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Deutschland vor neuen Herausforderungen in den Nord-Süd-Beziehungen | APuZ 46/1991 | bpb.de

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APuZ 46/1991 Deutschland vor neuen Herausforderungen in den Nord-Süd-Beziehungen Die Ursachen der anhaltenden Unterentwicklung Agrarökologische Probleme der Tropen Voraussetzungen, Philosophie und Praxis der Selbsthilfe in der Dritten Welt

Deutschland vor neuen Herausforderungen in den Nord-Süd-Beziehungen

Winrich Kühne

/ 32 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Hoffnung, die Vereinigung der beiden deutschen Staaten in Ruhe betreiben zu können, hat sich angesichts des Drucks globaler und europäischer Probleme als Illusion erwiesen. Der Golfkrieg hat die Kluft zwischen den Vorstellungen der Deutschen über ihre globale Verantwortung und die der internationalen Gemeinschaft sichtbar werden lassen. Insgesamt zwingen die weitreichenden Veränderungen im Norden ebenso wie im Süden die Deutsche Politik, ihre künftige Rolle in den Nord-Süd-Beziehungen und die dort zu setzenden Schwerpunkte grundlegend zu überdenken. Die Nord-Süd-Beziehungen werden heute nicht mehr vom Ost-West-Konflikt beherrscht, sondern von einer sich kontinuierlich erweiternden Kluft zwischen den drei industriellen Zentren des Nordens, in denen nur ein Drittel der Menschheit lebt, und dem „Rest“ der Welt. Die rasante technologische Innovation und Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität im Norden sind dafür ein wesentlicher Grund, ein immer stärker auseinanderklaffender Lebensstandard sowie wirtschaftlicher Verfall, Hunger, Ausweitung von Krankheiten, Migration etc. in den meisten Entwicklungsländern die Folge. Gleichzeitig nimmt die Zahl gewaltsamer Konflikte vor allem ethno-politischer Natur ständig zu. Ihre humanitären und wirtschaftlichen Auswirkungen sind katastrophal, treffen die Industriestaaten vorerst aber nur indirekt. Dennoch sind diese Konflikte die entscheidende friedens-und sicherheitspolitische Aufgabe in den Nord-Süd-Beziehungen der neunziger Jahre. Die Politik des wiedervereinigten Deutschlands sollte sich dieser und anderen Herausforderungen nicht entziehen, sowohl aus wohlverstandenem Eigeninteresse als auch aus humanitären Erwägungen. Diese Forderung konfrontiert die politische Führung ebenso wie die Öffentlichkeit zwar nicht mit der Frage von Großmachtpolitik, wohl aber mit der weltpolitischen Verantwortlichkeit. Die Nord-Süd-Beziehungen sind ein Feld, auf dem die deutsche politische Kultur in dieser Hinsicht einen schwierigen Test zu bestehen haben wird.

I. Vorbemerkung

Es ist noch nicht lange her, daß das Ende des Ost-West-Konflikts, der Zusammenbruch der Regime in Osteuropa und schließlich die Vereinigung der beiden deutschen Staaten Hoffnungen auf eine Welt ausgelöst haben, die friedlicher und kooperativer ist als die des Kalten Krieges. In der Dritten Welt wandelte sich die Konfrontation zwischen den USA und der UdSSR in wenigen Jahren zu einem Verhältnis kooperativer Konfliktlösung. Dauerkonflikte wie die in Afghanistan, Namibia, Nicaragua, Mosambik, Angola, Äthiopien und Kambodscha konnten endlich beendet oder einer Beendigung zumindest nähergebracht werden. Gleichzeitig erfuhren die Vereinten Nationen (VN) eine beträchtliche Aufwertung als internationaler Ordnungsfaktor.

Im wiedervereinigten Deutschland gaben sich Volk und Regierung angesichts dieser Entwicklung der Hoffnung hin, dem schwierigen Geschäft der Vereinigung und einer Neuordnung Europas nachgehen zu können -in Ruhe und wenig behelligt von globalen Krisen. Der Golfkrieg hat dieser Illusion schnell ein Ende bereitet. Nicht mehr Stabilität, Kooperation und Frieden, sondern wachsende Instabilität, Eskalation und Ausweitung gewaltsamer ethnischer und religiöser Konflikte, Anwachsen von Flüchtlingsströmen und die Gefahr massenweiser Süd-Nord-ebenso wie Ost-West-Migration, mehr statt weniger Hungersnöten, alarmierende Zahlen über ein ungebremstes Bevölkerungswachstum in der Dritten Welt ebenso wie ein dramatisches Anwachsen der Aids-Erkrankungen (insbesondere in Afrika) und von Umweltproblemen scheinen die Realität der Welt nach dem Ende des Kalten Krieges zu sein.

Die meisten der genannten Probleme waren natürlich auch schon während des Ost-West-Konflikts im Ansatz vorhanden und zu erkennen. Gerade Dritte-Welt-Experten haben immer wieder davor gewarnt, die Welt allein durch die Brille dieses Konflikts zu sehen. Dennoch hat erst sein Ende den Blick für das Ausmaß und die Dringlichkeit dieser Probleme freigegeben. Gleichzeitig haben Begriffe wie Erste, Zweite und Dritte Welt, die zumindest eine grobe und auch für den Nicht-Experten faßbare Einteilung der Welt gewährleisteten, endgültig ihre Aussagekraft verloren. Die einst monolithisch organisierte Zweite Welt, der kommunistische Ostblock, ist zusammengebrochen bzw. dabei, sich in etwas grundsätzlich anderes zu verwandeln. In der Dritten Welt haben wirtschaftliche Interessen und Unterschiede bei der Entwicklung politischer Systeme, von den sich schärfer ausdifferenzierenden kulturellen Unterschieden gar nicht zu reden, inzwischen eine Vielfalt erreicht, die der wirtschaftlichen Unterentwicklung als verbindendes Element immer weniger Gewicht gibt. Die Konkurrenz untereinander, nicht zuletzt hinsichtlich des wirtschaftlichen Zugangs zu den Industrieländern des Nordens, ist größer, als vielfach angenommen wird. Fragwürdig ist die Beibehaltung des Begriffs der Dritten Welt schließlich auch deswegen, weil weite Teile der Sowjetunion, Südosteuropas und Südeuropas hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Probleme von den traditionellen Entwicklungsländern immer weniger zu unterscheiden sind. Umgekehrt sind einige Staaten der Dritten Welt auf dem Wege, in den Kreis der Industrieländer einzurücken. Auch die Einteilung der Welt in „Norden“ und „Süden“ ist deswegen tendenziell irreführend, obwohl sie -mangels einer besseren Bezeichnung -in diesem Beitrag beibehalten wird. Der Begriff Dritte Welt dagegen wird nur noch rückblickend verwendet.

Die Deutschen trifft dieser verwirrende und unsichere Zustand des internationalen Systems in einer Phase, in der sie gerade erst angefangen haben, ihren Standort innenpolitisch ebenso wie in Europa und der Welt neu zu bestimmen. Das ist ein offener Prozeß. Forderungen wie die Deutschen müßten im Hinblick auf den Gebrauch der militärischen Macht „endlich wieder ein normales Volk“ werden sind dabei ebensowenig hilfreich wie die Sehnsucht einer Mehrheit der Bundesbürger, es der Schweiz (40 Prozent) oder dem Sozialstaat Schweden (29 Prozent) gleichtun zu können DerGolfkrieg hat die große Kluft zwischen dem Bewußtsein der Deutschen und der übrigen Welt über ihre weltpolitische Rolle bewußt gemacht.

In der Europa-Politik und den atlantischen Beziehungen hat die deutsche Politik dennoch, trotz aller Unzulänglichkeiten im Detail, konzeptionell relativ schnell wieder Tritt gefaßt und in einigen Bereichen, zum Beispiel dem Ausbau der KSZE und der EG, sogar eine konstruktive Vorreiterrolle übernommen. Ganz anders jedoch in den „Nord-Süd“ -Beziehungen: Zwar findet auch hier eine gewisse Anpassung an die veränderten Umstände statt; im wesentlichen wird aber auf der Basis alter Denkstrukturen und Institutionen operiert. Das Ausmaß der Veränderungen und dementsprechend die Notwendigkeit zu einem weitreichenden Überdenken der deutschen Nord-Süd-Politik steht also noch am Anfang. Das gilt nicht nur für die staatliche Politik, sondern auch für die Aktivitäten der Kirchen, Solidaritätsgruppen und anderer nicht-staatlicher Akteure. Auch die Frage, welche Relevanz der „Süden“ in der deutschen und europäischen Politik überhaupt noch hat, ist unklar. Das ist nicht überraschend. Denn nicht nur im Ost-West-Verhältnis, sondern auch in den „NordSüd“ -Beziehungen vollzieht sich ein Paradigmenwechsel, der nur teilweise auf das Ende des Ost-West-Konflikts zurückzuführen ist.

