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Die subkulturellen Zeitschriften in der DDR und ihre kulturgeschichtliche Bedeutung | APuZ 20/1992 | bpb.de

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APuZ 20/1992 Zur kulturellen Dimension der Politik und des Theaters in der Bundesrepublik Deutschland Kulturelle Konzepte und Szenen im Vergleich. Ihr literarischer Niederschlag in BRD und DDR Die subkulturellen Zeitschriften in der DDR und ihre kulturgeschichtliche Bedeutung

Die subkulturellen Zeitschriften in der DDR und ihre kulturgeschichtliche Bedeutung

Thomas Günther

/ 27 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

In dem Text über die subkulturellen Zeitschriften aus der DDR wird versucht, aus der subjektiven Sicht eines Beteiligten deren Stellenwert insgesamt zu analysieren. Um den politisch motivierten Hintergrund -die Überwindung der Sprachlosigkeit -verständlich zu machen, wurde eine chronologische Aufarbeitung gewählt. Sie wird in insgesamt neun Kapiteln -I. Leere und Identätitätssuche, II. Aufbruch im DIN-A 5-Format, III. Entwerter und so weiter..., IV. Schadens-Kultur, V. Die Beziehungs-ent-flechtung, VI. Der zersammelte Obenauf-Untergrund, VII. In eigenen Strömen, VIII. Verzweigungen und Nachkommenschaften, IX. Was bleibt? -geleistet. Das siebte Kapitel ist der Gruppenarbeit des Autors gewidmet. Hier wird versucht, am Beispiel seines Kreises das Prinzip der Zeitschriftenarbeit zu beschreiben. Der Stellenwert der inoffiziellen Zeitschriftenkultur ist sehr hoch einzuschätzen. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß der Staatssicherheitsdienst der DDR mehr gewußt hat, als die Beteiligten annehmen mochten. Die Zeitschriftenarbeit, in der eine Generation junger Künstler experimentiert und sich ausprobiert hat, ist auch als ein Befreiungsversuch von der Vätergeneration zu werten. Der Autor wagt abschließend die These: Wenn etwas von der DDR-Kunst der achtziger Jahre bleibt, dann werden es diese unscheinbaren Hefte und Editionen sein, denn in ihnen manifestiert sich der Wille nach einer authentischen individuellen und gesellschaftlichen Position.

I. Leere und Identitätssuche

Wenn wir heute danach fragen, was eine Generation von nicht angepaßten Dichtern, Malern und Musikern ein Jahrzehnt lang -von Ende der siebziger bis Ende der achtziger Jahre -beschäftigt hat, so stehen im Mittelpunkt jene subkulturellen Zeitschriften, die im öffentlichen, d. h.dem staatlich sanktionierten Bewußtsein der DDR kaum eine Rolle spielten. Es klingt paradox: Ausgerechnet Kleinstzeitschriften, die außer denen, die sie herstellten, und ihren Freunden so gut wie niemand kannte, sollten zum Identitätsfanal für eine Künstler-Generation geworden sein! Original-graphische Zeitschriften mit solch provokanten Titeln wie zum Beispiel „Entwerter-Oder“, „Schaden“, „Herzattacke“ in Berlin, „Anschlag“ in Leipzig, „UND“ oder „Spinne“ in Dresden bis hin zum „Reizwolf“ im Thüringischen, sie hatten bei aller Verschiedenheit der inhaltlichen Ansätze eines gemeinsam: Ihre Auflagenhöhe bewegte sich von einstelliger Größenordnung bis zu höchstens 100 Exemplaren (genau 100 Exemplare hatte das in Berlin erscheinende „Mikado“).

Die Zeitschriften waren zunächst nur zur Kommunikation untereinander bestimmt. Doch rasch folgte der immer stärker werdende Anspruch, für ein Stück Autonomie jenseits des Systems stehen zu wollen. Der zuletzt genannte Aspekt ist zwar mittlerweile durch die Einlassungen führender Protagonisten der Szene mit dem Staatssicherheitsdienst der DDR heftig umstritten, aber mit dem Versagen einzelner muß nicht gleich die ganze Bewegung in Mißkredit geraten. Dies sei zugleich meine einleitende These. Die „Subkultur der Szene“ war ein Wurzelgeflecht, dessen Pflanzen durchaus die echten Früchte des Zorns trugen.

Zunächst -es sei wiederholt -war das Bedürfnis nach einem Miteinander der heftigste Antrieb; es ging darum, die Vereinzelung von kreativen Individuen aufzuheben. Nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns im November 1976 wurde die Lage im Lande schwieriger denn je. Übergroße Frustration herrschte vor. Das Gefühl von Resignation und gesellschaftlicher Erstarrung lähmte. Direkter politischer Widerstand erschien aussichtslos. Prominente Autoren wie Günter Kunert, Jurek Becker, Sarah Kirsch oder Klaus Schlesinger wanderten infolge der Biermann-Petition aus der DDR aus. Sie hatten uns moralischen Halt gegeben und nun ließen sie uns, für die es noch aussichtsloser war, Eingang in den offiziellen Literaturbetrieb zu finden, mit der schalen Erkenntnis zurück, daß auch in der poetischen Camouflage keine Nische mehr zu finden sei. Vielleicht hätte ein solidarischer Pakt unter Intellektuellen zu einem Bewußtsein des Widerstehens, wenigstens der Diskutierbarkeit von Veränderungen, führen können. Aber jeder war sich selbst der Nächste und rettete sich in das westliche Deutschland hinüber. Da der Sprachraum der gleiche blieb, spielte der Begriff des Exils in den damaligen Diskussionen keine gewichtige Rolle. Er tauchte nur bei den sich bekennenden Dissidenten auf.

Die zwanzig-bis dreißigjährigen Autoren standen in der Isolation: Sie hatten absolut „keinen Bock“ auf das System, in dem sie lebten. Selbst die Sprache war ihnen genommen; abgenutzt und verlogen war sie in der gesellschaftlichen Totalität. So erklärt sich der linguistische Ansatz einer neuen, un-verbrauchten Poetik, die wie die kathartische Reinigung vom Verlautbarungs-DDR-Deutsch wirken mußte. Darüber hinaus gab es bereits konkrete Erfahrungen mit Verlagen. Ablehnungen, die „Neutöner“ (Volker Braun in seinem Rimbaud-Essay) zu drucken, häuften sich. Doch in jener frühen Phase um 1980 herum gab es durchaus noch Bemühungen der Integration in den staatlichen Kultur-bereich. Uwe Warnke, der Herausgeber des „Entwerter-Oder“, arbeitete kurze Zeit als Pressereferent beim Verlag Neues Leben, bevor er seine soziale Existenz zuerst als Heizer, später mittels eines sogenannten „verkürzten Arbeitsverhältnisses“ auf einem evangelischen Kirchhof absicherte. Leonhard Lorek und Egmont Hesse, die Herausgeber des „Schaden“, waren vor ihrer eigenverantwortlich editorischen Arbeit exmatrikulierte Studenten der Bibliothekswissenschaften. Ich selbst hatte als Regieassistent an einem Berliner Staats-27 theater erfahren, wie wenig kreativen Raum die Apparate zuließen. Geistige Beklemmung -zwischen unverhüllter Zensur und der Schere im Kopf-war der Schmelztiegel unserer Erfahrungen. Am Ende hatten wir für die bestehenden Strukturen nur ein zynisch-saloppes „vergiß es“ übrig.

