Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Amerikanismus — Politische Kultur und Zivilreligion in den USA | APuZ 49/1990 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 49/1990 Amerikanismus — Politische Kultur und Zivilreligion in den USA Zur Weltwirtschaftsstellung der USA Die USA und der politische Wandel in Europa

Amerikanismus — Politische Kultur und Zivilreligion in den USA

Jürgen Gebhardt

/ 42 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die eigentümlichen Strukturmerkmale der politischen Kultur der USA verdanken sich dem durch mannigfache geschichtliche Traditionen angereicherten Paradigma einer bis zum heutigen Tage wirksamen republikanischen Lebensordnung, welches jenseits der sozialen Differenzierung und Fragmentarisierung der Gesellschaft deren kollektive Identität verbürgt. Dieses republikanische Ordnungsparadigma ist eingebettet in eine umfassende Selbstdeutung der amerikanischen geschichtlich-sozialen Existenz. Hierfür hat sich die Wortprägung Amerikanismus eingebürgert. Dessen ideenpolitischer Kernbestand, auch als Amerikanisches Credo beschrieben, bezieht sich auf die in der revolutionären Gründung der amerikanischen Republik formulierten und institutionalisierten Grundprinzipien. Insofern die Leitideen des Amerikanismus auf das soziale und politische Zusammenleben hin angelegt sind, ist er politisch, insofern die durch die Gründungsväter der Republik vermittelten Ordnungsgehalte in dogmatische Glaubenssätze mit metaphysischem Geltungsanspruch transformiert wurden, ist der Amerikanismus religiöser Natur. Aus der Tatsache, daß die Gründung der amerikanischen Republik gleichsam heilsgeschichtlich gedeutet wurde und hierdurch eine metaphysische Begründung erfuhr, wächst dem Amerikanismus der Charakter einer Zivil-religion zu. Die Kongruenz von geschichtlicher Gründung und metaphysischer Begründung sicherte dem Amerikanismus über jeden sozialen Strukturwandel hinweg seine ideelle Kontinuität, denn das Ordnungsparadigma der Väter fungiert als das unbestrittene relative Prinzip der Krisenbewältigung, wie insbesondere die großen Reformprogramme des 20. Jahrhunderts beweisen. Es bestimmt in gleicher Weise als formgebendes Prinzip die Produktionsverhältnisse, die Sozialorganisation wie auch die Macht-und Herrschaftsbeziehungen in den USA. Der im Amerikanismus angelegte Widerspruch zwischen einem traditionsgeleiteten bürgerzentrierten Ethos und der durch Konzernkapitalismus und staatliche Bürokratien bestimmten gesellschaftlichen Realität prägt die Zyklen der Politik in der amerikanischen politischen Kultur, in denen strukturkonservative Anpassung und wertkonservative Reform einander ablösen.

I.

„Die amerikanische Politik überrascht auch den aufmerksamsten einheimischen Beobachter stets aufs neue“, stellt Byron Shafer jüngst fest. Für den ausländischen Beobachter jedoch, so ergänzt er, sei die amerikanische Politik fast unergründlich. „Gibt es etwas an der amerikanischen Politik, das spezifisch, sogar einzigartig in der Welt ist? Etwas, das darauf hindeutet, daß diese Politik nur in Gestalt der eigentümlichen Charakteristika der politischen Ordnung insgesamt, innerhalb deren sie auftritt, verstanden werden kann? Etwas, das den überkommenen Begriff für eine solche nahezu unübertragbare Eigentümlichkeit rechtfertigt, etwas . Außergewöhnliches (exceptional)?" In der Tat behauptet Shafer, daß das institutioneile Arrangement des politischen Systems und die Organisationsstruktur des politischen Prozesses im Verein mit dem die politischen Einstellungen fundierenden Wertkomplex insgesamt ein politisches Leben hervorbringen, welchesjedes Mal wieder den Rest der Welt in Erstaunen versetze und zu Recht als „American political exceptionalism" bezeichnet werden könne 1) -Dieser schwer übersetzbare Ausdruck führt uns unmittelbar in das Zentrum des gesellschaftlichen Selbstverständnisses der USA. Die Idee eines „Amerikanischen Exzeptionalismus" bezieht sich in der Selbstdeutung der USA nicht nur auf die spezifischen Elemente, welche jedem individuellen politischen System zukommen. Vielmehr verbindet sich hiermit der Gedanke von der geschichtlichen Einmaligkeit der historischen Existenz als Nation aufgrund der Ordnungsprinzipien, die diese verkörpert und praktiziert. So schwingt letztlich im Begriff des Exzeptionalismus die Vorstellung von einer übergeschichtlichen Wahrheit mit, deren Verwirklichung der amerikanischen Nation aufgetragen ist. Hier berühren wir bereits die durch den alltäglichen politischen Betrieb des „Machtspiels“ vielfach verdeckten religiösen Wurzeln der politisch-kulturellen Identität der USA.

II.

Wer die eigentümlichen Strukturmerkmale der für die soziopolitische Verfassung und ihre Institutionen konstitutive politische Kultur der USA einer näheren Betrachtung unterziehen möchte, geht nie fehl, wenn er mit einer Erinnerung an den ersten und bis zum heutigen Tag in vieler Hinsicht unübertroffenen Interpreten der Demokratie in Amerika beginnt. „Keine Gesellschaft“, so erläutert Alexis de Tocqueville die Grundprämisse seiner Erforschung der amerikanischen Gesellschaft, könne ohne gemeinschaftüche Glaubenslehren gedeihen, „oder vielmehr es gibt keine solche; denn ohne gemeinsame Vorstellungen gibt es kein gemeinsames Tun, und ohne gemeinsames Tun gibt es zwar Menschen, aber keinen Gesellschaftskörper. Damit sich eine Gesellschaft bilde, und erst recht damit diese Gesellschaft gedeihe, müssen die Bürger immer durch einige Grundideen zusammengeführt und zusammengehalten werden.“ Voraussetzung hierfür aber ist nach Tocqueville, daß auch oder gerade unter den Bedingungen einer demokratischen Gesellschaft der einzelne seine Meinungen aus einer gemeinsamen Quelle schöpft und bereit ist, in gewissen Angelegenheiten präformierte Wahrheiten zu akzeptieren. Dieses Fundamental-prinzip des gesellschaftlichen Zusammenlebens verweist auf den für jede soziopolitische Ordnung unabdingbaren sinnstiftenden Komplex von Ideen, Glaubenshaltungen, Gefühlen, Einstellungen und Verhaltensweisen, welcher dem politischen Leben erst seine latente Kohärenz liefert. Das Gemeinschaftsbewußtsein und die diesem unterliegende Erfahrungswelt manifestieren sich in den öffentlichen Symbolmustern der herrschenden Selbstinterpretation; sie erst ermöglichen den sinnhaften Aufbau der sozialen Welt. Dem Zusammenspiel von sozialer Lebensform und gesellschaftlicher Symbolik entspringt die gemeinsame Welt des Öffentlichen, welche die Vielzahl der individuellen Psychen über die wechselseitig eingegangenen Sozialbeziehungen hinaus in das identitätsverbürgende Ganze des politischen Lebens einbindet.

In der politischen Kultur drücken sich die Identifikation mit der übergreifenden soziopolitischen Ordnung und ihren Symbolen sowie die Identifikation der Individuen untereinander als Glieder eines „sinnhaften Ganzen“ aus. Deswegen läßt sich der Begriff der politischen Kultur nicht auf spezifische subjektive politische, d. h. auf informelle und formelle Machtprozesse bezogene Orientierungen beschränken, wie dies in der politischen Kulturforschung ursprünglich geschehen ist. Denn diese psychische Dimension der politischen Welt ist ein integraler Bestandteil der psychisch-sozialen Verfassung der Gesellschaft insgesamt. Das in der politischen Kultur wirksame mentale Formengefüge durchdringt als formgebendes Prinzip in gleicher Weise Produktionsverhältnisse, Sozialorganisation sowie Macht-und Herrschaftsbeziehungen. Die politische Kultur in diesem Sinn verstanden erwächst aus dem für jede Gesellschaft konstitutiven Selbstverständnis ihrer Ordnung. Deren zentrale verbale und nichtverbale Symbole setzen auch in der aus-differenzierten modernen Gesellschaft die entscheidenden Kristallisationspunkte der Gemeinsamkeit im soziokulturellen Gefüge insgesamt, insofern sie die gesellschaftliche Erfahrung von Ordnung auf deren legitimierende Leitidee hin auslegen. Der hier skizzierte Sachverhalt führte schon Tocqueville dazu, den „ganzen sittlichen und geistigen Zustand“ des Volkes als eine der allgemeinen und großen Ursachen für die Erhaltung des demokratischen Staatswesens in den USA auszumachen und in dem wechselseitigen Bezug von gesellschaftlichen Sitten und der Leitidee der Republik den eigentlichen Charakter der amerikanischen Demokratie zu sehen. Für Tocqueville besteht diese Leitidee in einem quasi-anthropologischen Prinzip, „das der bürgerlichen und politischen Gesellschaft zugrunde liegt“. „Die Vorsehung hat jedem Menschen, wer immer er sei, das nötige Maß von Vernunft gegeben, das er zur selbständigen Führung der ihn allein angehenden Dinge braucht.“ Diesen Leitsatz wendet der „Familienvater . . . auf seine Kinder, der Herr auf seine Diener, die Gemeinde auf die Gemeindeangelegenheiten, die Provinz auf die Gemeinden, der Staat auf die Provinzen, die Union auf die Staaten“ an. Auf das Ganze der Nation ausgedehnt wird dieser Leitsatz zum Dogma der Volks-souveränität. Folgerichtig ist der Grundsatz, „dem die Republik entspringt, der gleiche wie der, welcher die meisten menschlichen Handlungen regelt.

Die Republik dringt also ... in die Vorstellungen, die Meinungen und alle Gewohnheiten der Amerikaner zur gleichen Zeit ein, in der sie sich in ihren Gesetzen verankert.“ So umschreibt der Begriff der Republik die ruhige und selbstgewisse Herrschaft der Mehrheit und bestimmt diese als „Quelle der Macht“. Aber sie ist nicht allmächtig, denn die Herrschaftsform ist eingebunden in einen übergreifenden ethisch-politischen Ordnungsentwurf: Über der Mehrheit steht „im sittlichen Bereich die Menschlichkeit, die Gerechtigkeit und die Vernunft; im politischen Bereich das erworbene Recht“.

Wie einst im Frankreich Ludwigs XIV.der monarchische Grundsatz unangetastet und fraglos herrschte, so „besteht in Amerika die Republik ohne Kampf, ohne Gegnerschaft, ohne Beweis, dank einem schweigenden Übereinkommen, einer Art Consensus universalis" Und er fügt hinzu: Der Untergang der republikanischen Grundsätze würde nichts anderes bedeuten, als daß ein gänzlich neues Volk an die Stelle des bisherigen getreten sei.