Dieser Paradigmenwechsel, und nicht Detailfragen der deutschen Nord-Süd-Politik, steht im Mittelpunkt dieses Beitrags. Es geht um die Denkstrukturen, die die Politik bestimmen, und deren notwendige Veränderung. Findet diese statt, wird das eine beträchtliche Verschiebung der Schwerpunkte der deutschen Nord-Süd-Politik zur Folge haben, wie am Schluß an zwei Beispielen gezeigt werden soll.

II. Paradigmenwechsel in den Nord-Süd-Beziehungen

1. Was einmal für wichtig gehalten wurde In der Vergangenheit dominierten die ideologische und die militärische Konkurrenz mit dem Osten zwar nicht durchgängig, wohl aber überwiegend den Umgang mit Bevölkerungen, Regimen und Organisationen in der Dritten Welt. Nikita Chruschtschow, Generalsekretär der KPdSU, hatte Ende der fünfziger Jahre richtig erkannt, daß die Welle der Dekolonisierung in Afrika und Teilen Asiens der Sowjetunion bis dahin ungeahnte Möglichkeiten eröffnete, ihren globalen Einfluß auszuweiten und eine den USA ebenbürtige Macht zu werden. Sein Ausspruch Anfang der sechziger Jahre, daß er den „Westen in der Dritten Welt begraben“ würde, schreckte die USA und ihre europäischen Verbündeten dementsprechend auf. Die De-kolonisierung wurde mehr und mehr zu einem Spielball der antagonistischen Systemkonkurrenz, und die Sicherung von Rohstoffen, Seewegen und militärischen Zugangsrechten war ein vorrangiges strategisches Ziel. Wiederholt tauchte in der westlichen Diskussion sogar der Gedanke auf, parallel zur NATO eine „South Atlantic Treaty Organization“ (SATO) zu errichten.

Im deutsch-deutschen Verhältnis erfuhr der Ost-West-Konflikt durch die Anerkennungsproblematik der DDR eine besondere und vor allem in Afrika zeitweise recht intensive Dynamik. Die den bundesdeutschen Alleinvertretungsanspruch fest-schreibende„Hallstein-Doktrin“ (ab Mitte der fünfziger) und der Streit um die richtige „BerlinKlausel“ (in den achtziger Jahren) waren die zwei wichtigsten Ausformungen der „querelle alleman-de“ Vor allem die „Berlin-Klausel“ war für die Entwicklungsländer in ihrer Bedeutung kaum noch nachvollziehbar.

Sogenannte endogene lokale oder regionale Faktoren waren in dieser Phase dem Ost-West-Konflikt nachgeordnet. Das gilt auch für das vierte Hauptelement dieser Phase, die Entwicklungshilfe. Theoretisch sollte sie durch ihre inhärenten Ziele bestimmt werden, nämlich die wirtschaftlich unterentwickelten Länder an die Industriestaaten heranzuführen, faktisch war sie fest in den Ost-West-Konflikt eingebettet und dadurch zeitweise bis zur Unkenntlichkeit deformiert Das war übrigenskeine Einbahnstraße. Viele Regime in der Dritten Welt „entwickelten“ ganz außerordentliche Fähigkeiten, Ost und West wechselseitig gegeneinander auszuspielen, um wirtschaftliche und militärische Unterstützung zu maximieren. Sowohl der Westen als auch der Osten wurden in diesem Prozeß weitgehend blind gegenüber dem, was in den betreffenden Ländern tatsächlich vorging, zumindest dann, wenn es deren Regimen gelang, sich das Mäntelchen der strategischen Unentbehrlichkeit umzuhängen. Mobutu in Zaire und Mengistu in Äthiopien wurden zu zwei Extremfällen dieser Blindheit. Beide Länder sind heute wirtschaftlich und politisch bankrott.

Alle vier genannten Bestimmungsfaktoren vergangener Dritte-Welt-Politik werden in Zukunft nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Der Ost-West-Konflikt ist zu Ende und mit ihm auch die für die politischen Eliten aller Länder so wichtige Kontroverse von Sozialismus versus Kapitalismus. Das internationale Umfeld der Politik Asiens, Afrikas und Lateinamerikas ist einem dramatischen Wandel unterworfen. Schon vor einiger Zeit war auf das mögliche Ende einet einheitlichen, von einer zentralen Entscheidungsgewalt vollzogenen sowjetischen Außenpolitik hingewiesen worden 5). Der Putschversuch vom August 1991 hat dieses Ende nun endgültig besiegelt. Die USA, Frankreich, Großbritannien, Japan, Deutschland und die EG werden für die Entwicklungsländer weit wichtigere Akteure sein als die Russische Föderation, von den übrigen Republiken ganz abgesehen. Selbst wenn sich die einstigen Republiken der Sowjetunion, oder einige von ihnen, auf eine Konföderation einigen können, wird es dort keine zentralisierte Außenpolitik wie in der alten Sowjetunion geben; schon gar nicht im Verhältnis zu den Entwicklungsländern. Vielleicht wird sie ähnlich der außenpolitischen Zusammenarbeit der Staaten der Europäischen Gemeinschaft in der sogenannten EPZ (Europäische Politische Zusammenarbeit) oder jener der Länder des britischen Commonwealth sein Von der Blockfreienbewegung, einst Hoffnungsträger einer gemeinsamen Politik des Südens gegen die Machtpolitik der beiden Blöcke im Norden, hört man angesichts der Auflösung der Ost-West-Konfrontation verständlicher-weise immer weniger. Auf dem jüngsten Blockfreientreffen in Accra (Ghana) wurden allerdings Versuche gemacht, sie wiederzubeleben. Als relevanter Faktor internationaler Politik hat die Blockfreienbewegung aber wohl ausgedient.

Die Dekolonisierung und der Kampf gegen den Rassismus ist mit der Unabhängigkeit Namibias und in Südafrika mit dem Durchbruch zu einem Dialog zwischen dem ANC, der wichtigsten Befreiungsbewegung des Landes, und der weißen Regierung praktisch abgeschlossen. An seine Stelle tritt nun in vielen Entwicklungsländern die zweite Phase der „Befreiung“. Sie richtet sich vor allem in Afrika gegen die Führer/Eliten der ersten Phase der Befreiung und deren uneingelöste Versprechen. Die Ära der Einparteiensysteme geht dem Ende entgegen. Demokratisierung und Verwirklichung der Menschenrechte stehen auf der Tagesordnung. Gleichzeitig ist ein Stimmungswandel im Verhältnis zu Europa und den Industriestaaten zu beobachten. In der Vergangenheit waren sich Bevölkerung und'Eliten in der Dritten Welt darin einig, daß die wirtschaftliche Rückständigkeit ihrer Länder durch die ausbeuterischen Beziehungen mit den Industriestaaten, insbesondere den einstigen europäischen Kolonialmächten, zu erklären sei. Nun wendet sich das Blatt; weite Teile der Bevölkerung und die aus ihnen hervorgegangenen neuen politischen Kräfte betrachten entsprechende Klagelieder ihrer Regierenden lediglich als den Versuch, vom eigenen Versagen und eigener Korruptheit abzulenken.

