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Wahrgenommenes Parteiensystem und Wahlentscheidung in Ost-und Westdeutschland. Zur Interpretation der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl | APuZ 44/1991 | bpb.de

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APuZ 44/1991 Radikal rechtspopulistische Parteien in Westeuropa Wahrgenommenes Parteiensystem und Wahlentscheidung in Ost-und Westdeutschland. Zur Interpretation der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl Die GRÜNEN 1990/91 Vom Wahldebakel zum Neuanfang Die Zukunftsdiskussionen und -programme der Parteien und Verbände Nur Rauch ohne Feuer?

Wahrgenommenes Parteiensystem und Wahlentscheidung in Ost-und Westdeutschland. Zur Interpretation der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl

Franz Urban Pappi

/ 26 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Zur Interpretation der ersten gesamtdeutschen Wahl wird ein Modell der ideologischen Parteiwahrnehmung herangezogen, wonach die Wähler ihre Wahrnehmung der Parteistandpunkte bei einzelnen Sachfragen aus ihrer Kenntnis der ideologischen Verankerung der Parteien heraus strukturieren. Die Modellanwendung erbringt als eines der Hauptergebnisse, daß die ideologische Parteiwahrnehmung in Ost-und Westdeutschland bereits weitgehend gleich ist. Es existiert also bereits ein einziges Parteiensystem in Deutschland aus der Sicht der Wähler. Das ideologische Wahrnehmungsraster ist zweidimensional mit einer wirtschaftspolitischen Links-Rechts-Achse mit den beiden Endpolen FDP und PDS und einer innen-und rechtspolitischen Links-Rechts-Achse mit den Endpolen CSU und GRÜNEN. In diesem ideologischen Raum stehen die ostdeutschen Wähler den linken Parteien insgesamt näher als die westdeutschen Wähler. Wenn CDU/CSU und FDP trotzdem bei der Bundestagswahl im Osten genausogut wie im Westen abschnitten, ist das damit zu erklären, daß sie im Osten einen größeren Vorsprung in der Kompetenzeinstufung hatten.

I. Interpretation von Wahlergebnissen

Abbildung 1: Die Umsetzung fixer ideologischer Parteipositionen in Positionswahrnehmungen bei einzelnen Streitfragen

Die ersten wahlsoziologischen Interpretationen zur Bundestagswahl vom 2. Dezember 1990 liegen vor Es geht jetzt nicht darum, die richtige Interpretation zu finden, sondern aus den verschiedenen Erklärungsansätzen ein vollständiges Bild zusammenzusetzen. Die eine richtige Interpretation kann es nicht geben, weil sich die erkenntnisleitenden Fragestellungen unterscheiden.

Tabelle 1: Prozentverteilung von Kanzlerpräferenz und Policy-Distanz bei Staatseingriffen zur Gesundung der DDR-Wirtschaft

Für die Interpretation ist es ein wichtiger Gesichtspunkt, das Wahlergebnis als Momentaufnahme im Auf und Ab der öffentlichen Meinung über einen Zeitraum von ein bis zwei Jahren zu verstehen. In der Bundesrepublik ist diese Perspektive wegen der Landtagswahlen vor und nach einer Bundestagswahl besonders relevant. So gingen von den Landtagswahlen im Saarland, in Nordrhein-Westfalen und in Niedersachsen in der ersten Hälfte des Jahres 1990 politisch ganz andere Signale aus als von den Landtagswahlen in Bayern und in den neuen Bundesländern im Herbst 1990 kurz vor der Bundestagswahl. Und im Anschluß an die Bundestagswahl wichen die Ergebnisse der Landtagswahlen in Hessen und Rheinland-Pfalz so stark vom Trend der Bundestagswahl ab, daß Spitzenpolitiker der größten Bonner Oppositionspartei sogar den Gedanken an eine Neuwahl ins Spiel brachten: Die gegenwärtige Bundesregierung habe (angeblich) ihre Mehrheit bereits wieder verloren.

Kann man diesen ersten Interpretationsgesichtspunkt als Zeitreihenperspektive bezeichnen, so ist der zweite wichtige Gesichtspunkt bei der Interpretation einer Wahl die Strukturperspektive. Inwieweit drückt sich in einem Wahlergebnis die von früheren Wahlen her bekannte Struktur aus? In der alten Bundesrepublik suchen Wahlforscher diese Stabilität in den sog. sozialen Spaltungen, d. h. in den historisch zu erklärenden Koalitionen der kirchengebundenen Katholiken mit den Christdemokraten und der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter mit den Sozialdemokraten. Aus dieser Perspektive gibt es nicht nur langfristige Stabilität und kurzfristige Abweichungen bei einzelnen Wahlen, sondern auch eine allmähliche Veränderung des Wahlverhaltens als Folge eines sozialen und politischen Wandels. Jüngere Wählergenerationen sind von diesen sozialen Spaltungen weniger geprägt, und in dem Ausmaß, wie sich die Generationenzusammensetzung der Wählerschaft verändert, wandelt sich allmählich auch die Konfliktstruktur.

Aus der Zeitreihen-und der Strukturperspektive gestaltet sich die Interpretation der ersten gesamtdeutschen Wahl schwierig Die Strukturperspektive ist auf die ehemalige DDR nicht anwendbar weil 40 Jahre real existierender Sozialismus und davor zwölf Jahre Nationalsozialismus die sozialen Grundlagen eines demokratischen Parteiensystems zerstört haben. Die Zeitreihenperspektive aber verlangt eine getrennte Betrachtung von Ost-und Westdeutschland, weil die meinungsprägenden Ereignisse, wie die Einführung der DM als Währung in der DDR, die Bevölkerung in beiden Teilen Deutschlands ganz verschieden betroffen haben.

In dieser Situation bietet sich eine dritte Erklärungsperspektive an, die der mittelfristigen Entwicklung jenseits der Zeitreihenperspektive und diesseits der längerfristigen Perspektive der sozialen Spaltungen Priorität einräumt. Ein mittelfristig stabiles Element ist in der Bundesrepublik stets die Bonner Koalitionslage gewesen. Dies drückt sich auf der Wählerebene in stabilen Wahmehmungsmustern des politischen und ideologischen Standpunkts der einzelnen Parteien und der Ordnung der Parteien zueinander aus. Innerhalb dieses Wahrnehmungsmusters verortet der Wähler auch sich selbst, so daß das wahrgenommene Parteien-system die Vermittlungsebene zwischen den Wählerpräferenzen und den vom politischen System bereitgestellten Handlungsoptionen herstellt. Bereits vor dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik zeichnete sich die Entstehung eines Parteien-systems in Ostdeutschland ab, das weitgehend mit dem westdeutschen identisch sein würde. Unterschiede treten allerdings im linken Lager auf. Zum einen nimmt in der ehemaligen DDR die PDS als Partei der alten Linken mit kommunistischem Ursprung eine starke Stellung ein, und zum anderen sind mehrere politische Gruppierungen, die aktiv an der Destruktion des SED-Regimes mitgewirkt haben (wie das Bündnis 90), noch dabei, sich im neuen demokratischen Parteiensystem zu etablieren. Diese Unterschiede im linken Lager könnten insgesamt dazu führen, daß sich das wahrgenommene Parteiensystem in den neuen Bundesländern noch stark von dem westdeutschen Parteiensystem unterscheidet. Andererseits könnte die Kandidatur der PDS/Linken Liste in ganz Deutschland auch die Konsequenz haben, daß sich zumindest allmählich das gewohnte westdeutsche Parteiensystem selbst ändert.

