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Ursprung und Entwicklung des Islam | APuZ 30-31/1991 | bpb.de

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APuZ 30-31/1991 Die Mächte im Nahen Osten und der zweite Golfkrieg Abhängigkeiten und Entwicklungschancen der arabischen Welt Die Kurden Ein Volk auf der Suche nach seiner Identität Ursprung und Entwicklung des Islam Artikel 1

Ursprung und Entwicklung des Islam

Cristina Erck

/ 20 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In der Weite der am Rande des Weltgeschehens liegenden Arabischen Halbinsel entstand im 7. Jahrhundert als dritte der großen monotheistischen Religionen der Islam. Ähnlich dem Christentum kam es bereits früh zu Spaltungen seiner Anhänger in verschiedene Glaubensrichtungen mit jeweils unterschiedlichen Rechts-schulen. Der erste Radikalfundamentalist konnte sich im 13. Jahrhundert noch nicht durchsetzen, doch sind seine Schriften heute wieder aktuell. Reformer gab es im Islam von Anfang an, nie jedoch eine grundsätzliche „Reformation“. Der gravierendste Unterschied zum Christentum besteht in der untrennbaren Einheit von Staat und Religion. Nicht nur den kultischen Lebensbereich und Alltag eines Muslims regelt der Koran, sondern er liefert exakte Gesetzesvorschriften. Durch den westlichen Kolonialismus wurde die islamische Welt herausgefordert, ein neues Selbstverständnis zu finden. Der Kampf um Entkolonialisierung setzt sich heute fort gegen Akkulturation und Bevormundung durch die technisch, militärisch und letztlich politisch überlegenen Industrienationen. Re-Islamisierung wird gefordert und als Lösung angeboten von kleinen militant-islamischen Gruppen, deren Anhängerschaft sich rekrutiert aus den unterprivilegierten, armen Schichten und aus Studentenkreisen, die in religiös artikulierter Opposition die einzige Möglichkeit von Widerstand gegen repressive Regime sehen.

Eine der Hauptfolgen des Golfkrieges werde „ein ungeheurer Islamisierungsschub“ sein, meinte auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing der SPD-Politiker Peter Glotz. „Wir werden den Krieg gewinnen und die Region verlieren.“ Die Krise am Golf hat in der westlichen Welt großes Interesse an den arabischen Staaten, ihren politischen Strukturen und am weithin fremden Islam geweckt. Fast täglich boten in den Monaten der Krise die Medien ein Forum für Darstellungen und Diskussionen. Hat das die Kenntnis und vor allem das Verständis für die uns geographisch nahe, aber sonst so ferne Region verändert? Weshalb ist uns die islamisch-arabische Welt derart fremd, obwohl unsere Kultur in weiten Zügen auf ihrer Wissenschaft und Kunst aufgebaut hat? Hängt das „Schwert des Islam“, wie in den vergangenen Monaten mehrfach verkündet wurde, tatsächlich als drohendes Damokles-Schwert über „dem Abendland“? Gibt es überhaupt „den“ Islam?

I. Religionsgründer Muhammad

Die Geschichte des Islam umspannt vierzehn Jahrhunderte und -während der ersten acht Jahrhunderte bis zum Zeitalter der Entdeckungen -fast ein Drittel der damals bekannten Welt. Bis zum Erscheinen Muhammads und der Verbreitung der ihm zuteil gewordenen Offenbarungen mit ihrer geradezu revolutionären Kraft lebten die Araber an der Peripherie des Weltgeschehens. Sie wohnten, nach ihren Worten, auf einer Insel -„Dschazirat al-Arab“ -und betrachteten sich als „Besitzer“ des unwirtlichen, fast völlig von Wüste beherrschten Subkontinents. Die überkommene Gesellschaftsordnung der Stämme auf der arabischen Halbinsel war im 6. Jahrhundert in eine Krise geraten. Stammeseigentum ging immer mehr über in das Eigentum einzelner Sippen und Familien, wodurch soziale Unterschiede wuchsen. Diese fortschreitende soziale Differenzierung zerstörte die ursprünglichen Ideale des Beduinentums -Stam-messolidarität, Freiheit, Tapferkeit. Proteste wurden laut gegen das wachsende Unrecht. Der weithin zur leeren Formel erstarrte Polytheismus verlor an Attraktivität, zumal jüdische und christliche Gemeinden mit ihrem Monotheismus dem Bedürfnis nach stammesübergreifenden Gemeinwesen ein positives Beispiel gaben. Hanifen („Gottsucher“), die als asketische Einsiedler in der Wüste lebten, vertraten den Glauben an einen einzigen Gott.