Mit Ausnahme des Erdöls spielt die Sicherung von Rohstoffen als Konfliktherd nur noch eine geringe Rolle in der internationalen Politik. Dafür ist weniger das Ende des Ost-West-Konflikts als die Diversifizierung der Rohstoffmärkte sowie die durch den technischen Fortschritt in den Industrie-ländern, insbesondere verbesserte Substituierung und neue Verfahren des Recycling, erfolgte Reduzierung des Rohstoffverbrauchs verantwortlich. Ob dieser Trend langfristig anhält, ist allerdings offen. In zwei oder drei Jahrzehnten mag die Lage ganz anders aussehen. Gegenwärtig erscheint jedoch selbst die Versorgung mit Rohöl durch Krisen und Kriege weit weniger gefährdet zu sein als das bisher häufig dargestellt wurde. Der Golfkrieg hat in dieser Hinsicht, abgesehen von Preiserhöhungen, so gut wie keine disruptiven Auswirkungen auf die Versorgung der Industrieländer gehabt. Die Entwicklungshilfe schließlich geht zwar weiter und wird ein wichtiges Element der Nord-Süd-Beziehungen bleiben. Sie hat sich aber nicht alsdas erwiesen, was man einmal von ihr erwartete: ein effektives Instrument der „nachholenden Entwicklung“ und Armutsbekämpfung. Verschiedene Ansätze wurden ausprobiert. Theorien oder Modelle, die grundsätzlich bessere Resultate erzielen könnten, sind nicht in Sicht. Die Tatsache, daß zwischen Entwicklungshilfe und Entwicklung keine positive Korrelation besteht, wohl aber ein ungeheurer Schuldenberg, der die Beziehungen zwischen dem Norden und dem Süden belastet und erst noch bewältigt werden muß, spricht für sich. Die Schulden der Dritten Welt insgesamt sind von 1975 bis 1990 von 170 auf ca. 1350 Milliarden US-Dollar angestiegen.

Zudem werden Milliardensummen an Wirtschaftshilfe nach Osteuropa und in die Sowjetunion fließen. In den Entwicklungsländern gibt es nur noch wenige, die auf eine Steigerung der Entwicklungshilfe oder gar Marshall-Pläne für bestimmte Regionen hoffen. Eine schrittweise Abnahme ist wahrscheinlicher, obwohl die Industrieländer sich Mühe geben werden, nominal das bisherige Niveau zu halten. In vielen Entwicklungsländern breitet sich ein „Neuer Realismus“ aus, der sich keine Illusionen darüber macht, daß die Rettung Afrikas, Asiens und Lateinamerikas letztlich nicht von außen kommen wird, wie es das Hilfs-Paradigma der „nachholenden Entwicklung“ jahrzehntelang suggeriert hat. „The days of the good Samaritan are no longer there as far as Africa is concerned“, stellte Salim Ahmed Salim, der Generalsekretär der Organisation für Afrikanische Einheit (OAE) kürzlich in einer Rede nüchtern fest. 2. Die Zukunft: Produktivitäts-und Lebensstandardkonflikt Gescheiterte Entwicklung und Schuldenberg sind nur zwei Aspekte desjenigen Strukturmerkmals, das die Weltpolitik in der Zukunft ähnlich dominieren wird wie der Ost-West-Konflikt in der Vergangenheit: Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, genauer gesagt: die Kluft im Hinblick auf Produktivität und Lebensstandard zwischen den drei industriellen Zentren Nordamerika (Kanada, USA und Nord-Mexico), Westeuropa (plus dem einen oder anderen zentral-und osteuropäischen Staat) sowie Japan (und die vier kleinen „asiatischen Tiger“ Korea, Singapur, Hongkong, Taiwan) und dem Rest der Welt, d. h. gut zwei Dritteln der Menschheit. Während der Lebensstandard in den Industrieländern aufgrund der rasanten technologischen Innovation und der daraus resultierenden wirtschaftlichen Produktivität unaufhörlich wächst, fällt die Mehrheit der Entwicklungsländer kontinuierlich zurück. Speziell in Afrika geht die Angst um, weltpolitisch völlig „marginalisiert“ zu werden. Nur das Bevölkerungswachstum ist ungebremst. Während es in den meisten Industrieländern rückläufig ist, wächst die Zahl der Menschen in den Entwicklungsländern dramatisch. Bereits im Jahre 2020 werden sie über 80 Prozent der Weltbevölkerung stellen.

Einige Zahlen mögen verdeutlichen, wie groß die genannte Kluft bereits ist: Der Anteil der Entwicklungsländer am Weltbruttosozialprodukt, in denen wie gesagt zwei Drittel der Menschheit leben, ist in den achtziger Jahren auf ca. 15 Prozent abgesunken. Umgekehrt stieg der Anteil der Industrieländer, in denen nur etwa über 20 Prozent der Bevölkerung leben, auf über 80 Prozent. In den „Least Developped Countries“ ist das jährliche Pro-Kopf-Durchschnittseinkommen unter 300 US-Dollar gesunken, in den OECD-Ländern dagegen auf 14500 US-Dollar gestiegen. Schwarzafrikas Bruttosozialprodukt ist geringer als das von Belgien, obwohl Belgien nur zwei Prozent der Bevölkerung Schwarzafrikas hat. Der Süd-Süd-Handel, auf dessen Steigerung immer große Hoffnungen gesetzt wurden, ist in den achtziger Jahren auf unter zehn Prozent des Welthandels zurückgegangen, während der Handel der OECD-Länder untereinander auf über 70 Prozent angestiegen ist. Afrikas Anteil am Außenhandel der Bundesrepublik Deutschland ist auf ca. drei Prozent zurückgegangen, mit Schwarzafrika (ohne Südafrika) beträgt er sogar nur noch knapp ein Prozent. Wir haben es also nicht nur mit einer wachsenden Kluft, sondern mit einer fatalen Asymmetrie der Abhängigkeit zwischen den „reichen“ und der „armen“ Welt zu tun: „Für die Industrieländer, die schwerpunktmäßig in ihren ökonomischen Aktivitäten um sich selbst kreisen, ist die Dritte Welt nur von begrenzter Bedeutung, während die Entwicklungsländer in ihren außenwirtschaftlichen Aktivitäten im wesentlichen auf die Industrieländer ausgerichtet bleiben.“ Der Anteil der Entwicklungsländer am Außenhandel der Industrieländer liegt bei ca. 15 Prozent und ist sinkend, während er umgekehrt zwischen 60 und 70Prozent liegt.

Neu an dieser Konstellation ist natürlich nicht die Unterscheidung von Arm und Reich, sondern daß erstmals Grund zur Annahme besteht, daß diese Kluft irreversibel ist und die Perspektive einer.. nachholenden Entwicklung“ möglicherweise gar nicht mehr besteht. „Es zeichnen sich sogar Prozesse der Rückentwicklung ab.“ „Das Gefälle der Fähigkeiten“ nimmt zu, und es kommt zu „einem Verdrängungswettbewerb zwischen der höherentwickelten und der mehr rückständig bleibenden Ökonomie“ Seine Folge ist, daß in Afrika, Lateinamerika und weiten Teilen Asiens nicht nur Nicht-Entwicklung, sondern sogar eine De-industrialisierung stattfindet. Die Volkswirtschaften dieser Regionen sind wegen der überproportionalen Produktivitätssteigerung in den drei industriellen Zentren auf dem Weltmarkt und in ihrer eigenen Umgebung, trotz billiger Arbeitskräfte, Standortvorteilen etc., in den meisten Sektoren nicht mehr konkurrenzfähig. Rohstoffe und billige Arbeitskraft, die wichtigsten Güter der Entwicklungsländer, sind auf dem Weltmarkt einem kontinuierlichen Preisverfall ausgesetzt, mit einer entsprechenden negativen Verschiebung der „terms of trade“ zuungunsten der Entwicklungsländer (geschätzter Einkommensverlust für Afrika allein von 1986 bis 1988 ca. 50 Milliarden US-Dollar). Zum Ende des Jahres 1990 waren die Rohstoffpreise gegenüber dem Vorjahr um 13 Prozent gesunken. Dieser Verfall ist jedoch nur teilweise ein Problem von Ausbeutung und ungerechter Weltmarktpreise, mehr noch eine Folge des Auseinanderdriftens auf dem Gebiet der Innovation und Produktivitätssteigerung. Vor allem in der kirchlichen Diskussion wird diese Tatsache häufig nicht genügend beachtet. Das Problem läßt sich nur begrenzt auf moralischer Basis und mit Hilfe von Mechanismen, die die Rohstoffpreise künstlich hochhalten, lösen.

