmen, wann und wie viele Kinder sie haben wollen.“

Gegen verschiedene Regelungen des geltenden Abtreibungsstrafrechts und gegen die sogenannte Abtreibung auf Krankenschein werden in der Fachliteratur wie gegen kein anderes Bundesgesetz zahlreiche und gravierende verfassungsrechtliche Bedenken erhoben, die sich auch in der Praxis auswirken Bisher wurden sie weitgehend ignoriert. Sie ernst zu nehmen und aus ihnen Konsequenzen zu ziehen, ist um so mehr ein Gebot der Redlichkeit, als es um den Schutz der Allerschwächsten geht, die sich ihr Lebensrecht nicht selbst erstreiten können. Die folgende Darstellung der Bedenken muß sich auf die wichtigsten Punkte beschränken.

1. Die „verkappte Fristenlösung“

Nach § 218 Abs. 3 Satz 2 StGB wird die Schwangere wegen eines Schwangerschaftsabbruchs nicht bestraft, wenn dieser nach Beratung von einem Arzt in den ersten 22 Wochen seit der Empfängnis vorgenommen wurde. Allein der Gang zur Beratungsstelle und zum Arzt erspart der Frau also für die Dauer von fünf Monaten jedes strafrechtliche Risiko. Auf die Gründe des Abbruchs kommt es nicht an. Die in Memmingen verurteilten Frauen wären also unbehelligt geblieben, hätte sie Dr. Theissen nur zur Beratung geschickt.

Die genannte Regelung, meist als „verkappte Fristenlösung“ bezeichnet und von Karl Heinz Gössel als „ideologisch motivierter Verfassungsbruch des Gesetzgebers“ charakterisiert wird in der Literatur fast einhellig als verfassungswidrig beurteilt. Sie stellt die Abtreibung praktisch in das Belieben der Frau und ignoriert damit die Schutzpflicht des Staates für das ungeborene Kind, welcher die Beratung allein nicht gerecht werden kann.

2. Die Notlagenindikation

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat den Weg zur Anerkennung einer sozialen oder Notlagenindikation grundsätzlich eröffnet. Es hat jedoch festgestellt, bei der Regelung dieses Indikationstatbestandes müsse der Gesetzgeber „den straffreien Tatbestand so umschreiben, daß die Schwere des hier vorauszusetzenden sozialen Konflikts deutlich erkennbar wird und — unter dem Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit betrachtet — die Kongruenz dieser Indikation mit den anderen Indikationsfällen gewahrt bleibt“ Eine solche Umschreibungenthält die geltende Regelung in § 218 a Abs. 2 Nr. 3 StGB nach verbreiteter Meinung nicht. Wann die Gefahr einer Notlage „so schwer wiegt, daß von der Schwangeren die Fortsetzung der Schwangerschaft nicht verlangt werden kann“, hätte der Gesetzgeber selbst konkreter festlegen müssen und nicht der Entscheidung im Einzelfall überlassen dürfen. Die gesetzliche Regelung entspricht deshalb nicht dem rechtsstaatlichen Gebot der Bestimmtheit. Sie ist geeignet, Abtreibungen auch in solchen Fällen zu ermöglichen, deren Umstände sich der Beurteilung „nach ärztlicher Erkenntnis“ von vornherein entziehen. Sie bürdet damit Ärzten eine Entscheidung auf. die sie überfordern muß und ebnet so dem Mißbrauch den Weg. Tatsächlich muß davon ausgegangen werden, daß in einem Großteil der Abtreibungsfälle die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Kriterien nicht erfüllt sind, die Praxis vielmehr der einer Fristenlösung gleichkommt

3. Das Beratungsverfahren

Die Kritik an dem von der Regierungskoalition zumindest geplant gewesenen Schwangerenberatungsgesetz macht leicht vergessen, daß es ein erklärtes Grundanliegen der damaligen Reformer war, durch Beratung und Hilfe unter Rücknahme der Strafdrohung einen besseren Schutz des ungeborenen Lebens sicherzustellen. Der Wortlaut des Gesetzes (§ 218 b Abs. 1 Satz 1 StGB) trägt einem solchen Anliegen indessen keineswegs Rechnung. Er stimmt mit der vom Bundesverfassungsgericht beanstandeten Regelung im wesentlichen überein, bringt jedoch nicht zum Ausdruck, daß es Aufgabe der Beratung sein muß, „auf den Motivationsprozeß gezielt Einfluß zu nehmen“, „die Schwangere an die grundsätzliche Pflicht zur Achtung des Lebensrechts des Ungeborenen zu mahnen, sie zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen und sie — vor allem in Fällen sozialer Not — durch praktische Hilfsmaßnahmen zu unterstützen“ Auch zu Inhalt und Umfang der Beratung enthält das Gesetz fast keine Vorschriften.

