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Die Jugend in den neuen Bundesländern Sozialistische Bewußtseinsbildung und ihre Folgen | APuZ 27/1991 | bpb.de

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APuZ 27/1991 Die Jugend in den neuen Bundesländern Sozialistische Bewußtseinsbildung und ihre Folgen Kulturformen von Jugendlichen: Von der Sub-und Jugendkultur zu Formen der Jugendbiographie Auswirkungen der Jugendarbeitslosigkeit

Die Jugend in den neuen Bundesländern Sozialistische Bewußtseinsbildung und ihre Folgen

Peter Eisenmann

/ 19 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Mit der Vollendung der deutschen Einheit wurde das eigentliche Ausmaß der tatsächlichen Wirksamkeit der politischen Sozialisation vor allem der Jugend in der DDR offenkundig. Ging der SED-Staat stets von dem hohen Ziel der Entwicklung der sogenannten sozialistischen Persönlichkeit aus -jener Persönlichkeit, die sich vorbehaltlos hinter die Zielsetzungen der kommunistischen Partei zu stellen hatte und die aus tiefer innerer Überzeugung all das tat, was man von ihr verlangte, so zeigte sich insbesondere seit Ende der siebziger Jahre, daß dieses Ziel nur zum Teil erreicht werden konnte. Als Folge verbesserter innerdeutscher Beziehungen, zumal einer verstärkten Reisetätigkeit von West nach Ost, mußte man erkennen, daß die Überzeugungsbilder immer problematischer wurden. Letztlich stellte sich trotz intensivierter Anstrengungen, zum Beispiel durch die Einführung einer obligatorischen Wehrerziehung, heraus, daß man bestenfalls den „Menschen der Tat“ erziehen könne, also jenen, der sein (erzwungenes) Handeln nicht mehr aus innerer Überzeugung heraus speiste, sondern weil er so handeln mußte, um nicht in Mißkredit zu geraten. Damit nahm der Anpassungszwang zu, sei es in Schule, Studium oder Beruf. Die hieraus resultierenden Verbiegungen des Menschen gingen einher mit einer Entmündigung des Bürgers, die sich gerade heute beim Aufbau einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung in fataler Weise offenbart. Vor allem die jungen Bürger in den neuen Bundesländern müssen sich von den erst kurz zuvor eingeprägten Denk-und Verhaltensmustem befreien und den eigenverantwortlichen Umgang mit dem freien Leben in einer demokratischen Gesellschaft erlernen. Somit setzt ein völlig neuer Sozialisationsprozeß ein, den zu gestalten die Erziehungs-, Bildungs-und Ausbildungsverantwortlichen zusammen mit den zuständigen Institutionen auch der alten Bundesländer aufgerufen sind.

I. Die Jugendpolitik der SED

Die Jugendpolitik in der DDR unterlag nach offiziellen Bekundungen den Gesetzmäßigkeiten der technischen Revolution. Dies bedeutete, daß auch und gerade die Jugend ihren Beitrag zur Erfüllung des Perspektivplans sowie der jährlichen Einzel-pläne zu leisten hatte, wie dies das Jugendgesetz forderte: „Die Jugend trägt mit großer Initiative dazu bei, die Aufgaben des Volkswirtschaftsplanes zu lösen, den wissenschaftlich-technischen Höchststand in der Produktion zu erreichen und mitzubestimmen. Alle Staats-und Wirtschaftsorgane haben diese Initiative in jeder Hinsicht zielstrebig zu fördern.“

Aufgabe der staatlichen Jugendpolitik war es, den Motivationsrahmen über eine gezielte Bewußtseinsbildung herstellen zu können, aus dem heraus das eigentliche Ziel, „die Kräfte und Fähigkeiten, das Können, den Lerneifer und den Leistungswillen der gesamten Jugendlichen auf die aktive Mithilfe beim Aufbau des Sozialismus unter den Bedingungen der technischen Revolution zu konzentrieren“ verfolgt werden konnte. Die praktische Umsetzung dieser Aufgabe erfolgte in der Bildung von Jugendkollektiven und in deren ständiger Nachwuchssicherung. „Jugendkollektive in Industrie und Landwirtschaft stellen Produktionskollektive dar, die sich durch die Lösung wichtiger Aufgaben, durch ihren Kampf an Brennpunkten auszeichnen. Im Prozeß der gemeinsamen Arbeit entwickeln sich die Mitglieder zu Persönlichkeiten, die sozialistisch arbeiten, lernen und leben.“

Die Kollektiverziehung vom Kindergarten bis in den ökonomischen Bereich hinein erleichterte der SED die staatliche Überwachung der naturgemäß „unruhigen“ Jugendlichen; sie förderte zugleich das erwünschte Gemeinschaftsgefühl. In dieser Organisationsform ließen sich der Jugend hohe volkswirtschaftliche Aufgaben zuweisen. Zu denken ist an die einstmaligen ökonomischen Initiativen der FDJ: Junge Sozialisten, MM- und Neuerer-Bewegung, Aktion „Bester Lehrling“, „Bester Qualitätsarbeiter“ etc. sowie FDJ-Kontrollposten zur Energie-und Materialeinsparung, zur Ausschöpfung moderner Technik und zur ertragreichen Nutzung landwirtschaftlicher Bodenflächen. Alles Aufgaben, die an die volkswirtschaftlichen Vorgaben der SED geknüpft waren, weshalb sich die Jugendpolitik der SED an der Entwicklung orientierte bzw. von ihr bestimmt wurde, wie sie in den im Fünfjahresrhythmus gefaßten Parteitagsbeschlüssen fortgeschrieben wurde.