Gewiß ist Tocquevilles Untersuchung von 1835 nicht das letzte Wort über die USA, sie erweist sich jedoch in mehrfacher Hinsicht nach wie vor als unverzichtbarer Beitrag zur Erforschung der politischen Kultur der USA. Tocqueville hat damit den Nachweis geliefert, daß die normative Funktion der in der gesellschaftlichen Selbstdeutung wirksamen republikanischen Personen-und Gemeinschaftsideen die Grundvoraussetzung der gesellschaftlichen Existenz dieser neuen modernen demokratischen Gesellschaft schlechthin bildet. Er lehrt uns, daß hinter der vielgestaltigen fragmentarisierten und in sich widersprüchlichen sozialen Welt der USA ein erstaunlich stabiles, wenngleich sich wandelndes und durch mannigfache geschichtliche Traditionen angereichertes Paradigma einer republikanischen Lebensordnung steht und der amerikanischen Gesellschaft ihre unverwechselbare geschichtliche „Gestalt“ gibt, die eben diese Gesellschaft sich selbst als einmalig begreifen läßt.

Die Sicht Tocquevilles wurde seither stets aufs neue durch das Urteil amerikanischer und nichtamerikanischer Beobachter bestätigt. Dies gilt zuallererst und ganz besonders für die prägende Kraft des republikanischen Ordnungsparadigmas, welche die in der politischen Kultur beschlossene kollektive Identität über alle gesellschaftlichen Umbrüche hinweg verbürgen und über schwerste gesamtgesellschaftliche Krisen hinweg retten konnte. Als ein Beleg mag der Fall der Revolution angeführt wer-* den, die nicht stattfand, wie James C. Davies es in einer revolutionstheoretischen Betrachtung der amerikanischen Krise in den Jahren von 1929 bis 1932 nannte. So sehr die sozioökonomischen Indikatoren für eine gleichsam „objektive“ revolutionäre Situation sprachen, es kam weder zu einer „rechten“ noch gar zu einer „linken“ Revolutionierung der bestehenden soziopolitischen Ordnung — wenngleich die eine oder andere gesellschaftliche Gruppierung Hoffnungen in diese oder jene Richtung hegte. „Die große Mehrheit der Öffentlichkeit hing einem Wertkomplex an, welcher seit 1776 offizielles Dogma war, und nicht dem regimekritischen Programm einer entfremdeten Intelligenz.“ Ungeachtet der individuellen ökonomischen Lage war man sich einig im Glauben an harte Arbeit, Selbständigkeit und deren Erfolgsverheißungen. „Die ökonomischen und intellektuellen Eliten blieben nicht nur den egalitären Werten und dem etablierten Wirtschaftssystem verpflichtet, sondern auch dem verfassungskonformen Verfahren“, und „die politische Führung, die sich herausbildete, hatte den Konstitutionalismus gleichsam mit der Mutter-milch eingesogen“

Den eigentümlichen politisch-religiösen Charakter dieses stabilitätsgarantierenden Ideenkomplexes, welcher im Zentrum der amerikanischen Selbstinterpretation steht, hatte Gunnar Myrdal in seiner Analyse der amerikanischen Gesellschaft mit der seither gängigen Wortprägung „American Creed“ auszudrücken versucht: „Amerikaner jeder nationalen Herkunft, aller Klassen, aller Regionen, aller Glaubensrichtungen, jeder Hautfarbe haben etwas gemeinsam: ein soziales Ethos, ein politisches Credo.“ Dieses Amerikanische Credo sei „der Zement im Bau dieser großen und disparaten Nation“

Die Geschichtsmächtigkeit dieses im American Creed gegebenen republikanischen Ordnungsparadigmas liegt für die politische Kulturforschung in den USA klar auf der Hand. Donald J. Devine konnte zeigen, daß die politische Kultur der USA durch einen Wertkonsens dominiert wird, der im Sinne des von Louis Hartz eingeführten Begriffs der „liberal tradition“ sich ungebrochen aus der politischen Ideenwelt der amerikanischen Gründungsväter (der Anklang an die römische traditio maiorum ist nicht zufällig!) speist. Für die konsensualen Grundzüge der politischen Kultur aus dem Geiste der liberalen Tradition macht Devine deren nahezu zwei Jahrhunderte überspannende Kontinuität ver-antwortlich -Noch eine weitere amerikanische Stimme sei angeführt: Samuel P. Huntington erklärt den Ideenkomplex des Amerikanischen Credo als das für das Zusammenspiel von Konsens und Konflikt entscheidende Bewegungsmoment in der amerikanischen Politik. Denn im Unterschied zu anderen Nationalstaaten sind die politischen Ideen des Amerikanischen Credo die Basis der nationalen Identität. Ideologie und Nationalität sind derart miteinander verknüpft, daß das Verschwinden der ersteren auch das Ende der letzteren bedeuten würde. „Die Vereinigten Staaten nehmen so ihren Anfang mit einem bewußten politischen Akt, mit der Behauptung gewisser fundamentaler politischer Prinzipien und mit konstitutioneller Vereinbarungen, die auf diesen Prinzipien beruhen.“ Nur so kann man „von einem Korpus politischer Ideen sprechen, die einen Americanism umschreiben in einem Sinn, wie man niemals von Britishism oder Frenchism . : . sprechen kann.“ Und mit der Kennzeichnung, daß „Amerikanismus in diesem Sinne vergleichbar ist mit anderen Ideologien oder Religionen“ und der „Amerikanismus als ein Credo eine nationale Zivilreligion begründet“, nimmt Huntington einen seit den sechziger Jahren geläufigen Begriff auf Peter Lösche bringt das Problem der amerikanischen Politik auf einen gemeinsamen Nenner. „Was hält diese vielfarbige und vielgestaltige Gesellschaft, zergliedert in zehntausende von Nachbarschaftsinseln, was hält den Staat, was die Nation überhaupt zusammen? Was verbindet die Amerikaner untereinander, so daß sie sich als Amerikaner gegenseitig erkennen und erfahren . . .? Was also hält Amerika im Innersten — und auch äußerlich — zusammen?“ Und er antwortet: „Es ist die amerikanische Ideologie, die die 250 Millionen Einwohner der Vereinigten Staaten zu Amerikanern macht und die die amerikanische Nation begründet“ Für diese gemeinschaftsstiftende Ideologie benützt auch Lösche den Begriff der Zivilreligion: „Dem amerikanischen Volk ist eine Art weltliche Religion (civil religion) gemeinsam, die auf bestimmten Glaubenssätzen, auf Ritualen und Symbolen beruht.“

Der Stellenwert des religiösen Momentes kann — vorbehaltlich einer weiteren Klärung — mit Sidney G. Mead wie folgt beschrieben werden: Die USA sind eine Nation „mit der Seele einer Kirche“. Deren „spirituelles Herzstück“ findet Mead in der „Konzeption eines universalen Prinzips, von welchem angenommen wird, daß es die nationalen und religiösen Besonderheiten all jener transzendiert und einschließt, welche aus aller Welt kamen, um . amerikanisiert zu werden“ Das dieser Konzeption einer „theonomen Religion der Republik“ unterliegende universale Prinzip bewirkt nach Mead, daß die Ideale und Aspirationen dieser Religion „stets zu Gericht sitzen über die flüchtigen Narreteien der Leute und sie an die Norm erinnern, nach welcher ihre laufenden Handlungen und jene der Nation jeweils beurteilt und für mangelhaft befunden werden“

Halten wir das Resultat dieser ersten Annäherung an den Gegenstand unserer Überlegungen fest: Das republikanische Ordnungsparadigma, ob als Amerikanisches Credo, als liberale Tradition, Zivilreligion oder auch öffentliche Philosophie definiert, entfaltet eine umfassende Selbstdeutung der amerikanischen gesellschaftlichen Existenz, welche durch die Wortprägung Amerikanismus ausgedrückt wird. Diese artikuliert eine geschichtlich begründete politisch-kulturelle Gemeinschaftserfahrung und die hierin fundierte nationale Identität. Der Amerikanismus enthält zwar einen festen ideenpolitischen Kem, doch dessen geschichtlich-sozialeErscheinungsformen sind außerordentlich vielfältig und vermögen im Verlauf des Zivilisationsprozesses den wechselnden gesellschaftlichen Erfahrungen auf höchst unterschiedliche Art und Weise Ausdruck geben. Wie schon die Rede vom republikanischen Ordnungsparadigma besagt, ist die für den Amerikanismus konstitutive Leitidee der gesellschaftlichen Ordnung politisch, d. h. auf die Prinzipien des soziopolitischen Zusammenlebens bezogen. Darauf beruht die offenkundige sozialintegrative Funktion. Aber diese Funktion gewinnt der Amerikanismus durch ein verpflichtendes, normatives Element der Letztbegründung der Ordnung: den Bezug auf einen allen Gesellschaftsgliedern gemeinsamen letzten Grund oder Ursprung der Ordnung, welcher individuelle Erfahrung überindividuell in einem die Gemeinsamkeit der gesellschaftlichen Erfahrungswirklichkeit sichernden Sinnhorizont fixiert. Insofern der Amerikanismus in der Gründung der amerikanischen Republik die Begründung für den Anspruch der USA auf Repräsentanz einer übergeschichtlichen Wahrheit ihrer Ordnung findet, verdankt er seine normative Funktion einer religiösen Fundierung, ohne jedoch seinen durchgängig soziopolitischen Charakter zu verlieren und zur Gänze im Religiösen auf-zugehen.

III.

Der Amerikanismus in seiner heutigen Gestalt hat ein geschichtliches Traditionsfundament, das im Zusammenspiel von geistig-kultureller Form und soziopolitischem Prozeß derart transformiert wurde, daß er — in gewissen Grenzen — auch in der Gegenwart noch den Herausforderungen einer hoch-industrialisierten Weltmacht weitgehend genügt. Diese über jeden sozialen Strukturwandel hinweg bewahrte ideelle Kontinuität der amerikanischen Selbstdeutung verdankt sich der zivilreligiösen Letztbegründung der amerikanischen Existenz.

In einer Untersuchung der Inauguraladressen der amerikanischen Präsidenten von Washington bis Carter zeigt Dante Germino, daß alle Präsidenten — ungeachtet ihrer ganz unterschiedlichen Persönlichkeit oder auch der sich wandelnden Position des Amtes im Gefüge des Regierungssystems — die zentrale Idee des Amerikanismus der jeweiligen geschichtlichen Lage entsprechend autoritativ artikulieren Unübertroffen war darin Abraham Lincoln, in dessen Rhetorik die Vollendung der amerikanischen Nationwerdung ihren definitiven symbolischen Ausdruck fand. Die Schlußsätze der Gettysburg Address von 1863 formulieren, in der für Lincoln charakteristischen biblisch inspirierten Sprache, auf unnachahmliche Weise die religiös-politische Leitidee des republikanischen Paradigmas: Angesichts der Gefallenen des Bürgerkrieges ruft Lincoln die Lebenden auf, „that from these honored dead we take increased devotion to that cause for which they gave the last full measure of devotion — that we here highly resolve that these dead shall not have died in vain, that this nation under God, shall have a new birth of freedom — and that government of the people, by the people, for the people, shall not perish from the earth.“ In der Formel von der Regierung des Volkes durch das Volk für das Volk wird der Ordnungsgehalt der Demokratie unübertrefflich zusammengefaßt. Die Formel selbst stammt aus der Einleitung zu einer Bibelübersetzung aus dem Umkreis John Wyclifs (ca. 1388).