Selbst bei einer nachhaltigen Verbesserung der internen Bedingungen in den Ländern durch „strukturelle Anpassung“ in Richtung auf Marktwirtschaft und Demokratisierung ist deswegen keineswegs sicher, ob dieser Prozeß noch umkehrbar ist. Zwar hat Senghaas recht, daß „der geschilderte Verdrängungswettbewerb... auch als eine Herausforderung verstanden werden“ kann Ist dazu die Kluft für die Bevölkerung zahlreicher Entwicklungsländer aber nicht schon zu groß? 3. Die Gefahr der Übertragung bipolarer Denkstrukturen auf die Nord-Süd-Beziehungen Militärs und Sicherheitsexperten im Norden neigen teilweise dazu, die Kluft im Nord-Süd-Verhältnis im Sinne einer bipolaren Struktur zu deuten, auf die sich das bipolare Denken in Großkonflikten und konfrontativen Blöcken des Ost-West-Konflikts übertragen läßt. Der Golfkrieg hat dieser Interpretation Nahrung gegeben. Trug er durch die Raketenrüstung des Iraks doch zumindest im Ansatz eine militärische Bedrohung des Nordens in sich. Auf der Ebene der Propaganda versuchte Saddam Hussein, die bipolare sozio-ökonomische Kluft in eine bipolare militärische Konfliktkonstellation umzudeuten, in einen Krieg der Armen des Südens also gegen die Reichen des Nordens. Überraschenderweise fand er damit nicht nur Gehör bei den arabischen Massen, sondern teilweise auch bei Politikern und Menschen des Nordens, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen. Tatsächlich jedoch dürfte „der Krieg einer einmaligen Konstellation von Umständen, Interessen und Berechnungen“ entsprungen sein, die sich so schnell nicht wiederholen wird Großkonflikte in der Dritten Welt wie der Irakisch-Iranische und später der GolfKrieg lebten von der unbedenklichen und sich wechselseitig hochschaukelnden Aufrüstungsbereitschaft der Super-und Großmächte in der Zeit des Kalten Krieges, die sich in dieser Weise wohl nicht fortsetzen wird. Wohl aber wird die Proliferation von Raketen und Massenvernichtungswaffen, zumindest im Hinblick auf regionale Mächte wie Syrien, Pakistan, Indien, Nordkorea, ein kritischer Punkt in den Süd-Nord-Beziehungen bleiben. Der „weapons’ state“ des Südens ist als neues Objekt der sicherheitspolitischen Diskussion aufgetaucht.

Die sicherheitspolitische Situation des Südens wird in den neunziger Jahren jedoch nicht in erster Linie durch den „weapons’ state“, sondern die Ausweitung von gewaltsamen Konflikten und Kriegen kleiner und mittlerer Größe gekennzeichnet sein. Das gilt zumindest für Afrika und weite Teile, des Mittleren und Fernen Ostens. Diese Kriege werden vor allem innerstaatlicher, aber auch grenzüberschreitender Natur sein Ihr wichtigster Motor sind sozial-revolutionäre und ethno-religiöse Frustrationen. Im „post-ideologischen Zeitalter“ ist es angesichts des Versagens von staatlicher Entwicklung in der Dritten Welt mehr oder weniger zwangsläufig, daß Religion und Ethnizität zum Auffangbecken massiver sozialer und wirtschaftlicher Frustrationen und zu Transporteuren sozial-revolutionärer Tendenzen werden. Speziell in Afrika besteht die Gefahr, daß die dort zu beobachtende und begrüßenswerte Demo- kratisierungswelle diese Dynamik eher entfesselt als daß sie sie überwindet

Ethno-politische Konflikte sind im Hinblick auf kollektive Interessen-, Motivations-und Identitätsprobleme sehr viel komplexer und deswegen schwieriger zu beenden als andere Konfliktarten. Die Motive der Konfliktparteien lassen sich nicht auf einfache Kategorien wie „Nationalismus“, „Klassenkampf“, „Revolution“ oder „Interessenkonflikt um wirtschaftliche Ressourcen“ reduzieren, obwohl das alles eine Rolle spielt. Die unglaubliche, im Denken liberal-demokratischer westlicher Demokratien häufig als „irrational“ bezeichnete Intensität und Dauerhaftigkeit ethnopolitischer Konflikte ist vor allem darauf zurückzuführen, daß nicht-materielle Interessen/Motive ein wesentlicher Bestandteil der Auseinandersetzung sind

Und die Bezeichnung dieser Konflikte als Kriege „kleiner“ oder „mittlerer“ Größe ist ausgesprochen verharmlosend. Sie stimmt nur im globalen Vergleich. Für das jeweilige Land sind sie menschlich und wirtschaftlich eine Katastrophe, wie die Beispiele des Sudans, Äthiopiens, Somalias, Liberias und Angolas mit hinreichender Deutlichkeit zeigen. Weit mehr Menschen sterben heute in ethno-politischen Konflikten als in konventionellen Kriegen. Und mehr als die Hälfte der über 30 Millionen Flüchtlinge, die es Anfang 1989 weltweit gab, hat sich infolge von ethnischen Konflikten in Bewegung gesetzt

Bereits Mitte der achtziger Jahre wies eine Studie des CIA darauf hin, daß an mindestens zehn Plätzen der Welt (vor allem im Nahen Osten und Nordafrika) die Gefahr von Kriegen wegen schwindender Wasservorräte bei gleichzeitig steigendem Bevölkerungswachstum drohe Im Nahen und Mittleren Osten und in Afrika verdoppelt sich die Bevölkerung bei einer jährlichen Zuwachsrate von ca. drei Prozent alle 22 Jahre. 40 Prozent der Weltbevölkerung leben an grenzüberschreitenden Flußsystemen. Im Zweiten Jahrtausend, von dem uns nur noch ein Jahrzehnt trennt, wird Wasser wahrscheinlich kostbarer als Erdöl sein.

III. Großmacht oder Verantwortungsmacht? Zur weltpolitischen Identität des vereinigten Deutschlands

Die Wiedervereinigung und die veränderten weltpolitischen Bedingungen haben Deutschland bereits stärker in einen Prozeß der Transformation seiner weltpolitischen Identität hineingezogen, als vielen Bürgern bewußt ist. Die Diskussion um den Einsatz der Bundeswehr außerhalb Europas, ausgelöst durch den Golfkrieg, ist nur die Spitze des Eisbergs. Das Zögern, sich dieser Herausforderung zu stellen, ist verständlich. Zwingt sie doch dazu, den angesichts der schrecklichen Irrläufe in der deutschen Geschichte vollzogenen Rückzug in die machtpolitische Enthaltsamkeit, insbesondere was den Einsatz militärischer Mittel betrifft, zu revidieren und den weltpolitischen Standort der deutschen Politik neu zu bestimmen. Diese Standortbestimmung ist kompliziert und vielschichtig, und zwar nicht nur inhaltlich, sondern auch im Hinblick auf die Bereitschaft, Führungsrollen zu übernehmen. Sie verlangt Behutsamkeit und Fingerspitzengefühl, um einen Weg zu finden, der sowohl den Lehren, die aus der deutschen Geschichte zu ziehen sind, als auch den Anforderungen der Gegenwart gerecht wird. Eines hat der Golfkrieg zweifellos gezeigt: Weder an dem einen noch dem anderen können wir uns ohne einen beträchtlichen Verlust an Selbstachtung vorbei-mogeln. 1. Zur Machtfrage Das Ende des Ost-West-Konflikts hat in der internationalen Machtverteilung Veränderungen ausgelöst, die spätere Generationen wahrscheinlich einmal als erdrutschartig bezeichnen werden. In der ersten Phase der sowjetisch-amerikanischen Annäherung schien es so, als ob die bipolare Machtverteilung lediglich ihren antagonistisch-konfrontativen Aspekt verlieren, im übrigen aber bestehenbleiben würde. Dritte-Welt-Konflikte bekamen einen völlig anderen Stellenwert im Verhältnis zwischen Moskau und Washington. Waren sie in der Vergangenheit für beide Supermächte ein Hebel, wenn auch auf unterschiedliche Weise, die internationale Machtverteilung ideologisch und militärisch zugunsten der einen oder anderen Seite zu verschieben, so wurden sie nun zu einer Belastung, ja sogar zu einem Störfaktor in den Beziehungen zwischen Washington und Moskau.