Doch der Ausstieg brachte Ungewißheit mit sich. Die Gesetze der DDR erlaubten weder einen Künstlerstatus von eigenen Gnaden noch Experimente außerhalb vorgeschriebener Genehmigungspraktiken. Wer Texte im Westen publizieren ließ, ohne das ominöse „Büro für Urheberrechte“ zu informieren, konnte kriminalisiert werden. Um eine schnelle Anerkennung als freischaffender Schriftsteller ging es den meisten jedoch gar nicht. Der quälend-lähmende Zustand wollte beendet sein, und eben dafür ließ man sich die selbstgebastelten und in der Szene zirkulierenden Hefte einfallen. Der Begriff „Samisdat“ (im Selbstverlag erschienene -verbotene -Literatur) -gleichwohl wegen der Eindeutigkeit des Begriffes damals nirgendwo verwendet -wurde zum Brückenschlag der „Untergründler“. Jeder beteiligte Schreiber war aufgefordert, seine Texte selbst abzutippen. Daß die Zeitschriften Originalgraphiken und handabgezogene Fotos enthielten, war wegen der fehlenden Kopiergeräte gar nicht zu umgehen. Die anfänglichen Auflagen von 15 Exemplaren („UND“, „Entwerter-Oder“) ließen dies auch kaum zum Problem werden. Nur bei der Prosa oder bei Manifesten kamen manchmal verstümmelte und kaum lesbare Durchschläge heraus. Mitte der achtziger Jahre, als sich die subkulturelle Produktion insgesamt verstärkte -jetzt wurden auch Mappen herausgegeben -, prägte der Kunst-wissenschaftler Christoph Tannert den nicht ganz zutreffenden Begriff des „Grafik-Lyrik-Unikats“. Damit sollte bewußt davon abgelenkt werden, daß es sich um Vervielfältigungen (mit Original-graphiken) handelte.

II. Aufbruch im DIN-A 5-Format

In der Reihe der „POE-SIE-ALL-BEN“ -im Kreis von Sascha Anderson, Cornelia Schleime und Ralf Kerbach entstanden -hatte der Gemeinschaftsgeist vielleicht seine früheste und eine entscheidende Generationsprägung erfahren. Ich möchte mich hier einer moralischen Bewertung von Andersons dubioser Seilschaft mit dem Ministerium für Staatssicherheit enthalten. Damals konnte dies niemand wissen, und der Tatbestand, daß man zeitweise zusammenlebte, um zusammen zu arbeiten, verweist zunächst einmal auf nicht mehr als auf die enge Verknüpfung von Lebensalltag und kreativer Energie. Während einer malte, schrieb ein zweiter Gedichte ab, ein dritter klebte die Seiten zusammen. Die im Schulheftformat hergestellten Exemplare mit jeweils einem gefalteten und herausziehbaren Original wurden zumeist im Anschluß an Wohnungslesungen herumgezeigt und verkauft. Jeder, der sich dafür interessierte, konnte ein -diesmal echtes -„Graphik-Lyrik-Unikat“ für 30 bis 50 Mark (der DDR) erwerben.

Wenngleich wir auf Grund unseres heutigen Wissensstandes annehmen dürfen, daß der Staatssicherheitsdienst von dieser künstlerischen Produktions-und Vertriebsweise gewußt hat und sie wohl konspirativ duldete, war die Wirkung auf Außen-stehende doch verblüffend. Oft schwierige Texte, in keinem Verlag gedruckt, konnte man also im handgemachten Lyrikbändchen sofort nachlesen! Dies war neu, die Idee der Umsetzung faszinierend. Zwar wissen wir bis heute nicht genau (und heute weniger denn je), wie viele dieser Hefte in Umlauf gebracht wurden, in wessen Hände sie gerieten und mit welchen Gedanken die Besitzer sie durchblätterten, aber es besteht kein Zweifel daran, daß die Existenz dieser kleinen Schriften Signalwirkung für alle hatte, die es ernst meinten mit dem Schreiben, die es anwiderte, für die Schublade zu arbeiten oder sich bei offiziellen Verlagen anzubiedern.

Anderson beendete die Reihe dieser „Alben“ (einmal hießen sie auch ,, -all-peng“, ein andermal „Dolarosa überhaupt“ oder „Flucht nach vorn“), um 1984 eine Edition mit Malerbüchern zu beginnen. Zur Herstellung dieser großformatigen, in japanischer Bindung und auf teurem Achatpapier hergestellten Siebdruckbücher in einer Auflagen-höhe von 30 Stück führte er je einen Dichter und Maler zusammen. Die Bücher wirkten äußerst professionell und hatten nichts mehr mit den sporadisch erschienenen und spontan hingeworfenen Heften zu tun. Darin spiegelte sich auch die veränderte Struktur innerhalb der Szene; Anderson wurde als organisatorischer Kopf anerkannt. Seine Stellung war eine Machtposition: Wer sich auf seinem „Rangierbahnhof“ (Original-PrenzlauerBerg-Ton) nicht hin und her bewegen ließ, der wurde ignoriert, ästhetisch abgekanzelt oder bestenfalls zum Gegenspieler polarisiert (Gabriele Kachold und Lutz Rathenow seien als Beispiele genannt). Die Malerbücher wirkten schon zu ihrer Entstehungszeit abgehoben und exklusiv. Ein Exemplar kostete 300 Mark (im Vergleich dazu: ein Facharbeiter verdiente in der DDR durchschnittlich 600 Mark). Die wirklich Interessierten im Umfeld der Szene kamen als Käufer dafür nicht in Frage. Aber man hatte ohnehin eher an westliche Abnehmer gedacht. Die Zielgruppe waren Diplomaten und von Berufs wegen neugierige Journalisten. Sie konnten sich von der realen Existenz einer „zweiten Kultur“ in der DDR überzeugen, und sie ließen sich gut für den Vertrieb im Westen einspannen. Aufgrund ihrer „Grenzprivilegien“ waren sie in der Lage, das teure bibliophile Gut nahezu risikolos in den Westen zu schmuggeln. Durch die Umrechnungskurse von eins zu vier bis eins zu sechs konnte man an einem Buch das Vielfache des ursprünglichen Preises verdienen. Die Basis schaute teils fasziniert, teils neidisch und angewidert auf diese Identitäts-Kommerzialisierung. Um den Widerhaken des „Druckgenehmigungsverfahrens“ zu umgehen, schrieben die Maler den Text entweder mit der Hand oder integrierten ihn auf andere Weise in die Graphiken. Das Argument, der Text sei selbst Bild („die gründe für das permanente phänomen der Schrift im bild sind unzählig wie die gesetzeslücken“ war zweifellos ein genialer -grenzgängerischer -Einfall und würde heute in makellosem Licht dastehen, wenn nicht Andersons Einlassungen mit der Staatsmacht berechtigte Zweifel an der Authentizität seiner Gratwanderung aufkommen ließen. Unabhängig davon zeigen jedoch gerade die Malerbücher den expressiven und anarchischen Gestus einer jungen Künstlergeneration. Durch unverwechselbare ästhetische Eigenwilligkeit zeichnen sich meines Erachtens die Arbeiten von Wolfram Adalbert Scheffler, Klaus-Hähner Springmühl und Angela Hampel aus.

