Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Die Kurden Ein Volk auf der Suche nach seiner Identität | APuZ 30-31/1991 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 30-31/1991 Die Mächte im Nahen Osten und der zweite Golfkrieg Abhängigkeiten und Entwicklungschancen der arabischen Welt Die Kurden Ein Volk auf der Suche nach seiner Identität Ursprung und Entwicklung des Islam Artikel 1

Die Kurden Ein Volk auf der Suche nach seiner Identität

Namo Aziz

/ 24 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Kurden als drittgrößtes und ältestes Volk im Nahen Osten haben es über drei Jahrtausende hinweg nie zu einem anerkannten eigenen Staat gebracht. Die über 20 Millionen Kurden sind heute auf fünf Staaten verstreut und genießen den traurigen Ruhm eines von ständigen Verfolgungen bedrohten Volkes. Denn die jeweiligen Regierungen dieser Länder bestreiten die kulturelle und nationale Eigenständigkeit dieses Volkes, ganz zu schweigen von den immer wieder umkämpften autonomen Rechten. Leitfaden der Geschichte dieses Volkes ist das ständige und oft erfolglose Ringen um die eigenständige kurdische Identität und Nationalität -nicht zuletzt behindert durch die in der kurdischen Stammesgesellschäft herrschenden Rivalitäten der Stammesführer. Über eine Kette von Aufständen, die von den Feldzügen Alexanders des Großen über die Siegeszüge des Islams, der Seldschuken, Osmanen, Perser, Jungtürken bis zu den britischen Kolonialherren Anfang des 20. Jahrhunderts reichen, widersetzten sie sich einer Fremdherrschaft, ließen sich aber gleichzeitig von den jeweiligen Herrschern für deren Zwecke ausnutzen. Als das Osmanische Reich, dem der größte Teil des kurdischen Gebietes angegliedert war, nach dem Ersten Weltkrieg von den westlichen Alliierten neu aufgeteilt wurde, verpaßten die Kurden die wohl günstigste Gelegenheit zur Schaffung eines eigenen Staates. Obwohl ihnen dieser schon prinzipiell zugestanden war, verhinderte das Erstarken des türkischen Nationalstaates unter Kemal Pasha sowie die geschwächte Streitkraft der Alliierten nach dem Ersten Weltkrieg eine Verwirklichung dieses Planes. Vielmehr wurde de facto die kurdische Diaspora besiegelt. In unzähligen Rebellionswellen widersetzten sich die Kurden dem Schicksal eines von den Mächten des Nahen Ostens zerriebenen Volkes -mit dem Ergebnis, daß das einst die Wiege der Menschheit bildende Volk der Kurden heute existentiell bedroht ist.

I. „Kurdistan“ nach dem Golfkrieg

Die Kurden

Seit einiger Zeit hört die Weltöffentlichkeit von einem Volk, dessen Name lange Zeit in den Bereich des Legendären verwiesen wurde. Insbesondere die Deutschen kennen es oft nur durch die unterhaltsamen Ausführungen Karl Mays, etwa im Roman „Durchs wilde Kurdistan“, geschrieben von einem Autor, der dieses Land und diese Leute, die er als kriegslüstern schildert, nie selbst sah und sich auf die Schilderungen Layards aus dem Jahre 1849 stützt, die nach abenteuerlichen Reisen in den Nahen Osten entstanden waren. Das Leid dieses Volkes zwingt die Menschen im Westen, die den Krieg gegen den Irak zur Befreiung Kuwaits als totalen Femsehfeldzug in deutschen Wohnzimmern verfolgten, umzudenken und ihre romantischen Vorstellungen von den Kurden, deren Schicksal als Unterhaltungsstoff im deutschen Bücherschrank ruhte, zu revidieren.

Ein Blick in die kurdischen Berge eröffnet jedem Betrachter das Bild einer Tragödie unvorstellbaren Ausmaßes. Hunderttausende irakischer Kurden sind seit März/April 1991 auf der Flucht, bepackt mit dem Lebensnotwendigsten, in Schutzlagern hausend, die ihnen das Überleben sichern sollen. Noch stehen diese Lager unter dem internationalen Schutz, noch appelliert die Weltpresse an die moralische Verantwortung der Mächtigen, einem Volk zu helfen, das vom Aussterben bedroht ist. Eine weltweite Hilfsaktion unter dem Stichwort „Kurdistan“ ist angelaufen; Bundesaußenminister Genscher bereiste die kurdischen Flüchtlingslager im Iran und veranlaßte eine Aufstockung der Spendengelder. Bis in Milliardenhöhe sind die Mittel angewachsen, doch gleichzeitig wird bekannt, daß nicht alle Mittel ihre Zielorte erreichen. Immer noch sterben täglich Hunderte von Menschen, vor allem Kinder, die den Strapazen der Flucht nicht gewachsen sind. Zudem zeigten sich die jeweiligen Regierungen im Iran oder in der Türkei dem Ansturm von Flüchtlingen und der Bewältigung der sich dadurch ergebenden Probleme wenig gewachsen, auch wenn der amerikanische Außenminister Baker nach einem kurzen Überfliegen der Grenzregionen die „humanitären Leistungen der Türkei“ würdigte. Viele Wochen lang weigerten sich türkische Behörden, wenigstens die Schwachen unter den Flüchtlingen wie Schwangere, Kranke, Kinder und Gebrechliche von den eisigen Bergen in die Täler zu holen.

Nach Beendigung des Golfkrieges sprach Präsident Bush von einer „neuen Ordnung“ im Nahen Osten. Unter den dortigen politisch maßgeblichen Mächten schien schnell Übereinstimmung darüber zu herrschen, daß die Kurden keinen eigenen Staat bekommen sollen. Auch der UNO geht es in ihrem Beschluß 688 nur um den Schutz von Minderheiten, den kurdischen im Norden des Irak wie den schiitischen im Süden. Die berühmte „neue Ordnung“ beinhaltet somit keineswegs die Realisierung eines uralten Traumes großer Teile des kurdischen Volkes von einem eigenen Staat.