Die zweite Phase ist durch den Zerfall der Sowjetunion eingeleitet worden. Welchen Sog er auf die weltpolitische Rolle und Verantwortlichkeit Japans und Deutschlands ausüben wird, läßt sich gegenwärtig mehr erahnen als exakt voraussagen. So stellt sich zum Beispiel die Frage, ob eine um verschiedene Gebiete reduzierte Konföderation einstiger Sowjetrepubliken überhaupt noch ein handlungsfähiges und vollverantwortliches ständiges Mitglied des Sicherheitsrats (SR) der VN sein kann. Die außenpolitische Kompetenz dieser Föderation wird wahrscheinlich recht begrenzt sein. Kommt es aber zu einer Diskussion über die Veränderung der Zusammensetzung des SR bzw.seiner ständigen Mitglieder, dann wird die Öffentlichkeit in Japan und Deutschland einmal mehr überrascht sein, wie sehr von ihnen eine größere weltpolitische Verantwortlichkeit, gerade seitens der Entwicklungsländer, erwartet wird, und zwar nicht nur wirtschaftlich. 2. Deutschland und die künftige Rolle militärischer Mittel im internationalen System Die Ausweitung der weltpolitischen Verantwortlichkeit Japans und Deutschlands hat viele Aspekte. Der künftige Umgang mit dem Einsatz militärischer Macht ist für beide zweifellos ein besonders schwieriger, selbst wenn es um so offensichtlich friedliche Einsätze geht wie der von VN-Blauhelmen. Forderungen wie die, daß „wir endlich wieder ein normales Volk werden“ und „die Mittel militärischer Macht als Instrument der Außenpolitik begreifen“ müssen, helfen wenig weiter Eine Remilitarisierung der deutschen Außenpolitik nach dem Vorbild der Kanonenbootpolitik des letzten Jahrhunderts ist damit ja wohl nicht gemeint? Außerdem käme kein Franzose, Engländer oder Italiener auf die Idee, man müsse ein „normales Volk“ wie das jeweils andere werden, die Franzosen also wie die Engländer oder die Italiener wie die Deutschen. Ganz im Gegenteil, „normal“ kann nur heißen, eigenständige Schlußfolgerungen über den angemessenen Umgang mit militärischen Mitteln zu ziehen, sowohl was die Lehren aus der Vergangenheit als auch die Anforderungen der Gegenwart und Zukunft betrifft.

Eine Großmachtpolitik vergangener Tage ist nicht mehr gefragt, zumindest wäre sie eine völlig abwegige und dysfunktionale Antwort auf die Herausforderungen der Gegenwart. Das gilt auch für ihre moderne Version, für den „out-of-area“ -Einsatz von Truppen der NATO zu Zwecken einer machtpolitischen „power projection“ -einem Einsatz also, der über rein defensive Zwecke gern. Art. 51 der VN-Charta oder eine Unterstützung von „Blauhelm-Missionen“ oder Zwangsmaßnahmen gern. Kap. VII der VN-Charta hinausgeht.

Die Unbefangenheit, mit der manche Sicherheitspolitiker über eine Ausweitung der NATO-Bündnisverpflichtungen auf Konflikte in der Dritten Welt reden, verdient deswegen eine kritische Anmerkung: Zwei Drittel der Menschheit, die im wesentlichen im Süden leben, sehen sich bereits einer erdrückenden wirtschaftlichen Überlegenheit der Industriestaaten gegenüber. Auch ohne den Einsatz militärischer Mittel haben die Industriestaaten das Gesetz des Handelns schon weitgehend in der Hand. Wird diese Abhängigkeit noch durch eine über das Recht zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung hinausgehende militärische Einsatzoption der NATO abgesichert, dann werden die Völker des Südens dieses als offene Aggression und den Versuch verstehen, sie unter wirtschaftliches und militärisches Kuratell zu nehmen, mit den entsprechenden negativen Auswirkungen für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit bei der Bewältigung von gemeinsamen Herausforderungen wie Massenmigration, Umwelt-schäden, Drogenhandel und Terrorismus. Das kann nicht unser Interesse sein!

Ein Problem der unzureichenden „Realitätswahrnehmung“ gibt es aber auch in der Diskussion von Teilen der „Linken“, einschließlich der Friedensbewegung und den Kirchen. Diese Diskussion war in den letzten Jahrzehnten fast ausschließlich auf die Frage von Entwicklungspolitik und humanitärer Hilfe sowie den Befreiungskampf gegen Kolonialismus, Rassismus und „Imperialismus“ konzentriert. Das Thema Gewalt und Krieg als originäres Problem der Entwicklungsländer war weitgehend ausgeblendet. Es wurde im wesentlichen als ein außenindiziertes Phänomen, als eine Folge des Imperialismus und der Machenschaften des Ost-West-Konflikts, gesehen. Diejenigen, die Gewalt im Süden ausübten und Kriege führten, galten nicht als Exponenten von Tendenzen ihrer Völker, sondern lediglich als Marionetten und Opfer, oder -wie die Dependenztheorie es formulierte -als „Brückenköpfe“ dieser Einflüsse aus dem Norden.

Des weiteren geben sich Teile der Friedensbewegung und der Kirchen nicht genügend Rechenschaft darüber ab, daß Kriege, vor allem Bürgerkriege, in vielen Entwicklungsländern eine der Hauptursachen für den tödlichen und immer mehr außer Kontrolle geratenen Circulus vitiosus von wirtschaftlichem Verfall, Hunger, Umweltzerstörung, Krankheiten und Massenmigration sind. Diese Tatsache spielt in der Diskussion um eine Beteiligung der Bundeswehr an der internationalen Friedenssicherung bisher so gut wie keine Rolle. Man beruhigt sich mit dem Ruf nach mehr humanitärer Hilfe, obwohl am Beispiel des Sudans und Äthiopiens -aber auch anderer Fälle -klar geworden sein müßte, daß humanitäre Hilfe keine Kriege beendet, sie möglicherweise sogar verlängert Wenn es in den genannten gesellschaftlichen Gruppen wirklich darum gehen soll, das Leiden von Millionen von Menschen in der Dritten Welt zu lindem, dann kann man diese Einsicht und die aus ihr zu ziehenden Konsequenzen nicht länger umgehen.

Die Frage einer Beteiligung der Bundeswehr an der Friedenssicherung durch die VN stellt sich also nachdrücklich. Sie stellt sich allerdings nicht aus Gründen der „power projection" oder der weltpolitischen Großmannssucht, sondern weil die sicherheitspolitische Lage in weiten Teilen des Südens ähnlich wie in Jugoslawien und möglicherweise weiteren Ländern des östlichen Europas sie zur Beendigung und Verhinderung von Kriegen dringend erfordert. Im Zentrum einer deutschen Nord-Süd-Politik muß eine saubere Trennung zwischen einer der Interdependenz der modernen Welt gemäßen „Verantwortungsmacht“ und „Großmachtpolitik“ vergangener Zeiten stehen, so schwierig das in der Praxis häufig sein mag. 3. Die Einhegung traditioneller Interessen-und Großmachtpolitik durch Multilateralisierung In gewisser Weise ist es irreführend, noch von einer deutschen Nord-Süd-Politik zu sprechen. Die vielfältigen Aktivitäten gegenüber den Entwicklungsländern sind zunehmend einer mehr oder weniger starken Multilateralisierung unterworfen. Man denke nur an die dominierende Rolle der EG-Kommission in Brüssel sowie der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds im Bereich der Entwicklungspolitik und wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Die Lom-Konvention, die Uruguay-Runde (GATT) etc. sind institutionell zwar weniger verfestigte, aber ebenfalls für die Nord-Süd-Beziehungen wichtige multilaterale Foren. Im außen-und sicherheitspolitischen Bereich ist die Multilateralisierung zwar weniger fortgeschritten, nimmt durch den allmählichen Ausbau der Europäischen Politischen Zusammenarbeit der EG (EPZ), den Aktivitäten der VN und der NATO und in jüngster Zeit der G 7 aber zu Die EPZ. soll zu einer „Gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik“ der Europäer ausgebaut werden. Auch die Westeuropäische Union (WEU) wird sicherheitspolitisch möglicherweise eine größere Rolle spielen. Und die G 7 entwickelt sich zu einer Art „globalem politischen Direktorium“, das in einem widersprüchlichen Spannungsverhältnis zu den VN und ihren Aufgaben steht