III. Entwerter und so weiter...

Mit der „Herausgabe“ der Zeitschriften wurde 1982 begonnen. Uwe Warnke gründete mit einem Freund, dem Puppenspieler Siegmar Körner, „Entwerter-Oder“. Die erste Nummer bestand aus vier Exemplaren und enthielt auf ganzen zwölf Seiten einige Gedichte und einen kurzen Prosatext. Das Heft war -wie die Poesiealben -im DIN-A 5-Formatgehalten, auf dem Umschlag leuchtete rot eine Federzeichnung. Die Autoren veröffentlichten unter Pseudonym. Auch wenn dies angesichts der „Auflagenhöhe“ lächerlich klingen mag, so stellte doch die erklärte Absicht, eine Zeitschrift zu beginnen, ein Wagnis dar. Es sei daran erinnert, daß die DDR Anfang der achtziger Jahre als stabil galt und ernsthafte Konfrontationen mit der allmächtigen Staatssicherheit in den meisten Fällen Gefängnisstrafen oder erzwungene Ausreisen nach sich zogen. Die Pseudonyme geben Hinweise auf die Assoziationen, die man beim Versteckspiel suchte: German Deutscher, franois mühselig, Groteskev Satyr und Ivon Zynitzki hießen die der Dada-Phantasie entlehnten Namen.

Uwe Warnke stellte das erste Heft von „Entwerter-Oder“ Freunden in Dresden vor, woraufhin er eine Ermutigung des Dichters und Musikers Lothar Fiedler erhielt, der dies äußerst anregend fand. In seinem Brief vom 30. März 1982 an Warnke hieß es: „Ich weiß zwar, daß du schon ein ähnliches Unternehmen laufen hast -aber trotzdem -mehr ist immer noch nicht g’nug“. Tatsächlich kam es fast zeitgleich zur Gründung von „UND“ mit 15 Premierenexemplaren. Dennoch sei hier angemerkt, daß nicht „UND“, sondern die „Entwertung“ den Anfang machte, was in bisher allen Bibliographien und Aufsätzen falsch aufgeführt ist. Für „UND“ schrieben die meisten Autoren schon bekennend unter ihren richtigen Namen. In Dresden, wo es durch die Kunsthochschule zu dieser Zeit noch eine relativ große Szene gab, blieben diese Aktivitäten nicht lange verborgen. Und so wurde der Herausgeber bald mehrmals von den staatlichen Organen vorgeladen, vor der Weiterarbeit gewarnt und sogar mit Gefängnisstrafe bedroht. Zuletzt legte man ihm einen Ausreiseantrag nahe. Das perfekte und perfide Paragraphennetz der DDR beendete schließlich im Januar 1984 die Herausgabe von „UND“ nach 15 Nummern. Noch im selben Jahr setzte der Fotograf und Performance-Künstler Micha Brendel die Arbeit mit „U. S. W.“ (d. h. Und so weiter -der Verf.) fort. Diese Zeitschrift wurde im wesentlichen auf die gleiche Art hergestellt. Den Stamm der Beteiligten bildete ein Dresdner Freundeskreis, zu dem Dichter, Maler und nicht auf ein Medium festlegbare Künstler stießen. Auch der Unikatcharakter, besonders an den Variationen der Umschläge zu einem Heft erkennbar, wurde beibehalten. Die tiefe Beziehung, die die Hauptakteure miteinander verband, festigte den Kreis und das Anliegen. In seinem Essay „Möglichkeitsräume“ schreibt der Literaturwissenschaftler Peter Böthig dazu: „Der Dialog, die intensive Bezugnahme und Kommuni29 kation von Leuten mit ähnlichen lebenspraktischen und künstlerischen Vorstellungen innerhalb einer „geschlossenen Gesellschaft sind als Ziel (und zugleich als Gegenentwurf zu einer zunehmend als hemmend erlebten politischen und ästhetischen Isoliertheit) der Beteiligten angesprochen. U. S. W. erarbeitete dementsprechend vorwiegend bild-und dokumentationsorientierte Konzepthefte, die Auskunft gaben über die Praxis gemeinsamen Produzierens.“ Nach elf Nummern beendete Micha Brendel die Arbeit als Herausgeber, um sich anderen Projekten zu widmen. Ein weiterer Dresdner, der Herausgeber und Siebdrucker Thomas Haufe, führte die „UND“ -Tradition unter dem Titel „Und so fort“ weiter. Dieser Zeitschrift lag allerdings wieder ein stringenteres Konzept zugrunde, das sich mehr am Malerbuch von Sascha Anderson als an der quirligen Gruppenarbeit orientierte: Ein Künstler traf eine Auswahl von Gedichten, zu denen er text-graphische Arbeiten herstellte, die im Siebdruck vervielfältigt und dann gebunden wurden.

IV. Schadens-Kultur

In Ostberlin liefen zwei Zeitschriftenprojekte -„Entwerter-Oder“ und „Schaden“ -über viele Jahre parallel. Seit 1983 gab es zwar auch „Mikado“, von Lothar Trolle, Uwe Kolbe und Bernd Wagner gemeinsam herausgegeben, aber das Konzept war rein textorientiert und literarisch geprägt. Da es zu den inoffiziellen Publikationen gehörte, war die Auflagenhöhe zwangsläufig begrenzt; die Umschläge besaßen mit Siebdruck-Graphiken Originalcharakter. Der „Schaden“ entstand aus Verdruß über das Ende von „UND“. Titel und Idee drückten Symptomatisches aus. In einer zwischen-bilanzierenden Rezension von Kurt Rat (ein nicht mehr aufzuklärendes Pseudonym) hieß es dazu in Heft 11: „Der Schaden -das Wort ist gut gewählt. Es enthält ein ganzes Programm für eine literarische Richtung. Schaden anrichten, aber auch einen Schaden haben, im Sinne einer psychischen oder mentalen Verletzung. Der Schaden als Fehler im System, als etwas, das es gemeinhin zu vermeiden gilt, der Riß in der Mauer einer ängstlich behüteten Wohnzimmergesellschaft.“