In der Stadt Mekka, die als eine der ersten von dem Wandel ergriffen wurde, war um 570 Muhammad vom Stamm der Quraisch geboren worden. Etwa vierzigjährig begann er, von den Botschaften zu sprechen, die er in der Einsamkeit des Gebirges von einem Engel empfangen habe. Muhammad sei von Allah zu seinem Propheten auserwählt worden und solle seine Offenbarungen den Menschen überbringen und sie dazu bewegen, sich Allah zu unterwerfen. Der Stamm der Quraisch reagierte auf den Propheten und die von ihm verkündete neue Religion mit Spott und Angriffen, die Muhammad und seine Anhänger schließlich veranlaßten, nach der „medina“ (Stadt) Yathrib überzusiedeln, wo eine starke jüdische Gemeinde den Boden für monotheistische Religiosität bereitet hatte. Mit dieser „hidschra“, der Emigration im Jahre 622, beginnt die islamische Zeitrechnung. Entgegen den Erwartungen wird Muhammad von den jüdischen Stämmen nicht anerkannt, was deren blutige Ausrottung und Vertreibung zur Folge hat, sowie eine Eliminierung jüdischer Kultelemente und eine grundsätzliche Neuorientierung der Lehre. Es entsteht Muhammads Theorie von der „Verfälschung“ der Heiligen Schriften durch spätere Generationen, wodurch die koranische Version der biblischen Stoffe ihre Rechtfertigung erhält. Die Gebetsrichtung ist nun nicht mehr Jerusalem, sondern Mekka, das Muhammad mit seinem 10000 Mann starken Heer zu Beginn des Jahres 630 erobert. Er macht seine Heimatstadt zum Kultzentrum der neuen Religion, indem er die Ka'aba, ursprünglich ein heidnisches Heiligtum, dann beschrieben in der Abrahamlegende, für den Islam beansprucht., Muhammad knüpft an die Überlieferung an, nach der Abrahams Magd Hagar, die Mutter seines Sohnes Ismael, nach ihrer Verstoßung nach Mekka gekommen sein soll. Der Prophet bezeichnet den biblischen Stammvater als Begründer der mekkanischen Wallfahrtszeremonien, dessen reine Religion durch den Islam wiederhergestellt werden soll. Mit der Aussage im Koran, daß Abraham weder Jude noch Christ gewesen sei, sondern Muslim, vollzog Muhammad den entscheidenden Bruch mit den anderen beiden monotheistischen Religionen und proklamierte im bewußten Gegensatz zu ihnen eine neue Religion, wobei die Bezeichnung „Muslim“ für jeden gilt, der an einen einzigen Gott glaubt und sich der Wahrheit seines absoluten Seins unterwirft. Das erklärt die Tatsache, daß der Koran die biblischen Propheten -einschließlich Jesus -als Muslime bezeichnet. 632 starb der Verkünder des Islam in Medina. Unter seinen Nachfolgern begann von der Arabischen Halbinsel aus in rasantem Tempo der Siegeszug der Anhänger des Propheten im Zeichen der neuen Religion. Sie schuf durch ihre einigende Wirkung aus unorganisierten, sich gegenseitig befehdenden Beduinenstämmen schlagkräftige Heere. Neben religiösem Eifer waren es jedoch auch politische und wirtschaftliche Motive, die die arabischen Wüstenbewohner in die reichen Kulturländer trieben. Das Sassanidenreich brach zusammen, Byzanz verlor eine Provinz nach der anderen. 640 stand der Feldherr Amr Ibn al-As am Nil und legte den Grundstein für die erste Moschee auf afrikanischem Boden. In nur wenigen Jahrzehnten waren Gebiete von Afghanistan bis Tunesien erobert. Ein islamisch-arabisches Reich entstand. Mit ihm wurde der Islam zur Weltreligion und zur Welt-macht.

II. Der Koran

Die Basis der neuen Religion ist ihr heiliges Buch, der Koran (qur’an -Rezitation). Es gilt als das direkte Wort Gottes, das dem Propheten durch den Erzengel Gabriel übermittelt wurde. Die Offenbarung begann am 17.des Monats Ramadan, dem islamischen Fastenmonat (9. Monat des islamischen Jahres, das sich nach dem Mond richtet, somit 11 bzw. 12 Tage kürzer ist als das unserer Zeitrechnung), mit den Worten „Lies im Namen Deines Herrn, der erschaffen hat...“. Die Offenbarungen erfolgten mit zeitlichen Unterbrechungen und lassen sich historisch gliedern in mekka-nische und medinische, was manche Aussagen widersprüchlich erscheinen läßt 'aufgrund der divergierenden Schwerpunkte. Diese widersprüchliche Haltung ist nach Meinung vieler Religionssoziologen auf den Unterschied im Sozialgefüge zwischen Mekka und Medina zurückzuführen und sorgt bis heute für Dispute und voneinander abweichende Interpretationen.

Im Gegensatz zum Christentum mit seiner Ausrichtung auf die Person Jesus, ist der Prophet im Islam nur der Verkünder und Vermittler des Wortes Gottes. Muhammad selbst betonfe immer wieder: „Ich bin nur ein Mensch wie ihr, (einer) dem (als Offenbarung) eingegeben wird, daß euer Gott ein einziger Gott ist“ (Sure 18, 110), weshalb auch die in Europa verbreitete Bezeichnung „Mohammedaner“ für Muslime von diesen nicht erwünscht ist. Den Kern des islamischen Glauensbekenntnisses bildet die Losung „Kein Gott außer ihm -Muhammad ist Sein Gesandter“, was die Existenz eines einzigen wahren Gottes impliziert. Es geht um den Anspruch Gottes an den Menschen auf alleinige Verehrung und auf Befolgung seiner Gebote. Der Alltag des Muslim kennt keine Freiräume, die diesem Ausschließlichkeitsanspruch Gottes entzogen sind. „Islam“ bedeutet sich ergeben in den Willen Gottes, der aus dem gleichen Wortstamm abgeleitete Begriff „Muslim“ bezeichnet folglich den, der sich vorbehaltlos unter das geoffenbarte Gesetz Gottes stellt.

