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Die USA und der politische Wandel in Europa | APuZ 49/1990 | bpb.de

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APuZ 49/1990 Amerikanismus — Politische Kultur und Zivilreligion in den USA Zur Weltwirtschaftsstellung der USA Die USA und der politische Wandel in Europa

Die USA und der politische Wandel in Europa

Charles Weston

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die weltwirtschaftlichen und politischen Strukturveränderungen der vergangenen Jahre haben die Vereinigten Staaten zu einer Neuorientierung und damit zu einer neuen Rollendefinition — insbesondere im Ost-West-Verhältnis — gezwungen. Hinzu kommen seit Ende der achtziger Jahre grundlegende, zum Teil miteinander verknüpfte Wandlungsprozesse, die das Ost-West-Beziehungsmuster verändern: die wirtschaftliche und politische Strukturreform in der Sowjetunion, die demokratischen Reformprozesse in den kleineren Staaten Mittel-und Osteuropas, der Integrationsprozeß innerhalb der Europäischen Gemeinschaft und die Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Die Parallelität und kumulative Wirkung dieser Wandlungsprozesse verändern die politische Struktur Europas und die Rolle der USA in diesem Europa. Gegenwärtig wird die weltpolitische Führungsrolle der USA im Weißen Haus, im Kongreß und von außenpolitischen Experten neu eingeschätzt. Man betrachtet es als notwendig, einen gleichberechtigten und kooperativen Umgangsstil mit den Staaten Westeuropas zu pflegen. Vor diesem Hintergrund wird die Charakterisierung der EG und der Bundesrepublik als „Partner in der Führung“ verständlich. Dieser partnerschaftlichere Stil findet in Washington breite Unterstützung und kann als außenpolitische Entsprechung zum innenpolitischen, auf Kompromiß und Ausgleich bedachten Umgang mit dem von Demokraten bestimmten Kongreß gedeutet werden. Während dieser Stil nach den ideologischen Kontroversen der Reagan-Ära zwar innenpolitisch beruhigend wirkt und für hohe Akzeptanzwerte sorgt, ist er allerdings auch wenig spektakulär und neigt nicht zu konzeptionell-gestalterischen Innovationsschüben.

Durch die revolutionären Umwälzungen in Mittel-und Osteuropa, die seit dem Herbst 1989 die internationale Öffentlichkeit in ihren Bann schlagen, sehen sich die Vereinigten Staaten im ungewohnten Windschatten des weltpolitischen Geschehens. In die Genugtuung über den Erfolg freiheitlich-demokratischer Ideen mischen sich etliche Selbstzweifel über Amerikas langfristige Führungs-und Wettbewerbsfähigkeit. Im Wettlauf um die Position der zukünftigen „Nummer eins“ gelten Japan und die Europäische Gemeinschaft als besonders dynamische Herausforderer.

Washington ist in seinem Selbstverständnis verunsichert. In der langen Nachkriegsära der bipolaren Supermachtdominanz daran gewöhnt, ständig im Scheinwerferlicht der weltpolitischen Entscheidungsprozesse zu stehen, machen sich angesichts der folgenreichen Umbrüche in Europa bei manchen Akteuren und Beobachtern „Entzugserscheinungen“ bemerkbar.

Das ist kaum verwunderlich; denn noch immer weist Washington unter allen Hauptstädten der Welt die höchste Mediendichte auf, und nirgendwo sonst sind so viele politische Forschungs-und Beratungsinstitute zu finden. Sie mußten sich seit Ende 1989 häufiger mit internationalen Ereignissen auseinandersetzen, bei denen Washington eher eine Zuschauerrolle zu spielen schien.

I. Die veränderte weltpolitische Position der USA

In den kommenden Jahren wird die Rolle der Ver• Staaten in der Weltpolitik wesentlich durch zwei strukturelle Entwicklungen bestimmt werden. Zunächst schränkt die Herausbildung eines weltweiten politischen und ökonomischen Interaktionssystems auch die Rolle der Weltmächte erheblich ein. Dies relativiert aber keinesfalls eine der vorrangigen Aufgaben der Staaten, darin besteht, die territoriale Integrität und politische Selbstbestimmung nach außen abzusichern. Dennoch haben moderne Kommunikationstechniken, Kooperationsbeziehungen vielfältiger Art und neue Transportmittel das Ausmaß wechselseitiger Abhängigkeit sprunghaft ansteigen lassen. In dem sich formierenden transnationalen Handlungsrahmen können sich Menschen, Ideen, technisches Wissen und Kapital mit ständig zunehmender Intensität bewegen.

Da die Bewahrung einer angemessenen Verteidigungsfähigkeit, die Vertiefung der Ost-West-Beziehungen sowie die damit verbundene Entschärfung regionaler Krisenherde den Frieden auf der nördlichen Erdhalbkugel weiter festigen werden, gewinnt heute die wirtschaftliche Leistungskraft als Maßstab für die Machtposition und den Einfluß von Staaten einen höheren Stellenwert -Wirtschaftliche Leistungs-und Wettbewerbsfähigkeit hängen* jedoch von der festen Einbindung in den rasch expandierenden transnationalen Prozeß des freien Flusses und Austausches von Waren, Dienstleistungen, Investitionen, elektronischer Kommunikation und menschlichem Wissen ab.

Eine zweite Entwicklung, die die künftige Rolle der Vereinigten Staaten in der Weltpolitik und im Welt-wirtschaftssystem entscheidend mitprägen wird, ist die neue multipolare Machtverteilung im internationalen Staatensystem. Unterhalb der nuklearstrategisch-sicherheitspolitischen Ebene der Bipolarität bilden die Staaten und Staatengruppen je nach Sachbereich und je nach Region unterschiedliche, zum Teil wechselnde multipolare Konfigurationen: Gesamtpolitisch handeln die Weltmächte USA und UdSSR mit ihren eigenständig auftretenden Bündnispartnern; im weltwirtschaftlichen und handelspolitischen Bereich die OECD-Staaten, die Reformstaaten Osteuropas, die Gruppe der 77 sowie die Volksrepublik China.