Ging dieser, wie auch andere Texte Lincolns, in die öffentliche Symbolik der nationalen Selbstinterpretation ein, so wird man dies von den schmucklosen Reden des Präsidenten George Bush kaum erwarten können. Doch auch diese weisen auf den gleichsam selbstverständlichen Bezug einer Letztbegründung der „Wahrheit“ der amerikanischen Nation hin, die aufs engste mit ihrer Gründung verknüpft ist. Die ungebrochene zweihundertjährige Kontinuität der amerikanischen Existenz beschwört Bush in seiner Inauguralrede mit dem Hinweis, daß er nicht nur „Wort für Wort“ die Eidesformel Washingtons wiederholt habe, sondern auch hierbei seine Hand auf eben dieselbe Bibel gelegt habe wie seinerzeit Washington. Dem Eid folgt als Bushs „erster Akt als Präsident“ ein Gebet, das die präsidentielle Macht dem „himmlischen Vater“ unterstellt. In den folgenden Ausführungen konstatiert der Präsident das Ende des Totalitarismus und eine Weltbewegung hin zu politischer, geistiger und ökonomischer Freiheit — den Prinzipien der amerikanischen Nation. „Amerika heute ist eine stolze, freie Nation, anständig und zivilisiert, ein Ort, den wir nur lieben können. Wir wissen in unserem Herzen, nicht laut und stolz, aber als eine einfache Tatsache, daß dieses Land einen Sinn hat jenseits dessen, was wir sehen, und daß unsere Stärke eine Kraft für das Gute ist.“ Der in der Gründung gottgegebene Sinn der amerikanischen Nation ist die Wahrheit der menschlichen Existenz. Wo immer die amerikanische Politik diese ihr eigene Norm verfehlt hat, mahnt ein neuer Präsident sich und die Nation zur kollektiven Realisierung der die Gesellschaft verpflichtenden Ordnungsprinzipien, „des Sinnes jenseits dessen, was wir sehen“ Die hierin implizierte geschichtliche Sonderstellung der amerikanischen Nation ruft Bush in seiner Proklamation aus Anlaß des gesetzlichen Feiertags zum Gedenken an Martin Luther King seinen Landsleuten auf eine für den Amerikanismus spezifische Weise in Erinnerung: „Ebenso wie Präsident Lincoln wußte Martin Luther King, daß die Vereinigten Staaten kein großes freies Land bleiben konnten, wenn den Menschen ihre Rechte vorenthalten werden. Er wußte, daß die amerikanische Verheißung von Freiheit und Gerechtigkeit für alle Menschen im wunderbaren Plan unseres Schöpfers angelegt ist, und er wußte, daß diese Verheißung nicht durch Bigotterie und Diskriminierung entstellt werden darf.“ In Anspielung auf die berühmte Rede Kings zum Abschluß des Marsches auf Washington am 23. August 1963 nimmt Bush dessen Kernsatz „I have a dream“ auf und sagt: „Heute erkennen wir, daß es kein Traum ist, sondern eine Vision war . . . Er hatte das „gelobte Land gesehen und inspirierte uns, es gemeinsam zu erblicken.“ Kings Traum, von dem er damals sprach, war der amerikanische Traum von der Verheißung der Demokratie und Gerechtigkeit für „alle Kinder Gottes“ ungeachtet ihrer Rasse, ihres Glaubens oder ihrer Herkunft. „Ich habe einen Traum, daß eines Tages jedes Tal erhöht und jeder Berg und Hügel erniedrigt wird. Die rauhen Orte werden geglättet und die unebenen Orte begradigt werden. Und die Herrlichkeit des Herren wird offenbar werden, und alles Fleisch wird es sehen.“ „Ich habe das gelobte Land gesehen“, schließt er seine Rede wenige Stunden vor seinem Tod am 3. April 1968, „und ich werde vielleicht mit euch nicht dorthin gelangen. Aber ihr sollt wissen, daß wir als ein Volk in das gelobte Land eingehen werden.“ Kings Zuversicht gründete in seiner Überzeugung von der Übereinstimmung des „heiligen Erbes der Nation“ mit dem „ewigen Willen Gottes“, welche die Vision vom „gelobten Land“, in dem „die Wasser der Gerechtigkeit fließen“, bezeugt

Dieser mythopoetische Stil erscheint dem deutschen Hörer fremd. Aus gutem Grund schreckt er vor jeglichem Pathos zurück, entbehrt doch die deutsche Öffentlichkeit nach wie vor der stilbildenden republikanischen Tradition einer politischen Rhetorik. Zudem erscheint ihm eine solche symbolische Evokation eines transzendenten Sinngehaltes so gar nicht zu der utilitaristischen Pragmatik des „American way of life“ zu passen. Das Gegenteil ist aber der Fall, wie aus den bisherigen Bemerkungen über die normative Funktion des Amerikanismus schon deutlich geworden sein sollte.

Die Relevanz Kings als Symbolfigur der Nation ergibt sich schon aus der erstaunlichen Tatsache, daß sein Geburtstag 1986 vom Congress und dem (republikanischen!) Präsidenten zum Federal Holiday'ausgerufen wurde — ungeachtet des verbissenen Widerstandes konservativer Senatoren. Diese Ehre war bisher nur George Washington widerfahren. Auf eine für die Logik von Symbolisierungsprozessen in den USA bezeichnende Weise wurde der umstrittene und umkämpfte politische Führer einer Reformbewegung von Minderheiten zunehmend zu einer gesamtgesellschaftlich akzeptierten Symbol-gestalt. Der mythisierte King transzendiert die gesellschaftlichen Widersprüche, ohne daß diese aufgehoben werden. Die Konservativen, die King einst als Unruhestifter und Extremisten verunglimpften, vereinnahmen ihn für das amerikanische geschichtliche Erbe. Man betont seine visionäre Kraft, seinen Opfertod für ein Amerika, das er durch seinen Kampf für Gerechtigkeit und Gleichberechtigung „auf immer zum Besseren“ verändert habe, wie es Präsident Bush formuliert Für die Veteranen der Civil Rights-Bewegung, die Antikriegsgegner und die Afro-Amerikaner hingegen läßt das „gelobte Land“, das King schaute, noch auf sich warten, sein Märtyrertod ist ihnen vielmehr Ansporn zu verstärktem Einsatz für eine bessere Gesellschaft. Trotz solch unterschiedlicher Art und Weise der Mythisierung wächst King nach Naveh „in der Tat über seinen spezifischen historischen und sozialen Kontext hinaus, um ein bleibender nationaler Märtyrer-Held zu werden“. Hierbei spielen Kirchen und Schulen — die beiden wichtigsten norm-vermittelnden Institutionen in den USA — eine entscheidende Rolle. Kings Rede „I Have a Dream“ findet nunmehr „ihren Platz unter den anderen . heiligen* Dokumenten wie die Unabhängigkeitserklärung, die Verfassung und die Gettysburg Address“

So steht heute Martin Luther King jr. als der zweite große Märtyrer-Held nach Lincoln ebenso wie dieser für die jedermann verpflichtende Norm des im republikanischen Ordnungsparadigmas verheißenen „guten Lebens“ für alle gegen einen in dieser Hinsicht defizitären Status quo. Diese Einstellung bewegt sich innerhalb des verbindlichen Sinnhorizontes des Amerikanismus: Nicht revolutionärer Umsturz der politischen Ordnung war Kings Botschaft, sondern eine moralische, politische und soziale Reform der Gesellschaft: „Eines Tages“, schrieb King 1963, „wird auch der Süden begreifen, daß diese enterbten Kinder Gottes, die sich am Lunchcounter niederließen, in Wirklichkeit eintraten für das, was das Beste ist am amerikanischen Traum, und für die heiligsten Werte unseres jüdisch-christlichen Erbes, und daß sie so die Nation zu den großartigen Quellen unserer Demokratie zurückführten — Quellen, welche unsere Gründungsväter in ihrer ganzen Tiefe erschlossen durch die Formulierung der Verfassung und der Unabhängigkeitserklärung.“ In Kings Idee der Reform erscheint das typisch amerikanische spirituelle Element einer ethisch-politischen Wiedergeburt und Erneuerung des bürgerlichen Ethos aus dem im Ordnungswissen der Väter konzipierten universalen Begriff der Humanität. Gesellschaftsreform ist solchermaßen ein sittliches Unternehmen, das in dem entscheidenden Moment einer moralischen Umkehr, dem „change of hearts“, sein handlungsleitendes Motiv hat: „Wir brauchen die Mückenstiche der gewaltfreien Aktionen“, sagte King, „um eine Spannung in der Gesellschaft zu erzeugen, die den Menschen hilft, aus den dunklen Tiefen des Vorurteils und Rassismus zu den majestätischen Höhen der Verständigung und der Brüderlichkeit emporzusteigen.“

Dieses moralische Bewegungsmoment aller reformerischen Aktivität entspringt der vielfältigen Erfahrung von gesellschaftlicher Erniedrigung und Mißachtung der unantastbaren, weil letztlich transzendent begründeten Personalität des homo americanus. Insofern mit der im göttlichen Heilsplan angelegten Gründung der Republik erstmals in der Weltgeschichte eine der wahren Bestimmung des Menschen als Ebenbild Gottes und als Vernunftwesen angemessene politische Ordnung geschaffen wurde, fällt im amerikanischen Selbstverständnis die geschichtliche Gründung mit der metaphysischen Begründung der Ordnung zusammen. Diese Kongruenz von Ordnung und Gründung im amerikanischen Bewußtsein ist motivierendes Zentrum und Ausgangspunkt aller Legitimität in der amerikanischen Gesellschaft.

IV.