Der Koran, bestehend aus 114 Abschnitten von unterschiedlicher Länge, den Suren, die in Verse unterteilt sind, ist seiner Konzeption nach ein Rezitationstext, der sich bereits in einer mekkanischen Sure als göttliche Botschaft „in klarer arabischer Sprache“ („arabiya“) darstellt. Wahrsager, Dichter und Redner waren in heidnischer Zeit die eigentlichen Wortführer ihres Stammes mit großem Ansehen. Sie bedienten sich der hocharabischen überregionalen Dichtersprache, die formellem Gebrauch vorbehalten war und allen Stämmen der arabischen Halbinsel als gemeinsame sprachliche Basis diente. Die außerordentliche sprachliche Sensibilität der Araber, ihr Bedürfnis, auch Alltägliches mit rhetorischen Mitteln zu überhöhen -wobei das Wort allein oft bereits als Tat gilt -, ließ den Gedanken einer Übersetzung des Koran in andere Sprachen nie aufkommen. Das hat wesent-lieh beigetragen zur Herausbildung jener arabisch-islamischen Identität, die erst die hohe Entwicklung der islamischen Kultur ermöglichte.

In einer Fülle von Geboten und Anweisungen regelt der Koran das tägliche Leben des Muslim und liefert in seinen späteren Suren detaillierte Gesetzesvorschriften für die Glaubensgemeinde. Sie bilden die Grundlage der vom Islam ausgehenden Neuordnung, wie die prinzipielle Gleichheit aller Menschen, die Beseitigung gravierender sozialer Mißstände, etwa die Rechtlosigkeit der Armen, und die Solidarität der Gläubigen. Doch sind den Handlungsmöglichkeiten des Individuums im Koran enge Grenzen gesetzt. Nicht in Verfolgung eigener Zielvorstellungen handelt es, sondern in Ausführung des göttlichen Willens. Nicht das Wohl , des einzelnen steht im Vordergrund, sondern das der Gemeinschaft, so daß der Islam wegen seiner starken Gesellschaftsbezogenheit eine Religion mit politisch-sozialer Dimension ist. Zwar kann der Koran in seiner Gesetzesdarlegung nicht als vollständig gelten, doch das Interesse an der Regelung des gesamten Alltags, nicht nur der kultischen Lebensbereiche, tritt deutlich hervor. Was zu Lebzeiten Muhammads noch ständige Erklärung und Anpassung an die wechselnden äußeren Umstände erfahren konnte, wurde nach seinem Tod als unabänderlich anerkannt, seiner Auslegung nur ein begrenzter Spielraum zugestanden. Das stellt den mit der westlichen Weltanschauung konfrontierten Muslim vor die Aufgabe ständiger Neureflexion seiner eigenen Grundlage.

Die wichtigste Konsequenz für einen Muslim aus dem Koran als Wort Gottes ist, daß Gott und nur er -nicht etwa Muhammad oder ein anderer -der eigentliche Gesetzgeber ist, der prinzipiell mit seinen Anweisungen nichts im Leben unbeeinflußt läßt. Dadurch ist eine Trennung von Religion und täglichem Leben nicht möglich, im Gegenteil bilden im Islam Religion und Staat („din wa daula") eine feste Einheit. Hieraus ergibt sich heute für Fundamentalisten die logische Konseqenz der Wiedereinführung der Scharia, des islamischen Rechts, das infolge der Kolonialisierung im vergangenen Jahrhundert weitgehend durch europäische Codici abgelöst worden war. Da der Islam der Ausdruck des Willen Gottes, also der einzigen Wahrheit ist, die nicht diskutiert werden kann, kann sich kein Muslim außerhalb dieser Wahrheit stellen. Wer vom Glauben abfällt öder sich als Atheist bekennt, liefert sich dem Prinzip des „iri-dat“ aus, d. h. es ist nicht nur erlaubt, sondern geboten, denjenigen umzubringen. Die gegen Schriftsteller wie Salman Rushdie und Nagib Machfuz ausgesprochenen Todesurteile sind Konsequenzen solcher rigorosen Schriftauslegung.