Innerhalb der westlichen Industriestaaten dominiert die trilaterale Gruppierung Nordamerika-EG-Japan, die neben der Abhaltung währungs-und handelspolitischer Tagungen regelmäßige Gipfelkonferenzen organisiert. Hinzu kommen regionale staatliche Zusammenschlüsse (EG, ASEAN, OAU, OAS, Arabische Liga u. a.), die neben ihrer wirtschaftlichen Zusammenarbeit zunehmend politische Koordinationsaufgaben übernehmen. Diese vielschichtige Verflechtung der internationalen Be-B Ziehungen schränkt auch den außenpolitischen Handlungsspielraum der beiden Weltmächte erheblich ein. Kein einzelner Staat, keine Staaten-gruppierung und auch keine der beiden Weltmächte vermag allein und unilateral eine stabile internationale Friedensordnung zu errichten.

Vor diesem Hintergrund wird sich die amerikanische Regierung entscheiden müssen, wie sie die weltweiten außenpolitischen Verpflichtungen und die gesunkene wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der USA in Einklang bringt Die Vereinigten Staaten haben ihre wirtschaftliche und politische Vormachtstellung der ersten Nachkriegsjahrzehnte verloren. Seit 1985 haben sie sich vom größten Gläubigerland zum Land mit der höchsten Auslandsverschuldung entwickelt. Die Zunahme der Auslandsverschuldung ist im wesentlichen auf den Erwerb amerikanischer Schatzpapiere und anderer Wertpapierkäufe ausländischer Anleger sowie auf verstärkte Direktinvestitionen ausländischer Unternehmen zurückzuführen In den Vereinigten Staaten vollzieht sich seit einiger Zeit eine Debatte über die Finanzierbarkeit der eigenen Weltmachtrolle, die weniger durch isolationistische Neigungen, sondern eher durch Mangel an Ressourcen untergraben wird. Die weltpolitische Rolle der USA ist unmittelbar abhängig von der Leistungskraft und Innovationsfähigkeit der amerikanischen Wirtschaft, d. h. Außen-und Wirtschaftspolitik bedingen einander in zunehmendem Maße.

Die ständige Kürzung der Haushaltsmittel beginnt bereits, bilaterale politische Beziehungen von großer Bedeutung zu komplizieren und Zweifel daran zu nähren, ob die Vereinigten Staaten in der Lage sein werden, bestimmte militärische und politische Verpflichtungen auch künftig zu erfüllen Ob und in welchem Maße die Vereinigten Staaten fähig bleiben, auf Ereignisse und Vorgänge jenseits der eigenen Grenzen Einfluß zu nehmen und den Wohlstand im eigenen Land zu sichern, wird erheblich davon abhängen, wie rasch sie ihre wirtschaftliche Leistungs-und Wettbewerbsfähigkeit wiederherstellen können.

Die Auslandsverschuldung der USA läßt heute die Lasten der Weltmachtrolle höher erscheinen als ihre Vorteile. Für die amerikanische Bevölkerung wird dies vor allem an folgenden Tatbeständen deutlich: — der Abhängigkeit von Kapitalzuflüssen aus dem Ausland sowie dem Aufkauf amerikanischer Unternehmen und Immobilien als Begleiterscheinung; — dem Fehlbetrag in der Leistungsbilanz, der auch unter verbesserten außenwirtschaftlichen Bedingungen nur durch strukturelle Anpassungsprozesse der amerikanischen Wirtschaft und Konsumeinschränkungen im Inland verringert werden kann; — dem Defizit im Bundeshaushalt, das durch Ausgabenkürzungen und/oder Steüererhöhungen vermindert werden muß; gerade dies wirft die Frage auf, ob die vielfältigen Bürden einer militärischen Supermacht noch zu finanzieren sind; — der wachsenden Rolle Japans und einiger ASEAN-Staaten auf dem amerikanischen Markt, die belegt, daß die Führungsposition der US-Industrie im internationalen Technologiewettbewerb mit Japan und Westeuropa zunehmend ausgehöhlt wird

II. Die Neugestaltung der amerikanischen Rolle in Europa

Diese weltwirtschaftlichen und politischen Strukturveränderungen haben die Vereinigten Staaten zu einer Neuorientierung und damit zu einer neuen Rollendefinition — insbesondere im Ost-West-Verhältnis — gezwungen. Seit Ende der achtziger Jahre verändern vier grundlegende, zum Teil miteinander verknüpfte Wandlungsprozesse das Ost-West-Beziehungsmuster — die wirtschaftliche und politische Strukturreform in der Sowjetunion, — die demokratischen Reformprozesse in den kleineren Staaten Mittel-und Osteuropas, — der Integrationsprozeß innerhalb der Europäischen Gemeinschaft und — die Vereinigung der beiden deutschen Staaten.

Die Parallelität und kumulative Wirkung dieser Wandlungsprozesse verändern die politische Struktur Europas und die Rolle der USA in Europa. Gegenwärtig wird die weltpolitische Führungsrolle der USA im Weißen Haus, im Kongreß und von außenpolitischen Experten neu eingeschätzt. Man betrachtet es als notwendig, einen gleichberechtigten und kooperativen Umgangsstil mit den Staaten Westeuropas zu pflegen. Vor diesem Hintergrund wird die Charakterisierung der EG und der Bundesrepublik als „Partner in der Führung“ verständlich Dieser partnerschaftlichere Stil findet in Washington breite Unterstützung und kann als außen-politische Entsprechung zum innenpolitischen, auf Kompromiß und Ausgleich bedachten Umgang mit dem demokratisch bestimmten Kongreß gedeutet werden. Während dieser Stil nach den ideologischen Kontroversen der Reagan-Ära zwar innenpolitisch beruhigend wirkt und für hohe Akzeptanz-werte sorgt, ist er allerdings auch wenig spektakulär und neigt nicht zu konzeptionell-gestalterischen Innovationsschüben. Zudem bedeutet der partnerschaftlichere Ansatz, daß sich die Regierung Bush in ihrer Politik gegenüber Krisenregionen größere Zurückhaltung auferlegt und weniger als machtvoller Problemloser auftritt. Anstöße zu Konfliktlösungen und Erneuerungen in jenen Weltregionen, in denen die USA strategische Interessen haben, sollen von den regionalen Eliten selbst entwickelt und getragen werden