Als der eigentliche Urheber des „Schaden“ gilt Leonhard Lorek, einer der Autoren von „UND“. Dieser Zeitschrift lag folgendes Prinzip zugrunde: Die Hefte wurden zugeklammert, verklebt und eingetütet; wer zum Inhalt vordringen wollte, mußte das Heft aufreißen -und hatte den Schaden! Ein Freund Loreks, Frank Lanzendörfer, der malend, dichtend und zeichnend ein unstetes Zigeunerleben führte (1988 stürzte er sich 25jährig von einem Turm in Bernau), hatte das Logo entworfen. Ausdrückliche Verweise auf die Herausgeberschaft fehlten im Inhaltsverzeichnis. Einigen Nummern wurden Tonbandkassetten mit der Musik der Avantgarde-Rockbands -im Inhaltsverzeichnis „bandschaden“ genannt -beigegeben. Man startete mit 15 Exemplaren und endete nach 17 Nummern bei einer Auflagenhöhe von inzwischen 40. Dazwischen liegt wohl der wesentlichste Teil der Prenzlauer-Berg-Literaturgeschichte. Ab Nummer sieben gab es hochmotivierte und ambitionierte Poetik-Gespräche mit einzelnen Autoren. Auf politische Einschätzungen wurde verzichtet, was den irreführenden Eindruck einer ideologiefreien Realität vortäuschte und bei Andersdenkenden -waren sie in der Lage, Einblick in den „Schaden“ zu nehmen -oft heftigen Widerspruch hervorrief. Am Rande sei erwähnt, daß das Papier für die Durchschläge, die Schreibmaschinenbänder und diverse andere Utensilen zur Produktion des „Schaden“ ausgerechnet von der höchsten Justizstelle der DDR, dem Hohen Gericht in der Littenstraße kam, wo ein Freund Loreks arbeitete.

Zunächst griffen die Zeitschriftenmacher nur auf einen engen und vertrauten Autorenkreis zurück. Das waren zumeist jene, die von den Verlagen eine Abfuhr bekommen hatten, sich im Cafe Mosaik in der Schönhauser Allee zu endlosen Lagebesprechungen trafen und an der gesellschaftlichen Enge zu ersticken meinten. Adolf Endler und Elke Erb wurden als sympathisierende Vertreter einer anderen Generation willkommen geheißen. Die Texte wurden in Loreks Wohnung zusammengeheftet. Zum Redaktionsteam gehörten neben Leonhard Lorek noch Egmont Hesse und Johannes Jansen; die „Schaden“ -Produktion verlief anfangs relativ locker; erst mit der späteren Einbeziehung neuer Redaktionsmitglieder -Peter Böthig und Christoph Tannert gehörten dazu, Sascha Anderson „engagierte sich“ (Egmont Hesse) -kam es jedoch bald zu divergierenden Vorstellungen, die sich in einem der Nummer 12 beigegebenen „editorial“ niederschlugen: „der konsens unterschiedlicher meinungen einer festen gruppierung ohne gruppencharakter, die nicht als redaktion existiert, aber noch immer ein gemeinsam vertretbares heft entstehen lassen will, soll damit gezeigt werden ... wir halten es uns zugute, untereinander unterschiedlicher meinung zu sein, es sollen nicht brote sondern Vielheiten entstehen, ideenabläufe können Offenheit erzeugen.“ 4 Der sich hinter diesem Text verbergende Streit eskalierte derart, daß ab November 1987 kein „Schaden“ mehr angerichtet werden konnte. In einer abschließenden Stellungnahme wurde das Ende der Zeitschrift diplomatisch mit der „oft unklaren erwartungshaltung gegenüber der einlösung solcher begriffe wie kommunikation und kreativer atmosphäre“ begründet. Ein weiterer Grund ist sicher darin zu sehen, daß ständige Mitarbeiter wie Peter Böthig und Leonhard Lorek in den Westen ausreisten. Jene, die dablieben, entwickelten jedoch neue Konzepte. Um den gefestigten Ansprüchen und dem Wunsch nach größerer Differenziertheit gerecht zu werden, gründete Rainer Schedlinski die „Ariadnefabrik“, wo hauptsächlich essayistische Texte in einer Auflagenhöhe von 60 Exemplaren publiziert wurden, während Egmont Hesse als Herausgeber der „Verwendung“ Lyrik und Prosa mit 50 Originalgraphiken pro Heft heraus-brachte.

Mit der Wende -so meinten die Herausgeber -seien Notwendigkeit und Bedarf für Zeitschriften dieser Art verschwunden. So bleibt „EntwerterOder“ die einzige aus damaliger Intention gespeiste und nach wie vor erscheinende Zeitschrift, in der sich Original neben Kopie, Banales neben Tiefsinnigem findet. Der „Entwerter“ arbeitet mit einem festen Autorenkreis, und sicher trug zu seinem Erhalt auch bei, daß der Herausgeber allein verantwortlich zeichnete und Kompetenz-gerangel gar nicht aufkam. Auflagenhöhe und die Art der Zuarbeit haben sich bislang ebenfalls nicht verändert: Die Autoren müssen für ihre Vervielfältigungen selbst sorgen (mehr Originale als Kopien, mahnt Uwe Warnke), und als Honorar gilt nach wie vor das fertige Heft; nicht nur die künstlerische Kommunikation muß es einlösen, sondern es hat mittlerweile auch Fetisch-charakter. Wem die Konditionen nicht passen, der müsse ja nicht mitmachen; dank der offenen Grenzen und der „internationalen Vernetzung“ gebe es -so Uwe Warnke -genug Anwärter. Ich bin der Meinung, daß der „Entwerter“ in einer Übergangsphase steckt und sich die Frage nach einer höheren Auflage unabdingbar stellen wird.

V. Die Beziehungs-ent-flechtung

Bis Mitte der achtziger Jahre, als eine große zusammenfassende Ausstellung in der Berliner Samariterkirche über die inoffiziellen Zeitschriften stattfand, wußten Zeitschriften-Macher und Autoren verschiedener Kreise kaum voneinander. Das erklärt sich -zumindest in der Berliner Szene -aus einer fast als neurotisch zu bezeichnenden Ignoranz gegenüber allem, was anders war als die eigene ästhetische Nabelschau. Zugleich kam die nicht unbegründete Furcht hinzu, durch das Herstellen zu breiter, zu offener und öffentlicher Kontakte die äußerst fragilen Strukturen zu zerstören. Aber auch inhaltliche Aspekte begründeten die Kommunikationslosigkeit. Uwe Warnke stellte in „Entwerter-Oder“ Fotos, Texte, Collagen, Graphiken (und manchmal auch Noten) gleichgewichtig nebeneinander, während die „Schaden“ -Hefte von den Intentionen der Schreibenden geprägt waren. Und wenn der „Entwerter“ Autoren um sich sammelte, die sich in der Tradition visueller und konkreter Poesie verstanden, veröffentlichten im „PrenzlauerBerg-Kreis“ jene, die sich bei allen individuellen Verschiedenheiten an der Postmoderne orientierten und sich von daher sprachexperimentell gaben. Auch war der Umgang mit DDR-Realität sehr verschieden: Esoterische und abstrakte Zeichnungen bei den „Schaden“ -Leuten standen konträr zu der oft direkten und aggressiven Bildhaftigkeit, mit der die „Entwerter“ -Mitarbeiter sich einbrachten. Harald Hauswald fotografierte dumpf und finster dreinblickende FDJ-ler („Entwerter-Oder 33“), Thomas Florschütz blickte mit selbstinszenierten Fotos auf das fragmentarische Ich („Schaden 14“). Und während es den einen wichtig war, künstlerische Aktionen zu bewahren (Heike Stephans Foto-Dokumentation „Galgenhügel“ in „Schaden 12“ sei stellvertretend genannt), hatte Uwe Warnke Material zur Sprengung der denkmalgeschützten Berliner Gasometer für ein Sonderheft seiner Zeitschrift gesammelt. Die verschiedenen Aktivitäten liefen nebeneinander her, ohne sich zu beeinflussen. Nur wenige brachten es fertig, in verschiedenen Zeitschriften zu veröffentlichen; Detlef Opitz gehörte zu Ihnen. Insgesamt war das Bedürfnis nach kritischer Reflexion durch Außenstehende nicht sonderlich stark ausgeprägt. „Leitmotiv“ war die eigene -nicht definierte, aber unterschwellig stets präsente -Pro-grammatik. Die Nummer 15 von „Entwerter-Oder“ enthält eine der wenigen kritischen Stimmen. Die Germanistik-Studentin Katrin Rohnstock äußerte sich freundlich mahnend: „Mit welchen Zielen wird eigentlich entwertet’, wenn die Methoden für Auf-, Be-, Ver-und Entwertung immer die gleichen bleiben? Mit welchem Inhalt füllt sich das Oder’. Darin liegen für mich die Spannung, meine Ungewißheit, meine Fragen.“