Damit wurde deutlich zum Ausdruck gebracht, daß die Einbindung in die sozialistische Produktion, durch die bewußte Aufnahme der ihr spezifisch gegebenen Produktionsverhältnisse, Bewußtseinsentwicklung im Sinne des Sozialismus bezweckte. Staatliche Jugendpolitik bedeutete: Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit, welche eine aktive, „tätige“ Position zur sozialistischen Ordnung, zum Kampf der Massen, zur kollektivistischen Grundstruktur wie zu Fortbestand und Weiterentwicklung der sozialistischen Gesellschaft als Ganzes einnahm.

Leben und Tätigkeit der Jugendlichen -und somit die darauf ausgerichtete Jugendpolitik der SED -waren von drei Hauptmerkmalen gekennzeichnet. Es lohnt sich, dabei die Reihenfolge genau zu beachten, um festzustellen, daß sozialistische Bewußtseinsbildung von vornherein gesellschaftsund keinesfalls persönlichkeitsbedingt war:

1. Der Jugendliche ist Teilnehmer an der gesellschaftlichen Produktion und Werktätiger;

2. er nimmt am gesellschaftlich-politischen Leben teil:

3. er stellt eine Persönlichkeit dar, die eine Reihe von individuellen, physischen und psychischen Besonderheiten besitzt. Hieraus resultiert die besagte „tätige Position“ gegenüber den Erfordernissen der sozialistischen Gesellschaft in Gestalt einer gesellschaftsgebundenen Tätigkeit, vor allem in der Produktion, aber auch bereits im außerunterrichtlichen Bereich der Schulpflichtigen.

Das Anliegen der Teilnahme der Jugend an der Gesellschaft bedeutete zugleich: bewußte Einbeziehung aller in den Kampf um die Lösung der von der Gesellschaft zu bewältigenden Aufgaben. Da das ein seitens der SED anerkannt schwieriger Kampf war, wie dies aus Honeckers Reden zur sich stark verschlechternden wirtschaftlichen Lage des Landes z. B. im Sommer 1982 immer wieder drastisch deutlich wurde, konzentrierte sich die Jugendpolitik immer stärker „auf die Erziehung der Jugend zur Liebe zu ihrem sozialistischen Vaterland DDR, zum proletarischen Internationalismus, insbesondere zur unverbrüchlichen Freundschaft mit der Sowjetunion, zur sozialistischen Einstellung zur Arbeit und zum gesellschaftlichen Eigentum, zur Verteidigungsbereitschaft“

Dahinter stand der Anspruch der Herausbildung eines festen sozialistischen „Klassenstandpunktes“ der Jugend, als Voraussetzung für ihr aktives und schöpferisches Handeln bei der Gestaltung der sogenannten entwickelten sozialistischen Gesellschaft. Die Politik der SED war vom Anspruch her bemüht, die heranwachsende Generation von der Richtigkeit des Kampfes der Arbeiterbewegung zu überzeugen und hieraus die Bereitschaft zu nähren, die bisherigen Errungenschaften wahren, weiterentwickeln und durch hohe Leistungen bereichern zu wollen. Dabei war die Partei auch bereit, großes Vertrauen in die Jugend zu investieren und -falls es nicht enttäuscht wurde -ihr frühzeitig Verantwortung in Schule, Beruf und Gesellschaft zu übertragen. Der kundige Beobachter konnte feststellen, daß der parteikonforme Jugendliche in der DDR-Arbeitswelt durchschnittlich größere Karrierechancen in jüngeren Jahren besaß als sein Pendant in den alten Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland.

Jugendpolitik in der DDR war also ideologisch motivierte, staatlich gelenkte und geleitete Politik für alle gesellschaftlichen Bereiche. Das bedeutete Eingriff in Lementwicklung und Ausbildung, Frei-zeitverhalten und gesellschaftliche Aktivität, kulturelle, sportliche und auch touristische Betätigung. Einige wichtige „grundlegende Dokumente sozialistischer Jugendpolitik“ die für alle gesellschaftlichen Kräfte in der DDR richtungsweisend waren, hatten dies festgeschrieben. In der die Jugendpolitik der SED fixierenden Jugendgesetzgebung, bestehend aus Gesetzen und Verordnungen, die als geltendes positives Recht verstanden wurden, war z. B. das allgemeine Wehrpflichtgesetz, das Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem, die Verordnung über die Gesellschaft für Sport und Technik, die Verordnung zum Schutz der Kinder und Jugendlichen, die Zulassungsordnung zum Hochschulstudium, und natürlich das Jugendgesetz enthalten. Diese Auflistung ließe sich beliebig verlängern, ganz besonders durch alle jene Gesetze, Verordnungen und Erlasse auf Initiative der SED, die sich mit der sozialistischen Wehrerziehung der Jugend befaßten.