Das Standardinstrumentarium der Umfrageforschung zur Messung des wahrgenommenen Parteiensystems ist die Links-Rechts-Einstufung der Parteien, verbunden mit einer Selbsteinstufung des Wählers auf derselben Skala. Aus verschiedenen Umfragen ist bekannt, daß sich die ostdeutschen Wähler selbst etwas weiter links einstufen als die westdeutschen Wähler Gleichzeitig nehmen sie die linken Parteien weniger links wahr als die westdeutschen Wähler, so daß die SPD-Position in den neuen Ländern fast als Mittelposition wahrgenommen wird. CDU und CSU werden von den Ostdeutschen aber dafür weiter rechts angesiedelt als von den Westdeutschen. Im Prinzip folgt aus diesen Analysen, daß die ostdeutschen Wähler dem linken Lager näherstehen müßten als die westdeutschen; damit kontrastiert natürlich das Ergebnis der Bundestagswahl, nach dem die jetzigen Bonner Regierungsparteien in Ost-und Westdeutschland fast denselben Wähleranteil erzielten, nämlich 54, 7 Prozent im Osten und 54, 8 Prozent im Westen. Dieser Widerspruch muß bei einer Interpretation der letzten Bundestagswahl aufgeklärt werden.

Im nächsten Abschnitt wird ein Modell vorgestellt, das einen bestimmten Vermittlungsmechanismus zwischen den von den Parteien vertretenen politischen Standpunkten und der Wählerwahrnehmung annimmt. Nach Vorstellung dieses Modells soll erläutert werden, warum es sich zur Interpretation der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl besonders gut eignet. Daran schließt sich eine Präsentation der empirischen Ergebnisse für die letzte Bundestagswahl an, aus der die Rolle des wahrgenommenen Parteiensystems für die Umsetzung der politischen Präferenzen des Wählers in eine konkrete Wahlentscheidung hervorgeht. Dabei werden gleichzeitig auch die Erklärungsgrenzen des Modells aufgezeigt.

II. Ein Modell zur Erklärung von Parteiwahrnehmungen

Abbildung 2: Wählerpräferenz für unterschiedliche Grade von Staatseingriffen zur Gesundung der DDR-Wirtschaft und wahrgenommene Parteipositionen

Jede Demokratie, die den Bürger in periodischen Abständen zur Wahl aufruft, hat mit dem Problem zu kämpfen, wie sich der Wähler ein Urteil über die politischen Alternativen bilden soll, die ihm zur, Auswahl angeboten werden. Stehen im wesentlichen Parteien zur Wahl, muß sich der Wähler zunächst über sie ein Urteil bilden, bevor er sich entscheiden kann. Die Grundlagen dieser Urteilsbildung können ganz verschieden sein; sie reichen von einem weitgehend traditionellen Wahlverhalten, das sich z. B. an der politischen Tradition der eigenen Familie orientiert, bis zu dem kalkulierenden Wähler, der sich die Auswirkungen verschiedener Regierungen auf sein Einkommen ausrechnet. Alle Wähler haben aber ein Übersetzungsproblem. Sie müssen eine Verbindung herstellen zwischen ihren eigenen Zielen und der Partei, die sie wählen. Die verschiedenen Theorien des Wählerverhaltens unterscheiden sich in den Annahmen, die sie über die Art der Herstellung dieser Verbindung machen.

Das hier vorzustellende Modell geht von vier Annahmen aus. 1. Die eigenen Ziele des Wählers: Für sie wird angenommen, daß sie etwas mit Politik in dem Sinn zu tun haben, daß sie durch Regierungshandeln erreichbar sind. Insofern ist wichtig, daß entsprechende Probleme von den Parteien auch thematisiert worden sind, und daß verschiedene Lösungen (Policies) angeboten werden, zwischen denen der Wähler sich entscheiden kann. 2. Wahrnehmung der genauen Parteipositionen: Wie orientiert sich der Wähler, um die nötige Information über die von den Parteien angebotenen Lösungen zu erhalten? Hier wird angenommen, daß sich der Normalwähler nicht alle Einzelinformationen über die Stellung der Parteien zu jeder ihn interessierenden Sachfrage besorgenwird. Es muß also eine informationskostensparende Orientierungsalternative gefunden werden. 3. Schätzung der Parteiposition mit Hilfe des verfügbaren Wissens über die ideologische Position der Partei: die zentrale Annahme ist hier, daß der Wähler die ideologischen Positionen der Parteien kennt. Hierbei kann es sich um Positionen auf einer Links-Rechts-Achse handeln, aber es können auch noch weitere ideologische Dimensionen vorkommen. Der Wähler benutzt dann dieses Wissen, um die Parteistandpunkte für die konkreten Streitfragen der Tagespolitik oder des Wahlkampfs abzuleiten. Statt vieler Einzelinformationen über die Standpunkte der Parteien in den Sachfragen reicht ihm die vage Vorstellung, daß z. B. linke Parteien im Unterschied zu den rechten Parteien eine bestimmte Lösung bevorzugen. 4. „Übersetzungskoeffizienten“: Obwohl für die Parteien fixe ideologische Positionen angenommen werden, haben sie trotzdem Manövriermöglichkeiten. Sie können nämlich die Unterschiede in einer Sachfrage zum politischen Gegner als besonders groß oder als besonders klein darstellen. Dadurch können sie ihre Wahlchancen beeinflussen.

In Abbildung 1 sind die Modellannahmen noch einmal exemplarisch dargestellt, damit insbesondere die Idee der Übersetzungskoeffizienten klar wird. Gegeben sei hier eine ideologische Links-Rechts-Achse (X-Achse bzw. Abszisse), auf der eine rechte Partei, etwa die CDU, den Wert Null habe, und eine linke Partei, etwa die SPD, den Wert Eins. Dies sind die angenommenen fixen ideologischen Positionen (s. o. 3. Annahme), die die Wähler im wesentlichen gleich wahrnehmen. Die Wähler unterscheiden sich aber in ihren politischen Präferenzen (X 1, dargestellt auf der Y-Achse bzw. Ordinate) und ihren Übersetzungskoeffizienten (Steigung der Regressionsgeraden V 1 bzw. v 2).