Wie das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich betont hat, wird vom Staat (auch in den Indikationsfällen) erwartet, daß er Beratung und Hilfe mit dem erwähnten Ziel anbietet Die Beratung ist also eine Aufgabe des Staates, mit welcher er seine Schutzpflicht gegenüber dem ungeborenen Kind wahrnimmt. Nach dem Gesetz ist die Beratung jedoch weitgehend privatisiert, und eine staatliche Kontrolle ist nicht gesichert. Berater kann jede von einer Behörde oder Körperschaft. Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts anerkannte Beratungsstelle sein, aber auch jeder Arzt, der sich auf geeignete Weise über die im Einzelfall zur Verfügung stehenden Hilfen unterrichtet hat. obwohl das Bundesverfassungsgericht deutlich zum Ausdruck gebracht hatte, daß Ärzte für die Sozialberatung nicht als geeignet angesehen werden können

Über die Anforderungen, die an den Beratenden zu stellen sind, schweigt sich das Gesetz aus. Persönliehe Zuverlässigkeit, welche der Gesetzgeber auf vielen Rechtsgebieten, z. B. im Gewerberecht, verlangt. wird ausgerechnet dort nicht gefordert, wo menschliches Leben auf dem Spiel steht. So konnten sich in der Praxis ein Beratungspluralismus mit unterschiedlichster Zielsetzung entwickeln und Beratungsorganisationen breitmachen, für die es das Leben des ungeborenen Kindes als selbständiges Rechtsgut gar nicht gibt.

Wenn die Beratung ihre lebensschützende Funktion nicht verfehlen soll, dann muß schließlich auch gesetzlich gewährleistet sein, daß sie in personeller und räumlicher Trennung von der Indikationsfeststellung und dem Abbruch durchgeführt wird, dann darf also nicht „alles unter einem Dach“ angeboten und damit der Eindruck erweckt werden, die Beratung sei nur eine notwendige Etappe auf dem Weg zur Abtreibung. Auch das ist durch das geltende Gesetz nicht sichergestellt.

4. Die Indikationsfeststellung

Das Vorliegen einer Indikation ist die letztlich entscheidende Voraussetzung, unter welcher der Staat auf seinen Strafanspruch verzichtet (§ 218a StGB). Die Feststellung, daß eine Indikation gegeben ist, kommt jedenfalls faktisch der Entscheidung über das Lebensrecht des ungeborenen Kindes gleich. Wer die Indikationen für Rechtfertigungsgründe hält, muß in der Indikationsfeststellung sogar eine von der Rechtsordnung anerkannte Erlaubnis zum Töten sehen. Daß eine derart schwerwiegende Entscheidung dem Staat Vorbehalten bleiben muß, liegt auf der Hand. Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht die Indikationsfeststellung klar als staatliche Aufgabe bezeichnet, indem es festgestellt hat, der Staat dürfe sich „nicht damit begnügen, bloß zu prüfen und gegebenenfalls zu bescheinigen, daß die gesetzlichen Voraussetzungen für einen straffreien Schwangerschaftsabbruch vorliegen“

Das Gesetz überläßt die Indikationsfeststellung jedoch ohne präventive Kontrolle jedem beliebigen Arzt, welchem lediglich die (unverbindliche) schriftliche Feststellung eines anderen Arztes vorgelegen haben muß. ob (nicht: daß) eine Indikation vorliegt (§ 219 Abs. 1 StGB). Dieser Arzt ist also Letztentscheidender und Vollstrecker in einer Person. Damit ist das Indikationsverfahren gänzlich privatisiert, das Grundrecht auf Leben Privaten zur Verfügung überlassen.

Gravierend kommen die oft unüberwindbaren Schwierigkeiten für den Arzt bei der Feststellung der Notlagenindikation hinzu, welche in der Praxis häufig dazu führen, daß überforderte oder auch gleichgültige Ärzte Angaben der Schwangeren ungeprüft übernehmen oder ihr die Beurteilung sogar völlig überlassen, wobei die jeweilige Einstellung des Arztes zum Wert ungeborenen menschlichen Lebens, aber auch das finanzielle Interesse gewerbsmäßig handelnder Abtreibungsmediziner eine wesentliche Rolle spielen können. Auf diese Weise tritt dann an die Stelle einer vom Gesetz geforderten Indikation „nach ärztlicher Erkenntnis“ oft eine solche nach Erkenntnis oder Wunsch der Frau

Ungeachtet dieser offensichtlich gesetzwidrigen Praxis wollen manche die Indikationsfeststellung einer richterlichen Kontrolle entziehen oder — wie der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs in seiner Rechtsprechung zum Schadensersatz wegen mißglückter Abtreibung — den Ärzten einen „gewissen Beurteilungsspielraum“ zubilligen. Beides ist verfassungsrechtlich unhaltbar weil es das Grundrecht auf Leben, einen „Höchstwert“ unserer Verfassung, vollends privater Willkür ausliefert und damit jede Rechtssicherheit beseitigt.

