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Europa im Aufbruch zu einer neuen Gemeinsamkeit | APuZ 31-32/1992 | bpb.de

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APuZ 31-32/1992 Artikel 1 Die gespaltene Nation Das Geschichtsbewußtsein der Deutschen nach der Einheit Vom Nutzen und Elend der Nationalismen im Leben von Völkern Europa im Aufbruch zu einer neuen Gemeinsamkeit

Europa im Aufbruch zu einer neuen Gemeinsamkeit

Gert Weisskirchen

/ 26 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Auf das „unerhörte Ereignis“ der Umbrüche im europäischen Osten ist eine überzeugende Antwort des europäischen Westens bislang ausgeblieben. Die Gründe liegen zum einen in den unterschiedlichen kulturellen Erfahrungen, welche die drei großen Teilregionen des Ostens, der Mitte und des Westens unseres Kontinents mit den demokratischen und nationalen Revolutionen seit der industriellen Moderne durchlebt haben. Zum anderen sind die nationalen Bürgergesellschaften ungleichzeitig und in unterschiedlicher Intensität gewachsen. Solange ihre Fähigkeiten zu inneren Reformen aber noch nicht gereift sind, können sie als Stabilisatoren der neuen Demokratien ihre Funktion nur zum Teil ausfüllen. Das macht die Nationalstaats-konzepte im europäischen Osten, je jünger sie sind, umso ungefestigter und öffnet Einfallstore für nationalistische Demagogie. Die entscheidende Aufgabe des europäischen Westens läge darin, die Entwicklung suprastaatlicher Strukturen nicht allein in seiner Region der weithin gefestigten parlamentarischen Demokratie zu erweitern und zu vertiefen. Ein koevolutives Konzept sollte im Dialog mit den Bürgergesellschaften des Ostens und ihren politischen Eliten erarbeitet werden, das es ermöglicht, die Gefahren von Rückfällen in autistischen Chauvinismus zu vermeiden. Die Basis für den zu beschleunigenden Vereinigungsprozeß Europas liegt in den Erfahrungen, welche die Völker in langen Zeiträumen von Konsens und Konflikt miteinander gesammelt haben. Die Gemeinsamkeit Europas liegt im Bewußtsein seiner Einheit in der Verschiedenheit. Die anzustrebende politische Konstituierung der Vereinigten Staaten von Europa beruht auf den Erfahrungen der Identität der europäischen Kulturen in ihrer Nicht-Identität.

I. Zur demokratischen und nationalen Revolution in den drei europäischen Regionen

Mit dem Ende des Kommunismus im europäischen Osten sind Versuche gescheitert, Formen eines falschen Internationalismus gegen nationales Selbstbewußtsein durchzusetzen. Einer der Konstruktionsgedanken der Sowjetunion folgte dem Verdikt Friedrich Engels, die Völker Ostmittelund Südosteuropas seien „geschichtslos“. Sein Vorurteil berührte sich mit dem Otto von Bismarcks, der -nach der deutschen Reichsgründung -die Konstituierung kleiner Nationalstaaten im Osten Europas für „unmöglich“ hielt.

Hatte noch Lenin, wenn auch zunächst aus taktischen Motiven, für das nationale Selbstbestimmungsrecht aller Völker plädiert, zog schließlich Stalin aus dem Zerfall des „Völkerkerkers“ der Habsburger Monarchie für die Konstruktion der Sowjetunion andere Schlüsse. Die verzweifelten Bemühungen der österreichischen Sozialdemokratie nach 1918 waren vergebens, die Organisationen der Arbeiterbewegung als glaubwürdige Klammer einzusetzen und ihren Kampf um soziale Gerechtigkeit unverbrüchlich zu verknüpfen mit dem inneren Ausgleich der Nationen. Die Erfahrungen mit der „Experimentenkammer“, wie Victor Adler den Versuch des multinationalen Zusammenlebens zwischen Tirol und der Bukowina nannte, wurden bei der Neukonstruktion der Sowjetunion nicht berücksichtigt.