Um das Beispiel konkreter zu gestalten, sei als Sachfrage das Problem angenommen, wieviel Staatseingriffe in die Wirtschaft der ehemaligen DDR für deren wirtschaftliche Gesundung für nötig erachtet werden. Ohne sich aktuell groß informieren zu müssen, kann ein Wähleri sein allgemeines Wissen darüber aktivieren, daß linke Parteien in der Regel mehr Staatseingriffe befürworten als rechte. Wähleri kann zusätzlich der Meinung sein, daß die Frage einer linken oder rechten Politik in diesem Fall keinen allzu großen Unterschied macht, weil auch eine rechte Partei in diesem besonderen Fall nicht um Staatseingriffe herumkomme. Im Modell sieht dies so aus, daß die Steigung der entsprechenden Regressionsgerade relativ flach ist (v 1).

Wähler i könnte aber auch eine andere Wahrnehmung haben. Er könnte glauben, daß auch im Falle der Wirtschaftsreform in der ehemaligen DDR die SPD sehr viel massiver intervenieren würde als die CDU. Dann wäre seine Regressionsgerade entsprechend steiler (v 2). Derartige Wahrnehmungsunterschiede zwischen den Wählern sind erlaubt, es wird aber angenommen, daß die Wähler die ideologische Position der Parteien gleich wahrnehmen.

Ob sich Wähler i für eine linke oder rechte Partei entscheidet, hängt zunächst von seiner eigenen Einstellung zu Staatseingriffen in die Wirtschaft in diesem besonderen Fall ab. Als typischem Westdeutschen schweben ihm in unserem Beispiel Staatseingriffe mittleren Umfangs im Fall der DDR vor. Nimmt er nun kaum Unterschiede zwischen der linken SPD und der rechten CDU in dieser Frage wahr (v 2), ergibt sich für ihn eine abgeleitete ideologische Position näher bei der SPD. Bei der Wahrnehmung großer Unterschiede (v 2) führt aber dieselbe inhaltliche Politikpräferenz (xi) zu einer ideologischen Position auf der X-Achse, die der CDU näherliegt. Sind den Wahlkampfmanagem einer Partei die Politikpräferenzen der Wähler in einer Sachfrage bekannt, kann der optimale Übersetzungskoeffizient für diese Partei bestimmt werden. Ob ihn die Partei durchsetzen kann, hängt aber auch vom Verhalten des politischen Gegners ab.

In dem in Abbildung 1 dargestellten Beispiel wurde unterstellt, daß die ideologischen Positionen der Parteien bekannt sind. Bei der Anwendung des Modells kann man nun umgekehrt fragen, inwieweit man aus den Wählerwahrnehmungen der Par-teistandpunkte bei einzelnen Streitfragen die latenten ideologischen Positionen erschließen kann. Es sollen also Daten über die Politikpräferenzen der Wähler bei einzelnen Sachfragen und Wahrnehmungswerte für die Parteien bei denselben Sachfragen vorliegen. Dann ist es möglich, mit Hilfe einer Faktorenanalyse zu untersuchen, inwieweit sich die Wahrnehmungswerte bei mehreren Sachfragen auf eine oder zwei ideologische Dimensionen zurückführen lassen, auf denen die Parteien eine feste Position einnehmen. Das Ergebnis der Faktorenanalyse liefert so das wahrgenommene Parteiensystem, das die Vermittlung zwischen den Wählerpräferenzen und der Partei-wahl herstellt Es wird also gerade nicht wie bei der allgemeinen Links-Rechts-Einstufung der Parteien einfach postuliert, daß es nur diese eine Dimension gibt, sondern aus den wahrgenommenen Positionen der Parteien bei einzelnen Streitfragen werden die ideologischen Grunddimensionen erschlossen. Es wird sich zeigen, ob zur Abbildung der wahrgenommenen Politikunterschiede zwischen den deutschen Parteien tatsächlich eine einzige ideologische Dimension ausreicht.

Für den Wähler selbst wird ein Idealpunkt für denselben ideologischen Raum abgeleitet, in dem vorher die Parteien plaziert wurden. Dieser ideologische Idealpunkt des Wählers ist nicht durch eine ideologische Selbsteinstufung zustande gekommen, sondern wird mit Hilfe der „Übersetzungskoeffizienten“ aus den Politikpräferenzen des Wählers abgeleitet. Dann läßt sich prüfen, ob der Wähler sich für die Partei entscheidet, die ihm im ideologischen Raum am nächsten steht.

Insgesamt gewinnt die Wahlforschung bei einer Modellanwendung Auskunft über das wahrgenommene Parteiensystem und, wenn die Wähler im selben ideologischen Raum plaziert werden sollen wie die Parteien, auch über die Politikpräferenzen der Wähler. Dann kann drittens überprüft werden, inwieweit sich der Wähler für die Partei entscheidet, der er in diesem Parteiensystem am nächsten steht.

III. Eignung des Modells zur Interpretation der letzten Bundestagswahl

Abbildung 3: Wählerpräferenz für unterschiedliche Lösungen des Abbruchs einer Schwangerschaft und wahrgenommene arteipositionen

Warum eignet sich dieses Modell besonders zur Interpretation der ersten gesamtdeutschen Wahl? Es sind dieselben Parteien in Ost und West angetreten, ohne daß von vorneherein gesagt werden konnte, ob die Parteien auch ideologisch gleich wahrgenommen werden. Diese Frage kann durch Anwendung des Modells beantwortet werden.

Die meisten Wähler der ehemaligen DDR haben sich am 2. Dezember 1990 für eine der Parteien entschieden, die bereits gesamtdeutsch organisiert waren. Bereits vor der Vereinigung haben die Wähler der DDR Präferenzen für die westdeutschen Parteien erkennen lassen. Verschiedene Forschergruppen haben eine solche Westpräferenz erhoben und noch nach der Volkskammerwahl vom 18. März 1990 festgestellt, daß von den westdeutschen Parteien die SPD und nicht die CDU am meisten gefiel Die Tatsache, daß sich die Wähler der DDR bereits vor der Vereinigung mit den Westparteien identifizierten, kann als Phänomen des geliehenen Parteiensystems bezeichnet werden. Warum ist bei Wahlen in der DDR dann aber nicht eingetreten, was viele erwartet haben, daß nämlich die gemäßigte Linkspartei SPD eine Mehrheit gewonnen hätte? Liegt dies daran, daß die CDU unter vielleicht falschen Voraussetzungen als Partei der gemäßigten Linken gewählt wurde? Oder liegt es daran, daß die ostdeutschen Wähler im Laufe des Vereinigungsprozesses eher rechte Politikpräferenzen entwickelt hätten?