5. Abtreibung als Kassenleistung

Die schwerwiegendste Verletzung der staatlichen Schutzpflicht für das ungeborene Kind stellt jedoch die gesetzliche Gewährung eines „Anspruch(s) auf Leistungen ... bei einem nicht rechtswidrigen Abbruch der Schwangerschaft durch einen Arzt“ (§ 200 f Reichsversicherungsordnung [RVO]) dar.

Sie bedeutet — über den Verzicht auf die Sanktionen des Strafrechts weit hinaus — eine aktive Förderung des Abbruchs durch den Staat. Mehr noch: Aufgrund des in der gesetzlichen Krankenversicherung geltenden Sach-oder Naturalleistungsprinzips ist Gegenstand des gesetzlichen Anspruchs der Abbruch der Schwangerschaft mit allen damit zusammenhängenden Dienst-und Sachleistungen. Wie Josef Isensee festgestellt hat, bedeutet dies „kurz und ohne Verklausulierung: Der Staat tötet“

Der tötende Eingriff in das Leben des Ungeborenen ist verfassungsrechtlich nicht etwa schon deshalb unbedenklich, weil er nach dem Gesetz „nicht rechtswidrig“ sein muß, was er nach herrschender Auffassung bereits dann sein soll, wenn er im Sinne des § 218a StGB „nicht strafbar“ ist Denn durch die Gleichsetzung von „nicht strafbar“ und „nicht rechtswidrig“ im Sinne des § 200 f RVO wäre die Abtreibung als Kassenleistung allenfalls dann legitimiert, wenn aufgrund einer Indikation nicht strafbare Abtreibungen tatsächlich nicht rechtswidrig wären. Da sie aber nach verfassungskonformem Verständnis rechtswidrig sind, könnte die Kassen-regelung vor der Verfassung höchstens dann bestehen, wenn es dem Gesetzgeber gestattet gewesen wäre, rechtswidrige Abtreibungen im Kassenrecht gleichwohl als rechtmäßig zu behandeln und sie als öffentliche Leistung anzubieten. Eine Rechtfertigung von Abtreibungen gerade zu dem Zweck, die Tötung durch den Staat zu ermöglichen, würde die denkbar schwerste Verletzung der Pflicht darstellen, „sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen“. Deshalb, aber auch aus anderen Gründen, die hier nicht dargelegt werden können, ist die „Abtreibung auf Krankenschein“ verfassungwidrig Der Skandal der Tötung durch den Staat wird durch die Kassenpraxis perfekt: Die Kassen leisten nämlich nicht etwa nur bei tatsächlich nicht strafbaren und deshalb angeblich rechtmäßigen Abtreibungen. Sie handeln vielmehr entsprechend einer gemeinsamen Richtlinie ihrer Spitzenverbände nach welcher „bei einem Schwangerschaftsabbruch sofern nicht besondere Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Rechtswidrigkeit bestehen, die Krankenkassen die Rechtmäßigkeit grundsätzlich unterstellen können, sofern die Maßnahme durch einen Arzt durchgeführt wird“. Dementsprechend wird ohne Prüfung der gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen praktisch fingiert, daß grundsätzlich jeder ärztlich durchgeführte Schwangerschaftsabbruch rechtmäßig ist, obwohl jeder weiß, daß er in vielen Fällen noch nicht einmal den Voraussetzungen der Straffreiheit entspricht. Diese mit Recht und Gesetz schlechthin unvereinbare Praxis blieb bisher von den Aufsichtsbehörden unbeanstandet