Völlig unerwartet ergriffen Ende April dieses Jahres die Kurdenführer im Irak, Jalal Talabani und Massoud Barzani, die Initiative und kamen einer Einladung des irakischen Staatspräsidenten Saddam Hussein nach, um über eine neue Autonomie-regelung für die Kurden im Norden des Irak zu verhandeln. Empört sprach die Weltpresse vom „Pakt mit dem Teufel“, von „Bruderküssen der ungewöhnlichsten Art“. Die Skepsis schien angebracht. Zwar wurde im Geist des Vertrauens verhandelt, doch wurden Übereinkünfte zwischen Parteien erzielt, die im Umgang miteinander nur schlechte Erfahrungen haben. Den Gesprächen lag das sogenannte März-Abkommen aus dem Jahre 1970 zugrunde, das zwischen Bagdad und dem damaligen Rebellenführer Mullah Mustafa Barzani abgeschlossen wurde. Das Abkommen folgte einer langen bewaffneten Auseinandersetzung der kurdischen Freiheitskämpfer, Peschmerga („die dem Tod entgegensehen“), mit den Soldaten der Irakischen Revolutionsgarde. Der iranische Schah unterstützte die Kurden und setzte sie als Druckmittel gegen Bagdad ein, um den im achtjährigen Iran-Irak-Krieg umkämpften Schatt-al-Arab als neue Grenze durchzusetzen. Als ihm dies im Algier-Abkommen von 1975 gelungen war, bezahlte er das Zugeständnis von Bagdad mit dem Leben vieler tausend kurdischer Freiheitskämpfer, deren Unterstützung er abrupt abbrach und sie damit der blutigen Rache Saddams freigab.

Das unter derartig fragwürdigen Bedingungen zustande gekommene März-Abkommen hielt in der Praxis nicht einmal bis zum Algier-Abkommen von 1975. Als das Baath-Regime die kurdischen Ölstädte Kirkuk und Khanaqin für sich behielt, begann der erneute Guerillakrieg. Die anfangs so positiv beurteilten Verhandlungsergebnisse entpuppten sich für die Kurden als einfache Übertölpelung einer kooperationswilligen Fraktion aus den eigenen Reihen. Auch die jüngsten Verhandlungen in Bagdad werfen ihre Schatten voraus. Wieder sind es die Fragen um die Nutzung der reichen Städte Kirkuk und Mossul, an denen sich die Verhandlungspartner festfahren, wieder befürchten die Kurdenverbände das altbewährte Mittel der Baath-Partei, einen neuen Krieg, und rüsten auf.

Sind die UNO-Truppen erst aus dem Land, so scheint die nächste blutige Auseinandersetzung zwischen den Kurden und dem mächtigen Mann in Bagdad vorprogrammiert. Talabani sagte für den Fall des Abzuges der US-Truppen erneute Unruhen im Norden Iraks voraus. Saddams Verhandlungsbereitschaft basiert in erster Linie auf dem Wissen, daß er seine Macht nur erneut konsolidieren kann, wenn er einerseits freie Hand gegen seine Gegner hat und andererseits das durch Krieg und Bürgerkrieg zersplitterte und vollkommen verarmte Volk Iraks wieder hinter sich weiß. Die Hoffnungen der Kurden hingegen basieren auf dem Wissen, daß eine Regierung, wie die unter Saddam, nur unter internationalem Druck zu Zugeständnissen bereit sein wird.

Es scheint den Lehren aus der Geschichte zu widersprechen, sollten die Verhandlungen zu einem Erfolg für die Kurden werden. Daß das uralte Problem eines rebellischen oder besser: rebellisch gemachten Volkes auf diese Weise gelöst werden kann, glauben am wenigsten die flüchtenden Kurden selbst, die den Friedensversicherungen ihrer politischen „Vertreter“ keinen Glauben schenken und ohne Schutzgarantie nicht in die verlassenen Heimatstädte zurückkehren wollen. Was den Kurden bleibt, ist die Hoffnung auf eine internationale Verantwortung für das Überleben eines Volkes.

II. „Kurdistan“ und die Kurden

Das kurdische Gebiet ist aufgeteilt auf fünf Länder: die Türkei, den Iran, Irak, Syrien und die Sowjetrepublik Armenien. Die abweisende Berg-welt vom östlichen Taurus und der Zagros-Kette, die sich vom Nordwesten nach Südosten erstreckt, bildet den Kem einer Landschaft, die erobernde Armeen schon immer fernhielt und eine Zuflucht für Verfolgte und Straffällige darstellte. Noch heute ist beispielsweise der kurdische Norden des Irak ein bekannter und relativ sicherer Weg ins Ausland für flüchtende Iraker.

Trotz der natürlichen Unzugänglichkeit des kurdischen Gebietes wurde es mehrfach erobert und aufgeteilt, so daß von einem Staat Kurdistan nie die Rede war. Die strategisch günstige Lage zwischen den Großmächten im Mittleren Osten, den Persern und Osmanen, legte die heutige Grenze zwischen Iran, Irak und Türkei fest. Die britischen und französischen Eroberungen im Ersten Weltkrieg trennten Syrien und den Irak vom Osmanischen Reich.

Schätzungen über die Gesamtzahl der Kurden gehen weit auseinander. Entweder werden sie bei Volkszählungen nicht gesondert aufgeführt oder die jeweiligen Beauftragten bedienen sich einer sehr engen Auslegung des Begriffes „Kurde“, so daß nur ein Bruchteil der Kurden erfaßt wird. Insbesondere in der Türkei fanden die Kurden bis vor kurzem überhaupt keine Anerkennung als ethnische Gruppe. Man schätzt, daß insgesamt über 20 Millionen Kurden im kurdischen Gebiet leben, wobei etwa zwölf Millionen im Osten der Türkei, sechs Millionen im Westen des Iran, vier Millionen im Norden des Irak, über eine halbe Million in Syrien und knapp eine Viertelmillion in der Sowjetunion leben. Mit dieser Zahl stellen sie die größte Minderheit eines Volkes ohne Land in der Welt dar.