Diese zurückgenommene, weniger imperiale Rolle gilt Kritikern im Kongreß häufig als konzeptionell unausgereift und allzu vorsichtig. Bezogen auf Polen und Ungarn erklärt dies, warum der Kongreß größere Beträge als Bush zur Unterstützung des Reformprozesses in diesen Staaten durchgesetzt hat Das Drängen des Senats nach lückenloser Verifizierung sämtlicher Abrüstungsmaßnahmen erschwert es der US-Regierung, rasch unterschriftsreife Verhandlungsergebnisse zu erzielen, und zwingt sie zu einem behutsamen Vorgehen.

Von Anfang an war die Regierung Bush bemüht, Kontinuität in der Gestaltung der Beziehungen zur Sowjetunion zu betonen, um auf dieser Grundlage die Möglichkeiten einer erweiterten Zusammenarbeit zu erproben. Doch in bewußter Abkehr von seinen Vorgängern sprach Bush von einer Politik jenseits der Eindämmung, die kooperative Beziehungen auf möglichst vielen Sachgebieten anstrebt. In den Abrüstungsverhandlungen mit der UdSSR hat die amerikanische Seite weitreichende Reduzierungsangebote vorgelegt, die nicht nur von den Bündnispartnern einmütig unterstützt, sondern auch von der sowjetischen Führung wohlwollend aufgenommen worden sind.

In den Handelsbeziehungen bot Bush der Sowjetunion den Meistbegünstigungsstatus an, wenn Auswanderungsgesetze gemäß den internationalen Standards gesetzlich festgelegt werden Ein bedeutsamer Gradmesser für die Ost-West-Entspannung auf diesem Gebiet war die Bonner KSZE-Wirtschaftskonferenz mit 35 Teilnehmerstaaten. In dem einstimmig verabschiedeten Abschlußdokument bekennen sich auch die Staaten Mittel-und Osteuropas zum ersten Mal zur Marktwirtschaft und zum Privateigentum

Der politische Umbruch in Mittel-und Osteuropa beschränkt sich nicht nur auf den innenpolitischen Demokratisierungsprozeß innerhalb dieser Gesellschaften, sondern strahlt über deren Grenzen hinaus und erlangt damit eine gesamteuropäische, ja globale Dimension. Dieser demokratische Erneuerungsprozeß beraubt den einst monolithischen Ostblock seiner politisch-ideologischen Existenzgrundlage — des aufgezwungenen kommunistischen Systems unter der Vormachtstellung der Sowjetunion — und führt zu einer neuen politischen Konstellation in Europa. Die daraus erwachsenden Herausforderungen veranlassen die Weltmächte zur Überprüfung und Neuformulierung ihrer Osteuropapolitik.

Einerseits hatten sich die Vereinigten Staaten nie mit der Teilung Europas nach 1945 abgefunden und erklärten dieses Zustandes die Überwindung sowie die Demokratisierung Osteuropas zum Ziel ihrer Europapolitik. Andererseits ließen sich sämtliche amerikanische Regierungen in der Gestaltung ihrer Ostpolitik seit Beginn des Kalten Krieges von der Grundüberzeugung leiten, daß die Nachkriegsordnung in Europa zwar nicht gerecht war, aber eine gewisse Stabilität erreicht hatte und sie weiterhin verbürgte. Seit der sogenannten Politik des Brükkenschlags unter Johnson haben die USA eine differenzierte Politik gegenüber den einzelnen osteuropäischen Staaten betrieben. Diese Politik richtete sich nach dem Grad der politischen und wirtschaftlichen Freizügigkeit und nach der Achtung der Menschenrechte in dem jeweiligen Land.

Nicht nur die innenpolitische, sondern auch die außenpolitische Emanzipation der osteuropäischen Staaten bildet heute eine der Folgen und zugleich einen der Bestandteile des Wandels in Osteuropa. Zum ersten Mal treten diese Staaten als souveräne und selbständige Handlungsträger in der internationalen Politik auf. Ihre westlichen Partner sehen sich damit ganz neuen Herausforderungen gegenüber. Während die Vereinigten Staaten an ihrer differenzierten Politik gegenüber Osteuropa festhalten, werden einzelne Staaten — in erster Linie Polen, Ungarn, die CSFR und bis Oktober 1990 die DDR — zunehmend als souveräne Partner der USA behandelt Präsident Bush hat wiederholt die historische Dimension der Veränderungen in Mittel-und Osteuropa unterstrichen und die Unterstützung der USA für den Reformprozeß bekräftigt. Der Wandel der sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen in Europa verlangt Änderungen in der Organisation politischer Stabilität und militärischer Sicherheit. Es geht um die Herstellung einer neuen Balance der Kräfte und Potentiale in Europa sowie um einschneidende Rüstungsverminderung nach dem Abflauen des Ost-West-Konflikts. Im sicherheitspolitischen Bereich wirkt sich der Wandel in Osteuropa insbesondere auf die vorsichtige Über-prüfung der militärischen Stärke und politischen Handlungsfähigkeit der UdSSR und ihrer Verbündeten aus. Es erscheint fraglich, wieviel von ihrem mühsam erworbenen Weltmachtstatus die Sowjet