Anläßlich der Nummer 20 gab es in einer leerstehenden Wohnung zum ersten Mal ein Fest -eine Art literarischer Salon mit Lesung, Film und Ausstellung für eine Nacht. Zwar kamen viele, aber letzten Endes war es doch wieder der bekannte Insiderkreis, der dort zusammentraf. Es sei erklärend hinzugefügt, daß der Herausgeber medienwirksame Publicity scheute, seit einmal in der Westberliner Stadtzeitung „zitty“ ein Journalist schrieb, daß „die (gemeint sind Mitarbeiter von , Entwerter-Oder) schon mal darüber nachdenken, wie man im Samisdat-Verfahren ein Bömbchen bastelt“ (1985) -und dies zu finsteren DDR-Zeiten. Zum Glück hatte dies keine Konsequenzen; fortan sicherte die eher stille Kontinuität das „Überleben“ der Zeitschrift. Auf diesem Wege wurde der Kreis ständig erweitert, so daß bei Nummer 40 der Herausgeber auf über 100 Beteiligte zurückblicken konnte. Insbesondere mit den Sonderheften zur Fotografie -herausgegeben zusammen mit dem Fotografen Kurt Buchwald -profilierte sich das Blatt. Hier wurde eine bis dahin kaum bekannte Fotografengeneration vorgestellt. Originalabzüge standen neben essayistischen Arbeiten von Kunstwissenschaftlern, denen es mitunter gelang, ihre Texte in die offiziellen Zeitschriften nachzuschieben. Es sei an dieser Stelle gesagt, daß ab Mitte der achtziger Jahre die Grenzen von offizieller und nicht-offizieller Kunst immer fließender wurden und es eine strikte Trennung nicht mehr gegeben hat. Natürlich bestand das Ziel der Arbeiten darin, Einfluß auf die Kunstdoktrin des Staates zu nehmen. Dafür reichte die Wirkung der original-graphischen Samisdate nicht aus.

Ab 1985 waren offizielle Sammelstellen auf die in sich fest verankerte Zeitschriften-Subkultur aufmerksam geworden. Ein Mitarbeiter der Sächsischen Landesbibliothek machte „Hausbesuche“ bei den Herausgebern mit dem Ziel, Abonnements der Zeitschriften zu erwerben. Es wurde zugesichert, daß die Exemplare nicht im „Giftschrank“ verschwänden, sondern für Interessierte zugänglich seien. Dies sprach sich wie ein Lauffeuer herum und wurde in der Szene ausführlich diskutiert. Das Mißtrauen war groß, da man nicht nur permanente Kontrolle, sondern auch ein von der Stasi jederzeit inszenierbares Ende der Arbeit befürchten mußte. Die Situation war schwierig. Verweigerung hätte (vielleicht) erst recht Aufmerksamkeit nach sich gezogen, da die Sicherheitsfanatiker auf nichts so allergisch reagierten wie auf den Verdacht der Konspiration. Also ging man das Risiko ein. Die Befürchtungen erfüllten sich nicht; man sah sich bestärkt weiterzumachen und bildete sich ein, eine breitere Öffentlichkeit gewonnen zu haben. Nach der Wende erfuhr ich von einer Mitarbeiterin der Sächsischen Landes-bibliothek, daß es in jedem Falle einer plausiblen Begründung bedurfte, um Einsicht zu nehmen in die Zeitschriften -nicht nur wegen der kostbaren Originale!

Aus dem Westen Deutschlands meldeten sich fast zeitgleich Interessenten. Aus jeweils unterschiedlichen Gründen erwarben das Literaturarchiv Marbach und das Osteuropa-Institut der Universität Bremen Exemplare der Zeitschriften „Anschlag“, „Entwerter-Oder“ und „Schaden“; später kamen die „Ariadnefabrik“ und „Liane“ hinzu. Ab 1988 kaufte die Stadt-und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main regelmäßig den „Entwerter“. Inzwischen hatten sich auch die Sammler auf die bibliophilen Raritäten gestürzt. In Frankfurt wurden die Zeitschriften nicht nur gesammelt, um sie zu archivieren, sondern mit dem erklärten Ziel, diesen Zeugnissen autonomer Kreativität eine Ausstellung zu widmen. „Aussichten 90“ fand tatsächlich im November 1990 statt. Zu jenem Zeitpunkt war die Mauer längst gefallen, und was zu DDR-Zeiten zu einem kleinen Skandal hätte geraten können, stand nun auf einmal in rein retrospektivem Licht. Die kreative Arbeit der unangepaßten jungen Künstler eines ganzen Jahrzehnts konnte hinter Glas besichtigt werden. Ohne die Hilfe der akkreditierten „Zeit“ -und „Spiegel" -Korrespondenten wäre es kaum möglich gewesen, die fortlaufenden Nummern an den Zollorganen der Deutschen Demokratischen Republik vorbeizumanövrieren. Auch das ist inzwischen Geschichte. Eine Gesamtausgabe des „Schaden“ steht heute im Getty-Museum in Los Angeles. Der Erlös dafür ist dahin geflossen, wo alles begann: Im Kultur-Recycling der „Brotfabrik“ in Berlin-Weißensee hat der „Schadens“ -Wert unwiderruflich eine andere materielle Form angenommen.

VI. Der zersammelte Obenauf-Untergrund

Ich selbst bin schon recht früh zu dem Kreis der „Zeitschriften-Macher“ gestoßen. Zusammen mit der Malerin Sabine Jahn und dem Fotografen Claus Bach beteiligte ich mich 1984 zum ersten Mal an einer Zeitschrift -der Nummer neun von „UND“. Unsere Motivation entsprang der allgemeinen Frustation über fehlende Publikationsmöglichkeiten. Für unsere Text-, Siebdruck-und Fotoabzüge, von denen zusätzlich ein Blatt besprayt wurde, erhielten wir allerdings nie Beleg-exemplare. Bis heute ist unklar, ob das „untergründige“ Wirrwarr, die oft chaotische Kommunikation Richtung Dresden, dies verhinderte oder ob unsere Belege bei der Post „verlorengingen“ bzw. vom Staatssicherheitsdienst einbehalten wurden. Erst die Lektüre der Stasi-Akten wird sicherlich Aufschluß darüber geben.