Außer der Frage der Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit der ideologischen Parteiwahrnehmung in Ost-und Westdeutschland kann eine Anwendung des vorgestellten Modells auch die zweite Frage beantworten, wie sich die Politikpräferenzen in Ost und West unterscheiden. Der Sozialismus als staatliche Planwirtschaft ist mit dem Zusammenbruch der DDR endgültig diskreditiert. Wie aber steht es mit den kleinen Sozialismen? Hier eine Beschäftigungsgesellschaft und dort ein Versuch, Arbeit gerecht zu verteilen. Man könnte erwarten, daß 40 Jahre real existierender Sozialismus die kleinen Sozialismen eher gestärkt als geschwächt haben, so daß die Politikpräferenzen der ostdeutschen Wähler näher an den Zielen der Sozialdemokraten als an denen der Christdemokraten liegen könnten. Auch diese Frage soll durch die Modellanwendung beantwortet werden.

Es ist aber bereits jetzt die Frage zu stellen, warum letztlich die Koalitionsparteien in der ehemaligen DDR so erfolgreich waren. Das könnte damit zu tun haben, daß die dortige linkere Wählerschaft die Regierungsparteien als linker wahrgenommen hat als die Westdeutschen; es könnte aber auch sein, daß 40 Jahre Sozialismus auch die kleinen Sozialismen zerstört haben. Dann müßten die ostdeutschen Wähler politisch konservativer eingestellt sein als die Westdeutschen. Die erste Erklärungsalternative ist bereits durch die Ergebnisse der üblichen Links-Rechts-Fragen widerlegt und auch die zweite erscheint wenig plausibel.

Es bleibt ein Faktor als möglicherweise wahl-entscheidend übrig, der in dem Modell gar nichtberücksichtigt wird: die Kompetenzeinstufung der Politiker und Parteien. Auch diese Kompetenzein-Stufungen werden unter dem Begriff „issue-voting" (Wahlentscheidungen aufgrund bestimmter Politikpräferenzen) subsumiert. Man kann eine Partei für regierungsfähig halten, weil sie vertrauenswürdige Politiker hat, oder weil sie in der Vergangenheit mit ihrer Wirtschaftspolitik mehr Erfolg hatte als andere Parteien. Dann hält man sie für wirtschaftspolitisch kompetent, ohne sich zu sehr mit den inhaltlichen Fragen der Wirtschaftspolitik zu beschäftigen. Es zählt sozusagen nur der Erfolg der Politik, den der Wähler in seinem Portemonnaie spürt, nicht die Art und Weise, wie dieser Erfolg erreicht wurde.

In den ursprünglichen Modellen rationalen Wahl-verhaltens ist kein Platz für Einstellungen außer-halb des Bereichs der inhaltlichen Politikpräferenzen. Trotzdem ist unstrittig, daß diese Faktoren eine Rolle spielen; man versucht daher neuerdings, sie mit zu berücksichtigen. Es sei also unterstellt, daß der Wähler seinen Nutzen bei der Wahl der Partei maximiert, die er für kompetent hält und zu der seine Politikdistanz am geringsten ist.

Mit dieser Modellerweiterung wird auch das folgende Ergebnis möglich: die ostdeutschen Wähler haben bei insgesamt sehr ähnlicher Parteiwahrnehmung und im großen und ganzen wenig konservativer Einstellung deshalb mehrheitlich CDU oder FDP gewählt, weil sie diese Parteien für politisch kompetenter hielten als die westdeutschen Wähler.

IV. Modellanwendung

Abbildung 4: Parteipositionen im ideologischen Raum in der Wahrnehmung der westdeutschen Befragten

Die Modellanwendung soll in drei Schritten besprochen werden:

1. Die politischen Präferenzen der Wähler, 2. die ideologische Wahrnehmung des Parteiensystems und 3. Kompetenzurteile und Wahlverhalten. 1. Ost-und westdeutsche Politikpräferenzen Für die Modellanwendung müssen Einstellungsund Partei-Wahrnehmungsdaten für einzelne Streitfragen vorliegen. Die alternativen Lösungen (Policies) der Streitfragen werden dabei am besten auf eindimensionalen Skalen vorgegeben mit den beiden extremsten Lösungsvorschlägen an den Endpunkten. Die Wahlforscher bezeichnen derartige Streitfragen mit unterschiedlichen Lösungsvorschlägen als „Positions-Issues".

Für die Modellanwendung stehen die folgenden Streitfragen zur Verfügung: Gewünschter Umfang der Staatseingriffe zur Gesundung der DDR-Wirtschaft; Beibehaltung oder Verschärfung des Asylrechts; Verbot oder Freigabe von Schwanger-Schaftsabbrüchen; Ab-oder Ausbau der Kernenergie. Für jede Streitfrage wurde dem Befragten eine Skala mit 7 Punkten vorgelegt, bei der die Punkte 1 und 7 verbal beschrieben waren. In den Abbildungen 2 und 3 ist Punkt 1 jeweils die konservative Orientierung und Punkt 7 die linke Alternative.

Abbildung 2 (untere Hälfte) zeigt die Einstellung der ostdeutschen Wähler bezüglich der Staatseingriffe zur Gesundung der DDR-Wirtschaft. Hier sprechen sich immerhin 36, 7 Prozent für umfangreiche Staatseingriffe aus, und nur 2, 6 Prozent sind der Meinung, der Staat solle sich weitgehend her-aushalten. Die Bevölkerung der alten Bundesrepublik ist in dieser Frage konservativer eingestellt. Nur 23 Prozent sprechen sich für massive Staats-eingriffe aus. Ähnlich sind die Verhältnisse bei der Einstellung zum Schwangerschaftsabbruch (Abbildung 3). 60 Prozent der Wahlberechtigten in der ehemaligen DDR sind der Meinung, es sollte in jedem Fall allein der Frau überlassen bleiben, ob sie eine Schwangerschaft abbrechen will oder nicht. Diese völlige Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs wird in der alten Bundesrepublik nur von 43 Prozent für richtig gehalten.

Etwas konservativer als im Westen sind die Ostdeutschen lediglich in der Frage der Atomenergie. Während im Westen 22 Prozent einen sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie befürworten, sind es im Osten 16 Prozent. 10 Prozent befürworten dort sogar einen weiteren Ausbau der Kernenergie; das sind im Westen nur 3 Prozent.