Union in den neunziger Jahren behaupten kann. Zwar ist sie noch zur globalen Projektion militärischer Macht fähig, doch in der politischen und wirtschaftlichen Abstützung ihrer Verbündeten sind der sowjetischen Politik durch die angespannte Wirtschafts-und Versorgungslage im eigenen Land enge Grenzen gesetzt. Hinzu kommen Nationalitätenkonflikte und Autonomiebestrebungen, die nicht nur den sowjetischen Staatsverband aushöhlen, sondern auch — wie im Falle der baltischen Staaten — die Beziehungen zwischen den Weltmächten belasten. Da die Sowjetunion aber auf direkte militärische Einmischung in den Reformprozeß und auf gezielten politischen Druck auf die osteuropäischen Regierungen verzichtet hat, schwächte sie ihre eigene Machtposition in Osteuropa. Dies führte wiederum zu zentrifugalen Tendenzen und nachlassendem Zusammenhalt innerhalb des Warschauer Pakts. Der Rückzug sowjetischer Stationierungstruppen aus den Warschauer-Pakt-Staaten liegt für die UdSSR in der Konsequenz ihrer Nicht-Interventionspolitik. Diese Einschätzungen sowie die Feststellung amerikanischer Fachleute und Politiker, daß der Reformprozeß in Osteuropa die militärische Bedrohung für den Westen vermindert, beeinflussen die Pläne für eine Reduzierung amerikanischer Streitkräfte in Europa. Als konzeptionelle Antwort der Regierung Bush auf die neue politische Konstellation in Europa kann der von Außenminister Baker am 12. Dezember 1989 in Berlin formulierte „neue Atlantizismus" gelten Er entspringt der amerikanischen Einsicht, daß der Wandel in Osteuropa kein Anlaß für ein verringertes europäisches Engagement der USA ist. Die Antwort der Vereinigten Staaten auf die sich herausbildende neue Lage in Europa beinhaltet in erster Linie Anregungen zur Umwandlung der NATO in eine stärker politisch orientierte Organisation, die ihre Funktion als wichtigste transatlantische Verbindungsstelle behalten soll. Die Atlantische Allianz kann wegen ihrer auf der Freiwilligkeit und demokratischen Verfassung der Mitglieder beruhenden Anpassungsfähigkeit als Baustein der neuen europäischen Friedensordnung dienen. Als politische Organisation kann die NATO u. a. folgende Aufgaben übernehmen: — die Steuerung eines kontrollierten Abrüstungsprozesses in Europa, — die Bewahrung einer westlichen Abwehrbereitschaft als Versicherungspolice gegen Rückschläge in den demokratischen Reformprozessen Osteuropas, — die Stärkung politischer und wirtschaftlicher Bindungen mit Osteuropa und — die vertragliche Absicherung der amerikanischen Anwesenheit in Europa.

Im Unterschied zum Warschauer Pakt ist die westliche Allianz reformfähig und stabilitätsfördernd. Sie ist durchaus in der Lage, sich an die Bedingungen des neuen Sicherheitssystems anzupassen, in der die nichtmilitärischen Komponenten der Sicherheit eine größere Bedeutung erlangen werden. Die NATO soll in dieser Konstellation dasjenige Forum sein, in dem die westlichen Nationen mit Blick auf Abrüstungsverhandlungen sowie bei der Verdichtung der Zusammenarbeit zwischen Ost und West einvernehmliche Positionen erarbeiten und umsetzen. Die Atlantische Allianz gilt insofern als optimaler Rahmen für die intergouvernementale Koordination westlicher Sicherheits-und Abrüstungspolitik.

Die europäischen Bündnispartner der USA müssen bei der Bewältigung dieser Aufgaben mehr Verantwortung als bisher übernehmen, auch wenn eine amerikanische Präsenz unverzichtbar bleiben wird: einmal als Gegengewicht und Sicherheitsgarant; zum zweiten, um so das amerikanische Interesse an der Gestaltung einer stabilen europäischen Friedens-und Sicherheitsordnung zu dokumentieren. Obwohl es in den Vereinigten Staaten eine breite Unterstützung für die Verminderung amerikanischer Truppen in Europa gibt, fordert nur die politische Peripherie den vollständigen Abzug. Deren Druck würde aber wachsen, wenn der Eindruck entstünde, daß die Präsenz der Amerikaner und ihre Sicherheitsgarantien nicht mehr erwünscht sind. Die europäischen Allianzpartner müssen entscheiden, ob sie ihr Gewicht durch vermehrte Integration, durch Herstellung einer Politischen Union oder durch den Ausbau der Westeuropäischen Union verstärken wollen. In jedem Fall wäre die Teilnahme eines vereinigten Deutschland von entscheidender Bedeutung.

Die Auswirkungen des politischen Wandels in Osteuropa auf die amerikanische Europa-und Ost-politik kommen auch in einem neuen Verständnis wichtiger europäischer Institutionen wie der Europäischen Gemeinschaft und des KSZE-Prozesses zum Ausdruck. Aus amerikanischer Sicht nimmt die EG eine Doppelfunktion wahr: Zum einen dient sie als wirtschaftliche Stütze der transatlantischen Zusammenarbeit, zum anderen als Hauptinstrument der Kooperation mit Osteuropa und der Eingliederung der osteuropäischen Staaten in die wirtschaftliche und politische Neugestaltung Europas

Die USA suchen die enge politische Abstimmung mit dem Wirtschaftskonkurrenten EG, weil sie die Zwölfergemeinschaft als dynamischen Kem eines supranationalen Beziehungsgeflechts betrachten, in das auch die neuen Demokratien Mittel-und Osteuropas eingebunden werden wollen. Ansätze einer gemeinsamen europäischen Außen-und Sicherheitspolitik machen es nach amerikanischer Auffassung um so dringlicher, verläßliche politische Kommunikationskanäle einzurichten.

Die Entwicklung zur Politischen Union der Zwölf wertet man in der amerikanischen Regierung als Indiz, daß die EG eine „europäische Identität“ anstrebt. Während Europa als Machtfaktor anerkannt wird, hat sich die Aufregung über mögliche schädliche Auswirkungen des Binnenmarktes auf die transatlantischen Handelsbeziehungen gelegt. Das amerikanische Interesse gilt der politischen Zusammenarbeit und der Möglichkeit eines gemeinsamen Managements des Wandels in Europa, bei dem EG und NATO als Hauptakteure auftreten Die entscheidende Aufgabe der Atlantischen Allianz liegt darin, Amerika an Europa zu binden; dies bleibt nach Ansicht aller europäischen Staaten und auch der Sowjetunion eine Bedingung europäischer Stabilität. Der Wandel, der mit einem Bedeutungsverlust des militärischen Machtfaktors einhergeht und eine Verringerung amerikanischer Streitkräfte zur Folge hat, soll nicht dazu führen, daß Amerika politische Mitwirkungsmöglichkeiten auf der europäischen Seite des Atlantiks verwehrt werden.