Das Beispiel Kings, der Person und des Mythos, belegt, daß dieser Begründungszusammenhang für das Amerikanische Credo im gesellschaftlichen Bewußtsein nach wie vor ideenpolitisch wirksam ist. Zur Verdeutlichung sei aber noch einmal auf die eindrucksvolle Rhetorik Lincolns, des unbestritten größten Symbolisten amerikanischer Selbstdeutung, zurückgegriffen. Seine durch die Debatte um die Sklaverei inspirierte Interpretation des Sinngehaltes der Unabhängigkeitserklärung fusioniert den metaphysischen Universalismus mit dem politischen Nationalismus: „This was their [i. e. the fathers! ] majestic Interpretation of the economy of the universe. This was their lofty, and wise, and noble understanding of the justice of the Creator and His creatures. Yes, gentlemen, to all his creatures, to the whole great family of man. In their enlightened belief, nothing stamped with the Divine image and likeness was sent into the world to be trodden on, and degraded, and imbruted by his fellows. They grasped not only the whole race of man then living, but they reached forward and seized upon the farthest posterity. They erected a beacon to guide their children and their children’s children, and the countless myriads who should inhabit the earth in other ages. Wise statesmen as they were, they knew the tendency of prosperity to breed tyrants, and so they established the great seifevident truths, that when in the distant future some man, some faction, some interest, should set up that none but rieh men, or non but white men, were entitled to life, liberty and the pursuit of happiness, their posterity might look up again to the Declaration of Independence and take the courage to renew the battle which the fathers began — so that truth, and justice, and mercy, and all the humane and Christian virtues might not be exstinguished from the land; so that no man would hereafter dare to limit and circumscribe the great principles on which the temple of liberty was built.“ Folgerichtig bestimmt Lincoln das Ordnungsparadigma der Gründer als das „regulative Prinzip“ des amerikanischen Gesellschaftslebens. „They [the founders] meant to set up a Standard maxim for free society, which should be familiär to all, and revered by all; constantly looked to, constantly laboured for, and even though never perfeetly attained, constantly approximated, and thereby constantly spreading and opening its influence, and augmenting the happiness and value of life to all people of all colors everywhere.“

Das ist der Grund-Satz des Amerikanischen Credo. Auf ihn beziehen sich -ausdrücklich oder stillschweigend — alle Diskurse der amerikanischen politischen Kultur. Doch dieser Grund-Satz wurde und wird je nach geschichtlicher Situation, gesellschaftlicher Problemlage und ideenpolitischem Standort in den pluralen Diskursen auf ganz unterschiedliche, oft in sich widersprüchliche Weise entfaltet. Diese prinzipielle Bewegungsfreiheit der sozialen Imagination, die Interpretationsmonopole verhindert, verdankt sich der Verankerung der dem Menschen als moralisch-politischem Wesen zukommenden ursprünglichen Rechte in einer höheren, notwendigerweise vorgesellschaftlichen transzendenten Ordnung; die hierin gründende Prämisse, daß der Mensch prinzipiell zur Selbstregierung befähigt, berechtigt und verpflichtet sei, um seine volle menschliche Statur zu erlangen, entzog von vornherein jeder gesellschaftlichen Fixierung des Amerikanischen Credo durch vorgegebene nicht republikanisch-demokratisch legitimierte Instanzen (sei es eine Staatskirche oder Staatspartei) jeden Boden. Umgekehrt aber legitimieren sich auch politisches Handeln und Entscheiden letztlich aus der Berufung auf die Tradition, um den für die Funktion der politischen Institutionen unabdingbaren Konsens herzustellen. Denn, so schreibt selbst ein kühlerer Analytiker der innenpolitischen Macht-spiele, „wenn das Land eines Konsenses ermangelt, fehlt er auch dem Präsidenten und dem Kongreß, wenn die Öffentlichkeit einer übergreifenden Philosophie entbehrt, dann mangelt es auch der Regierung an dem, was Walter Lippmann »öffentliche Philosophie* nannte“

Aus diesem Grunde begegneten die Präsidenten des 20. Jahrhunderts den großen Krisen mit gesellschaftspolitischen Reformprogrammen, die stets mehr waren als bloße Maßnahmenkataloge. Die Reformen galten stets auch als ein den Vätern verpflichteter visionärer Entwurf für eine erneuerte Republik, was allein schon darin zum Ausdruck kam, daß solche Programme unter einen symbolhaltigen Schlüsselbegriffgestellt wurden: von Theodor Roosevelts „Square Deal“ (1904) über Woodrow Wilsons „New Freedom“ (1912) und Franklin D. Roosevelts „New Deal“ (1932) bis zu John F. Kennedys „New Frontier“ (1960) und Lyndon Johnsons „Great Society“ (1966). So unterschiedlich die politische Stoßrichtung und die konkreten Reformgehalte waren, im konzeptionellen Grund-tenor stimmen sie doch überein. Stellvertretend seien die Schlußsätze aus Franklin D. Roosevelts berühmter Rede vor dem Commonwealth Club (1932) angeführt: „Glaube [faith] an Amerika, Glaube an unsere Tradition persönlicher Verantwortlichkeit, Glaube an unsere Institutionen, Glaube an uns selbst, fordert, daß wir die neuen Bedingungen des alten Sozialvertrages erkennen. Wir werden diese erfüllen, wie wir unsere Verpflichtung erfüllt haben gegenüber dem augenscheinlichen Utopia, das Jefferson für uns 1776 erdachte, und das Jefferson, Roosevelt und Wilson Wirklichkeit werden zu lassen sich bemühten. Wir müssen so handeln, damit nicht die steigende Flut des Elends, das durch unser gemeinsames Versagen entstanden ist, uns alle hinwegspült. Aber Versagen ist nicht amerikanische Art, und getragen von der Stärke unserer Hoffnung müssen wir alle unsere gemeinsame Bürde schultern.“ Für Roosevelt ist die Wirtschaftskrise unmittelbare Folge einer Gesellschaftskrise: die Akkumulation ökonomischer Macht in den Händen einer Oligarchie gefährde nicht nur das materielle Überleben der Individuen, sondern richte sich unmittelbar gegen das öffentliche Wohl, d. h.den Zweck politischer Herrschaft. Wie aber einst die politische Macht in einem Sozial-vertrag durch das konstitutionelle demokratische Regime dem öffentlichen Wohl unterworfen wurde, so gelte es heute in einer „ökonomischen Verfassungsordnung“ die ökonomische Macht zu bändigen. Auf Jeffersons Erklärung der politischen Rechte müsse nunmehr eine Erklärung der ökonomischen Rechte folgen. Das sei mit den „neuen Bedingungen des alten Sozialvertrages“ gemeint.

Die normative Funktion des ursprünglichen Ordnungsparadigmas bestimmt das für die amerikanische politische Kultur spezifische Wechselspiel von Wandel und Stabilität. Deswegen zeigt sich jenes ethisch-politische Bewegungsmoment in den gesellschaftlichen Umbrüchen als das zentrale Motiv politischen Handelns. Das Ergebnis ist jeweils, wie Huntington es ausdrückt, die Verkettung von Reformprozessen mit solchen der Neuformierung gesellschaftlicher Kräfte. Sobald die Öffentlichkeit eine wie auch immer geartete Krise auf den Begriff des Widerspruchs von Norm und Wirklichkeit bringt, gerät sie in den hierdurch induzierten hochgradig moralisch-politischen Erregungszustand, den Zustand der „creedal passion“, wie der unübersetzbare Ausdruck Huntingtons hierfür lautet. Denn es liegt in der Natur des für das Amerikanische Credo konstitutiven Nexus von Gründung und Ordnung, daß für die amerikanische Erfahrung das Verfehlen der Ordnungsnorm, gleichsam der Abfall von den Vätern, ebenso wichtig ist wie der Ordnungsentwurf der Väter selbst. „Die Geschichte der amerikanischen Politik ist eine Wiederholung von Neubeginn und fehlerbehaftetem Ergebnis, Verheißung und Desillusion, Reform und Reaktion.

Diese Lücke zwischen Verheißung und Vollzug verursacht eine der amerikanischen Gesellschaft inhärente, zeitweise verborgene, zeitweise offene Disharmonie.“ Der durch den Amerikanismus verbürgte Konsensus der Gesellschaft enthält somit gleichzeitig das entscheidende Ferment für die Konflikte in der Gesellschaft. „In den Vereinigten Staaten ist der ideologische Konsens die Quelle des politischen Konflikts, Polarisierung entsteht eher über moralische Probleme als über ökonomische Sachverhalte, und die Politik der Interessengruppen wird ergänzt und manchmal ersetzt durch die Politik der moralischen Reform. Amerika wurden Klassenkonflikte erspart, um dafür moralische Konvulsion zu erleben. Es ist genau die zentrale Rolle der moralischen Leidenschaft, welche amerikanische Politik von der Politik der meisten anderen Länder unterscheidet, und ist dieser besondere Zug, der für Ausländer die größten Verständigungsschwierigkeiten bereitet.“

Dip hier geschilderte Grundstruktur der die amerikanische politische Kultur kennzeichnenden Bewußtseins-und Symbolwelt läßt sich mit Hilfe der in Deutschland — allerdings in anderem Zusammenhang — entwickelten Begriffe von wertkonservativ und strukturkonservativ verdeutlichen, wenn man davon ausgeht, daß unter den amerikanischen Bedingungen Wert-und Strukturkonservatismus in einem spezifischen geschichtlichen Verhältnis zueinanderstehen. Schon von den revolutionären Anfängen her hat die amerikanische Selbstdeutung eine prinzipiell wertkonservative Prägung, die sich durch die Bindung an die Ordnung der Väter verfestigte. Wie schon die wertkonservativ motivierte Revolution der Väter durch die politische und in gewissem Sinne auch soziale Umgestaltung der Gesellschaft in der republikanischen Ordnungsform die gesellschaftliche Wirklichkeit mit ihren metahistorischen Prinzipien in Einklang zu bringen suchte, so setzt sich dieser wertkonservative Impuls in den reformpolitischen Projekten zur Überwindung des Widerspruchs von Norm und sozialem Status quo fort: die Demokratisierung der neuen Nation in der Jacksonian Revolution in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Versuche zur Bändigung der politischen Macht der Großindustrie und die Einführung der sozialen Sicherung in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts bis hin zur Bürgerrechtspoli-tik und Rassenintegration in den vergangenen Jahrzehnten — stets handelte es sich darum, die gesellschaftliche Praxis und die Institutionen der Republik in Übereinstimmung mit den Prinzipien und Glaubenssätzen des Amerikanischen Credo zu bringen. Umgekehrt aber sinkt in Zeiten der Stabilität, der „normalen“ Politik der Macht und Interessendurchsetzung das ethisch-politische Motiv gleichsam unter die gesellschaftliche Bewußtseinsschwelle ab. Ein durch den fundamentalen wert-konservativen Konsens abgedeckter Strukturkonservatismus tritt an dessen Stelle. Das jeweilige besitzindividualistische Interesse mächtiger Gesellschaftsgruppen an der Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Status quo dominiert. Der Widerspruch zwischen Norm und Wirklichkeit wird zynisch oder apathisch akzeptiert. Da die auf diese Weise praktizierte kognitive Dissonanz jedoch schwer erträglich ist, wird der Strukturkonservatismus mit einer Haltung der Selbstzufriedenheit unterfüttert, die alle Widersprüche minimiert oder verdrängt. Meldet sich das wertkonservative Gewissen, so entwickelt sich die Selbstzufriedenheit zu jener „patriotischen Scheinheiligkeit“, die die Widersprüche leugnet und die vorhandenen Sozialzustände affirmativ für die Verwirklichung der normativen Postulate des Amerikanismus ausgibt. Eine solche, der handgreiflichen Erfahrung widersprechende Identifizierung von Ideal und Wirklichkeit fordert notwendig die wertkonservative Kritik am Strukturkonservatismus heraus und führt zu dessen moralischer Denunziation, die das Ideal gegen die Wirklichkeit ausspielt. Für Huntington sind die hier angeführten Antworten auf die Herausforderung der nationalen kognitiven Dissonanz jeweils Gradmesser der Intensität der creedal passion. Sie seien zwar in unterschiedlicher Weise stets präsent, doch treten sie jeweils in einer bestimmbaren Abfolge als dominantes Element der amerikanischen Politik auf. Dies verleihe, so Huntington, der amerikanischen politischen Kultur eine logische Dynamik sich wechselseitig ablösender Antworten auf die normativen Ansprüche der Ordnung

V.