Im Unterschied zur üblichen Vorstellung von den Kurden sind sie nur zu einem sehr geringen Teil Nomaden. Die meisten von ihnen arbeiten als Ackerbauern. Berühmt sind die kurdischen Ebenen Iraks und Syriens als die ehemaligen „Kornkammern Mesopotamiens“, wobei sie dies allerdings heute im Irak nach einer Politik der „Verbrannten Erde“, die besonders unter Saddam betrieben wurde, kaum mehr sein dürften. Wichtigste Verkaufsprodukte sind Tabak und Baumwolle. Im unzugänglichen Berggebiet der Kurden leben die Ackerbauern relativ unbehelligt und dürfen das von ihnen bearbeitete Land ihr eigen nennen. In den Ebenen hingegen haben die meisten Bauern ihr Land gepachtet und bezahlen dem häufig in der Stadt lebenden Eigentümer einen festgesetzten Anteil des Ertrages. Aufgrund der islamischen Erbschaftsregeln, wonach alle Söhne den gleichen Anteil am väterlichen Besitz erhalten, ist das Land oft in zahlreiche winzige Parzellen aufgeteilt, die zu klein sind, um eine Familie zu ernähren. Hinzu tritt die schlechte industrielle und maschinelle Versorgung der Bauern mit Weiterverarbeitungseinrichtungen wie Traktoren und Erntemaschinen.

Die wirtschaftliche Unerschlossenheit der kurdischen Bergdörfer hat auch ihren Grund in der bewußten Vernachlässigung wichtiger Voraussetzungen einer Industrialisierung, wie beispielsweise der Erschließung des Landes durch ausgebaute Straßenverbindungen. Ein unnatürlich gewachsenes Straßennetz macht oft lange Umwege nötig, weil die Straßen immer nur zu den jeweiligen Distrikt-oder Provinzhauptstädten führen. Trotzdem haben europäische Billigprodukte die heimischen Artikel vom Markt verdrängt. Und die bestehenden Mechanikbetriebe sind im internationalen Wettbewerb nicht konkurrenzfähig und tragen mit Billiglöhnen zur weiteren Verarmung der Bevölkerung bei. Wachsender Arbeitsmangel und Bargeldbedarf zwingen zahlreiche Familien zur Migration in industrielle Zentren außerhalb Kurdistans oder -insbesondere im Falle der türkischen Kurden -ins europäische Ausland.

Die meisten Kurden sind orthodoxe sunnitische Moslems und folgen der Schafi’i-Tradition, einer der vier islamischen Rechtsschulen. Generell vertreten die Sunniten jene orthodoxe islamische Richtung, die die Sunna, die Sammlung der von Mohammed überlieferten Bräuche und Verhaltensregeln gleichberechtigt neben den Koran, das „Heilige Buch“, stellt. Für die Schiiten hingegen stellt der Koran die einzige Richtschnur religiösen Lebens dar. Eng verbunden mit diesem Unterschied ist die Beurteilung der Legitimität der religiösen Herrscher, denn die Schiiten erkennen nur diejenigen Muslime als Imame an, die sich als direkte Nachkommen aus der Familie des Propheten ausweisen können.

Damit unterscheiden sich die sunnitischen Kurden von ihren nichtkurdischen Nachbarn: den Türken und den unmittelbar südlich vom kurdischen Gebiet lebenden Arabern, die zwar in ihrer Mehrheit auch Sunniten sind, aber der Hanafi-Rechtsschule angehörigen. Azeri-Türken, Perser und Luren sind Schiiten. Diese Tatsache ließ die Kurden oft zum Opfer zahlreicher Verfolgungen werden. Daneben existieren in den Provinzen von Khanaqin und Kirmanschah mehrere große kurdische Stämme, die der Zwölfer-Schia, der offiziellen Religion im Iran, angehören. Die unterschiedliche Religionszugehörigkeit dieser Gruppen führte häufig zur Zurückhaltung, wenn sich ihre sunnitischen Landsleute im Norden in nationalistischen Aufständen erhoben wie in den zwanziger Jahren, 1946 und in den Jahren seit 1979. Nicht vergessen werden sollte eine heterodoxe Sekte, die Yezidi, die oft fälschlich und herabsetzend „Teufelsanbeter“ benannt werden. Sie zeigen ganz offen ihren nicht-islamischen Charakter und wurden deshalb von ihren islamischen Nachbarn seit jeher hart verfolgt. Viele von ihnen mußten ihre Heimat verlassen oder traten gezwungenermaßen zum Islam oder Christentum über.

Daneben existierten unter den Kurden schon immer christliche und jüdische Gemeinden, deren Bevölkerung häufig spezielle Handwerksarbeiten verrichtete oder Handel betrieb. Doch trotz ihrer großen wirtschaftlichen Bedeutung waren sie in den meisten Fällen politisch in einer untergeordneten Position. Oft genug beherrschte Intoleranz das Verhalten gegenüber Andersgläubigen, so daß viele kurdische Stammesführer die christlichen Bauern und Handwerker als ihr Privateigentum betrachteten. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an den grausamen Völkermord an den Armeniern von 1915, als die Jungtürken Kurden und türkische Bauern zum „Heiligen Krieg“ gegen die verhaßten Christen aufhetzten.

Das Kurdische zählt zur nord-oder südwestlichen Gruppe der iranischen Sprachfamilie. Dabei gibt es eine Reihe verschiedener Dialekte, die schon so ausgeprägt sind, daß beispielsweise eine Verständigung zwischen einem Kurden aus dem Norden, der Kurmanci spricht, und einem aus dem Süden, der Sorani spricht, oft unmöglich ist. Die politische und gesellschaftliche Zersplitterung der Kurden in verschiedene Staaten und Stämme wirkte sich verzögernd auf eine Vereinheitlichung der Sprache aus. Ergebnis dieser Fremdherrschaft ist es, daß die Kurden sich kaum mit ihrer Sprache beschäftigten und deren integrierende Kraft nutzten. So trugen Geschichtenerzähler und Sänger ihre Texte im jeweiligen Dialekt -oft noch mundartlich gefärbt -vor, doch wissenschaftliche Werke von Schriftstellern und Gelehrten wurden zumeist in anderen Sprachen verfaßt. Schriftsprache wurde somit in der Regel die Sprache der Eroberer, also Arabisch, Türkisch oder Persisch. Seit der Teilung des kurdischen Gebietes nach dem Ersten Welt-krieg hat sich diese Entwicklung der Aufsplitterung der kurdischen Sprache verstärkt. Immer mehr wurde sie von jeweils unterschiedlichen Lehnwörtern durchsetzt. Hinzu trat für die türkischen Kurden das langwährende Verbot, ihre Sprache offiziell zu benutzen, was wiederum den Kurden im Iran und Irak gewährt wurde. Es bildete sich ein kulturelles Nord-Süd-Gefälle, so daß die meisten kurdischen Zeitschriften und sonstige Veröffentlichungen im südlichen Dialekt Sorani verfaßt sind.