Die Regierung Bush will zudem die EG im Rahmen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) stärker in die Regelung globaler Probleme (z. B. Umweltschutz, Bekämpfung des Drogenhandels, Eindämmung des Rüstungstransfers in weltpolitische Krisenregionen) einbeziehen Dies entspricht der amerikanischen Auffassung, daß Europa mehr Verantwortung in der internationalen Politik übernehmen soll. Mit Blick auf die eigenen knappen Ressourcen nimmt man es in den USA billigend hin, daß damit ein weiterer Schritt aus der bipolaren Nachkriegsordnung heraus getan wird. Sollte die Politische Union zum 1. Januar 1993 verwirklicht werden, entstünde ein Akteur mit weltpolitischen Ambitionen und Interessen, der nicht nur als Konkurrent, sondern auch als Mitspieler der Vereinigten Staaten in der Gestaltung der internationalen Politik agieren könnte. Neben der NATO und der EG wird der KSZE-Prozeß als dritter wichtiger Baustein der europäischen Friedensordnung angesehen. Im KSZE-Rahmen soll die Ost-West-Zusammenarbeit in den drei Schwerpunktbereichen Sicherheit, Wirtschaft und Menschenrechte ausgebaut werden. Die Verzahnung der gesamteuropäischen und transatlantischen Zusammenarbeit in bewährten multilateralen europäischen Institutionen, die auch die USA und Kanada als aktive Teilnehmer einbinden, kann zur Überwindung der Teilung Europas wesentlich beitragen. Lange Zeit wurde der Nutzen des KSZE-Prozesses in Washington skeptisch beurteilt; dies hat sich inzwischen grundlegend geändert. Es wird anerkannt, daß die Schlußakte von Helsinki demokratischen Gruppen in Mittel-und Osteuropa die Legitimationsgrundlage für ihre Forderungen nach Menschenrechten, politischen Freiheiten und der Aufhebung der Reisebeschränkungen geboten hat. Zum Teil läßt sich dieser Einstellungswandel auch mit der Einsicht in die wirtschaftlichen Leistungsgrenzen der amerikanischen Weltmachtposition erklären. Zudem entspringt er dem Bewußtsein dafür, daß die KSZE den Vereinigten Staaten ein ständiges Standbein und damit Chancen der politischen Mitwirkung und Mitgestaltung in Europa eröffnet. Die USA haben ihre Skepsis gegenüber dem KSZE-Prozeß in dem Maße verloren, in dem sie erkennen, daß neue Aufgaben und Institutionen innerhalb des KSZE-Rahmens nicht zu Lasten der westlichen Allianz gehen werden. Sie wollen aber ihr sicherheitspolitisches Engagement in Europa nicht von dem Erfordernis der Einstimmigkeit im Kreis von 35 Nationen abhängig machen — und damit von einem Veto des Vatikans oder der Republik Malta Die KSZE ist geeignet, die vorhandenen Bündnisstrukturen zu ergänzen, nicht aber abzulösen. Die Forderung nach Auflösung der Bündnisse und deren Ersetzung durch die KSZE stößt deshalb in Washington auf Verwunderung und Beunruhigung. Während eine Anpassung der NATO an die eingetretenen militärischen und politischen Veränderungen auf dem Kontinent unerläßlich ist, muß dies im Einklang mit der Aufgabe bleiben, Rückschläge zu vermeiden und die raschen Wandlungsprozesse in Europa in stabilen Bahnen zu halten.

III. Die Vereinigten Staaten und die Deutsche Frage

Die USA traten seit jeher für die Beendigung der Teilung Europas und Deutschlands ein. Dabei gingen sie von demokratischen und völkerrechtlichen Normen aus und betrachteten das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen als unveräußerlich. In der amerikanischen Wahrnehmung der Deutschen Frage waren Begriffe und Überlegungen wie „Bedrohung“ oder „unerwünschte, aber unvermeidliche Konsequenzen der deutschen Einheit“ nicht präsent

Die Position der amerikanischen Regierung in der Deutschen Frage wurde Ende 1989/Anfang 1990 von Bush und Baker in einem Vier-Punkte-Plan zusammengefaßt: 1) Die Selbstbestimmung müsse ohne Vorwegnahme des Ergebnisses angestrebt werden. Die USA sollten zu dem Zeitpunkt weder eine bestimmte Vision der Einheit unterstützen noch ausschließen; 2) die Vereinigung beider deutscher Staaten solle sich im Kontext einer fortgesetzten Verpflichtung der Bundesrepublik gegenüber der NATO und einerzunehmend integrierten Europäischen Gemeinschäft sowie mit gebührender Rücksicht auf die rechtliche Rolle und Verantwortung der Alliierten Mächte vollziehen; 3) im Interesse der politischen Stabilität Europas müsse die Herstellung der deutschen Einheit friedlich erfolgen und Teil eines schrittweisen Prozesses sein; 4) im Hinblick auf Grenzfragen wiederholten die USA ihre Unterstützung für die Prinzipien der Schlußakte von Helsinki

Der auffallendste Aspekt dieser vier Bedingungen lag darin, daß zwischen den Prinzipien eins und zwei ein logischer Widerspruch bestand. Wenn die beiden deutschen Staaten ihre Selbstbestimmung ohne Vorwegnahme des Ergebnisses verfolgt hätten, hätten sie sich theoretisch auch für ein neutrales Gesamtdeutschland entscheiden können; genau diese Option schloß Prinzip zwei aus Diesen logischen Widerspruch nicht zu einer realen Möglichkeit der Weltpolitik werden lassen, bildete zu den Kern der amerikanischen Deutschlandpolitik. Ganz im Sinne der amerikanischen Interessenlage haben sich aber beide deutsche Regierungen von Beginn an für die Einbindung des Vereinigungsprozesses in europäische Zusammenhänge sowie für eine NATO-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands ausgesprochen.