III. Konfessionelle Spaltungen des Islam

Läßt sich ohne weiteres von „dem Islam“ reden? Tatsächlich umfaßt der Begriff „Islam“ Richtungen, Länder und Zeitabschnitte, die sich mitunter sehr stark voneinander unterscheiden. Doch über alle Unterschiede hinweg kennzeichnet ihn eine tiefgehende Einheit, die den Muslimen den Stolz ihrer Zugehörigkeit zu und die Identifizierung mit der Gemeinschaft der Gläubigen („umma“) verleiht. Vielgestaltig wird der Islam durch seine räumliche Umwelt wie durch den Ablauf der Zeiten und schließlich seiner Lehrmeinungen. Bereits drei der ersten vier Nachfolger des Propheten, die als „rechtgeleitete Kalifen“ in die Geschichte eingingen, wurden aufgrund von Meinungsverschiedenheiten umgebracht. Noch ging es um die rechtmäßige bzw. richtige Nachfolge. Nach der Ermordung Uthmans im Jahre 656, des dritten Nachfolgers Muhammads in der Leitung der Gemeinde und des islamischen Staatswesens, schwand die Einheit der Gläubigen. Der nach ihm gewählte Ali, Schwiegersohn und Vetter des Propheten, fand keine einstimmige Unterstützung. Mu’awiya aus dem Hause der Omaijaden erhob sich gegen Ali, den schließlich ein Teil seiner früheren Anhänger verließ. Sie wurden die „Ausziehenden“ („kharadscha“) genannt. Die Kharidschiden entwickelten sich zu einer eigenen Konfession mit puritanischer Ausrichtung, die sich später in mehrere Richtungen spaltete. Es ist weitgehend in Vergessenheit geraten, daß die Kharidschiden in ihrer Blütezeit neben den Schiiten und Sunniten, die immer die Mehrheit waren, die dritte große islamische Konfession gebildet haben. Die Sunniten wiederum leiten ihren Namen ab von der „sunna“, den schriftlich fixierten, gesetzlich verbindlichen verbalen Aussagen, Bestätigungen und Handlungen Muhammads.

Ali fiel 661 einem Mordanschlag zum Opfer, sein Rivale konnte relativ unangefochten als Kalif -und Begründer der bis 750 herrschenden Omaijadendynastie -regieren. Ali, der sich darauf bezog, von Muhammad den Auftrag zu dessen Nachfolge erhalten zu haben, hatte schon zu Lebzeiten seines Vorgängers eine politische Gruppierung, die „Par33 tei Alis“ („schi’a“) um sich geschart, die dafür eintrat, die religiöse Führung (das Imamat) und die politische Leitung (das Kalifat) innerhalb seiner mit Muhammad verwandten Familie als erblich zu erklären. Da der Prophet keine Bestimmung über seine Nachfolge getroffen hatte und es für die angebliche Zusage an Ali keine Zeugen gab, brachen bald Streitigkeiten aus, die zu grundsätzlichen Auseinandersetzungen eskalierten und schließlich zur konfessionellen Spaltung des Islam führten. Schiiten und Sunniten bildeten jeweils noch Untergruppen bzw. verschiedene Rechts-schulen. So wie Religion und Staat nicht zu trennen sind, hängen auch Religion und Recht zusammen. Zu Beginn der arabisch-islamischen Herrschaft waren Prediger und Rechtssprecher ein und dieselbe Person. Die Funktion des „kadi“, des Richters, wurde erst später abgetrennt. Ein Merkmal blieb unverändert: Der Islam kennt keine Priester. Nach seiner Lehre ist die Beziehung zwischen Mensch und Gott eine direkte. Um die Verbindung herzustellen, bedarf es weder eines anderen Menschen noch irgendeiner Instanz, und die Verantwortung ist eine unmittelbare. Daher sind islamische Religionslehrer und -Wissenschaftler, die die verschiedenen Bezeichnungen wie Imam, Mullah oder Scheikh haben, nicht als Priester zu betrachten. Derselbe Grundsatz gilt für die Moscheen. Sie sind nicht das Haus Gottes, dem man sich in stiller Ehrfurcht nähert, sondern Versammlungs-und Lehrstätten, in denen der Koran gelesen und diskutiert, auch das Gebet verrichtet wird. Da für den Muslim der Islam unteilbar ist, sich nicht in einen Bereich des Geistlichen und einen anderen Bereich des Weltlichen trennen läßt, liegt es in der logischen Konsequenz, daß der Versammlungsort Moschee auch ein Forum ist für wissenschaftliche und politische Debatten. Letztgenannte Möglichkeit wird von Islamisten in den vergangenen Jahren wieder vermehrt genutzt.

Bereits in den ersten islamischen Jahrhunderten strebten Anhänger durch asketisches Leben nach vertiefter Frömmigkeit. Seit Mitte des achten Jahrhunderts treten die „sufiya“ in Erscheinung, Leute, die man nach ihren wollenen Gewändern („suf“ -Wolle) benannte. Sie huldigten einer emotionalen Religiosität mit Musik und Tanz, bei dem sich die Tanzenden in Trance steigern. Das wurde von puritanischer Seite scharf angegriffen, was sich bis heute im Fernsehund Radioprogramm Saudi-Arabiens bemerkbar macht. Das Sufitum erlebte seinen geistesgeschichtlichen Höhepunkt im 13. und 14. Jahrhundert. Spricht man heute von islamischer Mystik, meint man damit im allgemeinen ordensähnliche Zusammenschlüsse. Während des 19. Jahrhunderts ist ein Erstarken der Sufi-Orden zu beobachten, die im staatlich-politischen Geschehen eine Rolle spielten, so die Bewegung um den Mahdi im Sudan und in diesem Jahrhundert der Orden der Senussi in Libyen.