Der neuentstehende multinationale Staat schuf sich ein Hyper-Zentrum, das nationales Bewußtsein mit Mitteln der Gewalt brutal einzuebnen suchte. Moskau war nicht nur Zentrale der Partei und der von ihr geschaffenen Sicherheitsorgane, des Staates und des militärisch-industriellen Komplexes. Die Megalopolis der Sowjetunion griff zur Zeit der Stalinschen Diktatur in den Restbestand der übriggebliebenen Selbstbehauptung ein, in die Kultur: Moskau war auch das Zentrum der Verwaltung von Sprache und Kultur geworden. Nur in ihrer Abhängigkeit von Moskau konnten die Republiken der Sowjetunion eine eng begrenzte Rolle im Spiel der Macht nutzen. Ihre Autonomie, in den Verfassungen beschrieben, erlaubte im wesentlichen wenig mehr als regionale Folklore. Die Sprengkraft des Nationalismus sollte mit der Gewalt des Terrors abgeschreckt und mit der Ideologie des Internationalismus gezähmt werden. Beide Konzepte verfehlten ihre Ziele.

In den letzten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts kehrt die elementare Frage wieder, die die Welt seit dem Beginn dieses Jahrhunderts so tief erschüttert hat: Was ist politisch zulässig und notwendig zu tun, um den Zerfall multinationaler Staaten so zu begleiten, daß die gestaltenden Prinzipien der Demokratie eine Chance haben, den Wandel zu befördern?

Der moderne Nationalstaat ist ein Kind der bürgerlichen Revolution. Er verbindet Sprache und Kultur, Volkssouveränität und Demokratie, ökonomische Modernität und gesellschaftliche Reformfähigkeit mit den Bedürfnissen der Menschen, die auf einem gemeinsamen Territorium Zusammenleben, nach sozialer Sicherheit und der Stabilität individueller Austauschbeziehungen. Im europäischen Westen konnten sich in langen Zeitläufen Nationalstaaten gewaltsam gegen den Absolutismus der Fürsten durchsetzen. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit waren die Werte des Kampfes für die neuen Republiken. Sie sollten ungeschmälert für jeden Bürger gelten, der sich in einem bewußten Akt des politischen Willens zur Nation bekannte. Das Ergebnis waren zentral regierte Staaten, die auf der freien Willenserklärung ihrer Staatsbürger gründeten. Ihr Ja zu den Werten der Revolution stiftete die Einheit ihres Nationalstaates. Den Regionen üeßen sie auf ihren Territorien wenig Raum für Eigenentwicklung; ihre Entfaltung hätte den Prozeß der Revolution behindern können. Die Fähigkeit zur Integration gewinnen diese Staaten durch das „tägliche Plebiszit“ ihrer Bürger. Nur die permanente Zustimmung der Menschen zu ihrer selbstverfaßten Ordnung gibt dem Nationalstaat seine Existenzberechtigung, wie Emest Renan es klassisch formulierte hatte.

In einer zweiten Phase der Bildung von Nationalstaaten nahm die europäische Mitte die revolutionären Werte des europäischen Westens auf und integrierte sie in ein Konzept der Kultumation.Partikularstaaten vereinigten sich zu Bundesstaaten verwandter Sprache. Gewahrt blieb die weitgehende Souveränität ihrer kulturellen Autonomie. Gewiß hatten sie ihren Prozeß zur Bildung von Nationalstaaten „verspätet“ und unterschiedlich verwirklicht. Doch konnten sie -gemessen an der westeuropäischen Entwicklung -wesentliche Kembestände ihrer kulturellen Traditionen gegenüber den Versuchen der Regierungszentren des Staates, sie zu dominieren, auf dem Weg des geregelten Kompromisses sichern.

In einer dritten Phase entstanden in Ostmittel-und Südosteuropa Nationalstaaten durch Sezession aus den multinationalen Großstaaten des Osmanischen Reiches, des Russischen Reiches und des Reiches der Habsburger. Ermutigt durch die Nationalismen des europäischen Westens -besonders bestärkt durch die Wiederentdeckung der kulturellen Traditionen, deren legitimierende Impulse der erwachende Panslawismus nicht zuletzt von Vertretern der deutschen Klassik und Romantik bezog-, wehrten sich die nationalen Bewegungen des europäischen Ostens gegen die Staatengebilde, die sie als Fremdherrschaft empfanden. Der Typus dieser Auflehnung war eher ein kollektiver, weil er sich gegen multinationale Staatenkonglomerate richtete. Unterfüttert wurde die stärkere Verbundenheit durch die Zusammengehörigkeit zur gemeinsamen slawischen Sprachenfamilie. Sie stärkte den Widerstand gegen die Dominanz des Türkischen und des Deutschen und damit den Widerstand gegen Konstantinopel und gegen Wien.