Der geschichtliche Erfahrungs-und Ideenkomplex, aus dem der Amerikanismus hervorwächst, bedarf in unserem Zusammenhang keiner eigenständigen geistes-und sozialgeschichtlichen Darstellung Die im Amerikanismus wirksamen Traditionsbestände sind nur insoweit zu skizzieren, als sie sich gefiltert durch eine zweihunderjährige Geschichte im modernen amerikanischen Selbstverständnis widerspiegeln. Da die koloniale Gesellschaft von vornherein ein gesellschaftliches und kulturelles Fragment des altständisch-hierarchischen Englands war, ging auch die Rezeption und Akkulturation der Denk-, Rechts-und Verfassungstraditionen selektiv vor sich. Die westlichen Grundideen der stoisch-christlichen Gleichheit vor Gott, des stoisch-christlichen Naturrechts und des mittelalterlichen englischen Rechts-und Verfassungsdenkens gewannen geschichtliche Gestalt in einer Synthese der radikalprotestantisch biblizistischen Konzeption eines neuen Gottesvolkes mit der auf den Bürgerhumanismus der Renaissance zurückgehenden neoklassischen Idee der durch Recht und gemeinsamen Nutzen geeinten Bürgerschaft der res publica. Diese beiden für das in einer politischen Nation geeinte amerikanische Volk konstitutiven Komponenten des spezifisch amerikanischen Begriffs der Republik widersprachen keineswegs der neueren Tradition der naturrechtlichen Vertragslehre, begründete doch diese nur die wechselseitige Verpflichtung, welche die Bürger in der gemeinsamen neuen revolutionären Ordnung eingingen, so wie einst die radikalprotestantischen Einwanderer Neu-englands ihre Gemeinwesen auf einem Vertrag untereinander und mit Gott im Sinne der calvinistisehen Bundestheologie begründet hatten. Diese Mischung radikalprotestantischer und neoklassischer Elemente in dem bürgerzentrierten republikanischen Ordnungsparadigma erhielt ein zusätzliches dynamisches Moment durch die Aufnahme der Vorstellung vom zivilisatorischen Fortschritt in der Geschichte. Dieser Gedanke ließ sich unschwer mit der Verheißung eines prosperierenden Neuen Jerusalems in der neuen Welt verbinden. Darüber hinaus ließ sich hierdurch das aus der Antike überkommene Vorurteil widerlegen, daß eine Republik ein in sich homogener ökonomisch autarker Kleinstaat tugendhafter Ackerbürger sein müsse.

Der revidierte amerikanische Republikanismus konzipierte den nationalen Verfassungsstaat auf eine staats-und ständelose großräumige, volksreiche und von zivilisatorischer Dynamik erfüllte Gell Seilschaft freier und gleicher grundbesitzender, handel-und gewerbetreibender (weißer) Bürger hin. Dieser Republikanismus hielt an dem von Bürgervernunft und Bürgertugend getragenen Gemeinschaftsethos als anthropologischer Prämisse republikanischer Selbstregierung fest. Er fügte aber das puritanische Arbeitsethos, den wirtschaftlichen Unternehmensgeist sowie das Prinzip der Eigenverantwortlichkeit dem Tugendkatalog hinzu. Auch am zentralen sozio-ökonomischen Wert einer auf der freien Verfügung von Eigentum beruhenden republikanischen Mittelstandsgesellschaft wurde nicht gerüttelt. Der hierin angelegte und bis heute wirksame Widerspruch zwischen dem existentiell-politischen Bürger der Republik und dem besitzindividualistisch motivierten Wirtschaftsbürger sollte durch die sorgfältig konstruierte Architektonik des politischen Institutionengefüges reguliert und dem Primat der öffentlichen Vernunft und Tugend unterworfen werden. Der Religion, darüber war sich die revolutionäre Generation einig, kam unter dem Gesichtspunkt der universalen Verbindlichkeit des Republikanismus eine entscheidende Rolle in der Gewährleistung des republikanischen Bürgerethos zu. Dies ergab sich schon aus der überragenden Bedeutung der Bibel für den Seelenhaushalt der jungen Nation Die Gründungsväter verstanden sich als Christen, wenn auch oft von höchst unorthodoxem Bekenntnis. Die geistlich-kulturelle Lebenswirklichkeit wurde durch die bunte Vielfalt sich selbst organisierender christlicher Glaubensgemeinschaften bestimmt. Die Idee der Freiheit des sich selbstbestimmenden Bürgers war unteilbar. Der politischen und wirtschaftlichen Freiheit entsprach notwendig die Glaubensfreiheit. Folgerichtig gehörte zum republikanischen Konsens die Absage an jede Institutionalisierung eines christlichen Bekenntnisses nach alteuropäischem Zuschnitt.

Der antihierarchische, antiinstitutionelle und antidogmatische Affekt des vorherrschenden Bibelchristentums wirkte allen staatskirchlichen Tendenzen entgegen und erfaßte auch den Anglikanismus, schließlich sogar den Katholizismus. „Die Amerikaner verschmelzen in ihrem Denken Christentum und Freiheit so vollkommen, daß man sie fast unmöglich dazu bringt, dieses ohne jenes zu denken, und es handelt sich bei ihnen nicht um eine jener Glaubenshaltungen, die die Vergangenheit der Gegenwart vererbt, und die in der Tiefe der Seele weniger zu leben als dahinzusiechen scheinen.“ Die Vorkämpfer einer christlichen Republik waren — wie auch heute ihre Nachkommen der Neuen Christlichen Rechten — eine Minderheit. Religion aber als eine alle Glaubensrichtungen und -gruppierungen einigende Haltung der Anerkennung und Verehrung eines universalen transzendenten Gottes war für diese Republikaner — ganz im römisch-politischen Sinn — selbstevidente normative Voraussetzung ihrer naturrechtlich eingebundenen Ordnung. Das Gegenteil von Religion war für die Gründer der gesellschaftlich destruktive Atheismus: Religion vermittelt ein für das Prinzip der republikanischen Selbstregierung unabdingbares Maß des Menschlichen. „Wir haben keine Regierung“ erklärt der Vizepräsident John Adams 1789, „deren Macht ausreiche, um mit den menschlichen Leidenschaften fertig zu werden, wenn diese nicht durch Moralität und Religion gezügelt werden. Unsere Verfassung ist für ein moralisches und religiöses Volk gemacht. Sie ist für jedes andere völlig ungeeignet.“ Jeffersons Antrittsrede als Präsident schließt seine Aufzählung der Segnungen, welche das Glück und die Prosperität des amerikanischen Volkes verbürgen mit der Religion: „Erleuchtet durch eine gütige Religion, die in verschiedenen Formen bekannt und tatsächlich praktiziert wird, deren jede Anstand, Wahrheit, Mäßigung, Dankbarkeit und Menschenliebe einimpft, welche die allmächtige Vorsehung anerkennt und anbetet, die durch all ihre Fügungen beweist, daß sie ihr Wohlgefallen hat an der Glückseligkeit des Menschen jetzt und seiner größeren Glückseligkeit im zukünftigen Leben.“

Dieser politisch gestimmte Transzendenzbezug gehörte von Washington bis zu Bush zum symbolischen Kernbestand politischer Rhetorik. Deren psycho-soziale Wirkung aber verdankt sich einer trotz vielfacher Säkularisierungsschübe bis in die Gegenwart hinein ungebrochenen Lebendigkeit religiöser Spiritualität in den USA. Halten doch nach wie vor 86 Prozent der Amerikaner in ihrem persönlichen Leben die Religion für wichtig, 94 Prozent glauben an Gott und 71 Prozent an ein Leben nach dem Tod Hinter solchen Umfrageergebnissen steht die unüberschaubar bunte Mannigfaltigkeit eines von der traditionellen Orthodoxie bis zum modernistischen Okkultismus reichenden religiösen Gemeinschaftserlebens. Wenngleich in der Frühzeit der Republik dem protestantischen Element im Vergleich zu heute sicher eine größere Bedeutung zukam, so scheint sich doch — vorsichtig ausgedrückt — ein gewisser Sinn für religiöse Erfahrungen so weit erhalten zu haben, daß religiös-politische Ordnungssymbole nach wie vor auf gesellschaftliche Resonanz stoßen.

Die Überzeugung von der politischen Funktion der Religion ist natürlich keine amerikanische Besonderheit, wohl aber die Auffassung, daß die strikte Trennung von Staatsgewalt und Kirche hiermit vereinbar und sogar Voraussetzung hierfür sei. Weiterhin war es bedeutungsvoll, daß sich die Elite der Gründer und das Volk in dieser Meinung einig waren. „Ich weiß nicht,“ bemerkte Tocqueville, „ob alle Amerikaner an ihre Religion glauben, denn wer kann in den Herzen lesen? Ich bin aber sicher, daß sie sie zur Erhaltung der republikanischen Einrichtungen für nötig halten. Diese Meinung ist nicht die einer Bürgerklasse oder einer Partei, sondern die des ganzen Volkes; man begegnet ihr in allen Schichten.“ In der Verschränkung dieses letztgenannten funktionalen Momentes mit der Vorstellung, daß die Ordnungsgehalte des Republikanismus und deren rechtliche Normierung wie institutionelle Konkretisierung in den neuen Einzelstaatsverfassungen und schließlich in der Bundesverfassung insgesamt eine Fügung der göttlichen Vorsehung sei, liegt der Ursprung der für den zivilreligiösen Nexus von Gründung und Ordnung charakteristischen Sakralisierung der Schlüsseldokumente und -Symbole des väterlichen Ordnungswissens — dies lag schon in der Absicht der Väter der Republik. So führte Jefferson in der genannten Inauguralrede aus, daß „die Klugheit unserer Weisen und das Blut unserer Heroen“ der Verwirklichung der Grundprinzipien der republikanischen Ordnung geweiht waren, und er fährt fort: Diese „sollten das Credo unseres politischen Glaubens, der Text der staatsbürgerlichen Erziehung [und] der Prüfstein sein für die Dienste jener, in die wir unser Vertrauen setzen“. Der republikanische Konsens artikulierte einen gemeinsamen Fundus ethisch-politischer Ideen, eine gemeinsame politisch-religiöse Symbolik, welchen ein kollektives politisches Handeln entsprang. In seinem regionalen und sozialen Variantenreichtum hinreichend flexibel für den komplexen Prozeß der Nationwerdung, verschmolz das republikanische Ordnungsparadigma die mannigfaltigen Traditionselemente in einem nationalen Symbolismus, der gleichsam den gemeinsamen Nenner der amerikanischen Seelenordnung darstellte.