Anfang der achtziger Jahre hatte sich die Szene insgesamt von Dresden nach Berlin verlagert. Die regelmäßigen und ständig intensiver werdenden Wohnungslesungen bei dem Berliner Sänger und Übersetzer Ekkehard Maaß, bei dem seit 1982 Sascha Anderson wohnte, führten zu einer Vielfalt persönlicher Kontakte. Alle vier Wochen lasen junge Autoren vor 70 bis 130 Zuhörern aus ihren unveröffentlichten Texten. Jedem stand das Haus offen. In diese Zeit fiel auch die Arbeit an der Textsammlung „Berührung ist nur eine Randerscheinung“, in der die so disparaten Stimmen meiner Generation zum ersten Mal über eine Buch-Publikation Gehör finden sollten. Elke Erb führte intensive Gespräche nicht nur über Texte, sondern auch über die poetisch-biographischen Hintergründe der Beteiligten. Es mußte genau abgesprochen werden, was jeder von sich preisgeben wollte, denn es war klar, daß es für die im Westen erscheinende Anthologie vom „Büro für Urheberrechte“ keine Genehmigung geben würde. In ihrem Vorwort hat Elke Erb ausdrücklich die intermediale Zusammenarbeit als das innovativste Moment der jungen Generation erwähnt. Rückblickend waren die Jahre 1982/83 die intensivsten Arbeitsjahre der sogenannten Szene, die als einheitliches Phänomen freilich mehr und mehr von Journalisten herbeigeschrieben wurde. Sieht man einmal von den z. T. katastrophalen Druckfehlern in der Erstauflage ab, so ist die „Berührungs“ -Anthologie mit dem so sinnfälligen Titel die wohl wichtigste Orientierung dafür, was die Generation nach Biermann produzierte.

Im März 1984 fand ein weiteres Ereignis statt, das Schreibende zum kommunikativen Dialog zusammenführen sollte, tatsächlich aber eher weiter voneinander entfernte. Die Malerin Uta Hünniger -Mitarbeiterin der „Verwendung“ und Verfasserin eigener Künstlerbücher -stellte für die sogenannte ZERSAMMLUNG eine Woche lang ihr Atelier im 3. Hinterhof der Lychener Straße zur Verfügung. Zur Beteiligung an dem einwöchigen Lesungsszenario hatten die Dichter des Prenzlauer-Berg-Kreises eingeladen, die das Ganze organisierten. Schon im Vorfeld kam es zu ersten Streitereien: So fehlte etwa Lutz Rathenow, der in einem kleinen Verlag die ebenfalls wichtige Anthologie „einst war ich fänger im schnee“ herausgegeben hatte. Der Lesemarathon erwies sich als problematisch; er setzte einen Grundkonsens voraus, den es nicht mehr gab. Versteckte Aggressionen, ästhetische Gegensätze, Angst vor der Stasi-Überwachung und das Gefühl der nicht mehr überbrückbaren Sprachlosigkeit in gesellschaftlicher Isolation überschatteten das Treffen und stellten den Sinn der Veranstaltung insgesamt in Frage. Der letzte Abend geriet schließlich zum -fast symbolträchtigen -Fiasko, als eine Freundin von mir, die gerade in psychiatrischer Behandlung war und Wochenendurlaub bekommen hatte, eigene Gedichte vorlesen wollte. Dafür gab es in den festgefahrenen Strukturen keinen Platz, und es fehlte wohl auch an einer souveränen Haltung, darauf zu reagieren. Nach diesem Ereignis schotteten sich die einzelnen wieder stärker in ihren jeweiligen Gruppen ab.

Zwei Jahre später fand in der Samariterkirche in Berlin-Friedrichshain eine Veranstaltung statt, auf der ein Teil der offiziell noch immer nicht zur Kenntnis genommenen Dichter und Herausgeber ihre verlegerischen Projekte vorstellten. Der Präsentation lag ein schöner Einfall zugrunde: Die Hefte hingen an Bindfäden von der Decke herab. Jeder, der darin blättern wollte, konnte sie sich in Augenhöhe greifen und begutachten. Dieses Mal war die Auswahl nicht auf den Berliner Kreis beschränkt; auch die kurzzeitig existierende „Galeere“ aus Halle, der Leipziger „Anschlag“ und die Karl-Marx-Städter „A 3“ wurden vorgestellt. Die Veranstaltung kann nicht zuletzt deshalb als erfolgreich bezeichnet werden, weil sie viele Interessierte angezogen hat, die bis zu diesem Zeitpunkt von den verschiedenen Aktivitäten nichts wußten. Kurz darauf, im Juli 1986, reiste der zwar umstrittene, aber damals keiner politischen Zwielichtigkeit verdächtigte Promoter des Untergrundes, Sascha Anderson, nach Berlin (West) aus. Das „Wiener Cafe“ -bohemelastiger und berüchtigster Szene-Treffpunkt -wurde unter dem Vorwand der Renovierung geschlossen, um nach Wiedereröffnung mit der „Preisstufe S“ („S“ steht für Sonder-klasse) eben jene Szene-Geister zu vergraulen.

VII. In eigenen Strömen

In der Zusammenarbeit mit Claus Bach und Sabine Jahn spiegelte sich vieles, was andere Gruppen auch charakterisierte: Da waren die enge Verknüpfung unserer persönlichen Beziehungen mit der Arbeit, das jeweilige Interesse am Medium des anderen (Malerei, Siebdruck-Graphik, Fotografie, Fotomontage, Literatur, Collage), und die gleich-lautende Ablehnung des sozialistischen Systems, das uns jede kreative Äußerung verwehrte. Da wir unsere künstlerischen Ansprüche dennoch realisieren wollten, haben wir schon früh eine alternative Öffentlichkeit gesucht. Dazu gehörte nicht nur das gegenseitige Benachrichtigen über Ausstellungen und Lesungen, sondern auch Beteiligungen an Mail-Art-Aktionen (etwa bei dem Dresnder Jürgen Gottschalk oder bei Robert Rehfeldt in Berlin) und -natürlich -das Zeitschriften-Wesen.