Im Jugendgesetz hatte die SED den Grundkonsens mit der Jugend, bei Einhaltung bestimmter Verhaltensweisen, festgelegt. Dieser Verhaltenskodex enthält Forderungen an die Jugend, die im Spannungsfeld zwischen junger und älterer Generation einer Gesellschaft notwendig erscheinen. Wichtiger jedoch war die Forderung im ersten Abschnitt des § 1 Jugendgesetz (JG), in welchem die Erziehung der jungen Menschen zu Staatsbürgern gefordert wurde, „die den Ideen des Sozialismus treu ergeben sind, als Patrioten und Internationalisten denken und handeln, den Sozialismus stärken und gegen alle Feinde zuverlässig schützen“. Daneben traten im Jugendgesetz jugendpolitische Tendenzen auf, deren Zielsetzung die sozialistische Persönlichkeitsentwicklung war: Die Jugend der DDR sollte verstärkt auf die DDR und deren enge und für notwendig erachtete Bindung an die UdSSR und das sozialistische Lager ausgerichtet werden. Hieraus ergab sich die Notwendigkeit einer intensiveren Ideologisierung im gesamten Bildungs-und Ausbildungsbereich mit dem Ziel der Durchsetzung der marxistisch-leninistischen Weltanschauung. Die Einbindung des einzelnen in die kollektive, passive wie auch aktive Inpflichtnahme wurde durch die FDJ gefördert und organisiert. Im Falle sozialistischer Tugendhaftigkeit widerfuhr dem DDR-Jugendlichen die Respektierung und Förderung jugendgemäßer Bedürfnisse und die frühzeitige, starke Einbindung in die Gesellschaft. Diese gesellschaftliche Integration war nicht selbstlos, sondern Resultat der Erkenntnis des Wirtschaftsfaktors Jugend, deren starkes Engagement mit beruflichem Fortkommen entschädigt werden konnte. Dabei stand hinter der begrifflichen (dialektischen) Verflechtung von Recht und Pflicht der Grundsatz von „Zuckerbrot und Peitsche“ in der sozialistischen Jugendpolitik. Besonders deutlich wurde diese, das Wesen sozialistischer Jugendpolitik treffend charakterisierende Formel in bezug auf „Recht und Ehrenpflicht der Jugend zum Schutz des Sozialismus“ Daß hieran kein Weg eines Jugendlichen vorbeiging -es sei denn unter zum Teil erheblichen persönlichen Einbußen -ist auch uns im Westen Deutschlands nach dem Vereinigungsprozeß deutlicher bewußt geworden. Eine staatlich zumeist über FDJ, GST (Gesellschaft für Sport und Technik), DSF (Deutsch-Sowjetische Freundschaft) oder DTSB (Deutscher Turn-und Sportbund) vorgeplante und gelenkte Freizeitgestaltung der Jugendlichen, bis hin zur Zuweisung von Ferienaktivitäten und Urlaubszielen, lag im Sinne des großen, alles übergreifenden Ziels der Schaffung der sozialistischen Persönlichkeit als dem „neuen Menschentyp“ des Sozialismus. Diese aufgezeigten Wesensgehalte oder Tendenzen in der Jugendgesetzgebung der SED lassen deren einstmaligen Charakter als Instrumentarium zur politischen Sozialisation der Jugend in der DDR-Gesellschaft sichtbar werden. Es war ein Instrumentarium, das einer ständigen Überprüfung inhaltlicher Art und Kontrolle in Durchführung und Fortschritt unterlag. Alle Parteitage der SED und die sich an ihnen orientierenden Jugend-parlamente der FDJ bemühten sich, ihre jugend-politischen Grundsätze an künftigen Aufgaben und Anforderungen zu messen. Besagte Parteitagsbeschlüsse beinhalten die jeweilige jugendpolitische Orientierung, die sich in vier Grundsätze zusammenfassen läßt:

1. Die SED verstand Jugendpolitik stets als festen Bestandteil ihrer Gesamtpolitik. Das bedeutet, daß die Aufgaben für die Jugend immer von den grundsätzlichen Zielen und Aufgaben der Partei abgeleitet wurden. Daß man die Jugend-politik in den politischen Gesamtzusammenhang stellte, bedeutete auch eine Zentralsteuerung, Durchführung und Kontrolle derselben. 2. Der Vertrauensvorschuß gegenüber der Jugend wie auch die Übertragung der Verantwortung an sie war nicht unbedingt als hohles Prinzip der Partei anzusehen. „Vertrauen und Verantwortung“ besaß als generelles Prinzip der Jugendpolitik der Partei durchaus Geltung, wenn man sich vor Augen führt, daß von den 500 Abgeordneten der Volkskammer die FDJ 40

Mandate, das sind acht Prozent aller Sitze inne-hatte. Bezogen auf die Volksvertretung in den Gemeinden, Städten, Kreisen und Bezirken ergab sich eine Gesamtzahl von 22043 Abgeordneten, die samt und sonders Mitglieder der FDJ waren, da der einheitliche Jugendverband auch die einheitliche Volksvertretung der Jugend darzustellen hatte Derjenige, der das Vertrauen der FDJ und der hinter ihr stehenden Parteileitung hatte, wurde in aller Regel auserkoren, Verantwortung zur Aufgabenwahrnehmung nach der SED-Devise „Jugend leitet Jugend“ zu übernehmen.