Zwei Stabilitätsbedingungen waren aus amerikanischer Sicht für die Herstellung der deutschen Einheit von ausschlaggebender Bedeutung: Zum einen müsse die Bindung Amerikas an Westeuropa gewahrt werden; zweitens gehe es darum, die Dynamik der westeuropäischen Integration zu erhalten und zu verstärken. Die Regierung Bush hat nie einen Zweifel an ihrer Bereitschaft aufkommen lassen, die Herstellung der deutschen Einheit im europäischen Rahmen uneingeschränkt zu unterstützen -Als Anfang 1990 der Drang zur deutsch-deutschen Einigung immer stärker wurde, erarbeitete Washington in enger Abstimmung mit Bonn eine Formel, die dazu beitragen sollte, den Einigungsprozeß international abzusichem. Es handelt sich dabei um die im Februar 1990 verabredeten Zwei-plus-Vier-Gespräche, die die Beratungen zwischen den beiden deutschen Staaten und den einstigen Siegermächten des Zweiten Weltkrieges über die außen-und sicherheitspolitischen Aspekte der deutschen Vereinigung betrafen. Für die drei Westmächte lautete die politische Gleichung: Zwei plus vier gleich eins. Ein vereintes Deutschland sollte die volle Souveränität über sein gesamtes Staatsgebiet ohne jede Einschränkung erhalten, d. h. als Ergebnis der Zwei-plus-Vier-Gespräche wurden die Sonderrechte und die Verantwortung der Alliierten für Berlin und Deutschland als Ganzes aufgehoben

Formell ging es um die Rückgabe dieser Rechte, bis alle innen-und sicherheitspolitischen Modalitäten der Einheit geklärt waren. Im Zwei-plus-Vier-Rahmen mußten neben einer Regelung der polnischen Grenzfrage vor allem die Rahmenbedingungen für den außen-und sicherheitspolitischen Status des vereinten Deutschland ausgehandelt werden. Die NATO-Partner und die beiden deutschen Regierungen vertraten die Auffassung, daß ein vereintes Deutschland der westlichen Allianz angehören müsse. Als Bündniskonsens galt die Vorstellung, die bisherige militärische Integration der Bundesrepublik müsse beibehalten werden, das Gebiet der DDR solle aber von der Atlantischen Allianz nicht genutzt und auch nicht in die NATO-Verteidigung einbezogen werden. Für eine nicht näher definierte Übergangszeit wird der UdSSR zugestanden, wei-terhin Truppen auf dem Territorium der DDR zu stationieren. Bis Mitte 1990 hatten drei Problembereiche die außen-und sicherheitspolitische Absicherung des deutschen Einigungsprozesses noch behindert: die Grenz-und Bündnisfrage sowie die Frage der künftigen deutschen Truppenstärke. Alle drei Hindernisse wurden beim Treffen Helmut Kohls mit Michail Gorbatschow Mitte Juli 1990 im Kaukasus beseitigt. Die Gespräche des Bundeskanzlers mit dem sowjetischen Staatspräsidenten brachten Klarheit in folgenden entscheidenden Sachfragen: — Deutschlands Einigung vollziehe sich ohne einen Rest von Gebietsansprüchen. Die Bundesrepublik, Berlin und die bisherige DDR würden das künftige Staatsgebiet Deutschlands bilden. — Die Herstellung der Einheit und Souveränität für die Deutschen gingen Hand in Hand. — Das vereinigte Deutschland entscheide demzufolge frei über seine Bündniszugehörigkeit

Die Sowjetunion ist bereit, ihre Truppen aus dem Gebiet der heutigen DDR innerhalb von drei bis vier Jahren vollständig abzuziehen und akzeptiert die NATO-Mitgliedschaft eines souveränen Deutschland. Die Zugeständnisse der UdSSR bedeuteten daher auch, daß die besonderen Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte mit der Herstellung der deutschen Einheit definitiv erloschen. Die Gewährung der vollen Souveränität ist aber mit politischen Auflagen verknüpft. Das vereinigte Deutschland verpflichtete sich, einen Grenzanerkennungsvertrag mit Polen abzuschließen und seine Streitkräfte im Rahmen der Wiener Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa um über 200 000 auf 370 000 Mann zu verringern. Zudem bekräftigte es den in Bonn schon früher beschlossenen Verzicht auf ABC-Waffen und die Verpflichtung zur Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen. Es handelt sich dabei um Punkte, die ein geeintes Deutschland nicht schmerzen, die aber auf Moskau, Paris, London und andere europäische Staaten beruhigende Wirkung haben. Gerade die Einbettung des deutschen Einigungsprozesses in europäische Institutionen wirkt konsens-stiftend und sichert dessen vergleichsweise reibungslosen Ablauf. Ohne Einbindung dieses Vorgangs in das europäische Rahmenwerk hätte die sowjetische Führung das osteuropäische Vorfeld einschließlich der DDR nicht freigegeben und Deutschland kaum in die Souveränität entlassen.