Zu den Politikpräferenzen der west-und ostdeutschen Wähler läßt sich zusammenfassend konstatieren: Die Ostdeutschen sind in Fragen der alten Politik, d. h. bei Streitfragen der Wirtschafts-und Rechtspolitik, weniger konservativ als die Westdeutschen; lediglich in der Frage der Kernkraftnutzung haben sie konservativere Vorstellungen. Wahrscheinlich kann man dieses Ergebnis auf alle Streitfragen der sog. neuen Politik ausdehnen. Politisch sollte die deutsche Vereinigung also die alte Linke auf Kosten der konservativen Kräfte und der neuen Linken stärken. Der Wahlerfolg der konservativen Parteien in der ehemaligen DDR kann sicherlich nicht mit einer allgemein konservativen Einstellung der dortigen Wählerschaft erklärt werden.2. Die ideologische Wahrnehmung des Parteiensystems Wie werden nun die Standpunkte der Parteien bei den einzelnen Streitfragen wahrgenommen? Hier sollen zunächst einige Beispiele der durchschnittlichen Parteienwahrnehmung in der Frage der Staatseingriffe und des Schwangerschaftsabbruchs besprochen werden, bevor versucht wird, diese Wahrnehmungen auf einen gemeinsamen ideologischen Raum zurückzuführen.

Die Frage des Schwangerschaftsabbruchs ist ein sogenanntes „leichtes“ Issue in dem Sinn, daß die Wähler klare Präferenzen und klare Wahrnehmungen der Parteistandpunkte haben. Insgesamt sechs Parteien konnten auf diesen Issue-Skalen eingestuft werden: Die CDU, die CSU, die SPD, die FDP, die GRÜNEN und die PDS. Im Westen beantworteten 88 Prozent der Befragten sowohl die Frage nach der eigenen Präferenz als auch die nach der Position aller sechs Parteien. In Ostdeutschland ist dieser Prozentsatz der Wähler mit vollständiger Information mit 84 Prozent kaum geringer.

Ebenso sind sich die Wähler in beiden Teilen Deutschlands weitgehend darin einig, wo die Parteien in dieser Frage stehen. Sie nehmen die CSU als die konservativste Partei wahr mit einem Skalenwert von 1, 7 im Westen und 1, 5 im Osten, dann folgen CDU, SPD und FDP mit fast identischen Werten in Ost und West, und im Osten folgen dann die GRÜNEN mit einem Wert von 6, 6 und die PDS mit einem Wert von 6, 8. Der mittlere bzw. Medianwähler in der ehemaligen DDR steht mit 6, 7 genau zwischen diesen beiden linken Parteien; es ist dies der Wähler in der Mitte der Präferenzverteilung. Die Partei, die ihm am nächsten ist, hat die günstigste Position (vgl. Abbildung 3).

Im Westen ist der Medianwähler mit einem Wert von 5, 8 der SPD mit 5, 5 am nächsten; die am meisten als libertär wahrgenommene Partei sind im Westen die GRÜNEN mit einem Wert von 6, 8, während die PDS hier einen Wert von 6, 6 hat.

Schwieriger war es sicher, die Stellung der Parteien in der Frage der Staatseingriffe zur Sanierung der DDR-Wirtschaft auszumachen. Im Westen machten hier trotzdem 85 Prozent der Befragten vollständige Angaben, im Osten nur 77 Prozent. Berücksichtigt man nun diese Gruppe mit vollständigen Angaben, so haben Ost-und Westwähler gemeinsam, daß sie der FDP die wenigsten und der PDS die meisten Staatseingriffe zutrauen. Im übrigen sind es die Ostwähler, die sich in ihrer Wahrnehmung klarer vom hergebrachten Links-Rechts-Schema leiten lassen: In ihrer durchschnittlichen Wahrnehmung liegen FDP und CSU als rechte Parteien eng nebeneinander, dann folgen CDU und SPD; die GRÜNEN sind zwischen letzteren einzuordnen. Der Westwähler schreibt der CDU jedoch mehr Staatseingriffe zu als der SPD, wohl in erster Linie deswegen, weil er die Partei, die die Wiedervereinigung am energischsten betrieben hat, mehr in die Pflicht genommen sieht als die Partei, die diesen Prozeß eher bremsen wollte. Dies ist für die CDU im Westen kein Nachteil, weil der Medianwähler die Einstellung hat, die die Mehrheit hier für die CDU wahrnimmt. Der Medianwähler im Osten dagegen befindet sich zwischen den wahrgenommenen Positionen der SPD und der PDS.

Bei leichten Unterschieden in der Vollständigkeit der Parteienwahrnehmung läßt sich konstatieren, daß die ostdeutschen Wähler mit dem Parteiensystem genauso vertraut sind wie die westdeutschen und daß die Gemeinsamkeiten der Wahrnehmung überwiegen. Auf jeden Fall wird nicht bestätigt, daß der ostdeutsche Medianwähler den Bonner Koalitionsparteien näher ist als den Parteien im linken Spektrum. Im Gegenteil: Der wahrgenommene PDS-Standpunkt und der ostdeutsche Medianwähler kommen sich in der Regel recht nahe. Die Regierungspartei von gestern mag an politischer Glaubwürdigkeit total verloren haben, sie hat aber keine Wählerschaft hinterlassen, die in allen Fragen der praktischen Politik entgegengesetzter Meinung wäre. Die kleinen Sozialismen sind geblieben.

Ein zentrales Problem bei der Analyse des deutschen Parteiensystems aus der Sicht der Wähler ist, ob eine einzige ideologische Dimension zur Erfassung der wahrgenommenen Policyunterschiede zwischen den Parteien ausreicht. Dies wird oft unterstellt, wenn man nämlich die Parteien auf dem Links-Rechts-Kontinuum einstufen läßt und anschließend den Wähler bittet, sich selbst auf dem Kontinuum einzuordnen. Wenn man die wahrgenommenen Distanzen zwischen den Partei-standpunkten bei den ausgewählten Streitfragen einer Faktorenanalyse unterzieht, wird entscheidbar, ob eine einzige Dimension zur Erfassung der latenten ideologischen Distanzen ausreicht. Das Ergebnis dieser Analysen sei gleich vorweggenommen: Auch bei der Analyse einzelner Streitfragen reicht eine ideologische Dimension zur Abbildung der Parteidistanzen nicht aus. Zwei Dimensionen sind dazu notwendig. Analysiert man alle vier erhobenen Streitfragen gleichzeitig, ergibt sich für Westdeutschland das in Abbildung 4 dargestellte Bild des Parteienraums.

Der Hauptgrund der Zweidimensionalität ist, daß die drei etablierten Parteien CDU/CSU, SPD und FDP nicht auf einer einzigen Dimension anzuordnen sind. Bei wirtschaftspolitischen Fragen stehen die beiden bürgerlichen Parteien der SPD gegenüber, wobei die FDP ideologisch rechts von der CDU steht. Dies haben bei der Frage der Staats-eingriffe in die Wirtschaft die Wähler auch so wahrgenommen. Die wirtschaftspolitische Liks-Rechts-Achse verläuft von der FDP nach rechts oben in der Abbildung.