Schiiten und Sunniten sind sich ihres unüberbrückbaren Gegensatzes bewußt. Doch verstehen sie sich über alle Abweichungen hinweg zuerst als Muslime, einig in bestimmten Glaubensvorstellungen und Lebensregeln und hierin eine untrennbare Gemeinschaft, die sie von allem, was nicht Islam ist, unterscheidet. Dieses tiefe, ebenso ungeklärte wie hartnäckige Gefühl einer Einheit ist der Grund dafür, daß die islamische Welt Kontinuität zeigt, auch wenn ihre kulturelle Hochblüte längst historisch zurückgelassen wurde, und trotz der politischen Umwälzungen und der Herausforderungen durch eine auf technischen und materiellen Fortschritt orientierte Welt.

IV. Islamischer Fundamentalismus

Der Einfall zunächst der Kreuzfahrer, die in einer in der islamischen Welt nie gekannten Intoleranz alle ausrotten wollten, die in ihren Augen Ungläubige waren, und später der Mongolen löste in den Reihen der Sunniten eine Selbstbesinnung aus, die im Zeichen eines rigorosen Fundamentalismus stand. Ibn Taimiya (1263-1328), ihr bedeutendster Vertreter, ließ nur Koran und Sunna in ihrem wörtlichen Sinn, ohne übertragene Bedeutung und Auslegung, gelten. Sekten und Abspaltungen bekämpfte er und bezeichnete den „Dschihad“ als beste Form, Gott zu dienen. „Dschihad“ wird zumeist mit „Heiligem Krieg“ gleichgesetzt, war im Ursprung der Krieg gegen Ungläubige, diente sowohl der Expansion als auch der Verteidigung des Macht-bzw. Geltungsbereiches des Islam und dauerte so lange, bis überall der Islam zur beherrschenden Religion geworden ist. Infolgedessen richtet er sich gegen alle Nichtmuslime. Sofern sie „Buchbesitzer“ („ahl al-kitab") sind, also Juden oder Christen, erfordert das nicht ihren Übertritt zum Islam, sondern sie werden zu „Schutzbefohlenen“ („dhimmi“) der Muslime, wohingegen „Nicht-Buchbesitzer“ bis zur Annahme des Islam bekämpft werden. Die Mongolen hatten Ende des 13. Jahrhunderts begonnen, den Islam anzunehB men. Das warf die Frage auf, ob sich der Kampf gegen sie noch als Dschihad begreifen ließ. Ibn Taimiya bejahte diese Frage, da seiner Auffassung nach als Ungläubiger zu gelten habe, wer sich nicht an das islamische Gesetz in seiner Gesamtheit hielt, auch wenn er sich zum Islam bekannte und fünfmal am Tag betete. Daß der Dschihad jetzt auch innerhalb der islamischen Gemeinschaft möglich sein sollte, war neu. Ibn Taimiya konnte sich mit seiner Überzeugung nicht durchsetzen. Doch er und seine Schüler konzipierten das Grundmodell einer fundamentalistischen Auffassung des Islam, die im 18. Jahrhundert von den Wahabiten und bis in die Gegenwart von Fundamentalisten und sogar modernistischen Autoren aufgegriffen wurde, um Meinungen zu stützen, die sich mit der Rechtsmethodologie, der Verurteilung der Praktiken bestimmter Mystikerorden, der Kritik an der Heiligenverehrung und der Frage des Mittlertums befassen. In einer Gesellschaft, in der Religion und Politik nicht klar voneinander geschieden sind, in der Religion alle anderen ideologischen Bereiche durchzieht, äußert sich politische Opposition rasch in Form religiöser Opposition. Wer die bestehenden sozio-ökonomischen und politischen Verhältnisse ablehnt und die vorherrschende Ordnung ändern will, auf den übt der Ruf nach der Anwendung der wahren islamischen Vorschriften ausschließlich auf der Grundlage des Koran und der „sunna“ entsprechende Anziehungskraft aus. Eine der bekanntesten und bis heute wirksamen fundamentalistischen Bewegungen wurde in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts von Muhammed Abd al-Wahhab im Zentralteil der arabischen Halbinsel gegründet. Ein Bündnis zwischen seiner Familie und der des Stammesfürsten der al-Sa’ud brachte den Wahabiten in großen Teilen Arabiens Macht. Anfang dieses Jahrhunderts gelang es Abd al-Aziz Ibn Sa’ud, sich den größten Teil der Halbinsel zu unterwerfen, das heutige Saudi-Arabien zu gründen und das Wahabitentum zur Staatskonfession zu erheben. In den siebziger Jahren hat die Familie Sa’ud damit begonnen, ihre Petrodollars in den Dienst des Glaubens zu stellen und sich eine Führungsrolle unter den islamischen Staaten zu sichern. Die 1970 gegründete „Organisation Islamischer Staatskonferenzen“ ist ebenso wie die „Muslimische Weltliga“ ein Instrument saudischer Außenpolitik geworden. In den achtziger Jahren wurden verstärkt fundamentalistische Gruppen gefördert, was erst durch den zweiten Golfkrieg einer Revision unterworfen wurde.