IV. Die gebotenen Konsequenzen

Aufgrund der Verfassungswidrigkeit der Gesetze in mehrfacher Hinsicht und ihrer verfassungsrechtlich nicht weniger bedenklichen Praxis, hätte für die Verantwortlichen längst „Handlungsbedarf“ bestanden. Sie hätten die aufgezeigten Mängel im Wege der Gesetzgebung beseitigen müssen. Normen, die sich für den Schutz Ungeborener als unzureichend erwiesen haben, müßten nachgebessert werden Vor allem müßte dabei die vom Bundesverfassungsgericht geforderte, in den geltenden Gesetzen jedoch nicht zum Ausdruck kommende Mißbilligung des Schwangerschaftsabbruchs und seine klare Kennzeichnung als Unrecht erfolgen Dem Gebot des Grundrechtsschutzes durch geeignete Verfahren, die es ermöglichen, dem Grundrecht auf Leben praktische Geltung zu verschaffen, wäre zu entsprechen Die Behörden, Krankenkassen und Aufsichtsorgane müssen sich endlich auf ihre Pflichten besinnen.

Bei alldem geht es nicht um „Verschärfung des Paragraphen 218“, sondern um die Respektierung und Durchsetzung des geltenden Verfassungsrechts, um die faktische Sicherung des im Grundgesetz garantierten Rechts auf Leben, um Rechtssicherheit auch für das ungeborene Kind, die der Abtreibungschancengleichheit, wie manche sie fordern, nicht geopfert werden darf. Lebensschutz ist nicht nur Aufgabe des Rechtsstaats. Auch und gerade der Sozialstaat steht in der Schutzpflicht. Was aber der Rechtsstaat schuldig bleibt, kann der Sozialstaat nicht ersetzen. Verantwortung für den Schutz des Lebens, der Geborenen wie der Ungeborenen, trägt schließlich jeder einzelne. Ihr gilt es als Mann wie Frau gerecht zu werden durch Verständnis. Zuwendung und praktische Hilfe, aber auch durch das immer neue Einfordem des Lebensrechts der Allerschwächsten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zit. nach: M. Spieker, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 10. August 1989, S. 8; ders.. Schriftenreihe der juristen-Vereinigung Lebensrecht e. V.. (1989) 6. S. 41 ff.

  2. Im einzelnen gaben die Sachverständigen folgende Zahlen an: Deutscher Bundestag. 6. und 7. Wahlperiode. Sonderausschuß für die Strafrechtsreform; in Klammern jeweils die Wahlperiode und die Protokollseite: H. J. Prill. 100 000 Abtreibungen im Jahr, im Höchstfall 160 000 (6/2173); K. Rolinski, Zahl der illegalen Aborte . . . ungefähr 100 000 pro Jahr (6/2218); W. Siebel. Die illegalen induzierten Aborte lagen im Jahre 1968 in der Bundesrepublik bei etwa 170 000. Sie sind seitdem eher zurückgegangen als angestiegen (6/2241); Horstkotte (BMJ), Zahl der illegalen Aborte in der Bundesrepublik Deutschland . . . nach neuesten Untersuchungen zwischen 75 000 und 160 000 pro Jahr (7/1285); ders.. Aus der Vielzahl der Schätzungen schält sich wohl als der plausibelste Schätzwert heraus, daß zur Zeit die Zahl der illegalen Aborte um 100 000 jährlich liegt (7/1451). K. W. Schultze, in: Deutsches Ärzteblatt. (1972). S. 3164 kam auf einen Schätzwert von 73 000 illegalen Aborten pro Jahr. Nach P. Wilkitzki/C. Lauritzen. Schwangerschaftsabbruch in der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 1981, S. 21 sind Zahlen über 300 000 „wissenschaftlich kaum haltbar“, solche „um 100 000 ... am relativ plausibelsten“.

  3. Vgl. Anm. 1.

  4. Vgl. E. Ketting/P. van Praag, Schwangerschaftsabbruch. Gesetz und Praxis im internationalen Vergleich, Tübingen 1985. S. 233.

  5. BVerfGE 39, 1, S. 58 f.

  6. Solche Bezeichnungen findet man z. B. in Veröffentlichungen der PRO FAMILIA; auch bei R. Augstein/H. -G. Koch, Was man über den Schwangerschaftsabbruch wissen sollte, München 1985. S. 140.