3. Dafür Sorge zu tragen, daß die Jugendlichen sich die Lehren von Marx, Engels und Lenin aneigneten und „stets in Wort und Tat als sozialistische Patrioten und proletarische Internationalisten“ handelten, galt als erstrangiges und unumstößliches Prinzip. Ihm lag die Maxime zugrunde: „Marxistisch-leninistische Weltanschauung muß erworben werden.“ Darin steckt die Erkenntnis, daß das Studium des Sozialismus erst dann sinnvoll erschien, wenn es sich mit der aktiven Beteiligung der Jugendlichen am politischen Kampf verband. 4. Die SED sah die FDJ nicht allein als Kampf-reserve der Partei; sie hielt eine politisch gefestigte FDJ für die notwendige Bedingung einer erfolgreichen Jugendpolitik. Die Partei wußte sehr wohl, daß die Jugend der DDR ohne den seitens des Jugendverbandes ausgeübten Organisierungszwang nicht mehr über den Leninschen „Transmissionsriemen“ zur Durchsetzung der Parteiziele verfügen würde.

Die Erkenntnis, daß kommunistische Erziehung politischer Organisiertheit bedürfe, unterstrich die Einsicht, daß die sozialistische Persönlichkeit keinesfalls spontan, aus sich heraus entstehen könne. Nur die druckvolle, mehr oder weniger zwangsweise ausgeübte sogenannte kommunistische Erziehung der Jugend vermochte für einen vorübergehenden Zeitraum und nicht grundsätzlich in der gesamten Lebensweise, sozialistisch geprägtes Wohlverhalten des einzelnen hervorzubringen, und so knüpfte man die Hoffnung an die propagandistisch zu verstehende und zu wertende Aussage: „Der Einfluß der Partei auf alle Jugendlichen realisiert sich über eine politisch gefestigte, ausstrah-lungsfähige FDJ" Man hoffte auch, die in ihrer politischen und moralischen Entwicklung zurückgebliebenen Jugendlichen im Auffangbecken FDJ auf Parteikurs trimmen zu können. Über die Über-zeugung hinausgehend, daß es keine erfolgreiche Jugendarbeit ohne die FDJ geben könne, hatte die SED grundsätzlich „die Klassenpflicht“ aller Kommunisten verankert, sich für die kommunistische Erziehung der Jugend besonders verantwortlich zu fühlen und sich aktiv daran zu beteiligen. Doch schon in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre wuchs offensichtlich die Erkenntnis, daß es nur dann meßbare Erfolge der kommunistischen Jugenderziehung im jugendpolitischen Anspruch der SED zu geben schien, wenn es der Partei gelänge, die Einheitlichkeit oder Gleichschaltung der Erziehung in Elternhaus, Schule und Betrieb zu erzielen. Die immer stärker zum Ausdruck kommenden Bemühungen in bezug auf Herstellung dieser Einheitlichkeit deuteten jedoch schon seit Ende der siebziger Jahre auf relativ große Erfolglosigkeit hin. Eine Erfolglosigkeit, die nur wenigen Beobachtern signifikant erschien, von Politik, Wissenschaft und den Medien jedoch weitgehend ignoriert oder bewußt nicht wahrgenommen wurde.

II. Das verfehlte Erziehungsziel

Selten genug fanden sich in den Publikationen der DDR konkrete Ansätze zur kritischen Beurteilung all der vielen Maßnahmen, die auf die totale Einbindung der Jugendlichen in die sozialistische Gesellschaft abzielten. Der weniger geübte Laie wird in den Texten nicht nur der ausgesprochenen Parteischriften einen immer wieder beteuerten Erfolg und Fortschritt in der Sache bzw. Lob für die Ausführenden wie auch für die Zielgruppen lesen können. Doch darf darauf hingewiesen werden, daß immer dort, wo sich die Positiva häuften, das Negative nicht verborgen blieb: in Halbsätzen durch Einschränkungen zum Ausdruck gebracht oder in der Aufforderung zu noch stärkeren Anstrengungen zu erkennen.

Die verstärkten Bemühungen um die weltanschauliche und moralische Erziehung der Jugend wurden besonders im Vorfeld der Parteitage der SED augenfällig. So gab es beispielsweise vor dem 10. Parteitag 1981 eine seit Juni 1980 in der Fachzeitschrift „Pädagogik“ laufende Diskussion zum Thema „Höhere Qualität der kommunistischen Schuljugend“. Die Bilanzierung lief in der Regel auf eine teils kritische bis selbstkritische Überprüfung hinaus, wie weit und wie gut Lehrer, Schulfunktionäre und pädagogische Wissenschaftler der Orientierung und den Anweisungen des jeweils vorhergehenden Parteitages folgten und welchen konkreten Beitrag sie zur weiteren Vervollkommnung der kommunistischen Erziehung der Schuljugend leisteten.