In den Galerien des Künstlerverbandes der DDR konnten nur Mitglieder oder die Kandidaten ihre Arbeiten ausstellen. Kommunalen Galerien war es Vorbehalten, sogenannten „Laienkünstlern“ eine Chance zu geben. Aber alles Gewagte oder Experimentelle stieß dort im allgemeinen auf Ablehnung. So mußten wir andere Möglichkeiten finden. Unsere Ausstellungsorte waren private Cafes, zweimal eine Boutique, kirchliche Räume und sogar einmal ein Kino. Zwischen 1982 und 1989 organisierten wir jedes Jahr mindestens eine Ausstellung. Die Wohnräume der Familie Bahß in Magdeburg, das Künstlercaf „Vis-A-Vis“ in Leipzig oder auch die Kirche am Tierpark in Berlin-Friedrichsfelde wurden in der Szene bekannte und somit wesentliche Stationen. Mit selbstentworfenen und vervielfältigten Postkaren betrieben wir vor jeder Ausstellung eine für unsere Verhältnisse äußerst aufwendige Werbung. Da Fotopapier spottbillig war und wir eine provisorische Siebdruck-Werkstatt besaßen, fertigten wir zwischen 100 und 200 Abzüge und versandten diese als „Botschaften“. Auch Personen, von denen wir annehmen mußten, daß sie sich die jeweilige Ausstellung nicht anschauen würden, oft schon aus Gründen der Entfernung, erhielten eine Einladung. Die Karte sollte das Medium -und der Mosaikstein -sein, der für das Ganze steht.

Vor diesem Erfahrungshintergrund und dem Wissen, daß andere Gruppen ähnlich arbeiteten, entwickelte sich die Produktion der Künstlerhefte und Künstlerbücher. Im Zeitraum 1985 bis 1989 gaben wir jedes Jahr eine gemeinsame Edition heraus, die wir als authentische Belege für künstlerische Selbstbehauptung werteten! Anläßlich des Erscheinens der Edition fand jedesmal eine Ausstellung mit Lesung statt. Die Orte dieser Veranstaltungen waren 1986 die bereits erwähnte Kirche in Berlin-Friedrichsfelde und 1987 die damals noch nicht in die Schlagzeilen gekommene Umweltbibliothek am Zionskirchplatz. Die zweite Veranstaltung am 20. März 1987 nutzte ich offen, um unsere gemeinsam erarbeitete Edition „Die NotNadel" -in der wir uns mit dem Waldsterben im Erzgebirge beschäftigten -vorzustellen. Sie wurde von uns im Anschluß an die Lesung zum Verkauf angeboten.

Einige Wochen darauf erhielten Sabine Jahn und ich eine Vorladung vom Magistrat der Stadt Berlin, Abteilung Druckgenehmigung. „Die NotNadel“ -das Produkt unserer eigens für dieses Heft gegründeten Künstlergruppe „Krücke“ -wurde uns in Kopie vorgelegt; die Auflagennummer war vorsorglich herausgetrennt worden. Daneben lag ein aus unserer Wohnung spurlos verschwundenes Original der vorangegangenen Edition „Derwisch“. Wie man in den Besitz unserer Bücher gelangt war, darüber gaben die zwei weiblichen Beamten erwartungsgemäß keine Auskunft. Statt dessen belehrten sie uns, daß für jede Art von Druckerzeugnissen eine staatliche Genehmigung einzuholen sei. Die Belehrung wurde aktenkundig gemacht, wir mußten unterschreiben. Die Situation war bedrückend: Sie war typisch für jene Momente, wo man in der geschlossenen Gesellschaft DDR tiefste Existenzangst auszustehen hatte. Wir mußten davon ausgehen, daß die Damen vom Magistrat nur vorgeschickt worden waren und daß die dahinter-stehende Behörde, das Ministerium für Staatssicherheit, weit mehr über uns und unser Tun wußte. Ständig fragten wir uns: Wieviel wissen sie eigentlich wirklich und was passiert wenn ...? (Nicht nur für unsere künstlerischen Produkte, auch für zwei Kinder trugen wir mittlerweile Verantwortung.)

Im Schatten dieser kafkaesken Wirklichkeit arbeiteten wir weiter. 1988 kam unser sogenanntes „Berlin-Heft“ heraus, das vom Seitenumfang eigentlich eher als Buch zu bezeichnen gewesen wäre. Die dazu geplante Ausstellung in der Galerie „Eigen+Art“ konnte leider nicht stattfinden, so daß die „Entdeckungen aus dem Zwielicht“ -dies war der Untertitel des „Berlin-Heftes“ -in der Szene nur vom Hörensagen bekannt wurden. Die letzte Ausstellung zum ebenfalls letzten original-B graphischen Buch in der DDR fand genau zur Maueröffnung -in den Räumen des Kunstdienstes der evangelischen Kirche -statt. Bei „Herbststein im grünen Gemäuer“ handelte es sich um ein Buch, das insbesondere meine persönlichen Erfahrungen auf einem Berliner Friedhof zum Anlaß nahm, den Totenort zur gesellschaftlichen Metapher werden zu lassen. Zugleich sollte darin jenes Stück anarchische Identität enthalten sein, die wir dem sozialistischen Biedermannsalltag, aber auch der klerikalen Bigotterie abgetrotzt hatten. In dem Ausstellungsraum verstreuten wir säckeweise altes Laub auf dem Parkettfußboden, und von der Decke ließen wir zerschnittene Seiten aus der Parteizeitung „Neues Deutschland“ wie Girlanden herabbaumeln. Auf den „ND“ -Schnipseln stand ein von uns gedrucktes Zitat von Marcel Duchamp. Einem großen UND folgte nach dem Doppelpunkt: „Übrigens sterben immer die Anderen“. Es war der treffende Kommentar genau zur richtigen Zeit.

VIII. Verzweigungen und Nachkommenschaften

Berlin galt zweifellos als das Zentrum der Bewegung, von wo aus man etwas hochnäsig in die „Provinz“ blickte. Vielleicht war die Ignoranz ein Grund dafür, daß in Thüringen, wo mein Freund Claus Bach wohnte, im Januar 1988 eine eigene Zeitschrift -der „Reizwolf“ -gegründet wurde.

Das Blatt -von Claus Bach (er hatte sich schon im „Entwerter“ engagiert und methodisch davon gelernt) zusammen mit dem Paläontologen John Keiler in zweimonatigem Rhythmus ab Januar 1988 herausgegeben -funktionierte ähnlich wie „Entwerter-Oder“ und andere vergleichbare Zeitschriften. Wer mitmachen wollte, mußte seine Beiträge .selbst vervielfältigen. Eine Vorauswahl gab es nur insofern, als vielleicht einmal ein zu plakativer oder zu banaler Beitrag zurückgewiesen wurde.

Mit dem Ziel, das Niveau zu heben, das heißt, nicht nur auf gesellschaftliche Befindlichkeiten zu reagieren, entschloß sich der Thüringerkreis bald dazu, Themen-Hefte festzulegen. Erstaunlich und wichtig war die offene und lebendige Kommunikation der Beteiligten untereinander, die als eigentlicher Motivationsschub gelten mag. Doch da sowohl literatur-und kunstkritische Reflexionen als auch essayistische Arbeiten ausblieben, ließ das Interesse am „Reizwolf“ nach der Wende im Herbst 1989 bald nach.