  7. H. Däubler-Gmelin/R. Faerber-Husemann, § 218 — Der tägliche Kampf um die Reform, Bonn 1987, S. 20, 97, 98, 101.

  8. Aus der Fülle der Literatur seien erwähnt: E. Blech-schmidt. Wie beginnt das menschliche Leben. Stein a. Rhein 19764; ders., in: P. Hoffacker/B. Steinschulte/P. J. Fietz, Auf Leben und Tod. Abtreibung in der Diskussion, Bergisch Gladbach 1985, S. 31 ff.; F. Büchner, Von der Zeugung an ein Mensch, in: Deutsches Ärzteblatt, (1972), S. 759ff., 835ff.; ders.. Der Mensch in der Sicht moderner Medizin, Freiburg 19852, S. 65 ff.; M. Krüll, Die Geburt ist nicht der Anfang. Stuttgart 1989; J. Lejeune, in: P. Hoffacker/B. Steinschulte/P. J. Fietz, ebd.. S. 21 ff.; ders., in: Schriftenreihe der Juristen-Vereinigung Lebensrecht e. V., (1986) 3, S. 15 ff.; K. Zimmer, Das Leben vor dem Leben. München

  9. Vgl. Neue Juristische Wochenschrift (NJW), (1986). S. 3069 f.

  10. Vgl. K. Zimmer in dem vom BMJFFG herausgegebenen Video-Film „Das Leben vor der Geburt“; vgl. hierzu auch J. Wisser/H. Hepp, in: Schriftenreihe der Juristen-Vereinigung Lebensrecht e. V. (Anm. 1), S. 55 ff., mit weiteren Nachweisen.

  11. So z. B.der von den GRÜNEN im Bundestag eingebrachte Entwurf eines „Gesetzes zur Sicherung der Entscheidungsfreiheit im Schwangerschaftskonflikt“, Deutscher Bundestag, 11. Wahlperiode. Drucksache 11/2422.

  12. Preußisches Allgemeines Landrecht von 1794 (I. I. 10): „Die allgemeinen Rechte der Menschheit gebühren auch den noch ungeborenen Kindern schon von der Zeit ihrer Empfängnis.“

  13. Vgl. BVerfGE 39, 1, S. 46: „Der Schwangerschaftsabbruch ist eine Tötungshandlung; ... die jetzt übliche Bezeichnung als . Schwangerschaftsabbruch'kann diesen Sachverhalt nicht verschleiern.“ Vgl. auch P. Petersen, Schwangerschaftsabbruch — unser Bewußtsein vom Tod im Leben, Stuttgart 1986, S. 23, 57. Bei einer Meinungsumfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach bejahten 50 Prozent der Befragten die Frage, ob bei einem Abbruch der Schwangerschaft in den ersten Monaten „Ihrer Ansicht nach ein Mensch getötet“ wird (42 Prozent der Männer. 56 Prozent der Frauen, 59 Prozent der 21-bis 44jährigen Frauen mit Kineem); in: Allensbacher Berichte, (1988) 30.

  14. G. Amendt, Die bestrafte Abtreibung — Argumente zum Tötungsvorwurf. Fulda 1988; S. v. Paczensky/R. Sadro-zinski, § 218: Zu Lasten der Frauen, Hamburg 1988, S. 9 ff.

  15. Vgl. M. Simon. Schriftenreihe der Juristen-Vereinigung Lebensrecht e. V., (1987) 4, S. 31 ff.; P. Petersen (Anm. 13), insbes. S. 61, 106ff., jeweils mit weiteren Nachweisen.

  16. Vgl. BVerfGE 39. 1 ff.

  17. § 31 Abs. 1 BVerfGG.

  18. BVerfGE S. f. vom 39, 1, 36 Der Bundesverfassungsgericht für die Zeit bis zum 14. Tag nach der Empfängnis gemachte Vorbehalt kann nach heutiger wissenschaftlicher Erkenntnis als obsolet betrachtet werden. Die auf kriminalpolitischen Erwägungen beruhende Regelung in § 219 d StGB. nach welcher der strafrechtliche Schutz erst mit Abschluß der Einnistung des befruchteten Eies in der Gebärmutter beginnt, ist für den Beginn des verfassungsrechtlichen Lebensschutzes ohne Bedeutung. Im Zusammenhang mit dem Schutz der Embryonen in vitro ist heute weithin unumstritten. daß der Schutz der Menschenwürde und des Lebens-rechts bereits mit der Empfängnis einsetzt. Dementsprechend soll nach dem von der Bundesregierung vorgelegten Entwurf eines Embryonenschutzgesetzes — Deutscher Bundestag. 11. Wahlperiode. Drucksache 11/5460 — als Embryo bereits die befruchtete Eizelle vom Zeitpunkt der Kemverschmelzung an gelten (§ 8 Abs. 1). Versuche von N. Hoerster, in: Juristische Schulung, (1989), S. 172ff.; M. Köhler, in: Goltdammers Archiv für Strafrecht, (1988), S. 435 ff.; G. Jerouschek. in: Juristenzeitung (JZ), (1989). S. 279ff., oder T. Ramm, in: JZ. (1989). S. 861 ff., dem Ungeborenen das Lebensrecht abzusprechen, sind nicht überzeugend und im Hinblick auf die bindende Wirkung der verfassungsgcrichtlichen Entscheidung auch fruchtlos.