Die erste große Herausforderung für die islamische Welt war die Kolonialisierung durch Europa, vor dessen expansiven Machtansprüchen sie schrittweise zurückweichen mußte. Zwar war die osmanische Herrschaft über die arabischen Länder auch eine Fremdherrschaft. Doch besaß sie dadurch Legitimität, daß die Osmanen Muslime waren. Mit dem Einmarsch Napoleons 1798 in Ägypten entstand eine völlig neue Situation. Seit der Zeit der großen Entdeckungen hatte Europa einen Aufschwung genommen, der die zuvor in Handel, Kunst und Wissenschaft glänzenden Länder der islamischen Welt mehr und mehr in den Schatten geraten ließ. Durch die Machtverlagerung nach Istanbul waren einstige Zentren an die Peripherie gedrängt, Innovationen fanden nicht mehr statt. Die Konfrontation mit dem napoleonischen Heer kam einem Kulturschock gleich, bot jedoch die Chance, aus der Isolation zu treten. Mohammed Ali, seit 1805 Vertreter der Hohen Pforte (Regierung in Konstantinopel) in Kairo, nutzte diese Gelegenheit und begann, das Land am Nil durch den Einsatz europäischer Fachkräfte zu modernisieren. Die Muslime wurden nun auf eigenem Boden herausgefordert, ein neues Selbstverständnis zu finden und sich die Frage nach der eigenen Geschichte und Bestimmung zu stellen.

Der heutige Islam ist geprägt durch seinen Dekolonialisierungskampf, wobei die erste Phase mit der physischen Räumung der Kolonien weitgehend abgeschlossen war, durch Golfkrise und -krieg aber einen Rückschlag erlitten hat, da fremde -ungläubige -Truppenkontingente auf arabischem Boden stationiert blieben. Die zweite Phase des Kampfes gilt der Eindämmung des „westlichen“ Lebensstils, der mit einer Rückbesinnung auf originäre Werte einhergeht. Mit den westlichen Einflüssen verbunden ist die technische, wirtschaftliche, militärische und wissenschaftliche Übermacht der sogenannten entwickelten Welt. Diese Überlegenheit besteht auf allen praktischen Gebieten bis in die politischen Strukturen hinein, zweifellos eine Überlegenheit im Bereich der Wirksamkeit, nicht unbedingt im Bereich der Qualität. Die Effizienz der westlichen Industrienationen scheint die islamische Welt zu zwingen, sie zu übernehmen, um sich selbst gegen sie behaupten zu können.

Der Prozeß der „Modernisierung“, der mit dem Zusammenstoß zweier unterschiedlicher Welten zwangsläufig in Gang gesetzt worden war, ist noch längst nicht bewältigt. Voraussetzung dieses Modernisierungsprozesses war in Europa die Trennung von Kirche und Staat, also der Säkularismus, der das Resultat einer langen historischen Entwicklung war. Die islamische Welt hat keine wirkliche Aufklärung und keine große Revolution hervorgebracht, die absolutistische durch parlamentarische Regierungsformen ersetzten, aus denen sich demokratische Staatsgedanken entwickeln konnten. Hier steht das islamische Prinzip von „din wa daula", Religion und Staat, einer solchen Entwicklung entgegen.

Schließlich wurden von den arabischen Ländern im Prozeß der Modernisierung nur diejenigen „Werte“ übernommen, die den jeweiligen Regimen für ihre Machterhaltung nützlich erschienen, wie moderne Waffen, (Überwachungs-) Technologie und Konsumgüter aller Art, während die zu den Elementen des Fortschritts und der „Kultur“ der Moderne gehörenden Wertsysteme nicht angenommen wurden. Der Vorteil der übernommenen Errungenschaften kommt zumeist nur der Clique der Herrschenden und einer kleinen Elite zugute, während für die Masse der Völker die negativen Auswirkungen der nur an der Oberfläche vollzogenen Modernisierung zum Synonym der „Verwestlichung“ wurden, was für sie gleichbedeutend ist mit sittlichem Verfall.

V. Islam und politischer Extremismus

Für das allgemeine Unbehagen der meisten Araber an ihrer Situation gibt es viele Gründe. Armut und Unterentwicklung im krassen Gegensatz zu einer kleinen Finanzelite wiegen weniger schwer als die als permanente Demütigung empfundene Bevormundung durch die westlichen Industrienationen. Solange die arabischen Länder noch für ihre Unabhängigkeit kämpften, konnte man alle Übel dem Imperialismus zuschieben. Selbst in der nachkolonialen Phase diente das hinterlassene Erbe noch als Exkulpation für eigenes Versagen und dient noch heute islamistischen Bewegungen des militanten Islam als Waffe. Das verstellt den Blick auf die Realität und auf die Zukunft. Daher suchen sie ihre Zukunft in einer glorifizierten Vergangenheit, berufen sich auf die goldene Zeit der ersten vier „rechtgeleiteten Kalifen“, dabei verdrängend, daß es unter ihnen zum ersten großen Schisma kam. Selbst zu Lebzeiten des Propheten hatten sich derart viele Sekten gebildet, daß gemäß der Überlieferung Muhammad geäußert haben soll, von den 72 Sekten werde nur die 73.den wahren Glauben verbreiten.