Die kurdische Gesellschaft zerfällt in eine große Anzahl verschiedener Stämme, die miteinander rivalisieren und sich gelegentlich auch bekämpfen. Jedem Stamm steht ein Führer (agha) vor, dem die Stammesmitglieder in der Regel bedingungslos Folge leisten müssen. Machtverhältnisse und Autorität sind in Kurdistan personengebunden, wodurch eine Auseinandersetzung um Inhalte sehr erschwert wird. Die Rivalität der Aghas hat dazu geführt, daß die Großmächte mit der zersplitterten Nation leichtes Spiel hatten. Neben der politischen Autorität verfügen die Aghas auch über ökonomische Privilegien. Seit der großen Bodenreform des 19. Jahrhunderts im Osmanischen Reich stellen sie eine große Anzahl der Großgrundbesitzer in Kurdistan. Nicht selten besteht zwischen Volk und Aghas ein klassisches feudales Ausbeutungsverhältnis. Die Stammesführer können bestimmte „Feudalabgaben“ eintreiben oder gar unbezahlte Frondienste verlangen. Besonders schwer haben es Nicht-Stammesangehörige oder Mitglieder kleiner Minderheiten.

III. Geschichte der Kurden bis ins 19. Jahrhundert

Im Schmelztiegel der Geschichte zwischen den frühen Hochkulturen der Sumerer, Meder und Assyrer ist von den Vorvätern der Kurden, ehemaligen westiranischen Nomadenstämmen oder den „Kar-duchen“ die Rede. Wichtiger Zeitzeuge dieser Ur-Kurden war der um 400 v. Chr. lebende griechische Chronist Xenophon, dessen Marsch und der der griechischen Söldner ihn genau durch das kurdische Gebiet führte. Er beschrieb sie als tapfer, freiheitsliebend und gastfreundlich -Schilderungen, die in den späteren Reiseberichten Karsten Niebuhrs von 1773, James Claudius Richs von 1836, Henry Layards von 1849 und des preußischen Generalfeldmarschalls Helmuth von Moltke 1838 Entsprechungen finden. Lange vor den Arabern und Türken besiedelten die Kurden als drittgrößtes und ältestes Volk im Nahen Osten Ebenen und Berge um den Van-See. Erst mit der Islamisierung werden die Informationen über die Kurden eindeutiger. Als im 7. Jahrhundert die Nachfolger des Propheten Mohammed zum „Heiligen Krieg“ aufriefen, war auch das berühmte Reich der Sassa-niden in Persien gemeint, dem unter anderem die Kurden angehörten. Trotz heftigen Widerstands von kurdischer Seite konnten sie sich gegen die religiösen Streiter Omars, des zweiten Kalifen, nicht behaupten. Mit den Siegeszügen der eindringenden Araber verbunden war die Zerstörung von Feuertürmen, Kultstätten und Tempeln der zoroastrischen Religion in weiten Teilen Kurdistans, der damaligen Staatsreligion der Sassaniden. Nur zögernd nahm die kurdische Bevölkerung den islamischen Glauben an; hartnäckig hielt sich die traditionelle Verehrung ihres Propheten Zarathustra.

Kaum nachdem sich die Kurden in ständiger Kampfbereitschaft gegen die Unterwerfer unter den Arabern eingerichtet und sich dem islamischen Glauben gebeugt hatten, drang ein um die Jahrtausendwende recht unbedeutender turkmenischer Stamm mit dem Häuptling Seldschük gen Südwesten vor. Schon im vierten Jahrhundert nach Mohammed hatte dieser Stamm den sunnitischen Glauben angenommen. Die den Sunniten verbindlichen Überlieferungen Mohammeds verlangten die absolute Unterwerfung Andersgläubiger, eine willkommene Legitimation für das kriegerische Volk der Seldschuken. Deren eigentliche Stärke war ein stehendes Heer. Die Offiziere wurden mit Ländereien entlohnt, mit deren Einkünften sie wiederum ihre Soldaten unterhielten. Auf diese Weise entwickelte sich nach und nach eine militärische Feudalaristokratie. Diese aggressive Expansionspolitik der Seldschuken trieb die Kurden in eine neue Phase des Widerstandes. Auch wenn das kurdische Volk in eine Vielzahl einzelner und häufig verfeindeter Stämme aufgespalten war, ließ es durch mehrfache Aufstände die Dynastie der Seldschuken nie zur Ruhe kommen. Es bildeten sich um das Zentrum Bahar sogar kleine kurdische Fürstentümer heraus.

Als das Seldschukenreich den Höhepunkt seiner Macht erreicht hatte, wurden von Papst Urban II. die christlichen Gläubigen aufgerufen, das Land Christi und besonders Jerusalem vor den drohenden Einfällen der Muslime zu bewahren. Zu Zehntausenden zogen die kriegerischen Rechtgläubigen auf christlicher wie muslimischer Seite in den Krieg mit der Gewißheit, daß „Gott“ bzw. „Allah“ diese Handlung verlangt. In diesem blutigen Kampf um die religiös bemäntelte Macht hob sich ein kurdischer Herrscher hervor, dessen historische Bedeutung im Morgen-wie im Abendland anerkannt wird, Salah ad-Din Yusuf ibn Ayyub (1137-1193), genannt Saladin, „die gute Ordnung der Religion“, Sultan von Ägypten und Syrien, der Dynastie der Ayyubiden entstammend. Mit ihm an der Spitze wurde am 2. Oktober 1187 Jerusalem von den Kreuzrittern befreit, die hundert Jahre zuvor die Stadt eingenommen hatten. Die Befreiung Jerusalems bedeutete gleichzeitig eine wichtige Vorentscheidung für weitere Kreuzzüge. Es kam zu einem Waffenstillstand zwischen dem englischen König Richard Löwenherz und Saladin 1191, in dem den Christen der Zugang zu den heiligen Stätten ermöglicht wurde.