Mit der bewußten Überführung einer unter spezifischen historischen Bedingungen formulierten Ordnungsinterpretation in eine gesellschaftlich verbindliche dogmatische Ordnungssymbolik mit metaphysischem Geltungsanspruch liegt das Geheimnis der Entstehung des Amerikanischen Credo. Dessen politisches Minimaldogma kann sogar auf einen einzigen Glaubenssatz verkürzt werden, wie dies im täglichen patriotischen Ritual des Treuegelöbnisses (Pledge of Allegiance) in amerikanischen Schulen geschieht. Der Fahne zugewandt und die Hand am Herzen geloben die Versammelten: „I pledge allegiance to the flag of the United States of America, and to the Republic for which it Stands: one Nation, under God, indivisible with liberty and justice for all.“ Um diesen Kernsatz kristallisiert sich die politische Dogmatik, welche ihrerseits wieder eingebettet ist in den umfassenden symbolischen Kosmos des Amerikanismus als einer die gesamte gesellschaftliche Existenz durchdringenden Interpretation des Menschen in Gesellschaft und Geschichte mit universalem Anspruch. Zwar können wir die Schlüsseldoktrin mit dem Amerikanischen Credo im engeren Sinne identifizieren, der Geltungsanspruch des Amerikanischen Credo muß jedoch ganz generell aus dem bis zum heutigen Tage lebendigen heilsgeschichtlichen Zug des Amerikanismus abgeleitet werden. Er entstammt der Übertragung der puritanischen heilsgeschichtlichen Deutung der kolonialen Frühgeschichte auf die Nationalgeschichte in Verbindung mit der uns bereits bekannten systematischen Heroisierung allerpersonae dramatis, insbesondere aber der Gründungsväter. Diese „monumentalische“ Nationalgeschichte liegt jedem Diskurs der geschichtlichen Selbstverständigung zugrunde; sie ist in den theatralischen Inszenierungen der Marksteine der Vergangenheit allgegenwärtig.

Um aber gängige Mißdeutungen auszuschließen, bedarf es noch einer kurzen Erläuterung: Die Geschichte wird, trotz gelegentlicher chiliastischer Tendenzen, nicht als ein innerweltlicher Prozeß in Richtung auf ein irgendwie geartetes irdisches Paradies betrachtet. Die Nation ist nur „almost chosen“, nur fast erwählt, sagt Lincoln. Die radikalprotestantische und die bürgerhumanistische Politik stimmen in der Auffassung von der Hinfälligkeit des Menschen überein; wohl aber hat mit dem amerikanischen Experiment der Selbstregierung des Menschen die Vorsehung ein Beispiel für die ganze Menschheit gesetzt. (Aus der politischen Instrumentalisierung dieser Idee erklärt sich der bis heute wirksame imperiale Missionarismus amerikanischer Außenpolitik.) Aber die Fehlbarkeit des Menschen versagt ihm jede Erlösung im Diesseits. Es ist ein stetes Ringen um die Verwirklichung der Ordnung, in dem Bewährung und Scheitern nahe beieinander liegen. So gewinnt das wechselseitige Verhältnis von Wert-und Strukturkonservatismus eine heils13 geschichtliche Dimension, auch dort, wo man sich einer säkularisierten Sprache bedient. Insofern ein letztes Urteil über Bewährung und Versagen des amerikanischen Gottesvolkes — wenn überhaupt — nur einer überirdischen göttlichen Instanz zukommt und das Objekt eines solchen Urteils nur das sich selbst bestimmende freie Individuum sein kann, liefert die heilsgeschichtliche Sinngebung der amerikanischen Politik zugleich deren Grenze. Ein letztes innerweltliches Ziel der Geschichte, von dem her die gesamte Existenz der Menschen zwangsweise hätte politisiert werden können, gibt es nicht. Politik ist der Bereich des Vorletzten. Ideen-und Verfassungspolitik wirken in der politischen Kultur dahingehend zusammen, daß der „republikanische Mensch und Bürger“ den letzten Sinn seines Lebens aus einer unantastbaren geistig-religiösen Freiheitssphäre jenseits der Politik gewinnt. Diese im Amerikanismus stets präsente Freiheitssphäre ist nicht politikfern, sondern allgemein akzeptierte Prämisse der Politik republikanischer Selbstregierung im Verfassungsstaat. Diesen Sachverhalt trifft Robert N. Bellah, der den Terminus Zivilreligion in die neuere Diskussion über den Amerikanismus eingeführt hat, wenn er feststellt: „Obwohl die Angelegenheit des persönlichen religiösen Glaubens, des Kultes und der Kirchenzugehörigkeit als eine strikt private Angelegenheit betrachtet werden, gibt es gleichzeitig gewisse gemeinsame Elemente der religiösen Orientierung, welche die Mehrzahl der Amerikaner teilen. Diese spielten eine entscheidende Rolle in der Entwicklung der amerikanischen Institutionen und liefern dem Strukturgefüge des amerikanischen Lebens einschließlich der politischen Sphäre immer noch eine religiöse Dimension. Zivilreligion ... ist die genuine Erkenntnis einer universalen und transzendenten religiösen Realität, wie sie in der Erfahrung des amerikanischen Volkes wahrgenommen, oder man könnte sogar sagen, geoffenbart wird.“ Im Unterschied zu anderen Erscheinungsformen der religiösen Erfahrung ist diese Erfahrung politisch vermittelt, weil sie im sozialen Mythos von Gründung und Ordnung ihren Ausdruck findet.

VI.

Der Aufstieg der Bundesverfassung in den Rang eines kanonischen Textes erfolgte erst im Laufe des 19. Jahrhunderts. In der Frühzeit der Republik wurde die instrumentale Funktion der Verfassung stärker betont als ihre symbolische Funktion, um auf die von E. S. Corwin getroffene Unterscheidung zurückzugreifen. Als Instrument fixiert die Verfassung die Grundstruktur des politischen Institutionengefüges, normiert und reguliert sie den politischen Prozeß. Nur in dieser Hinsicht ist sie dem geschichtlichen Wandel unterworfen und dem Zugriff von gesellschaftlichen Interessen-und Machtgruppen ausgeliefert, bald Instrument der politisch-gesellschaftlichen Reform, bald auch der Gegenreform. Erst um 1850 gerinnt in der expandierenden Republik die Verfassung zum Symbol der Einheit der Nation. „Das Instrument“, schreibt Michael Kämmen in seiner Untersuchung der Rolle der Verfassung in der amerikanischen Kultur, „wird schließlich ein Symbol, eines, das die Gesellschaft als kulturell bestimmend betrachtete.“

Schon 1838 hatte aber Abraham Lincoln die Verfassung in das politische Credo aufgenommen: „die Verehrung der Gesetze und der Verfassung“ möge die „politische Religion der Nation“ werden Doch bevor die Verfassung als Symbol der im politischen Credo formulierten Vision einer durch das unwandelbare Gesetz verbürgten politischen Ordnungsform begriffen werden konnte, mußte sie ihren Charakter als widerrufbarer Sozialvertrag zwischen den Staaten und die damit gegebene Legitimierung der südstaatlichen Sklaverei verlieren. Erst nachdem Lincoln im Bürgerkrieg den politischen Primat der Bundesverfassung durchgesetzt hatte, konnte sie Symbol der einen und unteilbaren Nation und zum ethisch-politischen Fixstern einer dynamischen, demokratischen und kapitalistischen Industriegesellschaft werden. Der neuen symbolischen Funktion der Bundesverfassung entsprach die Erhebung des Supreme Court zum integralen Bestandteil des öffentlichen Symbolismus, nicht zuletzt aufgrund seines Rechtes auf die autoritative Interpretation der Verfassung. „Wir haben unsere Auffassung vom endgültigen und zeitlosen Charakter der Verfassung auf die Richter übertragen, welche sie auslegen. Aus dem Bild der Verfassung als der elementaren Weisheit der politischen Ordnung ergibt sich der Glaube an die Außergewöhnlichkeit der richterlichen Inspiration.“ Natürlich unterliegt auch das Oberste Gericht und die jeweilige Verfassungsinterpretation der politischen Instrumentalisierung, wie etwa auch durch die Bestellung der Richter belegt wird. Doch dies beeinträchtigt die Autorität der Hüter der Verfassungsordnung nicht unbedingt: Sie leitet sich nämlich nicht zuletzt aus der Fiktion ab, daß die Richter Repräsentanten eines höheren, der Politik übergeordneten Rechtes sind, so daß der unbezweifelbar politische Charakter der Institution in den Hintergrund tritt. Sowohl das traditionsgeleitete Selbstverständnis der Obersten Richter wie auch das vom Senat durchgeführte Prüfungsverfahren hält jenen Mittelweg in der Frage der politischen Qualität der Richter ein, den Theodor Roosevelt 1902 wie folgt beschrieben hat: „Im gewöhnlichen und schlechten Sinn, dem wir den Worten . Parteigänger und , Politiker beilegen, sollte ein Richter weder das eine noch das andere sein. Im höheren, eigentlichen Sinne eignet er sich meinem Urteil nach aber nicht für die Position, wenn er nicht Parteimann, ein konstruktiver Staatsmann ist, der stets an die Befolgung der Prinzipien und politischen Praxis denkt, welche diese Nation entwickelt hat und gemäß denen sie voranschreiten muß.“

Im Zusammenspiel von Verfassungskult und höchstrichterlicher Verfassungsinterpretation wirkt sich heute in erster Linie die identitätsstiftende Kraft des politischen Credo aus. Der Ordnungsgehalt der Bürgerkultur ist derart mit dem Verfassungssymbol verschmolzen, daß das politische Credo die Gestalt eines constitutional creed, eines Verfassungsglaubens, annimmt. Als die Abgeordnete Barbara Jordan ihre Stimme für die Absetzung Nixons abgab, erklärte sie: „Mein Glauben (faith) in die Verfassung ist umfassend, er ist vollständig und er ist total, und ich werde nicht hier sitzen und eine im Angesicht der Geringschätzung, der Unterhöhlung der Verfassung untätige Zuschauerin sein.“ Das ist ganz im Sinne von Lincolns „politischer Religion“. Umgekehrt war der eigentliche Grund für den Sturz Richard Nixons und die damit einhergehende tiefe moralische Erschütterung der Nation in den Worten Theodore H. Whites ein „breach of faith“, was sowohl den Vertrauensbruch wie auch den darin implizierten Verstoß gegen den „Glauben der Nation“ meint. Er zerstörte den fundamentalen Mythos der Nation, daß sie unter der Herrschaft des Gesetzes stehe und „daß es zumindest einen Menschen gibt, der für das Gesetz steht, nämlich den Präsidenten“ als den „priesterlichen Hüter dieses Glaubens“