In der Sache selbst kam die Vereinigung Deutschlands allerdings nicht zu Moskauer Bedingungen zustande. Sie entsprach weitgehend den amerikanischen Vorstellungen. Gorbatschow hat mit seiner Verzögerungstaktik außenpolitisch wenig bis nichts erreicht. Die vom sowjetischen Außenminister Schewardnadse lancierte Idee eines internationalen Referendums über die deutsche Einigung erhielt keine Unterstützung. Gorbatschows Vorschlag einer Doppelmitgliedschaft Deutschlands in NATO und Warschauer Pakt blieb ohne Echo. Ferner traf nicht ein, was Gorbatschow dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand prophezeit haben soll, daß nämlich am Tag der Ankündigung einer deutschen Vereinigung ein General auf dem Präsidentenstuhl im Kreml Platz nähme. Dafür hat die sowjetische Führung finanzielle Hilfs-und wirtschaftliche Kooperationszusagen zur Abstützung ihres wirtschaftlichen Reformkurses erreicht. Es leuchtet ein, daß die Vereinigung Deutschlands und seine Souveränität nicht ohne Konzessionen und Wirtschaftshilfe zu haben waren. Für die westlichen Partner Deutschlands ist das politische Zugeständnis Moskaus ebenso wie für Deutschland jedoch unvergleichlich bedeutsamer als der von Bonn entrichtete materielle Preis Die volle Eingliederung Gesamtdeutschlands in das westliche Verteidigungsbündnis erhöht die Chance, die sicherheitspolitische Stabilität im Zentrum Europas zu festigen. Die Gefahren, die sich aus der Unberechenbarkeit einer politisch ungebundenen deutschen Macht ergäben, die in geographischer Mittellage zwischen Ost und West schwankt, werden dadurch wesentlich vermindert.

IV. Fazit

Mit den politischen Wandlungsprozessen in Mittel-und Osteuropa wächst die Bedeutung der NATO für den Aufbau einer neuen europäischen Sicherheitsstruktur. Als westliches Konsultations-, Koordinierungs-und Steuerungsinstrument kann die Atlantische Allianz eine maßgebliche und treibende Kraft bei der Organisation gemeinsamer Sicherheit in Europa sein. Überdies wird sie diese Rolle spielen müssen, will sie nicht den Verlust der öffentlichen Unterstützung vor allem in der Bundesrepublik riskieren. Neben der NATO wird in den Vereinigten Staaten die Europäische Gemeinschaft als zweiter Einbettungsraiimen für ein vereintes Deutschland angesehen. Das Bekenntnis der EG zu beiden Zielen, deutsche Einheit sowie westeuropäische Wirtschafts-, Währungs-und Politische Union, wurde sowohl in der amerikanischen Öffentlichkeit als auch in Regierungskreisen mit Befriedigung aufgenommen.

Die EG wird als ökonomisch und politisch attraktiver Partner der Reformstaaten Mittel-und Osteuropas eingestuft. Die besondere Berufung der EG, des Europarates und anderer europäischer Organisationen liegt in der Förderung marktwirtschaftlicher Strukturen und pluralistischer Demokratie in Osteuropa. Vertragliche Regelungen, wie sie mit den EFTA-Staaten zur Bildung des europäischen Wirtschaftsraumes getroffen wurden, können nach amerikanischen Vorstellungen auch für die Verbindungen zu den mittel-und osteuropäischen Staaten geeignete Muster abgeben. Ein Zielkonflikt zwischen der westeuropäischen Integration und der Ausdehnung der Zusammenarbeit mit Osteuropa ist nicht gegeben; im Gegenteil, die Anziehungskraft der Gemeinschaft entsteht gerade aus der Vitalität des europäischen Einigungsprozesses. Die Vereinigten Staaten sind auch aus diesem Grund daran interessiert, das bereits jetzt schon enge Beziehungsgeflecht mit einem dynamischen Westeuropa zielstrebig auszubauen.

Schließlich wird auch der KSZE von der amerikanischen Regierung eine Schlüsselrolle bei der Errichtung eines neuen europäischen Sicherheitsgebäudes zugedacht. Nachdem dieses Forum bisher schon einen beachtlichen Anteil an der Entstehung der Reformprozesse in Osteuropa hatte, soll es nun nach übereinstimmender Ansicht aller NATO-Partner in all seinen Dimensionen ausgeweitet werden. Noch bleibt allerdings offen, welche arbeitsmäßige Verdichtung bzw. institutioneile Ausgestaltung dieser Prozeß erhalten soll. Aus der Sicht der USA besteht die neue Rolle der KSZE auch darin, zusätzlich zur NATO eine weitere Legitimationsgrundlage für die amerikanische Präsenz in Europa aufzubauen. Das gemeinsame Merkmal der NATO, EG und KSZE wird darin sichtbar, daß sie nicht nur flexibel und anpassungsfähig auf sich rasch verändernde Umstände reagieren, sondern auch militärischen, wirtschaftlichen und politischen Wandel in Europa mitgestalten können. Durch ihre Modernisierung wird nach amerikanischer Auffassung ein neues Europa geschaffen, das gleichzeitig auf der Basis eines neuen Atlantizismus entsteht. Die amerikanische Initiative für einen neuen Atlantizismus ist von der Sorge geprägt, durch die weiteren Entwicklungen in Europa an Einfluß zu verlieren. In dieser Hinsicht ist die Rivalität mit der Sowjetunion ungebrochen. Washington erwartet zwar nicht wie derzeit Moskau, als Militärmacht aus den Territorien der verbündeten Staaten hinausgedrängt zu werden, schon deshalb nicht, weil auch die osteuropäischen Regierungen eine fortdauernde Präsenz der USA in Europa wünschen. Auf keinen Fall möchten die Vereinigten Staaten schlechter gestellt sein als die UdSSR, die trotz allen Einflußverlustes eine Großmacht auf dem Kontinent bleiben wird.

Aus dieser Konkurrenzsituation erwächst auch das amerikanische Bemühen, der Vision Gorbatschows vom „gemeinsamen europäischen Haus“ einen eigenen Bauplan entgegenzusetzen, wie er von Außenminister Baker in seiner Berliner Rede im Dezember 1989 entworfen wurde. Washington muß sich darauf einstellen, daß die Europäische Gemeinschaft zunehmend eigenständige Beziehungen zur Sowjetunion entwickelt. Im gesamteuropäischen Kontext geht es den Vereinigten Staaten darum, daß die transatlantischen Verbindungen nicht vernachlässigt werden, wenn es zur Aufwertung und Institutionalisierung der KSZE und anderer Ost-West-Gremien kommt Ferner sind formellere transatlantische Beziehungen auch ein Mittel, den bisherigen amerikanischen Einfluß auf westeuropäische Ostpolitik aufrechtzuerhalten. Je weiter nämlich die Reformprozesse in den osteuropäischen Staaten fortschreiten und je stärker die militärische Bedrohung durch die Sowjetunion abnimmt, desto geringer wird auch die Abhängigkeit Westeuropas von den USA als militärischer Schutzmacht.