  19. Die heute herrschende Literatur-Meinung erkennt den Embryo als Grundrechtsträger an: 1. von Münch. Kommentar zum GG, 19853, Art. 2 Rdnr. 39; A. von Mutius, in: Jura. (1987). S. 109, 110 m. w. N.; C. Starck, in: H. von Mangoldt/F. Klein/C. Starck, Kommentar zum GG, 19853. Art. 2 Rdnr. 136.

  20. BVerfGE 39. 1. S. 42.

  21. Vgl. ebd., S. 42f.

  22. Vgl. ebd., S. 44.

  23. Vgl. ebd., S. 46f.

  24. Vgl. ebd., S. 48f.

  25. Ebd., S. 50f. Da das Bundesverfassungsgericht die letztgenannte Voraussetzung verneint hat, ist die von manchen geforderte völlige Streichung des § 218 StGB mit dem Urteil unvereinbar, also verfassungswidrig. H. A. Engelhard. BMJ. Deutscher Bundestag. 11. Wahlperiode. Plenarprotokoll 11/9957; H. Däubler-Gmelin/R. Faerber-Husemann (Anm. 7), S. 15.

  26. Vgl. BVerfGE 39. 1, S. 68. 79.

  27. Vgl. A. Eser, in: A. Schönke/H. Schröder/A. Eser, StGB-Kommentar. München 198823, Rdnr. 5 zu § 218a; W. Gropp, in: Goltdammers Archiv für Strafrecht, (1988), S. 1 f.;; H. -G. Koch, in: A. Eser/H. -G. Koch. Schwangerschaftsabbruch im internationalen Vergleich, Teil 1. Baden-Baden 1988, S. 113ff., jeweils mit zahlreichen Nachweisen.

  28. Stellungnahme der Bundesregierung zum Bericht der Kommission zur Auswertung der Erfahrungen mit dem reformierten § 218 des Strafgesetzbuches vom 31. 1. 1980, II; Deutscher Bundestag, 8. Wahlperiode, Drucksache 8/3630; Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Höpfingcr vom 23. März 1989 auf eine Anfrage des Abgeordneten Jäger. Deutscher Bundestag. 11. Wahlperiode. Drucksache 11/4279. mit weiteren Nachweisen.

  29. Vgl. C. Belling. Ist die Rechtfertigungsthese zu § 218 a StGB haltbar?, Berlin-New York 1987; W. Geiger, in: Zeitschrift für das gesamte Familienrecht. (1986), S. Iff.; W. Kluth, in: Goltdammers Archiv für Strafrecht. (1988), S. 547ff.; H. Tröndle, in: E. Dreher/H. Tröndle, StGB-Kommentar. München 198844, Rdnr. 8 f.. jeweils mit zahlreichen Nachweisen. Eine vom Verfasser erstellte LiteraturÜbersicht Pro und Contra Rechtfertigungsthese zu § 218 a StGB findet sich in der Schriftenreihe der Juristen-Vereinigung Lebensrecht e. V., (1988) 5, S. 87 ff.

  30. BVerfGE 39, 1, S. 59.

  31. Ebd., S. 48.

  32. Vgl. R. Herzog, in: T. Maunz/G. Düring/R. Herzog, Grundgesetz-Kommentar. Art. 4. Rdnrn., S. 112. 115. 152. Hier findet die Gewissensfreiheit ihre Schranke in den Grundrechten, aus denen sich eine Schutzpflicht des Staates (z. B. zugunsten des Lebens) ergibt. R. Spaemann: „Wenn es überhaupt Menschenrechte gibt, dann bedeutet dies, daß das Recht des einen Menschen nicht abhängig gemacht werden darf vom Gewissen irgendeines anderen Menschen.“ Zit. nach: Zeitschrift für Rechtspolitik. (1974), S. 52; ders., Schriftenreihe der Juristen-Vereinigüng Lebensrecht e. V., (1988) 5, S. 25 f. Siehe auch R. Bäumlin. Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, (1970) 28, S. Iff., 18ff., 25, und E. W. Böckenförde, ebd., S. 33ff.. 59ff.. 64f.; ferner W. Kluth, in: Schriftenreihe der Juristen-Vereinigung Lebensrecht e. V., (1987) 4, S. 54f.; K. Lenzen. Festschrift für H. Tröndlc. Berlin-New York 1989. S. 740. Gegen Gewissensentscheidung als Rechtfertigungsgrund auch B. Jähnke, in: H. -H. Jescheck/W. Ruß/G. Willms, Leipziger Kommentar zum StGB, Berlin 198310, Rdnr. 24 vor § 218.