Verschiedene internationale Regime zur Kontrolle des nuklearen und konventionellen Rüstungs-und Rüstungstechnologietransfer, die zur Diskussion stehen oder bereits ansatzweise etabliert sind, verstärken diesen Trend zu einer vielschichtigen und vielfältigen Multilateralisierung. Der Begriff der Multilateralität reicht im Grunde nicht aus, um das zu beschreiben, was geschieht. Das sprachliche Ungeheuer „multifunktionale und multidimensionale Multilateralisierung“ käme der Wirklichkeit näher. Supra-und transnationale Bürokratisierung von Entscheidungs-und Implementierungsprozessen sind ein wesentlicher Bestandteil dieser Wirklichkeit und machen es immer fragwürdiger, von einer „nationalen Politik“ zu sprechen. Das suggeriert eine unzutreffende Ungebundenheit desaußenpolitischen Verhaltens. Wilhelm Bruns hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß die Bundesbürger sich der Mitgliedschaft in diesen Institutionen/Gruppierungen zwar bewußt sind, häufig aber nicht realisieren, daß sich aus dieser Mitgliedschaft Zwänge und Konsequenzen ergeben. „Der Golfkrieg hat das größere Deutschland daran erinnert, daß mit diesen Mitgliedschaften Abläufe verbunden sind, die unserer Öffentlichkeit weitgehend unbekannt sind.“

Diese Multilateralisierung bietet zweifellos die Chance der Relativierung und Einhegung nationaler Politik. An die Stelle einer nationalen Interessenpolitik tritt zunehmend die Notwendigkeit, eine gezielte internationale Struktur-, Regime-und Organisationspolitik zu betreiben, in der nationale Interessen und Werte zwar eine Rolle spielen, in ihrer Umsetzung aber nur noch bedingt oder überhaupt nicht als solche erkennbar sind. Dadurch wird es zwar für die Wählerschaft und die Parlamentarier noch schwieriger, außenpolitische Entscheidungsprozesse nachzuvollziehen. Zugleich werden aber auch nationale Alleingänge eines vereinigten und weltpolitisch bedeutsamen Deutschlands schwieriger.

IV. Die Bedeutung des Südens für die deutsche Außenpolitik

Der Bedeutungsverlust der Entwicklungsländer für die deutsche Politik überrascht angesichts des wirtschaftlichen Abstiegs der meisten von ihnen nicht. Ihr Anteil an den gesamten deutschen Investitionen ging von ca. 20 Prozent im Jahre 1976 auf unter drei Prozent im Jahre 1989 zurück. Denn es trifft natürlich zu, daß die internationalen Beziehungen heute weitgehend von wirtschaftlichen Erwägungen bestimmt werden, daß es also eine „Ökonomisierung“ der internationalen Politik gibt, wie sie Dieter Senghaas in einem Experten-Kolloquium über „Weltsystem und Weltpolitik Jenseits der Bipolarität“ vor einiger Zeit genauer beschrieben hat Zumindest auf der nördlichen Halbkugel wird militärische Macht als wichtiger Faktor internationaler Macht-und Interessenpolitik immer weiter zurückgedrängt. Die Kehrseite der „Ökonomisierung“ ist die zwangsläufige Marginalisierung der Entwicklungsländer, und zwar nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch. Die Regionen des Südens haben nach Senghaas nur noch Bedeutung als „Zonen von Turbulenzen“, die sich auf die Industrieländer zwar auswirken, die Weltpolitik aber nicht entscheidend beeinflussen.

Es läßt sich nicht bestreiten, daß die These von der „Ökonomisierung“ der internationalen Beziehungen im Prinzip richtig ist. Und dennoch bleibt ein Unbehagen und ein grundlegender Zweifel hinsichtlich der Einordnung von Problemen, die sich -wie die globalen Herausforderungen, insbesondere die ökologische -nicht mit diesen Kategorien fassen lassen. In den Nord-Süd-Beziehungen wird es künftig maßgeblich um die Zusammenarbeit bei der Lösung dieser Probleme gehen. Sie sind keineswegs marginal, auch realpolitisch nicht. Die Veränderung des Bewußtseins in den Gesellschaften der Industrieländer über den globalen und damit auch sie betreffenden Charakter vieler Katastrophen im Süden ist ein Faktor, der auch realpolitisch zunehmend in Rechnung zu «teilen sein wird. Die Furcht vor Migrationswellen, globalen Umweltschäden, Ausweitung von Krankheiten, Drogen-und Waffenhandel sowie die damit einhergehende „Mafiaisierung“ des internationalen Systems bis hinein in die europäischen Großstädte sind in diesem Sinne wohl schon jetzt wirksame Faktoren. Sie werden zum Beispiel dem „Krisenkontinent“ Afrika in den nächsten Jahren wahrscheinlich eine weit größere Aufmerksamkeit in der europäischen Politik sichern, als sie ökonomisch angemessen ist.

Der Stellenwert des Südens in der deutschen Politik wirft also Fragen auf, die weit über die Art und Weise hinausgehen, in der „normalerweise“ über außenpolitische Fragen nachgedacht wird. Ein qualitativer Sprung im politischen Denken, ja im menschlichen Denken schlechthin, ist notwendig. Im Bereich der Ökologie wird das ja schon vielfach diskutiert, obwohl der dort oft benutzte Begriff des „ganzheitlichen Denkens“ zwar schön klingt, für die praktische Politik und ihre Entscheidungsprozesse aber wenig hergibt. Entscheidend für die Politik wird sein zu erkennen, daß wir im Hinblickauf die „globalen Herausforderungen“ mit einer falschen Zeitachse arbeiten. Entsprechend dem kausalen Denken ist sie linear ausgerichtet und unterscheidet dementsprechend zwischen kurz-, mittel-und langfristigen Problemen, die in dieser Reihenfolge abzuarbeiten sind. Diese Zeitachse ist jedoch irreführend im Hinblick auf alle Prozesse, die sich eben nicht linear, sondern exponential, also lawinenartig, aufbauen. Bei ihnen kommen Reaktionen entlang einer linearen Zeitachse zwangsläufig zu spät. Die weitgehende Externalisierung der sozialen und ökologischen Folgen des gegenwärtigen Wirtschaftens aufgrund einer zu engen Definition des „Ökonomischen“ verschlechtert zusätzlich die Chance, auf die globalen Herausforderungen rechtzeitig zu reagieren. Manfred Wöhlcke hat recht, wenn er schreibt, daß „viel weniger wichtige Probleme mit großem Elan gelöst werden, während die massiven Gefährdungen der kollektiven Sicherheit und Lebensqualität -sowie des Lebens selber -nur recht halbherzig angegangen werden“ Das Mißverhältnis zwischen internationaler Aufmerksamkeit bei der Niederkämpfung Saddam Husseins und der bei der Bekämpfung der durch diesen Krieg ausgelösten Umwelt-katastrophe am Golf ist dafür ein erschreckender Beleg. Was die deutsche Politik betrifft, erscheint die Frage, ob Deutschland Klein-, Groß-oder Weltmacht sein soll, angesichts der existentiellen globalen Herausforderungen kleinkariert.

V. Schwerpunkte künftiger deutscher Nord-Süd-Politik

1. Abbau protektionistischer Maßnahmen und subventionierter Produktion des EG-Agrarmarkts Die wachsende wirtschaftliche Kluft zwischen den Industrieländern und den restlichen zwei Dritteln der Menschheit war als der wichtigste Grund dafür genannt worden, daß sich eine Vielzahl von katastrophenartigen Problemen im Süden nicht mehr in den Griff bekommen läßt. Die Chance einer „nachholenden Entwicklung“ ist für die Mehrzahl der Länder des Südens zumindest in den nächsten beiden Jahrzehnten gering. Entwicklungshilfe wird nach den Erfahrungen der Vergangenheit keinen wesentlichen Beitrag zur Überwindung dieser Kluft beitragen können. Ihr „Ruf als ein Instrument der Armutsbekämpfung ist weitgehend dahin.“ Das ist kein Grund, sie in Bausch und Bogen zu verdammen und zu beenden, wie das bei einigen Autoren Mode geworden ist. Ihr Stellenwert, ihre Ziele und ihre Vorgehensweise sind aber wohl grundsätzlicher zu überdenken als das in Fragestellungen wie der einer Konditionalisierung der Entwicklungshilfe zugunsten von Menschenrechten und Demokratisierung sowie der Begrenzung von Rüstungshaushalten bisher der Fall war Der schrittweise Umbau der Entwicklungshilfe zu einem rudimentären Netz internationaler sozialer Sicherung ist insoweit ein wichtiges Thema. Ansätze in diese Richtung gibt es.