Im 13. Jahrhundert eroberten mongolische Horden Bagdad und Persien und vernichteten das Kalifat der Abbasiden. In nur wenigen Jahren beherrschten die Söhne und Enkel des legendären Dschingis-Chan (ursprünglich Temudschin) (ca. 1155-1227) große Teile Asiens und Europas. Auch die noch aus der Seldschukenzeit stammende Provinz Kurdistan mit ihrem Zentrum Bahar konnte trotz heftigen Widerstandes die Eroberung hicht verhindern. Unter dem Mongolenführer Hülägü (1251-1265) wurde die Millionenstadt Bagdad 1258 erobert.

Mit dem Vordringen der Mongolen wanderten Nomaden aus Turkestan nach Westen ab. Die türkischen Muslime unter ihnen waren mit Osman I. (1281-1326) die Begründer des Osmanischen Reiches (1301). Im 16. Jahrhundert etablierten sich die Osmanen unter Selim I. (1470-1520) zum bestimmenden Machtfaktor auch im Westen und Norden Kurdistans. Im Osten hingegen war das seit 850 Jahren verschwundene Persische Reich unter Ismail I. wieder erstarkt. In Kurdistan stießen beide Großmächte aufeinander. Unter dem Deckmantel eines Religionskrieges zwischen sunnitischen Osmanen und schiitischen Persern entwickelte sich ein politischer Kampf um die Vorherrschaft im Nahen Osten, der ungefähr drei Jahrhunderte währte. Beide Parteien versuchten die Gunst und den Beistand der Kurden zu gewinnen mit jeweils unterschiedlichen Mitteln. So versuchte Ismail I. die Kurden gewaltsam mittels seiner persischen Gouverneure von der Notwendigkeit zu überzeugen, ihm in seinem Kampf gegen die Osmanen Beistand zu leisten, hingegen Selim I. versuchte dies, indem er den Kurden Rechte und Freiheiten zugestand, die bis zur eigenen Feudalregierung reichten. Indem er den Einfluß des kurdischen Adels stärkte, versicherte er sich dessen Loyalität. In der 1514 besonders von Kurden ausgefochtenen Schlacht von Tschaldyran wurde die Politik Selims mit Erfolg gekrönt: Die Perser wurden aus den nördlichen und westlichen Gebieten des Zagros-Gebietes für lange Zeit zurückgedrängt, auch wenn es zu keinem dauerhaften Frieden und keiner eindeutigen Grenzfestlegung zwischen beiden Reichen kam.

Immer wieder konnten die Perser erfolgreich die östliche Grenze des Osmanischen Reiches überschreiten, wobei es sogar zu einer kurzfristigen Einnahme von Bagdad und Mosul kam, doch garantierten generell die osmanentreuen kurdischen Stämme im Osten des Reiches eine sichere Grenze. Das Erstarken der kurdischen Aristokratie ging allerdings häufig auf Kosten des kurdischen Volkes, das letztlich die Kämpfe ausfocht. Für viele kurdische Söldner blieb die andere Religionszugehörigkeit der Gegner treibende Kraft zum Kampf gegen Perser oder sogar persische Kurden.

Das Ziel der osmanischen Regierungen war es, eine sichere Grenze zu schaffen. Aus diesem Grunde förderten sie den lokalen Machtzuwachs der kurdischen Fürsten und bemühten sich um Zentralisierungen im kurdischen Gebiet. Dieses Streben wurde allerdings immer wieder durch Machtkämpfe und innere Zwistigkeiten unter den verschiedenen kurdischen Stämmen untergraben. Eindrucksvolles Beispiel dieser Zentralisierungsbestrebungen, die auch unter den kurdischen Fürsten betrieben wurden, ist eine Fürstenchronik aus dem 16. Jahrhundert, das „Scharaf-Name“ des kurdischen Fürsten von Bitlis, Scharaf Khan. Er wollte den Kurden mittels einer Chronik das Bewußtsein einer eigenständigen Geschichte und Tradition vermitteln und auf diese Weise beitragen zu einem gestärkten nationalen Behauptungswillen. Obwohl die Anfänge des kurdischen Volkes im Bereich des Legendären liegen, bietet das Werk einen wertvollen historischen Abriß. Es zeigt, wie sehr die einzelnen Dynastien unter den Kurden ihrem Stammesdenken verhaftet und in lokale Machtinteressen verstrickt waren. Das Volk der Kurden blieb gespalten in eine Vielzahl oft uneiniger Fürstentümer und Stämme.

IV. Wachsende Nationalbestrebungen vor und nach dem Ersten Weltkrieg

Bis ins 19. Jahrhundert war das feudale Kurdistan als Teil des Osmanischen Reiches relativ unabhängig. In dieser Zeit existierte die kurdische Gesellschaft praktisch ohne Öffnung zur Außenwelt. Im Innern war sie gespalten und weitgehend vom Stammesdenken beherrscht. Durch den Kontakt zu Europa wuchsen auch im Osmanischen Reich die Nationalbestrebungen. Die Regierung brauchte Truppen und höhere Einnahmen und begann, die kurdischen Lehensmänner in ihren Privilegien zu beschneiden. Die Bedrohung der Osmanen durch Perser und Russen ließ das kurdische Gebiet zur Bühne für die russisch-türkischen (1828-1830, 1877/78) und die türkisch-persischen Kriege werden. Das von neuen Zerstörungen heimgesuchte kurdische Volk und die in ihren Rechten eingeschränkten kurdischen Fürsten waren immer weniger zur Zusammenarbeit mit den osmanischen Herrschern bereit.

Es folgte eine Kette von Aufständen, die besonders von den unabhängigen Fürstentümern ausgingen und in denen die Fürsten ihre Privilegien verteidigten, die Zahlungen von Tribut verweigerten und keine Soldaten zur Verfügung stellten. Ziel dieser Erhebungen war vorgeblich ein freies Kurdistan. Doch ging es in erster Linie um die Aufrechterhaltung und Ausweitung der Interessen der Feudalherren. Die jahrhundertealte innere Zerrissenheit unter den kurdischen Fürsten und Stämmen führte auch in diesem Fall zur schnellen Unterwerfung durch den osmanischen Sultan.