Bei rechts-und vielen innenpolitischen Fragen ergibt sich die Frontstellung der sozialliberalen Koalition mit der CSU und der CDU rechts und der FDP in SPD-naher Mittelposition und der SPD links. Die innen-und rechtspolitische Links-Rechts-Achse verläuft, nach unseren Interpretationen, von der CSU aus nach links oben.

Es mag Themen geben wie die Pflegeversicherung, bei denen sich eine Frontstellung von SPD und CDU, vor allem wohl von deren Arbeitnehmerflügel, gegen die FDP ergibt. Diese weitere Möglichkeit führt zu der bekannten Dreieckskonfiguration zwischen den etablierten drei Parteien der Bonner Demokratie, bei der jede Zweierkoalition möglich ist. Eine bürgerliche Koalition gründet auf Gemeinsamkeiten der Wirtschaftspolitik, eine sozialliberale Koalition auf Gemeinsamkeiten der Innen-und Rechtspolitik und eine große Koalition schließlich auf Gemeinsamkeiten der Sozialpolitik 9). Diese Dreieckskonfiguration läßt sich zweidimensional abbilden, wobei die sozialpolitische Dimension mehr oder weniger der wirtschaftlichen Achse mit der CDU in der Mittelposition entspricht.

Die historisch herleitbare Dreieckskonfiguration liegt offensichtlich auch der Wählerwahrnehmung zugrunde. Was dabei besonders überzeugt, ist ein Vergleich der Lösungen für die einzelnen Streitfragen. Geht es um Staatseingriffe in die Wirtschaft der ehemaligen DDR, wird die Z 2-Achse gestreckt mit dem Ergebnis, daß FDP und CDU/CSU näher zusammenrücken. Die CSU rückt dabei der FDP etwas näher als die CDU. Der Abstand der FDP zur SPD samt den kleineren Parteien des linken Spektrums wird stark vergrößert.

In der Abtreibungsfrage passiert das Gegenteil. Die Hauptachse wird die Zl-Achse, CDU und vor allem CSU rücken hier nach außen, FDP und SPD kommen sich näher.

Dieses Ergebnis hat eindeutige politische Implikationen. Sie besagen, daß der Wähler die Gemeinsamkeiten der gegenwärtigen Koalition in einer liberalen Wirtschaftspolitik sieht und daß er wohl mit Recht davon ausgeht, daß eine sozialliberale Innen-oder Rechtspolitik Sprengkraft für diese Koalition hat. CDU und CSU könnten sich in diesen Fragen nur durchsetzen, wenn sie zusammen die absolute Mehrheit der Sitze im Bundestag hätten. Die deutsche Vereinigung hat aber innerhalb der Koalition die Kräfte zugunsten der FDP verschoben.

PDS und GRÜNE werden vom westdeutschen Wähler im Hinterhof der SPD wahrgenommen. Sie besitzen deshalb kaum den eigenen politischen Manövrierraum, den die FDP in ihrer günstigen Mittellage zwischen den beiden großen Volksparteien besitzt.

Vergleicht man nun den ideologischen Parteien-raum, den die ostdeutschen Wähler ihren Politik-wahrnehmungen zugrunde legen, ist dieselbe Grundstruktur erkennbar (vgl. Abbildung 5). Lediglich die drei linken Parteien liegen enger zusammen als im Westen. Der Ostwähler hat hier eher Probleme mit der Einschätzung der GRÜNEN, im Westen variiert dagegen die Beurteilung der PDS sehr stark. Gemeinsam ist beiden Parteiräumen aber, daß auf der von der wirtschaftspolitischen Dimension die PDS weiter links plaziert ist als auf der innen-und rechtspolitischen Dimension. Die PDS kann als Partei der alten Linken gelten. Auf der von der CDU/CSU nach oben links verlaufenden innen-und rechtspolitischen Achse nehmen dagegen die GRÜNEN die linke Extremposition ein, während die FDP näher bei der SPD in der Mitte plaziert ist. Sollte wegen der wirtschaftlichen Folgen der Vereinigung die Wirtschaftspolitik unter marktwirtschaftlichen, bürgerlichen Vorzeichen in nächster Zukunft ihre große Bedeutung behalten, würde die innen-und rechtspolitische Achse wahrscheinlich zum Nachteil der GRÜNEN geschwächt. Die Debatte über die Abtreibungsfrage dagegen stärkt diese Dimension. 3. Kompetenzurteile und Wahlverhalten Die Anwendung des vorgestellten Modells hat uns bisher einer Beantwortung der Frage, warum dieostdeutschen Wähler so stark CDU und FDP gewählt haben, nicht näher gebracht. Der ostdeutsche Wähler steht den Oppositionsparteien politisch näher als den Regierungsparteien, wählt aber trotzdem CDU und FDP so häufig wie der westdeutsche Wähler. Diesen Widerspruch kann wahrscheinlich nur das modellfremde Element der Kompetenzeinstufung lösen. Kompetenzeinstufungen der Parteien werden in der westdeutschen Wahlforschung standardmäßig erhoben. Um unnötige Doppelerhebungen zu vermeiden, wurde in der hier herangezogenen Umfrage deshalb auf eine extensive Abfrage verzichtet.

Aus anderen Untersuchungen geht hervor, daß die Wähler in beiden Teilen Deutschlands die Folgen der Vereinigung als sehr wichtige politische Aufgabe wahrgenommen haben. Dann hören aber die Gemeinsamkeiten auf; bei den anderen vorgegebenen Themen trennen sich die Schwerpunkte der Beachtung. Die ostdeutschen Wähler beschäftigte vor der letzten Bundestagswahl in erster Linie das Thema Arbeitslosigkeit und allgemeine Fragen der Wirtschafts-und Sozialpolitik, die westdeutschen Wähler sahen die Umweltpolitik als vorrangige politische Aufgabe an. Bei den für die ostdeutschen Wähler wichtigen Themen führen dann in der Kompetenzzuschreibung eindeutig die Regierungsparteien, die SPD wurde zum Zeitpunkt der Bundestagswahl wesentlich seltener als kompetenteste Partei genannt als von den Westdeutschen. Dies galt damals sogar für die Sozialpolitik. 30 Prozent der Befragten in Ostdeutschland hielten hier die SPD für die kompetenteste Partei, aber 45 Prozent der Westdeutschen. Zusammenfassend kann man konstatieren: Sowohl im West-als auch im ostdeutschen Wahlgebiet führten die Regierungsparteien bei der Kompetenzzuschreibung, der Vorsprung war im Osten aber ausgeprägter. So wird erklärlich, warum die Regierungsparteien im Osten einen Wahlerfolg erzielen konnten, der von den Politikpräferenzen der Wähler her betrachtet nicht vorauszusehen war. CDU und FDP haben in der ehemaligen DDR die Wahl gewonnen, sie haben in der dortigen Wählerschaft aber keine (Policy-) Mehrheit in Fragen der inhaltlichen Politik.