Auf dem VII. Pädagogischen Kongreß hatte man sich eines Mittels neu besonnen, das für geeignet erachtet wurde, bessere Ergebnisse in der sozialistischen Bewußtseinshaltung der Jugendlichen zu erzielen -das Mittel der Schülerbeurteilung. Man ging davon aus, daß mittels einer entsprechenden Würdigung des Bewußtseinsstandes des einzelnen Schülers große individuelle Reserven geweckt werden könnten und jeder einzelne dadurch besser aktiviert werden würde. Im übrigen forderte man, die „wissenschaftlich fundierte Schülerbeurteilung“ nutzbar zu machen für die „systematische Entwicklung von Eigenschaften, Einstellungen, Überzeugungen und Verhaltensweisen der sozialistischen Persönlichkeit“ für die frühzeitige Berufsorientierung, für „die Befähigung zur Tätigkeit und zum Leben in kollektiven und sozialistischen Gemeinschaften“ und für die Einstufung dieser Kollektive „nach den Normen und Anforderungen der sozialistischen Gesellschaft“ als Gradmesser der Entwicklungsbedingungen für die Persönlichkeit. Die Schülerbeurteilung stellte somit einen nach innen wirkenden bedeutsamen Indikator politischen Bewußtseins der Schuljugend dar. Sie wurde entwickelt aus einer Leistungs-, Einstellungs-, Überzeugungs-und Charakterdiagnose und wurde zum wichtigen Bestandteil für die Kader-akte von FDJ, Partei, Schule und Betrieb.

Das nach Angaben von Gesprächspartnern aus der DDR nicht seltene Attestat politischer Unzuverlässigkeit konnte zur schicksalsbestimmenden Bedeutung werden. Auf der Grundlage der Faktoren: Verhalten in Entscheidungs-, in Identifizierungsund in Bewährungssituationen wurden Merkmale der Schülerpersönlichkeit festgeschrieben, die sich dann wie folgt lasen: „... hat im letzten Jahr das Internat verlassen und dadurch schwer gegen die Regeln des sozialistischen Gemeinschaftslebens verstoßen. Er zeigt wenig Kollektivgeist und nimmt an vielen Veranstaltungen nicht teil. Sein Verhalten gegenüber Lehrern und Erziehern entspricht nicht den Normen eines Schülers an der erweiterten Oberschule , Arthur Becker 1. Er leistet keine aktive Arbeit in der FDJ und stört Versammlungen immer wieder durch unqualifizierte Fragen! An der vormilitärischen Ausbildung der GST nimmt er lustlos teil und erreicht nur sehr mangelhafte Leistungen.“

Diese Beurteilung aus dem Zeugnis eines jungen Abiturienten hatte zur Folge, daß der für die Zuweisung eines Studienplatzes außerordentlich bedeutsame Gesamtvermerk „besonders geeignet“ wegen mangelnder positiver Einstellung zum DDR-Staat verweigert worden ist. Es waren jedoch nur wenige, die das Risiko der Nonkonformität eingingen, die Kollision mit den staatlichen Erwartungen wurde weitgehend vermieden. Dies erklärt, weshalb über 90 Prozent der FDJ-Mitglieder nur aus Opportunitätsgründen in dieser Jugendorganisation gewesen sind Dennoch läßt sich festhalten, daß die politisch-ideologische Beeinflussung Früchte trug, was sich etwa darin äußerte, daß die Menschen in der DDR mit einem großen Wissensmanko zu leben hatten. Gemeint ist damit das Vorenthalten objektiven Wissens über die nichtsozialistische Geistes-und politische Welt. Man war bemüht, dieses Manko durch Aufspüren von literarischer Information aufzuheben.

Bibliotheken galten noch weitgehend als Freiräume, in welchen ein gezieltes Suchen durchaus zum Erfolg führen konnte. Diese Art, aus Literatur Zusatzwissen zu schöpfen, wurde nach Angaben von Betroffenen allerdings nur von wenigen genützt. Als weiterer Erfolg der Beeinflussung kann festgehalten werden, daß zum Beispiel allgemeine Diskussionen etwa über Grundfragen der Demokratie aufgrund der totalen Einseitigkeit in der Kenntnis-Vermittlung sehr schwer waren. Wegen des Wissensmankos einerseits und jener über Jahre hinweg latent wirksamen Beeinflussung auch derer, die überhaupt nichts mit dem Kommunismus zu tun haben wollten andererseits, konnte man kaum diskutieren. Über Jahre hinweg hatte man propagandistische Feind-und Negativbilder vom Kapitalismus, von Demokratie und ihren bundesrepublikanischen Entwicklungen gezeichnet. Natürlich muß man sich in diesem Zusammenhang die Frage stellen, bis zu welchem Zeitpunkt die ideologische Indoktrination, die ja bereits mit der Vorschule begann, eigentlich von den Heranwachsenden hingenommen wurde. Bei dem Versuch, eine Antwort zu finden, stößt man immer wieder auf die Altersgrenze von 14 Jahren. Viele junge Menschen vertraten die Ansicht, daß die pädagogische ideologische Ingriffnahme bis zum 14. Lebensjahr differenziert gehandhabt wurde; man bot dem Kind wie auch dem heranwachsenden Jugendlichen eine Vielzahl von Aktivitätsmöglichkeiten zur Befriedigung einer Art Pfadfinderromantik in Gestalt von Zeltlager, sportlichen und allgemeinen Leistungswettbewerben an. In der danach einsetzenden Phase wachsender kritischer Distanzierung von Vorgegebenem tauchte vielfach der Eindruck auf, daß durchaus irgend etwas nicht in Ordnung sei. Damit war man an einer Schwelle angelangt, an der man sich auch -sich selbst Rechenschaft ablegend -fragte, inwieweit sich die politische Indoktrination bereits in der Persönlichkeit niedergeschlagen hat. Fand man für die schlechte Lebenssituation die passende Antwort, so schien man sich gewissen Positionen der sozialistischen Persönlichkeit angenähert zu haben; war dies jedoch nicht der Fall, so wurden diese Positionen zunehmend in Frage gestellt oder gar klar abgelehnt.