So nutzte beispielsweise der kurdische Prinz Muhammad, Herrscher über das Fürstentum Soran, die Schwäche der durch den beendeten Krieg mit Rußland entkräfteten osmanischen Truppen, um den Traum seiner Dynastie, Einigkeit und Unabhängigkeit Kurdistans, zu verwirklichen. 1833 zog der Prinz mit seiner eigens dafür aufgestellten Armee durch das südliche Kurdistan und schlug den anderen kurdischen Herrschern eine politische Allianz gegen die Hohe Pforte (Sultanspalast in Konstantinopel) vor. 1834 kam es zum kurdisch-osmanischen Krieg. 1836 wurden die osmanischen Truppen geschlagen, doch ließ sich der Prinz offenbar beeindruckt vom Appell an seine religiösen Gefühle zur Gnade überreden, was letztlich dazu führte, daß er nach sechsmonatigem Exil in Konstantinopel auf dem Rückweg in seine Heimat ermordet und das kurdische Gebiet in Schutt und Asche gelegt wurde.

In den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erhoben sich die Kurden unter Scheich Ubeidullah erneut. Die durch den zweiten russisch-türkischen Krieg zugefügten Zerstörungen im kurdischen Gebiet sowie die im Zuge der Zentralisierung des Osmanischen Reiches verstärkten Repressalien der türkischen Soldaten bewogen Ubeidullah, in Konstantinopel um das Ende der Verfolgung des Volkes bitten zu lassen. Mit Unterstützung britischer Waffen kam es schließlich im Oktober 1880 zur Offensive des Scheichs gegen den Iran. Der persische Schah wandte sich daraufhin hilferufend an die Hohe Pforte. Schnell konzentrierten sich die türkischen Truppen in Kurdistan, schnell waren die kurdischen Truppen zum Rückzug gezwungen und der Scheich außer Gefecht gesetzt worden. Zwei Jahre später floh er aus Istanbul, wohin er zu Gesprächen mit Sultan Abdul Hamid II. eingeladen war, und beendete damit die Ära der großen kurdischen Revolten im 19. Jahrhundert.

Die folgende Assimilationspolitik unter Abdul Hamid II., die begleitet war von verstärkten Auszeichnungen für die kurdischen Feudalherren, schmeichelte diesen und führte zur erneuten Integration der Kurden in ein zentralistisches Osmanisches Reich. Aufgrund eines Erlasses von höchster Stelle kam es zur Bildung einer speziellen kurdischen Miliz, den „Hamidiyeh", die im Osten des Reiches für Ruhe und Ordnung sorgen sollten. Zudem wurden viele kurdische Stammesführer zu Offizieren und Paschas ernannt und standen dankbar hinter dem Sultan, ihrem Wohltäter. Völlig loyal befolgte die Hamidiyeh auch den Befehl zur Niederwerfung der armenischen Bewegung (1894-1896), die mit dem Massaker mehrerer zehntausend Menschen endete. Im Resultat hatte Abdul Hamid dem kurdischen Nationalismus seine Massenwirksamkeit genommen, denn das Volk selbst sprach von ihm nur als dem „guten und frommen Patriarchen Hamid Baba“.

Das anschließende Regime unter dem jungtürkischen Triumvirat Enver, Talaat und Kemal Pasha paktierte im Ersten Weltkrieg mit den Mittelmächten. Schon 1916 wurde im Sykes-Picot-Geheimabkommen die Aufteilung der asiatischen Regionen des Osmanischen Reiches vereinbart, das in politischer wie wirtschaftlicher Hinsicht in einer katastrophalen Verfassung war. Aufgrund der kolonia-listischen Absichten der Siegermächte England und Frankreich blieben die nationalen Interessen der verschiedenen Völker unberücksichtigt. Den Alliierten war Kurdistan wichtig wegen seiner strategischen Lage und wegen seines Reichtums an Öl und der anderen Bodenschätze. Für die kurdischen Führer ermutigend waren die Forderungen Präsident Wilsons vom 8. Januar 1918, der darauf drang, den nichttürkischen Minderheiten im Os-manischen Reich die Möglichkeit zur Erlangung ihrer Unabhängigkeit einzuräumen.

Nachdem im Waffenstillstand von Mudros vom 30. Oktober 1918 die Kapitulation des Osmanischen Reiches gegenüber den alliierten Mächten besiegelt war und ein politisches Vakuum vorherrschte, bot sich den Kurden in der Zeit von Oktober 1918 bis Juni 1919 eine günstige Gelegenheit, sich als Nationalstaat zu konstituieren. Im Dezember 1919 fand in Sevres eine Friedenskonferenz statt, an der die Alliierten sowie die Türkei und als Beobachter eine kurdische Delegation anwesend waren. Resultat dieser Verhandlungen war die Verabschiedung des Vertrages von Sevres im August 1920, der in den Artikeln 62 bis 64 den Kurden einen Staat zugestand. Demnach sollte eine Kommission vorläufig für „die Region, in der das kurdische Element vorherrscht“, eine lokale Autonomie vorbereiten, auf deren Grundlage nach einem Jahr die Wandlung zum Staat erfolgen könnte, wenn sich „die kurdische Bevölkerung ... an den Rat des Völkerbundes wendet und beweist, daß eine Mehrheit der Bevölkerung in diesen Regionen von der Türkei unabhängig sein will, und wenn der Rat dann annimmt, daß diese Bevölkerung dieser Unabhängigkeit fähig ist, und wenn er empfiehlt, sie ihr zuzugestehen.“ Kurzum: Erst wenn vom Völkerbund das kurdische Volk als reif erachtet werden würde -an welchen Maßstäben auch immer dies gemessen werden sollte dann sähe sich die Türkei verpflichtet, auf alle Rechte und Besitzansprüche in dieser Region zu verzichten. Interessanterweise wird die kurdische ölreiche Provinz Mosul gesondert aufgeführt. Deren Anschluß an den unabhängigen Staat sollte „freiwillig“ sein. Damit wurde den Kurden in diesem Gebiet die Entscheidung erschwert, einer britischen Mandatsherrschaft, an der die Engländer angesichts des Ölreichtums sehr interessiert waren, zu entgehen. Durch den Beschluß des Völkerbundes von 1925 wurde Mosul dem Irak zugesprochen mit der Bestimmung, „daß Beamte kurdischer Rasse für die Verwaltung ihres Landes sowie für die Ausübung der Justiz und für den Unterricht in den Schulen bestimmt würden und daß die kurdische Sprache die offizielle Sprache aller dieser Ämter sei“.