In der hier herangezogenen Erhebung steht nur ein Ersatzindikator für die Kompetenzzuschreibung zur Verfügung. Dies ist die Frage, was man von den Kanzlerkandidaten Kohl und Lafontaine hält. Dieses Maß kann als Kompetenzzuschreibung interpretiert werden, so daß seine Prognosekraft für die individuelle Wahlentscheidung direkt mit der Policy-Distanz zu den Parteien verglichen werden kann. Statt das volle Modell anzuwenden, wird hier nur auf die Policy-Distanz in der Frage der Staatseingriffe in die Wirtschaft der DDR zurückgegriffen. An diesem kleinen Beispiel kann überprüft werden, ob es in Ostdeutschland mehr Kohl-Anhänger gab und dann wegen der größeren Häufigkeit linker Einstellungen auch mehr Wähler, die widersprüchlichen Einflüssen ausgesetzt waren, indem sie nämlich Kohl für den besseren Kanzler hielten, in der inhaltlichen Politik aber einer Partei des Oppositionslagers näher standen. Beide Vermutungen werden bestätigt. Im Osten zogen 59 Prozent der Befragten Kohl Lafontaine vor, und im Osten ist auch die Gruppe stärker vertreten, die Kohl bevorzugt und gleichzeitig in der Frage der Staatseingriffe in die Wirtschaft einer Oppositionspartei am nächsten steht (vgl. Tabelle 1). Betrachtet man nun die Prognosekraft beider Faktoren, d. h.der Kanzlerpräferenz und der Policy-Distanz in der Frage der Staatseingriffe, zeigt sich erstens, daß die Kanzlerpräferenz im Osten und Westen die Wahlentscheidung besser voraussagt, daß aber zweitens die Policy-Distanz zu den Parteien ebenfalls, von Bedeutung ist. Die Prognosekraft ist in beiden Teilen Deutschlands im wesentlichen dieselbe. Wenn ein Unterschied zwischen Ost und West bestand, dann im Kompetenzvorsprung von Kohl und in der Größe der Gruppe, die widersprüchlichen Einflüssen ausgesetzt war. Und da die Kompetenzeinstufung der wichtigere Prädiktor der Wahlentscheidung ist, haben von dieser Situation die Regierungsparteien überproportional profitiert -was sich im Wahlergebnis niederschlug.

V. Schlußfolgerung

Abbildung 5: Parteipositionen im ideologischen Raum in der Wahrnehmung der ostdeutschen Befragten

Mit der Kompetenzeinstufung hat sich ein Faktor für die Wahlentscheidung als wirksam erwiesen, der ausgesprochen kurzfristigen Einflüssen unterliegt. Dies gilt wohl verstärkt für die Lage in den neuen Bundesländern, wo Zukunftshoffnungen und Enttäuschungen über die augenblickliche Lage schwer entwirrbare widersprüchliche Einflüsse auf die politischen Kompetenzzuschreibungen ausüben. Auf der anderen Seite fehlt in der ostdeutschen Wählerschaft noch weitgehend eine längerfristig stabile Bindung an eine der demokratischen Parteien, so daß die starken Schwankungen der Parteipopularität verständlich werden. Nach den Ergebnissen der Forschungsgruppe Wahlen waren in Ostdeutschland sowohl nach der Volkskammer-wahl vom 18. März 1990 als auch nach der Bundestagswahl vom 2. Dezember 1990 relativ große Einbrüche in der Popularität der führenden Regierungspartei CDU zu verzeichnen Dieter Roth kommt zum folgenden allgemeinen Schluß: „Wahlverhalten, das sich an politischen Sachfragen orientiert, ist weniger stabil als strukturell verankertes Wahlverhalten, weil sich politische Sachfragen sehr viel schneller verändern als Strukturen.“

Diese Aussage muß nach den hier vorgelegten Ergebnissen differenziert werden. Die Orientierung an politischen Sachfragen kann zweierlei bedeuten: eine besondere Beachtung einzelner politischer Probleme durch den Wähler mit anschließender Kompetenzzuschreibung an die Parteien, denen man die Lösung zutraut, und eine Orientierung an Sachthemen, für die von den Parteien unterschiedliche Lösungen (Policies) angeboten werden, die von den Wählern inhaltlich mehr oder weniger präferiert werden. Im ersten Fall wird der Partei den Vorzug gegeben, die man für kompetent zur Lösung der für wichtig erachteten Probleme hält und im zweiten Fall der Partei, mit der man in Fragen der inhaltlichen Politik am meisten übereinstimmt. Beide Faktoren sind zur Erklärung der Wahlentscheidung heranzuziehen. Eine Besonderheit der ersten gesamtdeutschen Wahl in Ostdeutschland war, daß die Politikpräferenzen und die Kompetenzeinstufungen bei mehr Wählern als im Westen sich in entgegengesetzter Richtung auswirkten. Der ostdeutsche Wähler ist in Fragen der inhaltlichen Politik, vor allem der Wirtschaftspolitik, mehr links orientiert als der westdeutsche Wähler, während andererseits die Bonner Regierungsparteien einen größeren Kompetenzvorsprung hatten als im Westen.

Welche Entwicklungen sind hier kurz-und mittelfristig zu erwarten? Bei der kurzfristigen Komponente der Kompetenzeinstufungen wird das Wechselbad der Hochs und Tiefs der Regierungspartei- en wohl in nächster Zeit anhalten. Wirksam aber werden allein die Kompetenzeinstufungen zum Zeitpunkt einer Wahl, und bis zum nächsten Wahljahr in den neuen Bundesländern besteht immerhin die Chance, daß sich die wirtschaftliche Lage verbessert, und daß dies den Parteien der Regierungskoalition zugeschrieben wird. In diesem Bereich zählt nur der Erfolg, und die Bilanz zum nächsten Wahltermin kann jetzt noch nicht erstellt werden.

Den kurzfristigen Schwankungen der Kompetenz-einstufungen stehen die wenigstens mittelfristig stabilen Kräfte gegenüber, die das wahrgenommene Parteiensystem prägen. Dazu gehören zum einen die ideologischen Grunddimensionen, die die Wahrnehmung der Parteistandpunkte bei den aktuellen Sachfragen strukturieren. Dazu gehören zum anderen die Politikpräferenzen der Wähler.