Ein ebenfalls aus dem „Entwerter“ hervorgegangenes Probjekt ist die von Dirk Fröhlich ins Leben gerufene, nach wie vor in Dresden erscheinende „Spinne“. Die erste „Spinne“ mit dem Untertitel „Verschiedenes im Netz“ erschien im Juni 1989. Konzentration auf text-experimentelle, künstlerisch ausgefallene und mitunter „WRACKment“ arische Arbeiten hat das Interesse der Autoren bis heute unverändert erhalten. Ähnlich wie dem „Reizwolf“ erging es dem in Schwerin erschienenen „l. Mose 2, 25“. In den Heften -in einfachster Klammerbindung, aber mit Original-Graphik und handabgezogenen Fotos -wurde versucht, über sozial-psychologische Krisen unserer Gesellschaft zu debattieren („Angst vor Nähe“, „Langeweile“, „Zivilcourage“). Vorher -1986 -war von Wilfried Linke (er schrieb für kirchliche Zeitungen und war Autor bei „einst war ich fänger im schnee“) ein Projekt namens „Öffnungszeit“ aus der Taufe gehoben worden. Neben Autoren, deren Texte in der DDR nicht veröffentlicht wurden, kamen hierin auch ausgereiste Schriftsteller, mit deren in der DDR nicht erschienenen Texten man sympathisierte (Günter Kunert oder Erich Loest) zu Worte. Der Versuch des Herausgebers, die „Öffnungszeit“ unter den Schutz der Kirche zu stellen, scheiterte. Was auch nur den Anschein der Subversivität hatte, fand bei den auf Ausgleich und Arrangement bedachten Glaubenshütem keine Unterstützung.

Eines der jüngsten und das aus meiner Sicht derzeit vitalste Zeitschriften-Projekt ist die „Herzattacke“. Die Gruppe sah sich vor der Wende selbstverständlich „jenseits stalinistischer Kulturdoktrin“ und setzte sich darüber hinaus das Ziel, „den poetischen und philosophischen Werken von Georges Bataille, Lautreamont und Friedrich Nietzsche die Würdigung und Bedeutung zu verleihen, die sie verdienen“, -so der Herausgeber Max Barck Der radikal-poetische Anspruch soll heute mit „Archaischer subjektiver Souveränität“ verwirklicht werden. Wie bei allen diesen Zeitschriften basiert die Arbeit auf einer losen Gruppierung interessierter und gleichgesinnter Maler, Dichter, Fotografen. Die Projektgruppe „Herzattacke“ begleitet und intensiviert die ebenfalls von Max Barck herausgegebene Künstlerbuchedition MAL-DOROR. Trotz der ausdrücklichen Absicht, einem politisierten bzw. aufklärerischen Impetus zu entsagen, sind die Texte zumeist junger, noch unbekannter Poeten infiltriert von Vor-und Nachwendebefindlichkeiten. Die Hinwendung zu „unserer Welt“ mit „unseren Problemen“ im Gegen-satz zu dem postulierten und konsequent durchgehaltenen Anspruch bei den Graphikern machen das Ganze äußerst spannend.

Während es bis Mitte der achtziger Jahre permanent Probleme gab, nicht offiziell abgesegnete literarische Texte, die mit einer Graphik oder einem Foto in Verbindung standen, auszustellen, nahmen sich staatlich angestellte Galeristen in der Folgezeit -unter dem Einfluß der Politik Gorbatschows — größere Freiheiten heraus. So erklärt es sich, daß die unabhängige Künstlergruppe „Herzattacke“ im Mai 1989 keine Probleme mehr hatte, ihr Projekt in der Galerie im Kreiskulturhaus Treptow (eine Anlaufstelle für viele Künstler zwischen inoffizieller und Verbandskunst) vorzustellen. Die Dichter lasen aus ihrer Edition und konnten im Anschluß daran -mehr oder weniger offiziell -Exemplare zum Verkauf anbieten. Die Ereignisse, die zum erdrutschartigen Zusammenbruch der DDR führten, hatten das papierne Aufbegehren zu einem marginalen Problem der staatlichen Sicherheit werden lassen.

IX. Was bleibt?

Es sei mir verziehen, daß ich nicht alle Zeitschriften aufzählen und nur einige -mir persönlich besonders wichtige -Namen und Aspekte benennen konnte. Dies ist in erster Linie der Tatsache geschuldet, daß wir kein funktionierendes Kommunikationsnetz besaßen und die Gruppen weitgehend isoliert arbeiten mußten.

Die genannten und nicht genannten subkulturellen Zeitschriften -so verschieden sie auch waren -sind nicht nur Zeugnis des Aufbegehrens einer nichtangepaßten jungen Generation, sondern sie stehen auch für etwas bisher so nicht Dagewesenes. Avantgardistische, experimentierfreudige Kunstjournale gab es in diesem Jahrhundert schon zu Zeiten des Expressionismus, im revoltierenden Geist des Surrealismus, aber nie entwickelte sich daraus ein so wichtiges, integrierendes und lebensnahes Kommunikationsbedürfnis. Die Zeitschriften waren eine Art Rettungsanker für eine zum Schweigen verurteilte Generation junger Künstler. Das existentielle Moment des inneren Antriebes gibt dieser Bewegung seine bleibende Bedeutung. Daß der Staatssicherheitsdienst von dem einen oder anderen Projekt gewußt hat oder es sogar wissend tolerierte, schmälert den Wert nicht.

Ohne den Vorlauf der original-graphischen Editionen, die die Beteiligten zum Probierfeld ihrer Kreativität erkoren, würden wir heute in dem von der Diktatur gezeichneten Teil Deutschlands auf eine lost generation blicken. Aber gerade weil hier im stillen vorgearbeitet wurde, können Künstler und Literaten aus ihrem Schatten treten und müssen nicht bei Null anfangen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Sascha Anderson, Die Zusammenhänge sind einfach... in: Elke Erb/Sascha Anderson (Hrsg.), Berührung ist nur eine Randerscheinung, Köln 1985, S. 221 f.

  2. Peter Böthig, Möglichkeitsräume, in: Künstlerbücher und originalgrafische Zeitschriften im Eigen-Verlag. Eine Bibliografie von Jens Henkel und Sabine Russ, Gifkendorf 1991, S. 96.

  3. Kurt Rat, ... ALS WÜRDE JEMAND SEINE MEINUNG SAGEN. -Neunmal Schaden, in: Zellinnendruck -Katalog der Galerie Eigen + Art, Leipzig 1990, S. 52f.

  4. „editorial schaden“ Nr. 17, November 1987.

  5. „Entwerter-Oder“ Nr. 15, Mai 1985.

  6. „Herzattacke“ Nr. IV/1991.

Weitere Inhalte

Thomas Günther, geboren 1952; freischaffender Autor in Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Collagen-edition neue texte, Linz 1986; ABGRÜNDEüberBRÜCKEN 1986; AufBruch ins SchädelHerz (Gedichte) 1987; Von ausgefransten Vögeln (Prosa) 1989; Eigene Editionen (zus. mit Claus Bach und Sabine Jahn) seit 1985; Einzel-und Gruppenausstellungen; Arbeiten in öffentlichen Sammlungen (u. a. Kupferstichkabinett Dresden; Klingspor-Museum; Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel; Deutsches Literaturarchiv Marbach).