Die Entwicklungsländer können nicht mehr darauf hoffen, daß Unterstützung von außen ein entscheidendes Element zur Überwindung ihrer wirtschaftlichen Rückständigkeit sein wird. In vielen Ländern gewinnt deswegen ein „Neuer Realismus“ an Boden, der die Lösung der Probleme aus eigener Kraft und ohne ideologische Träumereien anstrebt. Zu diesem Realismus gehört die Einsicht, daß eine schnelle Besserung der Verhältnisse nicht möglich ist und es in vielen Fällen darum geht, die Talfahrt erst einmal zu stoppen, insbesondere in den afrikanischen Ländern.

Deutschland und die Industriestaaten haben wegen der zahlreichen negativen und sich kumulierenden Auswirkungen des wirtschaftlichen Verfalls vieler Entwicklungsländer ein überragendes Interesse daran, diesem „Neuen Realismus“ zum Erfolg zu verhelfen. Die Steigerung von Entwicklungshilfe ist insoweit kein erfolgversprechendes Mittel, und über die Notwendigkeit zu einer raschen und umfassenden Streichung von Schulden zumindest bei all den Ländern, in denen dieser neue Realismus praktiziert wird, besteht im Prinzip Einigkeit. Vordringlich ist darüberhinaus, strukturelle und sachlich ungerechtfertigte Hindernisse abzubauen, die von Seiten der Industriestaaten selbst einem solchen Erfolg im Wege stehen.

Preissubventionierte landwirtschaftliche Produktion in den Industrieländern, insbesondere die EG-Agrarpolitik, ist insoweit ein Skandal, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Nicht nur, daß der antiBmarktwirtschaftliche Charakter der EG-Agrarpolitik in einem peinlichen Gegensatz zu den marktwirtschaftlichen, auf Subventionsabbau und ungehinderten Marktzugang ausgerichteten Tiraden der von den westlichen Ländern gegenüber den Entwicklungsländern vertretenen Politik der strukturellen Anpassung steht. Die Agrarsubventionen der EG sind von 1990 bis 1991 von 53 auf 67 Milliarden DM gestiegen. Die Agrarsubventionen der OECD-Staaten werden für 1989 auf mehr als 250 Milliarden Dollar jährlich geschätzt. Das ist gut das Fünffache der gesamten öffentlichen Entwicklungshilfe dieser Länder. In seiner Rede vor der Generalversammlung der VN am 25. September 1991 hat Außenminister Genscher darauf hingewiesen, daß die Abschottungder Märkte im Norden dem Süden jährlich schätzungsweise 100 Milliarden Dollar an möglichen Deviseneinnahmen entzieht.

Die Folge dieser Politik ist nicht nur, daß der Zugang und die Absatzmöglichkeiten landwirtschaftlicher Produkte der Entwicklungsländer in den EG-Ländem eingeschränkt ist, sondern auch daß gleichzeitig die Produkte der EG zu Dumpingpreisen in den Entwicklungsländern abgesetzt werden, zum Teil sogar im Namen der Nahrungsmittelhilfe, und dort die einheimische Landwirtschaft zerstören. Subventionierte Überproduktion in den Industrieländern ist ein Hauptgrund für den Hunger im Süden!

Die exorbitanten Kosten und die negativen ökologischen Auswirkungen der EG-Agrarpolitik wären allein Grund genug, diese grundlegend zu reformieren. Die EG-Kommission in Brüssel hat zumindest Vorschläge gemacht, die in diese Richtung gehen. Der scharfe Widerstand der Bauern und damit der Landwirtschaftsminister verschiedener Mitgliedsländer gegen diese Reformen und gegen eine entsprechende Veränderung der EG-Verhandlungsposition in der Uruguay-Runde (GATT) sind hinlänglich bekannt. Man muß diesen Widerstand angemessen gewichten. In den Industrieländern hat die Landwirtschaft nur einen Anteil von fünf Prozent am Bruttosozialprodukt, während in den Entwicklungsländern dieser Anteil über 25Prozent beträgt. Außerdem sind zwei Drittel der Bevölkerung in diesem Sektor tätig In der EG sind es durchschnittlich nur sieben Prozent.

Vieles wäre zur Unsinnigkeit preissubventionierter Produktion in verschiedenen Bereichen der Industrieländer (zum Beispiel der Textilindustrie) zu sagen. Man darf es sich hinsichtlich des Abbaus von Subventionen im Agrarbereich allerdings auch nicht zu einfach machen. Denn er wird zu einer Steigerung der Preise landwirtschaftlicher Produkte führen. Das ist gut für die Länder, die es bereits geschafft haben, Nettoexporteure auf diesem Gebiet zu sein. Diejenigen dagegen, deren Landwirtschaft aufgrund des beschriebenen Verdrängungswettbewerbs und einer verfehlten eigenen Agrarpolitik auf Subsistenzniveau zurückgegangen ist, die also bereits mehr oder weniger stark am Tropf der internationalen Nahrungsmittelhilfe hängen (im internationalen Jargon die „Low Income Food Deficit Countries“), werden leiden. Dem kann nur begegnet werden, indem in einer (längeren) Übergangsphase der Asymmetrie der Abhängigkeit durch eine Asymmetrie der Anpassungsmechanismen entsprochen wird, diese Länder also ihre Landwirtschaft subventionieren und durch protektionistische Maßnahmen schützen dürfen. Nach den gültigen GATT-Regeln ist ein solches „special and differential treatment" zulässig. 2. Verstärkte Beteiligung von Bundeswehr, Bundesgrenzschutz und zivilem deutschen Personal an der internationalen Friedenssicherung Kriege und Konflikte, die im globalen Vergleich zwar nur solche „kleiner“ und „mittlerer“ Größe, lokal und regional aber katastrophal sind, sind als weiterer Grund für die immer mehr außer Kontrolle geratende Spirale von wirtschaftlichem Verfall, Armut, Flüchtlingen, Migration und Umweltschäden und dann mehr Flüchtlingen, mehr Gewalt und mehr Zerstörung genannt worden. Wenn die Beseitigung dieses Zustands sowohl aus humanitären Erwägungen als auch aus einem wohlverstandenen Eigeninteresse (Migrationswellen, Umwelt etc.) ein grundlegendes Ziel deutscher Nord-Süd-Politik ist, wie es von allen gesellschaftlichen Gruppen und Parteien betont wird, dann liegt es auf der Hand, daß internationale Friedenssicherung -einschließlich des dazu notwendigen Einsatzes von Bundeswehrsoldaten -ein Eckstein deutscher Nord-Süd-Politik werden muß, ähnlich wie das für den europäischen Raum diskutiert wird. Die „reichen Länder“ werden eine grundlegende Entscheidung zugunsten des finanziellen, personellen und strukturellen Ausbaus von VN-Frie13 denssicherungskapazitäten treffen müssen, wenn von den großen Worten über eine „Neue Weltordnung“ etwas wahr werden soll. Deutschland und Japan haben keine guten Gründe, sich dieser Aufgabe zu entziehen.

In einer anderen Studie ist nachgewiesen worden, wie sehr die Nachfrage nach einer direkten Beteiligung der VN durch Blauhelme oder ähnliche Einsatzformen an der Beendigung von Konflikten in der „Dritten Welt“ angestiegen ist und weiter ansteigt Die den VN für diese Aufgabe zur Verfügung stehenden personellen, logistischen und finanziellen Kapazitäten sind inzwischen weit überzogen. In einem Vortrag in Bonn hat Generalsekretär Javier P.de Cullar kürzlich auf diesen Tatbestand hingewiesen und die deutsche Politik zu einer intensiveren Beteiligung bei der VN-Friedenssicherung aufgerufen. Diese Beteiligung würde dringend gebraucht In der Praxis hat sich der Zug bereits in diese Richtung in Bewegung gesetzt, zuerst durch den Einsatz von Angehörigen des Bundesgrenzschutzes bei der UNTAG (United Nations Transition Assistance Group) in Namibia und später der Bundeswehr zur Unterstützung der kurdischen Flüchtlinge im Iran. Im Sommer 1991 wurden den VN erstmals eine Transall-Transportmaschine und drei Transporthubschrauber der Bundeswehr für den Einsatz im Irak zur Verfügung gestellt, in der weißen Farbe der VN. Bemannt mit militärischem Personal, jedoch ohne Waffen und Rangabzeichen, unterstützen sie die VN-Sonderkommission, die die vollständige Besei-tigung der Massenvernichtungswaffen des Irak überwachen soll

Die bisherige Praxis, daß die Bereitstellung von Blauhelmen eine Domäne vor allem kleinerer Staaten wie der skandinavischen Länder ist, wird sich nicht aufrechterhalten lassen. Kriegsbeendigung und -Verhinderung im Rahmen der VN sowie alle damit zusammenhängende Maßnahmen sollten deswegen ein wichtiges und gegenüber NATO„out-of-area“ -Einsätzen der Bundeswehr vorrangiges Ziel deutscher Sicherheitspolitik im Nord-Süd-Verhältnis werden. Dies entspricht dem Geist des Grundgesetzes. Da der Wortlaut jedoch nicht eindeutig ist, sollte eine entsprechende Klarstellung im Verfassungstext erfolgen. Denn eine umstrittene Verfassungslage ist kein guter Ausgangspunkt für den Einsatz der Bundeswehr, bei dem Leib und Leben der Soldaten gefährdet sein kann. „Peacekeeping“ ist kein Spaziergang, sondern ein schwieriges Geschäft mit Risiken, das große Professionalität verlangt.