Mit wachsendem Interesse beispielsweise für die Rockmusik oder den Ost-West-Konflikt, im Alter ab etwa 15-16 Jahren, wendete sich die Situation. Dieses Interesse brachte bei gleichzeitig zunehmender Kritikfähigkeit eine stärkere Verselbständigung auch gegenüber den Eltern mit sich. Die rasche Erkenntnis, daß sich dieser Entwicklung Barrieren auftun, brachte den Jugendlichen mit 17-18 verstärkt zu der Haltung: „Mir ist alles egal!“ Vor allem den in der Lehre befindlichen jungen Menschen drängten die Sachzwänge in eine erste Phase des Sich-anpassen-müssens -später gefolgt von jener zweiten, wenn es um die berufliche Existenz bzw. Karrieresicherung und Familiengründung ging. Gerade in dieser Phase verschärfte sich der ideologische Zugriff des Staates, zum Beispiel mittels eines stärkeren Eingreifens durch Ideologisierung des Unterrichts, hier besonders der Staatsbürgerkunde in den Klassen 8-10, aber auch in der Behandlung von ideologisch bedeutsamen Schriftstellern im Deutschunterricht, oder aber durch die in dieser Altersstufe dominierende Militarisierung des Mathematikunterrichts, in dem Rechenoperationen in den Dienst des Militärisch-Ideologischen gestellt wurden. Trotz all dieser Maßnahmen, denen durchaus ein gewisser Erfolg in bezug auf die Bewußtseinsentwicklung zugeschrieben werden kann, lag die größte Gefahr nicht in der ideologischen Teilbeeinflussung, sondern eher im Wissensmanko, im Vorenthalten von Wissen.

Auch nach Angaben vieler Jugendlicher bestand die eigentliche Beeinträchtigung nicht in der staatlich verordneten Beeinflussung etwa im Fach Staatsbürgerkunde, da man die als Unsinn empfundene Ideologie lernen mußte, so zum Beispiel alles über das Marxsche „Kapital“, das kaum jemand verstehen konnte, wenn er nicht tief in die Materie eingearbeitet war. Weil man etwas Unverstandenes „einpauken“ mußte, entwickelte sich als Folge Abneigung. Dieser Kontra-Effekt, das Wekken von Abneigung verschärfte sich, wenn sich der Jugendliche der Wissensvorenthaltung gewahr wurde, wenn er merkte, daß er eigentlich nur das wisse und wissen durfte, was ihm offiziell in Schule und Ausbildung gesagt wurde. Es war also vorrangig der unbefriedigte Wissensdurst der jungen Menschen, die Frage nach dem anderen, was es außer dem Marxismus-Leninismus noch gäbe, das der ideologischen Erziehung bei einer nicht mehr erfaßbaren Anzahl Jugendlicher Grenzen setzte So stellte sich eigentlich schon vor Abriß der Mauer die Frage danach, inwieweit die SED nicht sogar vom Sozialismus überzeugtere Persönlichkeiten hätte erziehen können, wäre auf das starre Schema der totalen Indoktrination verzichtet worden, so daß sich die Jugendlichen durch eine breitere und objektivere Wissensvermittlung selbst ein Bild hätten machen können. Der dadurch zu erzielende Vertrauensgewinn hätte wohl manche systemimmanente Schwierigkeit entschuldigen helfen können -denn: „Ne kleene Ostmacke hat jeder, wenn er jahrelang indoktriniert wird“, wie zumindest ein Ostberliner Lehrling das Verhältnis zum SED-Staat dem Verfasser gegenüber zu charakterisieren versuchte.

Leider mußte die Erforschung der Denkhaltung der Jugendlichen in der DDR immer wieder in Ansätzen steckenbleiben. Es war selbst für die diiekt Betroffenen unmöglich, waren sie nun Schüler oder Lehrlinge, waren sie noch im pubertären Entwicklungsstadium oder bereits im Erwachsenenalter, das Denken und Fühlen der jungen Generation in all ihrer Vielfalt quasi statistisch erfassen oder pauschal qualifizieren zu können.

Die einstmals wichtige Frage, wie viele Jugendliche in der DDR gegen das System seien, mußte streng wissenschaftlich gesehen unbeantwortet bleiben. Die in Ansätzen zu eruierende Ablehnungsquote schien variabel zu sein -je nach der politischen, aber auch der persönlichen Tagessituation. Allerdings hat die Entwicklung des Um-bruchs in der DDR gezeigt, daß es gerade die jüngere Generation war, die dem SED-Staat zu Zehntausenden den Rücken kehrte. Es waren insbesondere die qualifizierten Facharbeiter, die, wenngleich sie relativ unbehelligt blieben, auf ihre Art revolutionärer dachten und handelten, weil sie von der Perspektivlosigkeit am ehesten betroffen waren. In diesem Punkt traf sich der junge Arbeiter mit dem Schüler. Dieser sah nicht selten seinen Lebensweg in einem Prozeß des Angepaßtseins vorgegeben: „In der Schule paßt man sich an, weil man das Abitur machen will; hat man das Abitur, paßt man sich an, damit man einen Studienplatz bekommt; wenn man den Studienplatz hat, paßt man sich an, damit man eine Planstelle kriegt; hat man die Planstelle, dann paßt man sich an, damit man sie behält.“