  33. Bulletin des Presse-und Informationsamts der Bundesregierung. 1976, S. 549.

  34. Die Fülle der Kritik wird geäußert bzw. zitiert insbes. in den folgenden Kommentaren: K. Lackner, Kommentar zum StGB. München 198918, insbes. Anm. 2 vor § 218, 4b zu § 218. la. bb zu § 218a; Leipziger Kommentar zum StGB (Anm. 32), insbes. Rdnrn. 31, 32, 35 vor § 218; H. -J. Rudolphi, in: H. -J. Rudolphi/E. Horn/E. Samson, Systematischer Kommentar zum StGB, Band 2 Besonderer Teil, Frankfurt 19884, insbes. Rdnrn. 19, 20, 23, 23a. 30 vor § 218; H. Tröndle (Anm. 29). insbes. Rdnrn. 8c vor § 218, 4 zu § 218 a. Zur Abtreibung auf Krankenschein siehe die Zitate unter Anm. 48.

  35. K. H. Gössel. Strafrecht Besonderer Teil. Band 1. 1987. § 10 Rdnr. 52.

  36. BVerfGE 39, 1, S. 50.

  37. C. Roxin, in: Juristische Arbeitsblätter. (1981), S. 226ff., 232, nimmt an. daß mehr als die Hälfte aller Schwangerschaftsabbrüche ohne eine den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts gerecht werdende Indikation erfolgen. H. -J. Rudolphi (Anm. 34), Rdnr. 30 vor § 218, meint, daß die große Mehrheit der Schwangerschaftsabbrüche durch eine Indikation nicht gedeckt und deshalb illegal seien. Eine solche Einschätzung wird auch von Medizinern geteilt, so z. B. von 1. Schmid-Tannwald, in: Praktische Sexualmedizin, (1989) 10, S. 14 f.

  38. BVerfGE 39, 1, S. 50, 61, 62. 63. Nach Auffassung des früheren Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts E. Benda ist das derart festgelegte Beratungsziel für jede Beratungstätigkeit verbindlich. Der Staat habe sicherzustellen, daß dieses Ziel angestrebt wird. Gute Gründe sprächen für eine Verpflichtung des Gesetzgebers, das unmittelbar aus der Verfassung folgende Schutzziel gesetzlich zu normieren. Unrichtig erscheine die Auffassung, der Gesetzgeber dürfe keinen „einseitigen Tendenz-Beratungsbegriff'einführen (unveröffentlichtes Gutachten „Verfassungsrechtliche Fragen zur Zulassung von Einrichtungen zum straffreien Abbruch von Schwangerschaften im Land Hessen“, erstattet im Auftrag der Staatskanzlei beim Hessischen Ministerpräsidenten, November 1988, S. 43ff., 51).

  39. Vgl. BVerfGE 39. 1. S. 50.

  40. Vgl. ebd.. S. 62.

  41. Ebd., S. 50.

  42. Hierzu z. B. I. Schmid-Tannwald (Anm. 37) sowie die Nachweise bei M. Häußler-Sczepan, Arzt und Schwangerschaftsabbruch. Kriminologische Forschungsberichte aus dem Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Band 39, Freiburg 1989, S. 45 ff.; ferner H. B. Wuermeling, Schriftenreihe der Juristen-Vereinigung Lebensrecht e. V., (1985) 2, S. 68 ff.

  43. So z. B. die Gemeinsame Erklärung der Ärztekammer Berlin und des PRO FAMILIA-Bundesverbandes zur Praxis des § 218 StGB vom 14. Dezember 1988. Im Gesetzgebungsverfahren wurde demgegenüber von der gerichtlichen Überprüfbarkeit der Indikationen ausgegangen, vgl. z. B. P. Wilkitzki, Deutscher Bundetag, 7. Wahlperiode, Protokoll des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, 7/2365 und 2426.

  44. Vgl. Bundesgerichtshof, Urteil vom 9. Juli 1985 — VI ZR 244/83 -. BGHZ 95, S. 199 ff. Auch das Landgericht Memmingen ist in seinem Urteil vom 5. Mai. 1989 (1Kls 23 Js 9443/86; Dr. Theissen) von einem ärztlichen Beurteilungsspielraum ausgegangen. Die Vernehmung der Frauen erfolgte nur. um festzustellen, ob der Angeklagte seiner Aufklärungspflicht im Rahmen der ärztlichen Erkenntnis nachgekommen ist. d. h. die ärztliche Erkenntnis ausgeschöpft hat. also zur Wahrung des selbstverständlichen Kontrollminimums.