Drei Jahre nachdem den Kurden im Svres-Ver-trag die Erfüllung uralter Träume in Aussicht gestellt worden war, hatten in Lausanne Vertreter der soeben gegründeten Türkischen Republik erfolgreich die These vertreten, „daß die Kurden sich in nichts von den Türken unterscheiden und daß diese beiden Völker, obwohl sie verschiedene Sprachen sprechen, eine einzige Gesamtheit hinsichtlich der Rasse, des Glaubens und der Sitten bilden“. Minderheitsrechte wurden in den Artikeln 40 bis 50 nur nichtmuslimischen Volksgruppen zugestanden. Diese Entscheidung besiegelte die kurdische Diaspora auf fünf Staaten und leitete gleichzeitig eine neue und verzweifelte Ära einer kurdischen Nationalbewegung ein.

Die in der Türkei lebenden Kurden machen mit etwa 12 Millionen über ein Fünftel der Gesamtbevölkerung aus. Gemäß dem Lausanner Vertrag besteht für sie als Muslime kein Minderheitenschutz. Ihr eigenes Volkstum wurde ihnen seit der Gründung der „Modernen Türkei“ unter Mustafa Kemal Pasha, genannt Atatürk oder „Vater der Türken“, abgesprochen. Von offizieller Seite werden sie unter dem euphemistischen Begriff der „Bergtürken“ gefaßt, der offizielle Gebrauch der kurdischen Sprache galt bis vor kurzem als illegal und eine ganze Reihe wissenschaftlicher Schulen bemühte sich eifrigst, das kurdische Volkstum zurückzudrängen. In einer Reihe von Revolten versuchten die Kurden sich in ihrer eigenen Ethnizität zu behaupten.

V. Die Lage der Kurden in den verschiedenen Staaten

Die offensichtliche Kompromißlosigkeit der türkischen Regierungen führte zu einer wachsenden Radikalisierung der nationalen Gruppierungen, die in den meisten Fällen staatliche Unabhängigkeit von der Türkei fordern. In Aufständen zwischen 1925 und 1939 unter Scheich Said, dem Führer des Nakschbendi-Derwischordens, brachen aufgestaute Aggressionen durch, die von der ke-malistischen Geschichtsschreibung einseitig als Aufbegehren gegen Fortschritt und Modernisierung dargestellt werden. Mit Hilfe der britischen und französischen Kolonialherren gelang es schließlich, Scheich Said zusammen mit 25 kurdischen Freiheitskämpfern in Diyarbakir aufzuhängen. Hinzu kamen Deportationen, bei denen ca. eine Million Menschen starben. Bis in die sechziger Jahre hinein wurde das Nationalgefühl der Kurden unterdrückt. Doch neben den ständigen Strafexpeditionen von türkischer Seite waren es auch die höchst ungleichen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen zwischen der Ost-und Westtürkei, die den kurdischen Nationalismus Wiederaufleben ließen. Hinzu kamen die Erfolge des irakischen Rebellenführers Mullah Mustafa Barzani sowie größere politische Freiheiten durch eine neue Verfassung 1961 und die Einführung einer parlamentarischen Demokratie 1973.

Eine relative Liberalisierung in den Jahren 1975 bis 1978 führte zum Aufblühen verschiedenster kurdischer Organisationen. Eine von ihnen, die Kommunistische Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), richtete schon bald ihre revolutionäre Gewalt nicht nur gegen türkische „Kolonisatoren“, sondern auch gegen kurdische „Kollaborateure“ und „Verräter“. Im Dezember 1978 begann eine strenge Repression der Aktivitäten linksgerichteter kurdischer Nationalisten, die seit 1980 ihre Steigerung in den „Säuberungsund Befriedungsaktionen“ im kurdisch-türkischen Grenzgebiet erfahren hat. Damit soll die Verbindung der türkischen Kurden mit denen der Nachbarstaaten in Syrien, Iran und Irak unterbunden werden.

Die im Irak lebenden 4, 5 Millionen Kurden stellen etwa ein Viertel der irakischen Bevölkerung. Als autonome Provinz ist das kurdische Gebiet eigentlich seit der Gründung des Irak anerkannt, doch mußten die Kurden unter den verschiedensten Regierungen immer von neuem um ihre politischen Rechte kämpfen. So bot sich Mullah Mustafa Barzani dem Präsidenten einer frisch erputschten Republik Irak, Abdul Karim Qassem, 1958 an, der die Unterstützung der Kurden zwar brauchte, sie aber nicht zu mächtig werden lassen wollte. In der Verfassung vom 27. Juli 1958 (Art. 3) kam es zwar zur gleichberechtigten Anerkennung von Kurden und Arabern, doch verstand sich in Art. 2 der irakische Staat als untrennbarer Teil der arabischen Nation.

Auch unter dem späteren Putschisten al-Bakr 1968 bemühte sich der Vorsitzende der „Patriotischen Union Kurdistans“ (PUK), Jalal Talabani, um eine Lösung der kurdischen Frage am Verhandlungstisch. Es kam zur paradoxen Situation, daß Talabani in Zusammenarbeit mit Regierungstruppen versuchte, seinen kurdischen Gegenspieler Barzani auszuschalten. Im Abkommen vom 11. März 1970 wurde den Kurden von Regierungsseite Autonomie zugesprochen, Kurdisch wurde zur zweiten Amtssprache in Kurdistan, das Erzie-hungs-, Gesundheits-und Agrarwesen wurde reformiert und fünf kurdische Vertreter wurden Kabinettsminister in Bagdad. Doch in dem entscheidenden Punkt, der Gewährung des ausgehandelten kurdischen Gebietes einschließlich der ölreichen Distrikte von Kirkuk und Khanaqin kam es zum Konflikt, da von Regierungsseite 1974 Kurdistan eigenmächtig auf die Provinzen Dohuk, Suley-mania und Arbil festgelegt wurde.