Dabei gehört es zu den Hauptzielen des islamischen Fundamentalismus, divergierende Strömungen zu überwinden und alle Muslime wieder im wahren Glauben zu vereinen, um die ursprüngliche Einheit von Religion und Staat wiederzuerlangen. Allein dadurch übertrifft er alle anderen Fundamentalismen unserer Zeit an Sprengkraft. Die Diskussion innerhalb der islamischen Welt, wie weit, bzw. ob überhaupt Staat und Gesellschaft gläubiger Muslime säkular sein dürfen, hält an, ohne zugunsten einer Re-Islamisierung abgeschlossen zu sein. Der Streit zwischen Fundamentalisten und jenen, die unterscheiden zwischen Werten von konstanter Gültigkeit und solchen, die zeitlichen Verhältnissen angepaßt werden müssen, ist historisch. In den Jahrhunderten der Stagnation in der islamischen Welt kam diese Auseinandersetzung nicht zum Tragen, ist heute aber virulenter denn je, da der Kampf vieler Gruppierungen mehr um politische Einflußnahme als um die reine Lehre geht.

Hier gilt es sorgfältig zu trennen zwischen Fundamentalisten und „Islamisten“, die den Islam auf ihre Fahne schreiben, um ihn letztlich als Vehikel zu benutzen, politisch an die Macht zu kommen, wobei die Grenzen oft derart fließend sind, daß eine klare Unterscheidung selten möglich ist.

Ein Ziel ist allen gleich: die Ablehnung des Nationalstaates, dessen Idee dem Islam fremd ist. Für einen Muslim kann es nur eine politische Organisationsform geben, die Mitgliedschaft in der „umma“, der einen und einheitlichen Gemeinschaft des Islam. Die Neuordnung der Staatenwelt nach „nationalen“ Kriterien, wie sie durch Kolonialmächte hergestellt worden ist, bedeutet eine Zerschlagung der islamischen Gemeinde und wird nach wie vor als Fremdbestimmung empfunden, mit einem grundlegenden Defizit an Legitimität. Der Zerfall des Osmanischen Reiches gilt als ein Tiefpunkt in der Geschichte der islamischen Welt, nur noch unterboten durch die Schaffung Israels, die ständige Wunde und Provokation für jeden Muslim. Da der jüdische Staat unter Duldung und Förderung einer nicht-islamischen Großmacht, der Kolonialmacht England, auf arabischem Boden zustande kam, ist vielfach von einer „Verschwörung“ gegen die islamische Gemeinschaft die Rede. Der Kampf gegen Israel wird somit stellvertretend zu einem Kampf für Befreiung und Aufhebung der Entfremdung. Hier offenbart sich bereits das Dilemma der islamischen Welt. Zum einen ist der Nationalstaat längst zu einer Realität geworden, die die Beziehungen der Muslime untereinander bestimmt. Zum anderen wird die Haltung gegenüber Israel, dessen Existenz mit dem Bekenntnis zur islamischen Religion und Einheit unverein-bar ist, weitgehend von der Interessenkonstellation eines jeden Staates respektive seines Regimes bestimmt. Gemeinsamkeit gibt es allenfalls in Form von Deklarationen. Wie trefflich sich das Thema „Israel-Palästina“ instrumentalisieren läßt, dafür hat Saddam Hussein ein deutliches Beispiel gegeben. Es war ein ausgeklügeltes Spiel von Emotionen gegen Realpolitik.

Die in den siebziger Jahren dieses Jahrhunderts, also erstaunlich spät, voll entfaltete Re-Islamisierung ist zunächst einmal eine von fast allen Schichten getragene stärkere Betonung des islamischen Kulturerbes und als solche ein logischer Schritt im kämpferischen Bemühen um Dekolonialisierung. Sie knüpft an Bewegungen großer Reformer zu Ende des letzten Jahrhunderts wie auch des 10. bis 13. Jahrhunderts an und ist in manchen Erscheinungsformen eine Fortsetzung der 1928 von Hassan al-Banna in Ägypten gegründeten Bewegung der „Muslim-Bruderschaft“. Sie ist die bis heute wichtigste der militant-islamischen Gruppen, die in vielen Ländern vertreten, doch nirgends außer in Jordanien legalisiert ist.

Al-Banna wie auch andere Vertreter eines neuen Islamismus waren weniger beeinflußt von mutmaßlichen Eigenheiten des Islam, sondern viel mehr von der modernen Entwicklungsgeschichte der betroffenen Völker, was mit der Entwicklung in Europa am ehesten mit dem spanischen „nacional-catolicismo“ verglichen werden könnte. „Nicht Liberalismus und Säkularismus, nicht Kommunismus und Kapitalismus, sondern Islamismus!“ Allein schon das Motto unterstreicht die Prädominanz des Politischen über das Religiöse. Der Gebetsritus bekam in der Literatur der „Muslim-Bruderschaft“ die Rolle von körperlicher Ertüchtigung und Disziplinübung zugewiesen. Diese Generation der Islamisten betrachtet folglich den Islam erneut vorrangig als eine politische denn als eine religiöse Angelegenheit.