Mit diesen Haltungen demonstrierten die Jugendlichen ihr mangelndes sozialistisches Bewußtsein. Oder aber dieses Bewußtsein hat sich erfolgreich entwickeln können, wenn man die Behauptung aufstellt, daß es sich gerade erst in der totalen Anpassung verwirklicht. So betrachtet führte die ideologische Erziehung in der DDR zum Erfolg: Der resignierende und völlig angepaßte Mensch als die sozialistische Persönlichkeit. Und so erwies sich neben dem totalen Wissensmanko das Angepaßtsein und -werden des Menschen im Sozialismus als die wohl größte Gefahr für die Bürger in der ehemaligen DDR. Dies sind die eigentlichen Früchte der ideologischen Erziehung heute. Es war eine Entwicklung, aus der man nur selten auszubrechen vermochte, letztlich durch Beteiligung am revolutionären Umbruchprozeß, oder aber durch eine Radikalisierung, wie wir sie heute bei Teilen der Jugendlichen in den neuen Bundesländern immer häufiger beobachten können.

Grundsätzlich erhebt sich nun die Frage, inwieweit der hochgradig ideologisierte Erziehungsprozeß in der alten DDR Auswirkungen hinterlassen hat, deren Defizite nach Vollzug der deutschen Einheit offenkundig werden. Wie bereits dargestellt, sind insbesondere ein hohes Maß an persönlichem Angepaßtsein aufgrund einer totalen Vereinnahmung und Verkollektivierung des einzelnen sowie ein erhebliches Wissensmanko feststellbar. Eine demokratische Gesellschaft wie sie in der alten Bundesrepublik seit mehr als 40 Jahren Bestand hat, erfordert zunächst einmal die Herauslösung aus einem nivellierenden Kollektivismus durch Erziehung zu größerer Verselbständigung im Denken und Handeln. Dies erscheint als die im Augenblick größte Hürde, die es zu überwinden gilt.

Der revolutionäre Prozeß, der die Wende in der DDR herbeigeführt hat, wurde hauptsächlich von der werktätigen Bevölkerung getragen und nicht von der studentischen Jugend. Dies mag zunächst verwundern, glaubte man doch, daß sich der jugendliche Bevölkerungsteil am ehesten von den ideologischen Zwängen befreien könne und sich dem Anpassungsdruck entgegenzustellen vermöge. Betrachtet man jedoch die Situation des Jugendlichen in der alten DDR näher, so wird man feststellen können, daß es sich gerade bei diesem Teil der Bevölkerung um jenen handelte, der weitgehend mit einer Vielzahl von Privilegien ausgestattet war: Der sich systemkonform verhaltende Jugendliche erfuhr insbesondere dadurch Förderung, daß er seiner schulischen Ausbildung bis zum Abitur nachgehen konnte. Hatte er diese Schwelle übersprungen, so gelang es ihm, bei anhaltendem Wohlwollen ein Studium möglichst seiner Wahl aufzunehmen; wurde er zum Empfänger des obligatorischen staatlichen Stipendiums, erhielt er einen Wohnheimplatz und konnte fest mit einem Arbeitsplatz rechnen. Dies bedeutet, daß im Grunde genommen die studentische Jugend nach der Wende am meisten zu verlieren hatte-Daraus erklärt sich auch, daß die PDS bei den nachfolgenden Wahlen einen nicht unerheblichen Anteil ihrer Wählerschaft aus dem universitären Umfeld rekrutieren konnte. Natürlich gilt das eben Gesagte auch und gerade für die Dozenten-und Professorenschaft, also jener privilegierten Schicht, die mittlerweile im Zuge von Abwicklungs-und Evaluierungsverfahren ihrer einstmaligen Privilegien beraubt wurde.

Auffallend zeigte sich in den letzten eineinhalb Jahren, und dies gilt nicht nur für die Jugend, daß sich in den vergangenen vier Jahrzehnten der Existenz einer dem sogenannten real existierenden Sozialismus verschriebenen DDR eine beinahe totale Entmündigung des Bürgers entwickeln konnte. Der einzelne wurde -wie bereits ausgeführt -der totalen Vereinnahmung durch Staat und Partei unterworfen. Von der Wiege bis zur Bahre lenkte der Staat die Geschicke des einzelnen, wies ihn in strikte gesellschaftliche Abläufe ein, verordnete, was zu tun und zu lassen war, sorgte sich um Erziehung, Bildung und Ausbildung, lenkte die Berufswahl und gab den Arbeitsplatz vor -kurzum: die sogenannte sozialistische Persönlichkeit wurde zum entmündigten Diener eine Staates, dessen Absolutheitsanspruch auch nicht vor dem Denkverhalten des einzelnen haltmachte.