Als Ausgleich für die verminderte sicherheitspolitische Rolle der Vereinigten Staaten soll die Präsenz der USA in Europa im wirtschaftlichen und politischen Bereich bzw. die Zusammenarbeit mit Europa ausgebaut werden. Zum einen gilt die NATO als wichtigste Verbindungsstelle zwischen Nordamerika und Westeuropa. Deshalb soll die Allianz mit einer Reihe neuer Aufgaben betraut werden, die von der Förderung des Umweltschutzes bis zur Eindämmung von Waffenexporten in weltpolitische Krisenherde sowie der Bekämpfung des internationalen Terrorismus und des weltweiten Drogenhandels reichen. Gemeinsam mit anderen multinationalen westlichen Institutionen könne die NATO — so die bündnisintemen Überlegungen — konzeptionelle Anstöße liefern und zur Koordinierung westlicher Politik in diesen für die neunziger Jahre wichtigen Fragen beitragen. Zum zweiten wird in Washington an vertraglich geregelte Konsultationen mit der EG in all jenen Bereichen gedacht, die gemeinsame Antworten erfordern — von der Außen-, Währungs-, Entwicklungs-und Handelspolitik bis zur Wissenschaftspolitik. Drittens sind die USA, selbst im unwahrscheinlichen Fall eines Zerfalls der NATO, über ihre mitgestaltende Rolle in der KSZE an den Vorgängen in Europa beteiligt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Karl Kaiser, Die Rolle der Vereinigten Staaten in der Welt im nächsten Jahrzehnt, in: Europa-Archiv, (1988) 24, S. 699.

  2. Vgl. Emst-Otto Czempiel, Machtprobe — Die USA und die Sowjetunion in den achtziger Jahren, München 1989. S. 359ff.; Paul Kennedy, The Rise and Fall of the Grca; Powers: Economic Change and Military Conflict from 1500 to 2000, New York 1987.

  3. Vgl. Elke Thiel, Konflikt und Kooperation: Die Wirtschaftsbeziehungen Europa-Amerika, in: Außenpolitik, (1989) III, S. 276.

  4. Vgl. Henry Kissinger/Cyrus Vance. Bipartisan Objectives for American Foreign Policy, in: Foreign Affairs. (1988) 5. S. 911.

  5. Vgl. E. Thiel (Anm. 3). S. 276; dazu auch Daniel Yankelovich/Richard Smoke, America’s „New Thinking". in: Foreign Affairs. (1988) 1. S. Iff. sowie Michael Aho/Marc Levinson. The Economy After Reagan, in: Foreign Affairs. 67 (1988/89) 2. S. 10 ff.

  6. Vgl. Jeanne J. Kirkpatrick, Beyond The Cold War, in: Foreign Affairs, (1989/90) 1, S. lf.

  7. Siehe die beiden programmatischen Europa-Reden von Präsident Bush, in: Amerika Dienst vom 24. und 31. Mai 1989.

  8. Vgl. Manfred Stinnes, Die amerikanische Europa-Politik und die Ost-West-Beziehungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 45/89, S. 23.

  9. Vgl. ebd.

  10. Vgl. Europa-Archiv, (1989) 12, S. D 331 ff.

  11. Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 12. /13. April 1990.

  12. Vgl. Olga Alexandrova, Auswirkungen auf die amerikanische Ostpolitik, in: Heinrich Vogel (Hrsg.), Umbruch in Osteuropa. Interdependenzen und Konsequenzen, Sonder-veröffentlichung des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Januar 1990, S. 68 f.

  13. Siehe dazu die programmatische Berliner Rede Außenminister Bakers, in: Amerika Dienst vom 13. Dezember 1989, S. 3.

  14. Vgl. O. Alexandrowa (Anm. 12), S. 71.

  15. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. April 1990.

  16. Vgl. ebd.

  17. Vgl. Die Zeit vom 23. März 1990.

  18. Vgl. O. Alexandrova (Anm. 12), S. 71.

  19. Vgl. die Rede Bakers (Anm. 13). S. 8, sowie Michael H. Haltzel, Amerikanische Einstellungen zur deutschen Wiedervereinigung, in: Europa-Archiv, (1990) 4, S. 129.

  20. Vgl. ebd„ S. 130.

  21. Vgl. Amerika Dienst vom 4. April 1990.

  22. Vgl. die Äußerungen Präsident Bushs und Staatspräsident Mitterrands anläßlich ihres Gipfeltreffens in Key Largo (Florida), in: Süddeutsche Zeitung vom 21. /22. April 1990.

  23. Vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 22-/23. Juli 1990.

  24. Vgl. ebd.

  25. Vgl. dazu Reinhard Rummel/Jürgen Nötzold, Auf dem Wege zu einer gesamteuropäischen Ordnung, in: dies. (Hrsg.), Europa im Wandel: Entwicklungstendenzen nach der Ära des Ost-West-Konflikts, Baden-Baden 1990, S. 270.

Weitere Inhalte

Charles Weston, Dr. phil., geb. 1951 in San Jos, Kalifornien; Studium der Politikwissenschaft, Soziologie und Kommunikationswissenschaften an der American University, Washington, D. C., der University of Colorado, Boulder, sowie an den Universitäten Regensburg und München; seit 1987 wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Politikwissenschaft der Universität Passau. Veröffentlichungen u. a.: Die erzwungene „Partnerschaft“. Möglichkeiten und Grenzen strategischer Rüstungskontrolle am Beispiel des SALT-Prozesses von Johnson bis Reagan, München 1987; zahlreiche Beiträge in Fachzeitschriften.