Diese Entscheidung, der massive Arabisierungsmaßnahmen in Kirkuk vorausgegangen waren, brachte erneut den Guerillakrieg zum Aufflakkern, diesmal mit Unterstützung des persischen Schahs, der an einem Zugang zum Golf interessiert war. Unter dem Druck der kurdischen Rebellion erhielt der Schah im Algier-Abkommen vom 6. März 1975 den Schatt-al-Arab als neue Grenze und ließ dafür die kurdischen Rebellen fallen. Schon drei Tage nach Abschluß des Vertrages begann die irakische Armee mit einer heftigen Offensive und hatte in wenigen Tagen den kurdischen Aufstand geschlagen.

Saddam Hussein hatte nun freie Hand und betrieb eine systematische Entkurdisierungspolitik: Massendeportationen von Kurden in den Süden des Landes, Ansiedlungen von Arabern im kurdischen Norden, besonders in Kirkuk, Zerstörung von drei Vierteln der kurdischen Dörfer, Giftgaseinsätze und Einrichtung von Sicherheitszonen im Grenzgebiet. Im Iran-Irak-Krieg fand er iranische Kurden, die er als Hilfstruppe gegen die irakischen Kurden einsetzen konnte -analog zum Ayatollah in Teheran, der wiederum die irakischen Kurden als „islamische Kämpfer“ benutzte. Nach acht Jahren Krieg hatten beide allerdings ihre kurdischen Mitstreiter vergessen, vielmehr begann eine neue Racheaktion gegen die verräterischen Kurden im jeweiligen eigenen Land.

Im Vielvölkerstaat Iran machen die Kurden mit 5 Millionen nur ein Zehntel der Bevölkerung aus. Im herrschenden Staatsverständnis gehören sie aufgrund ihrer ethnischen Verwandtschaft zu den Persern zur iranischen Völkergemeinschaft. Nach den niedergeschlagenen Aufständen unter dem Kurdenführer Simko zwischen 1920 und 1925 erfuhr die kurdische Bewegung ihren Höhepunkt im Jahre 1946 in der Gründung der kurdischen Republik Mahabad. Die treibende Kraft der National-bewegung im Iran ist die 1945 gegründete Demokratische Partei Kurdistans (DPK/Iran), die eine Autonomie Kurdistans innerhalb der iranischen Grenzen fordert: Freie Wahlen, Zulassung von Kurdisch als Universitäts-, Schulund Behörden-sprache und freie politische Betätigung. Nur elf Monate lang konnten diese Hoffnungen verwirklicht werden in dem ersten und bis heute auch letzten kurdischen Staat, der unter dem fragwürdigen Schutz Stalins zustande kam. Doch als die Rote Armee ihre Panzer und Geschütze abzog, war der uralte Traum auf grausame Weise ausge-träumt. Die Republik wurde von iranischem Militär besetzt, tausende politischer Führungspersonen und Anhänger wurden hingerichtet, darunter auch der Präsident Ghasi Mohammad, der am 22. Januar 1946 die Republik ausgerufen hatte.

Das blutige Vorgehen gegen die kurdischen Separatisten von Mahabad lähmte die kurdische Nationalbewegung für Jahrzehnte. Mitte der sechziger Jahre spaltete sich die Bewegung: die einen waren zur Zusammenarbeit mit Barzani, dem damals führenden Mann der Kurdenbewegung bereit; die anderen sprachen sich vor allem wegen seiner engeren Beziehungen zur iranischen Regierung gegen Barzani aus.

Mit der Bildung der ersten Revolutionsregierung im Februar 1979 begannen erneute Verhandlungen zwischen Kurdenvertretern und den theokratisch gesonnenen Machthabern aus Teheran. Mit dem Versprechen, politische und kulturelle Autonomie in Kurdistan zu bekommen, wurden die Kurden während der Revolutionszeit stillgehalten. Doch schon im August 1979 gingen die iranischen Soldaten erstmals gegen die Kurden vor. Unter der Führung von Abdulrahman Ghassemlou, Vorsitzender der DPK, erhoben sich die iranischen Kurden nochmals 1985 in einem „kurdischen Frühling“, der mit 40000 Todesopfern ebenso blutig wie andere Rebellionen endete. Den Preis für seine rebellischen Aktivitäten mußte Ghassemlou 1988 mit seinem Leben bezahlen, als er einem heimtückischen Mordanschlag in Wien -vermutlich von iranischer Regierungsseite vorbereitet -zum Opfer fiel, dem die Behörden bezeichnenderweise kaum auf den Grund gehen wollten.

Bei Betrachtung der Situation der Kurden in den einzelnen Staaten zeigt sich, daß die Autonomiebestrebungen dieses Volkes ignoriert, wenn nicht gewaltsam zum Schweigen gebracht werden. Ihre Zersplitterung auf verschiedene Staaten und ihre Entfremdung untereinander in sprachlicher, kultureller und politischer Hinsicht dient den jeweiligen Machthabern häufig genug als Legitimation, um das kurdische Problem als unbedeutende Minderheitenfrage abzutun. Doch die kurdische National-bewegung will weiterhin um eine weltweit garantierte Autonomie der Kurden in ihren jeweiligen Ländern kämpfen. Ziel bleibt die Klärung entscheidender Probelme wie die politische Selbstbestimmung, die wirtschaftliche Nutzung des fruchtbaren und an Bodenschätzen reichen Landes sowie die Entwicklung einer geeinten kurdischen Wissenschaft und Kultur. Damit verbundene demokratische und am Rechtsstaatgedanken ausgerichtete Forderungen muten unter den nahöstlichen Regierungen utopisch an. Und dennoch würde die Lösung der kurdischen Frage einen wesentlichen Beitrag zur Stabilisierung in dieser Krisenregion leisten und verhindern, daß ein Volk seine Identität zugunsten machtpolitischer Interessen verliert und zu dem wird, was es für viele Europäer bisher immer nur war: ein wildes kriegerisches Volk, im Sagenhaften beheimatet und dorthin verbannt.

Fussnoten

Weitere Inhalte