So ist es nicht verwunderlich, daß im Gefolge von Watergate in den siebziger Jahren Umfragen einen dramatischen Vertrauensverlust für die politische Führung und die politischen Institutionen registrierten. Hinsichtlich des Ausmaßes gibt es — wohl fragebedingt — Unterschiede unter den Umfragen; zudem muß daran erinnert werden, daß in den vorhergehenden Jahrzehnten die Bevölkerung ein geradezu unamerikanisch hohes Vertrauen in ihre Politiker gesetzt hatte. Ungeachtet all dessen berührte diese Krise nicht die enge Bindung an Gemeinwesen und Regime. Über 80 Prozent der Amerikaner — unvergleichlich viel mehr als in den anderen westlichen Demokratien — bekannten sich mit Stolz zu ihrer Nation und ihrem politischen System Dieser ungebrochene Verfassungsglaube erklärt sich aus der unmittelbaren Erfahrung einer das gesamte gesellschaftliche Leben durchformenden Verfassungspraxis und der hierdurch gegebenen eigentümlichen Rechtskultur des amerikanischen Alltagslebens. Die Leitidee der republikanischen Selbstregierung und deren Institutionalisierung in einem machtminimierenden System der horizontalen und vertikalen Gewaltenteilung und -Verschränkung ist nicht auf die abgehobene politische Welt Washingtons begrenzt, sondern basiert auf einer kaum beschreibbaren Vielfalt der 80 000 „kleinen Regime“, beginnend auf der Ebene, von Spezial-und Schuldistrikten über townships und district municipalities bis hin zu den 50 Einzelstaaten. So baut sich das Verfassungsleben der amerikanischen Bürgerkultur von der Lokalpolitik her auf. Mehr noch: Diese Bürgerkultur schließt das soziale Leben mit ein. Die Ausarbeitung von Verfassungen für die unterschiedlichsten Zwecke des Gemeinschaftslebens und die Verfassungspraxis ist den Amerikanern gleichsam zur zweiten Natur geworden. Diese allgegenwärtige Praxis demokratischer Verfahrensweisen in den öffentlichen und privaten Angelegenheiten hat stets ihre normative Ausrichtung an den regulativen Prinzipien der Bundesverfassung. Von Kindesbeinen an eingeübt, wird von der großen Mehrheit Konstitutionalismus gewohnheitsmäßig praktiziert, wo immer soziale Interaktion stattfindet: Kindergarten, Schule, Elternvereinigung, Pfadfinder, Studentenverbindung, Kirchengemeinde, Loge, Veteranenverein, Wohltätigkeitsverein oder ad-hoc gebildete Bürgerinitiative, nicht zu reden von, im engeren Sinne, politischen Organisationen. Zwar werden in der Regel Verfassungsprobleme und die Verfassung als solche in der im modernen Amerika wichtigen Instanz für die Bewußtseins-und Symbolprägung, dem Fernsehen, nicht besonders thematisiert, doch zeigt die (vornehmlich) lokale und nationale Berichterstattung notwendigerweise dem Zuschauer, wie weitgehend politische Vorgänge mit Verfassungsproblemen verquickt sind. Darüber hinaus aber wird über Unterhaltungsserien wie die beliebten „courtroom dramas“ ein konkreter Anschauungsunterricht über die verfassungsmäßigen Rechte und Rechtsverfahren geliefert.

Verfassungskult und Verfassungsglaube sind offensichtlich auch vereinbar mit einer weit verbreiteten Unkenntnis der konkreten Inhalte der Bundes-und jeweiligen Einzelstaatsverfassung und einem hohen Grad an politischer Apathie. Trotzdem sagen uns Befunde, daß aus der sozialen Wirksamkeit des Amerikanischen Credo ein, wie Kämmen das nennt, „kultureller Konstitutionalismus“ resultiert. Zu Recht macht er darauf aufmerksam, daß dieser Konstitutionalismus die Verfassung als Symbol lebendig und als Instrument funktionsfähig hält So erklärt sich auch, warum Ergänzungen der Verfassung auf wenige Fälle beschränkt blieben: Von 10 124 Ergänzungsvorschlägen wurden 16 angenommen (nachdem 1791 die zehn Ergänzungen als Bill of Rights angefügt worden waren). Die in der Verfassung vorgesehene Möglichkeit eines Verfassungskonventes wurde noch niemals wahrgenommen. Eine Teil-oder Totalrevision wurde und wird diskutiert — ist aber wohl bis auf weiteres nicht zu erwarten. Gewiß hat sich der Konstitutionalismus mit der Gesellschaft gewandelt, aber der Wandel ist selbst wieder Ausdruck der reformerischen Potentiale des Amerikanischen Credo. Die schweren, wandlungsbedingten gesellschaftlichen Konflikte konnten mit einer Ausnahme konstitutionell gelöst werden. Das „Grundmuster des amerikanischen Konstitutionalismus ist eines des Konfliktes innerhalb des Konsenses“

Der Primat der traditionsgeleiteten Prinzipien des republikanischen Ordnungsparadigmas im modernen amerikanischen Gesellschaftsleben prägt auch die soziale Dimension der politischen Kultur. Das auf der Idee des freien Unternehmertums beruhende Wirtschaftssystem war stets integrales Element des Amerikanismus. Kapitalistisches Wirtschaftssystem und Privateigentum werden von über 80 Prozent der Bevölkerung für die Voraussetzung eines freiheitlichen Regierungssystems gehalten. Noch zwei Drittel der Befragten, wenn auch nicht der ethnischen Minorität, halten das Wirtschaftssystem für fair und effizient und sind überzeugt, daß es die Chancengleichheit gewährleistet. Nahezu 90 Prozent widersprechen der Meinung, daß das Privateigentum eine Gefahr für die Freiheit darstelle Dem entspricht auch die Hochschätzung der Arbeitsethik (75 Prozent), der Pflichterfüllung (78 Prozent), des sozialen Aufstieges (74 Prozent) und des Wettbewerbs (88 Prozent) Ehrlichen Erwerb eines hohen Einkommens und Aneignung von Profiten halten 95 Prozent für gerechtfertigt Zwischen 85 Prozent und 95 Prozent halten mangelnde Sparsamkeit, fehlenden Fleiß oder fehlende Fähigkeiten für die Ursachen von Armut Während also die in der Selbstregierung verankerte politische Freiheit eine politische und rechtliche Ungleichheit ausschließt, erlaubt die im Prinzip der sozialen Eigenverantwortung verankerte sozioökonomische Freiheit ein erhebliches Maß an sozialer Ungleichheit, da nur die Gleichheit der Chancen gesichert sein müsse.

Geschichtlichen Wandlungen unterworfen ist allerdings das wechselseitige verfassungspolitisch definierte Verhältnis von beiden bürgerlichen Freiheitstypen. Tendenziell werden heute die politischen Standards der Gleichheit zunehmend in der gesellschaftlichen Sphäre durchgesetzt, wo immer die Entfaltung des Individuums und eines individuellen Lebensstils aus Gründen der ethnischen oder nationalen Herkunft, des Geschlechtes oder der Religion durch soziale Schranken beeinträchtigt wird. Die allgemeine Akzeptanz einer freien, auf Privateigentum beruhenden Marktwirtschaft hatte stets dort einen kritischen Punkt erreicht, wo die Dynamik des Laissez-Faire-Kapitalismus mit dem demokratischen Prinzip des republikanischen Paradigmas in Widerspruch geriet. Zu Ende des 19. Jahrhunderts stieß die republikanische Verheißung eines politisch und ökonomisch selbstbestimmten Lebens des common man in einer freien Gesellschaft, in der jeder nach seinen Fähigkeiten sein politisches und soziales Glück machen könne, an ihre durch politische und ökonomische Macht-konzentration gezogenen Grenzen. Hieraus resultierte ein starkes Mißtrauen gegen die Wirtschaftsmächte und insbesondere gegen die übergroße Macht des big business. Gegen den Mißbrauch wirtschaftlicher Macht und deren soziale Folgekosten wandten sich die großen Reformprogramme des 20. Jahrhunderts, welche die Bundesgewalt zur Kontrolle und Regulierung der wirtschaftlichen Machtkonzentration ermächtigten, und welche schließlich eine staatsinterventionistische Wirtschafts-und Sozialpolitik erlaubten. Bei aller Skepsis jedoch, die dem ungezähmten Kapitalismus entgegengebracht wird, zieht die öffentliche Meinung eine private Organisation der Wirtschaft vor, „wenn nicht . . . private Mechanismen versagen und öffentliche Maßnahmen die einzige Alternative zu sein scheinen“ -Allerdings: Die Befürwortung einer staatsinterventionistischen Politik, so führen Lipset und Schneider aus, ist keine Entscheidung für eine staatlich gelenkte Wirtschaft. Denn nach wie vor halten sich Amerikaner den Prinzipien einer freien Marktwirtschaft verpflichtet. Sie unterstützen jedoch eine staatliche Regulierung des Wirtschaftslebens, weil sie zunehmend betroffen sind vom „staatsbürgerlichen Versagen“ (bad citizenship) der Wirtschaft, und fürchten dabei die steigenden sozialen Kosten traditioneller Wirtschaftspraxis. „Regulierung zielt darauf, die Mißbräuche abzustellen, nicht aber darauf, den Leuten zu sagen, wie sie ihre eigenen Angelegenheiten regeln sollen.“ So steht auch die Sozialpolitik immer unter dem Vorzeichen der „Hilfe zur Selbsthilfe“. Öffentliche Unterstützung für diejenigen, die unverschuldet in Not geraten, nicht aber eine staatliche Politik der Egalisierung der sozialen Lebensverhältnisse, wird mehrheitlich bejaht. Die Vorherrschaft der Prinzipien der Selbständigkeit und Eigenverantwortung bestimmt Inhalt wie Grenzen aller staatlichen Sozialpolitik in der amerikanischen politischen Kultur — auch und weil sich der amerikanische Bürger als Steuerzahler versteht, der hierfür aufzukommen hat.

So zeigt sich, wo immer es um staatliche Eingriffe in das soziale und wirtschaftliche Leben geht, eine eigentümliche Ambivalenz des öffentlichen Bewußtseins, hinter welcher die latente Furcht vor der Entmachtung des Bürgers steht. Obwohl auch in den USA dem Bundesstaat und insbesondere dem Präsidenten eine politische Verantwortung für die soziale und ökonomische Prosperität der Nation zugewachsen ist, steht der Bürger der mit dem wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus verbundenen Herausbildung eines zentralisierten und bürokratisierten Staatsapparates mit höchstem Mißtrauen gegenüber. Diese Abneigung gegen big government hat die Entstehung einer etatistischen Tradition mit entsprechenden administrativen Strukturen in der politischen Kultur verhindert; überall dort, wo wie beispielsweise in den Großstädten die Instrumente der Selbsregierung versagen, führte dies zu eigentümlichen, dem Betrachter anomisch erscheinenden Verhältnissen.