Daraus resultiert die Forderung, daß es insbesondere bei der Jugend um die Erziehung zum reflektierten kritischen Bewußtsein, zur freien Selbstverwirklichung in Eigenverantwortung geht, die nicht in eine übersteigerte Liberalität einmünden sollte. Die Umgestaltung des schulischen Prozesses gewinnt dabei oberste Priorität. Die junge Generation hat einen enormen Nachholbedarf abzudekken, der nicht von heute auf morgen zu bewerkstelligen ist. Es bleibt fraglich, oder der heutige Abiturient oder Student diesen Prozeß noch so vollziehen kann, daß er bereits „geläutert“ ins berufliche Leben übertritt. Auch wenn man dem jungen Menschen, trotz aller Verbiegungen, ein relativ hohes Maß an Flexibilität zugesteht, wird er sich schwertun, sich den veränderten Rahmenbedingungen schnellstmöglich anzupassen, wobei dieser Anpassungsprozeß nicht mit dem durchlebten, von der Ideologie bestimmten verwechselt werden darf. Vermutlich wird noch mindestens ein Generationswechsel erfolgen müssen, um von einem unvoreingenommenen Hineinwachsen in die neue demokratische Gesellschaft in den neuen Bundesländern sprechen zu können.

Konzentriert man sich auf die Problematik der Entwicklung der Jugend aus der alten DDR im vereinigten Deutschland, so wird man erkennen müssen, daß die Sozialisation in Freiheit eine durchaus schwierige, wenn auch nicht allzu langwierige Angelegenheit sein wird. Der Umgang mit der persönlichen und auch gesellschaftlichen Freiheit muß erlernt werden. Ein „Ausprobieren“ dieser Freiheit vermag Situationen zu schaffen, die extreme Randerscheinungen hervorbringen. Der Verfall des Glaubens an den Staat geht zum Teil Hand in Hand mit einer Abkehr von diesem, mit der Flucht in den radikalen Extremismus. Der abrupte Verlust an Hörigkeit gegenüber einem totalen Staat muß aufgefangen werden durch die Entwicklung eines gesunden Vertrauens in die Rechtsstaatlichkeit. Es muß sich ein neues Rechtsempfinden und -bewußtsein aufbauen, damit man den Platz in einer neuen Gesellschaftsordnung finden kann und auch zu finden weiß. Hier ist be-wußtes, gezieltes und vor allem sanftes Anleiten gefragt -ein fundamental wichtiges Anliegen, dessen sich alle Bildungs-, Erziehungs-und Ausbildungsträger in den neuen Bundesländern unter Zuhilfenahme bewährter Institutionen der alten Bundesländer annehmen müssen.

Den Umgang mit und das Leben in einer Demokratie zu erlernen, ist mit Sicherheit eine der schwierigsten Aufgaben in der politischen Sozialisation; sie ist zugleich eine der reizvollsten, entwickelt sie sich doch unter der Maßgabe der Freiheit.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Jugendgesetz der DDR, § 1 Abs. 1.

  2. J. Becher/P. Friedrich, Das Schöpfertum der Jugend in der technischen Revolution; in: Autorenkollektiv (Hrsg.), Das sozialistische Menschenbild, Berlin 1967, S. 527.

  3. Ebd., S. 53O.

  4. Messe der Meister von morgen (jährliche Präsentation der von den Jugendkollektiven entwickelten Neuerungen).

  5. Wörterbuch zur sozialistischen Jugendpolitik, Stichwort „Jugendpolitik der SED“, Berlin (Ost) 1975, S. 125.

  6. Ebd., S. 126.

  7. Vgl. Teil IV des JG (§§ 24-26).

  8. Vgl. A. Freiburg/Chr. Mahrad, FDJ. Der sozialistische Jugendverband der DDR, Opladen 1982, S. 347.

  9. Ebd., S. 328.

  10. W. Friedrich/W. Hennig, Jugendforschung. Methodologische Grundlagen, Methoden und Techniken, Berlin (Ost) 1976, S. 327.

  11. So die Ministerin für Volksbildung, M. Honecker, auf dem VII. Pädagogischen Kongreß 1971, in: Erlebach/Hoff/Ihlefeld/Zehner, Schülerbeurteilung, Berlin (Ost) 1976, S. 15.

  12. Ebd.

  13. H. Helmrich/B. Ahrndt, Schüler in der DDR. Zwei Erlebnisberichte, München 1980, S. 118.

  14. Entsprechende Angaben ehemaliger DDR-Jugendlicher noch vor dem Abriß der Mauer finden heute ihre Bestätigung.

  15. Nach Angaben vieler Jugendlicher, die der Verfasser im Zusammenhang mit der Erarbeitung seiner Habilitationsschrift zum Thema: „Die sozialistische Bewußtseinsbildung Jugendlicher in der DDR“ bereits in der ersten Hälfte der achtziger Jahre erhielt und die nunmehr bestätigt wurden.

  16. Schüler W. aus Chemnitz, Befragung des Verfassers von 1983.

Weitere Inhalte

Peter Eisenmann, Dr. phil habil., geb. 1943; seit 1985 Leiter der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung e. V., München; Honorarprofessor für Politikwissenschaft an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Veröffentlichungen u. a.: Mit oder ohne Konzept? Brzezinski und die Außenpolitik der USA, Krefeld 1979; Die deutsche Nation in der Ost-West-Auseinandersetzung, Würzburg 1979; Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland: Von der Westintegration zur Verständigung mit dem Osten, Krefeld 1982; (zus. mit Clemens Burrichter u. Klaus Lange) Rahmenbedingungen einer Deutschlandpolitik für die 90er Jahre, München 1990; (zus. mit Gerhard Hirscher) Die deutsche Identität und Europa, München 1991.