  45. Vgl. W. Kluth, in: NJW, (1986), S. 2348ff.; H. Tröndle. in: E. Dreher/H. Tröndle (Anm. 29). Rdnr. 13 zu § 218 a, mit weiteren Nachweisen.

  46. J. Isensee, in: NJW, (1986), S. 1645f.

  47. Siehe die Literaturzitate im Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 5. April 1989 — 4 AZR 495/87 —, in: NW. (1989). S. 2347. zum entsprechend formulierten § 1 Abs. 2 des Lohnfortzahlungsgesetzes, sowie im hierzu ergangenen Beschluß der 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Oktober 1989 — IBvR 1013/89 -, in: NJW, (1990), S. 241; gegen das Urteil des Bundesarbeitsgerichts zu Recht H. Tröndle, in: NJW (1989). S.

  48. W. Esser, Die Sozialgerichtsbarkeit, 1987, S. 453ff.; W. Geiger (Anm. 29), S. 5.; ders., in: Jura, (1987). S. 60ff.. 65; E. von Hippel, in: JZ, (1986), S. 53ff., 57; J. Isensee, in: NJW, (1986), S. 1645 ff.; W. Kluth, in: Zeitschrift für das gesamte Familienrecht, (1985), S. 440ff.. 443; D. Lorenz. in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band VI, Heidelberg 1989, § 128 Rdnrn. 28, 59; F. Ossenbühl, in: C. Arndt/B. Erhard/L. Funcke, Der § 218 vor dem Bundesverfassungsgericht. Karlsruhe 1979, S. 252; W. Philipp, in: NJW. (1987). S. 2275ff., 2277; H. Tröndle, in: Jura, (1987), S. 66ff.. 73f. Für die Verfassungswidrigkeit spricht auch die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts, es müsse „der falsche Eindruck vermieden werden, als handele es sich beim Schwan-gcrschaftsabbruch um den gleichen sozialen Vorgang wie etwa den Gang zum Arzt zwecks Heilung einer Krankheit... (BVerfGE 39, 1, S. 44). Daß es nach dem Kammer-Beschluß vom 18. Oktober 1989 (Anm. 47) „verständlich“ ist, „der Schwangeren auch die durch den Abbruch bedingte, der Existenzsicherung dienende arbeitsrechtliche und sozialrechtlt ehe Fürsorge angedeihen zu lassen“, reicht für eine Legitimation der Tötung durch den Staat nicht aus.

  49. Gemeinsame Richtlinie vom 12. November 1975. Die Ortskrankenkasse 1976. S. 229 ff.

  50. Dagegen W. Philipp (Anm. 48).

  51. Zur Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers z. B. K. Stern. Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland. Band 111/1, München 1988, S. 1315 f.. mit weiteren Nachweisen.

  52. BVerfGE 39, 1, S. 59: „Das Gesetz ist. . . auch bleibender Ausdruck sozialethischer und — ihr folgend — rechtlicher Bewertung menschlicher Handlungen; es soll sagen, was für den Einzelnen Recht und Unrecht ist.“ Zur mangelnden Orientierung im Ärztestand hinsichtlich der Rechtsnatur des Notlagen-Aborts siehe W. Esser. Recht oder Unrecht?, in: Verantwortlichkeit und Freiheit, Festschrift für W. Geiger. Tübingen 1989. S. 207 ff., sowie in der Schriftenreihe der Juristen-Vereinigung Lebensrecht e. V., (1989) 6. S. 71 ff.

  53. Hierzu allgemein BVerfGE 53, 30. S. 65ff.. K. Stern (Anm. 51). S. 965 ff.

Weitere Inhalte

Bernward Büchner, geb. 1937; Vorsitzender Richter am Verwaltungsgericht in Freiburg; Vorsitzender der Juristen-Vereinigung Lebensrecht e. V. in Köln. Veröffentlichungen u. a.: Notwendigkeit und Möglichkeiten einer Rechtsänderung zum Schutz des ungeborenen Kindes, in: Schriftenreihe der Juristen-Vereinigung Lebensrecht e. V., (1985) 1; Bemerkungen zum aktuellen Stand der Abtreibungsdiskussion, in: ebd., (1986) 3; Lebensrecht, Bewußtseinswandel und politische Verantwortung, in: ebd., (1989) 6.