Das im republikanischen Ordnungsparadigma verankerte Amerikanische Credo kannte weder den konzernkapitalistischen Großbetrieb der modernen Wirtschaftsgesellschaft noch den modernen bürokratischen Staat. Die Verfassung als Schlüsselsymbol der amerikanischen Gemeinschaftsidee schloß den Staat als Kristallisationskern der nationalen Identität aus. Eine Legitimierung der Politik aus der „europäischen Idee“ der Staatsraison galt und gilt als „das übelbeleumdete Gegenstück zur amerikanischen Tradition des Liberalismus, Konstitutionalismus und der natürlichen Rechte“ Der Grundsatz des englischen Parteigängers der amerikanischen Revolution. Thomas Paine, ist nach wie vor gültig: Diejenige Regierung sei die beste, die am wenigsten regiere. „Amerikanische liberale und demokratische Ideen bilden eine dauernde und mächtige Anklage fast aller politischer Institutionen . . . Kein Regime kann existieren ohne ein gewisses Maß an Hierarchie, Ungleichheit, willkürlicher Machtausübung, Geheimhaltung, Täuschung und festen Mustern von Über-und Unterordnung. Das Amerikanische Credo bestreitet jedoch die Legitimität all dieser Charakteristika von Herrschaft. Seine Ideen widersprechen der Natur politischer Herrschaft im allgemeinen und sie widersprechen der Natur des hochbürokratisierten und zentralisierten modernen Regime.“ Dieses Dilemma verschärft sich durch die Tatsache, daß mit diesem antistaatlichen Affekt die Vorstellung von der amerikanischen Rolle als Weltmacht kollidiert, welche naturgemäß die bundesstaatliche Machtakkumulation befördert hat.

VII.

Dieser dauernde Widerspruch zwischen dem bürgerzentrierten Ethos des Amerikanismus und der gesellschaftlichen Realität prägt die Zyklen der Politik in der amerikanischen politischen Kultur, in denen strukturkonservative Anpassung und wert-konservative Reform einander ablösen, was „einem steten Wechsel im nationalen Engagement zwischen öffentlicher Zielsetzung und privatem Interesse“, in den Worten Arthur M. Schlesingers, gleichkommt -Wenn auch der aufgeklärte Historiker in der Dialektik zwischen republikanischer Vision und pragmatischer Interessenpolitik nicht mehr das Wirken der göttlichen Vorsehung in der amerikanischen Geschichte sehen möchte, so besteht er doch auf der dogmatischen Geltung des hieraus abgeleiteten zivilreligiösen Grund-Satzes des amerikanischen Credo: „Doch haben wir einen bemerkenswerten Vorteil gegenüber den meisten Nationen behalten — einen gänzlich weltlichen

Vorteil, den uns jene sehr erstaunlichen Gründungsväter zuteil werden ließen. Denn sie vererbten uns Standards, nach welchen unser Weg zu bestimmen ist und unsere Leistungen zu beurteilen sind . . . Die Unabhängigkeitserklärung und die Verfassung setzen Ziele, enthalten Verpflichtungen und messen Versagen.“

Dieses Spannungsverhältnis von Norm und Wirklichkeit definiert „sowohl Agonie wie auch Verheißung der amerikanischen Politik. Wenn diese Spannung verschwindet, werden die Vereinigten Staaten von Amerika, wie wir sie kennen, nicht mehr länger existieren“ Der für die amerikanische politische Kultur konstitutive Zusammenhang von Gründung und Ordnung im öffentlichen Bewußtsein der Nation, so kann die Schlußfolgerung lauten, bedingt deren Existenz als handlungsfähige politische Einheit in der Geschichte.

Fussnoten

Fußnoten

  1. B. E. Shafer, Exceptionalism in American Politics?, in: Political Science and Politics, XXII (1989) 3, S. 588.

  2. A.de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika. München 19842. S. 492.

  3. Ebd., S. 459-462.

  4. J. C. Davies, Toward a Theory of Revolution, in: ders. (ed.), When Men Revolt and Why, New York 1971, S. 145.

  5. G. Myrdal, An American Dilemma, New York 1944, S. 3.

  6. Vgl. D. J. Devine, The Political Culture of the United States, Boston 1972, S. 58— 65; vgl. L. Hartz, The Liberal Tradition in America, New York 1955.

  7. S. P. Huntington, American Politics: The Promise of Disharmony, Cambridge 1981, S. 23— 25.

  8. Ebd., S. 159.

  9. P. Lösche, Amerika in Perspektive, Darmstadt 1989, S. 271.

  10. S. G. Mead. The Nation with the Soul of a Church, in: Church History. XXXVI (1964), S. 273.

  11. Ebd., S. 275.

  12. Vgl. D. Germino, The Inaugural Addresses of the American Presidents: The Public Philosophy and Rhetoric, Lantham 1984.

  13. A. Lincoln. Collected Works, ed. by R. P. Basler Vol. VII, New Brunswick 1953— 1955. S. 23.

  14. G. Bush, Inauguration Address vom 20. Januar 1989.

  15. G. Bush, Proclamation 6088 — Martin Luther King jr., Federal Holiday Proclamation vom 19. Januar 1990.

  16. M. L. King, Testament der Hoffnung, Gütersloh 1974, S. 124.

  17. Ders., A View from the Mountaintop, in: Newsweek vom 15. April 1968, S. 34-38.

  18. Vgl. J. D. Elder, Martin Luther King jr. and the American Civil Religion, in: Harvard Divinity School Bulletin 1— 3, Spring 1968.

  19. Vgl. G. Bush, Remarks at a Signing Ceremony for the Martin Luther King jr. Federal Holiday Proclamation vom 9. Januar 1990.

  20. E. J. Naveh, Crown of Thorns, New York 1990, S. 188 f.

  21. M. L. King, Letter from Birmingham Jail, in: St. Lynd (ed.), Non-Violence in America, Indianapolis 1965, S. 481.

  22. Ebd., S. 465.

  23. A. Lincoln (Anm. 13), Vol. I, S. 546f.

  24. Ebd., S. 406.

  25. H. Smith, The Powergame — How Washington Works, New York 1989, S. 713.

  26. F. D. Roosevelt, Public Papers and Addresses, Vol. I, New York 1938, S. 756.

  27. S. P. Huntington (Anm. 7), S. 12 f.

  28. Ebd., S. 11.

  29. Vgl. ebd., S. 64-70.

  30. Vgl. dazu G. S. Wood, The Creation of the American Republic 1776— 1787, New York 1967; J. Gebhardt. Die Krise des Amerikanismus. Revolutionäre Ordnung und gesellschaftliches Selbstverständnis in der amerikanischen Republik, Stuttgart 1976; G. Sandoz, A Government of Laws. Political Theory, Religion and American Founding, Baton Rouge 1990.

  31. Vgl. N. Hatch/M. A. Noll (eds.), Bible in America, New York 1982.

  32. A.de Tocqueville (Anm. 2), S. 339.

  33. J. Adams, Reply to the Massachusetts Militia, 1789, Adams Microfilm Reel 119.

  34. Th. Jefferson, First Inaugural Address, in: E. Dumbauld (ed.), Political Writings, New York 19563, S. 43; vgl. auch A. J. Reichley, Religion in American Public Life, Washington 1985.

  35. Vgl. Religion in America: 50 Years 1935— 1985, Gallup report no. 236, May 1985; W. C. Roof (ed.), Religion in America Today, The Annals of the American Academy and Social Science, Vol. 480, July 1985.

  36. A.de Tocqueville (Anm. 2). S. 339.

  37. R. N. Bellah, Civil Religion in America, in: Daedalus, 96 (1967), S. 3, 12; vgl. hierzu: C. Stout, The New Heavens and the New Earth. Political Religion in America, New York 1975; R. Schieder, Civil Religion, Gütersloh 1987; K. M. Kodalle (Hrsg.), Gott und Politik in Amerika, Frankfurt 1988.

  38. M. Kämmen, A Machine that Would Go by Itself. The Constitution in American Culture, New York 1987, S. 94.

  39. A. Lincoln (Anm. 13). Vol. I. S. 108.

  40. M. Lerner, Constitution and Court as Symbols, in: Yale Law Journal, 46 (1937), S. 1299; vgl. hierzu: J. Gebhardt, Verfassungspatriotismus in den USA, in: Akademie für Politische Bildung (Hrsg.), Zum Staatsverständnis der Gegenwart, München 1987, S. 111 — 130; S. Levinson, „The Constitution“ in American Civil Religion, in: The Supreme Court Review 1980, S. 123— 151; ders., Constitutional Faith, Princeton 1989; H. Vorländer, Forum Americanum. Kontinuität und Legitimität der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika 1787— 1987, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Bd. 36, 1987, S. 451— 488; ders., Verfassungsverehrung in Amerika, Zum konstitutionellen Symbolismus in den USA, in: Amerikastudien, 34 (1989) 1, S. 69-82.

  41. Zit. nach M. Kämmen (Anm. 39), S. 199f.

  42. Zit. nach S. Levinson, The Constitution (Anm. 41), S. 124.

  43. Th. H. White, Breach of Faith, New York 1975, S. 323, 339.

  44. Vgl. M. Lipset/W. Schneider, The Confidence Gap: Business, Labor and Government in the Public Mind, New York 1983.

  45. Vgl. M. Kämmen (Anm. 39), S. 5, 399f.

  46. Ebd., S. 29.

  47. Vgl. H. McClosky/J. Zaller, The American Ethos, Cambridge 1984, S. 133-143.

  48. Vgl. ebd., S. 188ff.

  49. Vgl. ebd., S. 120.

  50. Vgl. J. R. Kluegel/R. Smith, Beliefs about Inequality, New York 1986, S. 47.

  51. H. McClosky/J. Zaller (Anm. 47), S. 151.

  52. M. Lipset/W. Schneider (Anm. 45), S. 238.

  53. Vgl. K. L. Shell, Amerikanische Einstellungen zur Armut und sozialen Ungleichheit, in: D. Döring/R. Hauser (Hrsg.), Politische Kultur und Sozialpolitik, Frankfurt 1989, S. 9-24.

  54. S. P. Huntington (Anm. 7), S. 36.

  55. Ebd., S. 39.

  56. A. M. Schlesinger, The Cycles of American History, Boston 1986, S. 27.

  57. Ebd., S. 21.

  58. S. P. Huntington (Anm. 7), S. 261.

Weitere Inhalte

Jürgen Gebhardt, Dr. phil., geb. 1934; Studium der Politischen Wissenschaft, Geschichte und Germanistik in München, Berlin und Wien; Habilitation 1969; Ordinarius für Politische Wissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg. Veröffentlichungen u. a.: Politik und Eschatologie, München 1963; (Hrsg.) Die Revolution des Geistes, München 1968; (Hrsg.) James Harrington. Politische Schriften, München 1973; Die Krise des Amerikanismus, Stuttgart 1976; Aufsätze zur politischen Ideengeschichte und vergleichenden Politik.