Ein wichtiges Ergebnis dieser Untersuchung ist, daß der ideologische Parteienraum in Ost-und Westdeutschland weitgehend gleich perzipiert wird. Aus dem westdeutschen Parteiensystem und dem ursprünglich nur geliehenen Parteiensystem nach der Wende in der DDR ist bereits weitgehend ein gesamtdeutsches Parteiensystem geworden.

Dieses gesamtdeutsche Parteiensystem weist ideologische Dimensionen auf, die weit in die Geschichte der deutschen Parteien zurückgehen. Es ist dies zum einen eine wirtschaftspolitische und zum anderen eine innen-und rechtspolitische Links-Rechts-Achse. Dabei werden die Fragen der neuen Politik im deutschen Parteiensystem weitgehend nach dem Schema der innen-und rechtspolitischen Dimensionen abgearbeitet. Beide Dimensionen sind fest im historisch gewachsenen Parteiensystem Deutschlands verankert und werden sich auch mittelfristig wenig verändern. Es kann durch die Koalitionslage auf Bundesebene zu unterschiedlichen Betonungen kommen, die sich in der Schätzung der Modellparameter so auswirken würden, daß die beiden Achsen mehr oder weniger klar voneinander getrennt werden. Die augenblickliche Lage führt insofern zu einer klaren Trennung der Achsen, als die Koalition zwischen CDU/CSU und FDP von den Gemeinsamkeiten in der Wirtschaftspolitik zehrt, während gleichzeitig gemäß des Einigungsvertrags die Notwendigkeit besteht, in der Abtreibungsfrage zu einer gesamtdeutschen Lösung zu kommen. Letzteres betont die programmatischen Unterschiede zwischen CDU/CSU und FDP. Von den anstehenden Verfassungsänderungen können weitere Gefährdungen der gegenwärtigen Koalition ausgehen.

Die Dreieckskonfiguration der etablierten Parteien wird im Wahrnehmungsraum unter der gegenwärtigen Regierung sicherlich stabil bleiben. Es stellt sich dann die Frage, wie sich die Politikpräferenzen der Wähler mittelfristig entwickeln. Hier dürften sich Änderungen nicht in erster Linie durch Einstellungsänderungen einzelner Wähler ergeben, sondern durch die Thematisierung unterschiedlicher Probleme. Sollte die Pflegeversicherung eine größere Rolle spielen, so werden die Politikpräferenzen der Wähler in dieser Frage sicher anders verteilt sein als z. B. die Einstellungen zu den Beschäftigungsgesellschaften oder zum Vorrang der Sanierung der Treuhandbetriebe vor dem Ziel der Privatisierung. Trotzdem ist es erfahrungsgemäß in Massendemokratien schwierig, für eine liberale Wirtschaftspolitik Mehrheiten zu organisieren. In Ostdeutschland scheint dies mittelfristig noch schwieriger zu sein als in Westdeutschland, weil die Ausgangsverteilung stärker in Richtung der kleinen Sozialismen verzerrt ist. Diese Situation stellt aber keine deutsche Besonderheit dar. Konservative oder liberale Parteien im europäischen Siim können sich in modernen Massendemokratien nur an der Macht behaupten, wenn sie den kleinen Sozialismen, die der Durchschnitts-bürger so liebt, mit einer Politik entgegenkommen oder gegensteuem, der der Erfolg recht gibt.

Verteilungsfragen werden in den nächsten Jahren sicher bedeutsamer sein als im letzten Jahrzehnt der alten Bundesrepublik. Das könnte die traditionelle Linke, wenn auch nicht gerade die PDS, stärken. Dagegen dürfte die neue Linke mit den GRÜNEN als Hauptrepräsentanten eher zu den Vereinigungsverlierern gehören.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. insbesondere: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 11-12/91 vom 8. März 1991, darin die Aufsätze von Wolfgang G. Gibowski/Max Kaase, Auf dem Weg zum politischen Alltag; Ursula Feist, Zur politischen Akkulturation der vereinten Deutschen; Jürgen W. Falter/Siegfried Schumann, Konsequenzen einer bundesweiten Kandidatur der CSU bei Wahlen.

  2. Dieser Beitrag ist im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts „Vergleichende Wahlstudie -Bundestagswahl 1990 in West-und Ostdeutschland“ entstanden. Im Oktober 1990 wurde als erste Welle eines Wahlpanels ein repräsentativer Querschnitt der wahlberechtigten Bevölkerung in West-und Ostdeutschland befragt. Alle Auswertungen in diesem Artikel entstammen dieser Repräsentativbefragung.

  3. Vgl. Dieter Roth, Die Wahlen zur Volkskammer in der DDR. Der Versuch einer Erklärung, in: Politische Vierteljahresschrift, 31 (1990) 3, S. 369-393.

  4. Vgl. Forschungsgruppe Wahlen e. V. Mannheim, Politbarometer in Deutschland. April 1991 -Überblick; Werner Kaltefleiter, Determinanten des Wahlverhaltens in der ersten gesamtdeutschen Wahl vom 2. 12. 1990, Paper, Institut für Politische Wissenschaft der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel 1991.

  5. Das Modell wurde entwickelt von James M. Enelow/Melvin J. Hinich, The Spatial Theory of Voting: An Introduction, Cambridge u. a. 1984. Die Autoren haben es auch auf das Zweiparteiensystem der USA angewandt.

  6. Die Details der Schätzung der Modellparameter sind bei J. Enelow/M. Hinich (Anm. 5), S. 213-215, nachzulesen.

  7. Vgl. D. Roth (Anm. 3).

  8. Das klassische Modell in diesem Bereich ist von Anthony Downs, Ökonomische Theorie der Demokratie, Tübingen 1968, entwickelt worden.

  9. Vgl. W. Kaltefleiter (Anm. 4).

  10. Vgl. Forschungsgruppe Wahlen (Anm. 4).

  11. D. Roth (Anm. 3), S. 390.

Weitere Inhalte

Franz Urban Pappi, Dr. phil., geb. 1939; o. Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Mannheim. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg, und Autor) Methoden der Netzwerkanalyse, Bd. 1 der Techniken der empirischen Sozialforschung, München 1987; Räumliche Modelle der Parteienkonkurrenz. Die Bedeutung ideologischer Dimensionen, in: Jürgen W. Falter u. a. (Hrsg.), Wahlen und politische Einstellungen in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt/M. 1989; Politischer Tausch im Politikfeld „Arbeit“. Ergebnisse einer Untersuchung der deutschen Interessengruppen und politischen Akteure auf Bundesebene, in: Thomas Ellwein/Jens J. Hesse/Renate Mayntz/Fritz W. Scharpf (Hrsg.), Jahrbuch zur Staats-und Verwaltungswissenschaft, Baden-Baden 1990.