Resümierend kann festgestellt werden, daß nicht nur für die Bundeswehr, sondern für die deutsche politische Kultur eine Beteiligung an der internationalen Friedenssicherung eine Herausforderung sein dürfte, die sie mit Sicherheit weltoffener und verantwortungsvoller als die gegenwärtige machen würde. Die Gefahr eines Rückfalls in provinzielles oder gar offen rassistisches Denken ist in den letzten Wochen und Monaten ja nicht nur in den neuen Bundesländern deutlich geworden. So wie es innenpolitisch einer Entscheidung über die Frage bedarf, ob wir ein Einwanderungsland sind, das in der Lage ist, die damit einhergehenden multi-kulturellen Herausforderungen anzunehmen, so bedarf es außenpolitisch einer Entscheidung hinsichtlich unserer veränderten globalen Verantwortlichkeit.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Hans Joachim Veen, zit. in: Die Zeit vom 7. 6. 1991, S. 4.

  2. Vgl. Umfrage der Süddeutschen Zeitung (SZ), in: SZ-Magazin, Nr. 1 vom 4. 1. 1991, S. 8ff.

  3. Die Hallstein-Doktrin besagte, daß die Bundesrepublik die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur DDR als einen „unfreundlichen Akt ansehen“ würde; vgl. dazu Hans Joachim Spranger/Lothar Brock. Die beiden Deutschen Staaten in der Dritten Welt, Opladen 1987, S. 287ff. Bei der „Berlin-Klausel“ ging es um unterschiedliche Auslegungen der Viermächte-Vereinbarung über den Status von Berlin.

  4. Vgl. hierzu auch die verschiedenen Beiträge in: Reiner Steinweg (Hrsg.), Hilfe + Handel = Frieden? Die Bundesrepublik in der Dritten Welt, Frankfurt/M. 1982. Zur Afrika-Politik der DDR vgl.den Beitrag des ehemaligen DDR-Diplomaten Hans-Georg Schleicher, Die Afrikapolitik der DDR: Versuch einer Nachbetrachtung, in: Afrika-Jahrbuch, Hamburg 1990.

  5. Portugalov, ein früherer Berater Gorbatschows, brachte schon 1990 in einer Diskussionsrunde des deutschen Fernsehens die Hoffnung zum Ausdruck, daß man sich wenigstens auf einen Zusammenhalt nach dem Vorbild des britischen Commonwealth würde verständigen können.

  6. Dieter Senghaas, Die moderne Entwicklungsproblematik und ihre Implikationen für Friedenspolitik, in: Asien, Afrka, Lateinamerika, 19 (1990) 1, S. 17.

  7. Gerd Krell, „Europäische Revolution“ und globale Fundamentalkrise, in: epd-Entwicklungspolitik, 17 (1990) 18, S. a-f.

  8. D. Senghaas (Anm. 7), S. 6.

  9. Ebd., S. 7.

  10. Theo Sommer, Nur die Logik des Krieges?, in: Die Zeit vom 25. 1. 1991.

  11. Vgl. zu den Regionalkonflikten Volker Matthies, Kriegsschauplatz Dritte Welt, München 1988.

  12. Vgl. zur Politisierung ethnischer Konflikte in Afrika Rainer Tetzlaff, Politische Ethnizität -eine unterschätzte Realität im nachkolonialen Afrika, in: Afrika Spectrum, (1991) 1, S. 5-28.

  13. Vgl. hierzu auch Dieter Senghaas, Therapeutische Konfliktintervention in Europa, Eskalation und Deeskalation ethno-nationalistischer Konflikte, unveröffentlichtes Manuskript, Stiftung Wissenschaft und Politik, Ebenhausen 1991.

  14. Vgl. ebd., S. 84.

  15. Vgl. Joyce R. Starr, Water Wars, in: Foreign Policy, 82 (1991), S. 17-36.

  16. H. J. Veen (Anm. 1), S. 4.

  17. Es war ein schwedischer Vertreter mit mehr als zwanzig Jahren Erfahrung in kirchlicher humanitärer Hilfe am Hom von Afrika, der bei einem internationalen Expertenkolloquium in Bonn besonders nachdrücklich auf diese Tatsache hinwies und eine entsprechende Aufklärung der Öffentlichkeit verlangte. Vgl. Winrich Kühne, Die Aktuelle Lage in Äthiopien. Bericht über ein internationales Kolloquium in Bonn am 30. November 1990, unveröffentlichtes Manuskript, Stiftung Wissenschaft und Politik, Ebenhausen 1991, S. 20.

  18. Gruppe der sieben führenden Industrieländer der Welt, bestehend aus den USA, Japan, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien und Kanada.

  19. So Flora Lewis, in: The International Herald Tribune vom 19. 7. 1991.

  20. Wilhelm Bruns, Zur Rolle Deutschlands in der internationalen Politik, Friedrich-Ebert-Stiftung, Studie Nr. 45 der Abteilung Außenpolitikforschung, Bonn 1991, S. 4.

  21. Vgl.den zusammenfassenden Bericht des Kolloquiums von Christopher Daase, Weltsystem und Weltpolitik Jenseits der Bipolarität. Diskussion, Ergebnisse und Desiderate des in der Evangelischen Akademie Loccum Experten-Kolloquiums vom 21. bis 23. Juni 1991, Evangelische Akademie, Loccum 1991.

  22. Manfred Wöhlcke, Globale Gefährdungen in den Entwicklungsländern, in: Außenpolitik, 42 (1991) 3, S. 251-260.

  23. Michael Dauderstädt, Entwicklungspolitik ’ 92: Abkehr von der Dritten Welt, Friedrich-Ebert-Stiftung, Reihe Euro-koUeg, Bonn 1990, S. 5.

  24. Vgl. ausführlicher zur Entwicklungshilfe den Beitrag von Manfred Wöhlcke in diesem Heft.

  25. Vgl. Kevin Watkins, Agriculture und Food Security in the GATT Uruguay Round, in: Review of African Political Economy, 50 (1991), S. 30-50.

  26. Vgl. Winrich Kühne, Deutsche Blauhelme und Neue Aufgaben der Internationalen Friedenssicherung. Ein Diskussionsbeitrag zum Einsatz der Bundeswehr außerhalb Europas, unveröffentlichtes Manuskript, Stiftung Wissenschaft und Politik, Ebenhausen 1991.

  27. Vgl. Javier Prez de Cuellar, Neue Herausforderungen der Vereinten Nationen, in: Europa-Archiv, 46 (1991) 14, S. 416-421.

  28. Des weiteren wurden im August 1991 fünfzehn Angehörige des Bundesgrenzschutzes zur Erfüllung „polizeilicher“ Aufgaben als Blauhelme der VN in die Westsahara entsandt, ähnlich wie seinerzeit nach Namibia.

Weitere Inhalte

Winrich Kühne, Dr. jur., geb. 1944; Studium der Rechtswissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und der Politischen Wissenschaft an der Universidad National Autonoma de Mexiko; nach dem zweiten Juristischen Staatsexamen seit 1973 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik in Ebenhausen bei München. Veröffentlichungen u. a.: Die Politik der Sowjetunion in Afrika. Bedingungen und Dynamik ihres ideologischen, ökonomischen und militärischen Engagements, Baden-Baden 1983; Südafrika und seine Nachbarn: Durchbruch zum Frieden. Zur Bedeutung der Vereinbarung mit Mozambique und Angola vom Frühjahr 1984, Baden-Baden 1985; zahlreiche Zeitschriftenaufsätze.