Dem stehen die kleinen, aber aktiven Gruppen von Fundamentalisten gegenüber, die alle „Ismen“ als „ausländisch“ ablehnen und Alleingültigkeit für den Islam beanspruchen. Diese Tendenz konnte sich lange Zeit nicht gegen die Verbindung von Sozialismus und Nationalismus, gegen Nassers „Pan-Arabismus“ durchsetzen. „No East, no West -Islam is best!“ Die Frage, ob der Islam im spezifisch islamistischen Kontext Auslöser einer Entwicklung oder Mittel zum Zweck sei, läßt sich dahingehend beantworten, daß er als Instrument und Legitimation zugleich dient. Bei der seit Jahren geführten innerislamischen Diskussion über eine moderne Wirtschaftsund Sozialordnung kann von einer einheitlichen Lehre nicht gesprochen werden. Doch steht auch hier ein gemeinsames Problem im Mittelpunkt: die Suprematie Europas und der Industrienationen. In einigen Ländern wurde versucht, einen eigenständigen Sozialismus aufzubauen, bei dem man sich mühte, seine islamische Herkunft zu rekonstruieren. Der Zeitgenosse des Propheten, Abu Dharr al-Ghifari, wurde zitiert und die Deutung des Begriffes „ishtirakiya“, Sozialismus, im Sinne seiner arabischen Wurzel als letztlich moralisch begründetes Teilhaben des Armen am Besitz des Reichen. Je weiter sich die Schere öffnet zwischen reich und arm -dünn besiedelte Ölländer mit hohem Pro-Kopf-Einkommen sowie sehr kleine, vielfach korrupte Führungseliten einerseits gegenüber in Unterentwicklung und oft unterhalb der Armutsgrenze lebenden Massen andererseits -, desto anfälliger werden diese Massen für einfache Formeln. Bei Wahlen in Jordanien traten die Muslim-Brüder mit dem Slogan „Islam ist die Lösung“ an und zogen siegreich ins Parlament ein. Bei den letztjährigen Regionalwahlen in Algerien errang die „Islamische Heilsfront“ (FIS) einen Erdrutschsieg mit ähnlichen frappierend simplen Sprüchen. Sie nutzt demokratische Formen, um ihr Ziel zu erreichen, das ein anderes ist. Ali Behadj, einer der Wortführer der FIS, spricht es offen aus: „Demokratie ist Sünde.“

Die beiden genannten Parteien sind legalisiert. Im Untergrund arbeitet eine Vielzahl von Gruppen und Parteien mit einem internationalen Netzwerk, das schwer durchschaubar ist. Ob es sich um die „Islamische Befreiungspartei“ („hisb at-tahrir al-islami"), die „Gemeinschaft der Muslime“, die „Gemeinschaft des Dschihad“ und viele andere mehr handelt, es geht ihnen um die Errichtung des Gottesstaates ihrer Vorstellung, wobei sie vor terroristischen Mitteln durchaus nicht zurückschrekken, um dem Ziel näher zu kommen. Von repressiven Regimen wie Syrien bis zur Ausrottung verfolgt -Luftangriff auf die Stadt Hama 1982 -, hat die syrische Muslim-Bruderschaft ihre Führung ins Ausland verlegt. Das „Islamische Zentrum Aachen“ war Koordinationsstelle für den syrischen Widerstand. Der Verfassungsschutz hält es für geboten, weitere Aktivitäten zu observieren. Andere Zentren radikaler Islamisten in Europa -47 Organisationen allein innerhalb der EG-Länder -lassen nicht nur auf steigenden Einfluß extremistischer Minoritäten schließen, sondern auch auf deren großzügige Finanzausstattung. Gemäßigten Gruppen flossen Gelder aus der 1975 von Saudi-Arabien gegründeten „Islamischen Entwicklungsbank“ in Dschidda mit Zweigstelle in Genf zu. Aufgrund der Unterstützung Saddam Husseins mußten einige dieser Gruppen, so die „Islamische Heilsfront“ Algeriens, ein Einfrieren der Zahlungen in Kauf nehmen. Die Geldgeber sitzen jetzt nicht mehr in Riad, sondern in Teheran. Die „Hisb at-tahrir" nährt sich aus anderen Quellen, die nicht immer bekannt sind. Während des Golfkrieges erhielt diese Partei wegen ihrer antikommunistischen Haltung Unterstützung vom amerikanischen Geheimdienst

Der steigende Einfluß von Islamisten in arabischen Ländern bereitet deren Regimen wachsendes Unbehagen. Dabei hat ihr Versagen, ein modernes, sozial orientiertes Staatswesen aufzubauen, das auf anderen Elementen als Armee, Geheimdienst und Unterdrückung von Meinungsfreiheit basiert, nicht unwesentlich dazu beigetragen. Die Probleme von Armut, Entwurzelung durch Landflucht sowie in manchen Ländern der Überbevölkerung summieren sich zur Hilflosigkeit der Unterprivilegierten gegenüber einer westlich-wirtschaftsorientierten, säkularen Welt. Von den politischen Führern allein gelassen, erscheinen ihnen daher die Versprechen einfacher Lösungen islamistischer und fundamentalistischer Bewegungen attraktiv.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Le Point vom 27. Mai 1991.

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