Die Differenz der drei großen europäischen kulturellen Regionen prägte die Ungleichzeitigkeiten der Motive, der Verläufe und der Ergebnisse in den revolutionären Umbrüchen des „Take-offs“ der Moderne. Erhob sich im europäischen Westen das Individuum als revolutionäres Subjekt gegen die illegitime Herrschaft eines Staates, der gegen die Souveränität des Volkes seine Gewalt richtete, so konnten im europäischen Osten allein Kollektive gegen den fremden Staat aufstehen, der das autonom Nationale zerstören wollte, um seiner Macht gewiß zu bleiben. In der europäischen Mitte schnitten sich beide Modelle der Revolution der Moderne. Johann Gottfried Herder und Giuseppe Mazzini formulierten aus der kulturellen Differenz heraus die Dignität der Völker, die ihren jeweils unterschiedlichen historischen Auftrag für die Menschheit ausmachen sollte. Mit dem Universalismus der Französischen Revolution -den unveräußerlichen Rechten des Individuums -verknüpften sie ihren Entwurf von der Unverwechselbarkeit der partikularen Kulturen.

So lagen denn zu Beginn des Völkerfrühlings in Europa zwei Konzepte des Nationenbildungsprozesses miteinander im Streit, die sich beide auf Argumentationslinien der Aufklärung berufen konnten:

Der revolutionäre Einzelne berief sich im Westen auf die individuelle Freiheit, die ihm der absolutistische Staat, jedoch auch die ständische Gesellschaft, vorenthalten hatte. Im Osten berief sich das revolutionäre Kollektiv auf die kulturelle Wahrheit, die von den Staatsmaschinen überfremdet worden war.

Das Europa occidentalis löste sich in den Kämpfen seit der Renaissance Schritt für Schritt aus der monarchischen Bevormundung und konstituierte sich als selbstbewußte Bürgergesellschaft in den revolutionären Nationalstaaten auf der Grundlage der persönlichen Freiheit. Im Westen bändigte die Gesellschaft den Staat. Im Osten dagegen fesselte der Staat die Gesellschaft. Das Europa orientalis blieb Gefangener des Staates, weil die Gesellschaft sich nicht gegen ihn emanzipierte.

Die Traditionen des Westens waren lange herangewachsen in den Erfahrungen der Heterogenität von Religion und Kultur -eingelagert in den Freiheitsrechten, wie sie, etwa in den Städten oder auch an den Universitäten, gegen den Absolutismus erstritten worden waren. Im Osten hatte der Absolutismus der Zaren es mit dem Einsatz der Staatsgewalt vermocht, jede heterogene Regung auszulöschen und den Untertanen Homogenität aufzupressen: die Gesellschaft blieb verstaatlicht. Zugleich wurde die Dominanz der zaristischen Herrschaft verdoppelt durch ihre Rolle als geistliches Oberhaupt.

Das Individuum erkämpfte sich im Westen gegen den nichtlegitimierten Staat seine persönliche Freiheit und verwandelte ihn mittels der Gesellschaft zu einem Instrument des Schutzes und der Erweiterung seiner Freiheit. Das Individuum im Osten verlor mit seiner Niederlage im Kampf gegen den zaristischen Staat seine Ansprüche auf persönliche Freiheit und auf die nationale Selbstbehauptung.

In den westeuropäischen Nationalstaaten befreiten sich die Gesellschaften zu Hüterinnen der Volks-souveränität. In den osteuropäischen multinationalen Staaten blieben die Nationen der unbeschränkten Willkür des Zentralstaates gegenüber untergeordnet, solange sie keine Chance hatten, eine Bürgergesellschaft aufzubauen.

In der europäischen Mitte trafen sich die Ambivalenzen der Modelle des Aufbegehrens. Die Verspätungen der Revolution und ihre widersprüchlieben Ergebnisse waren auch hier verursacht durch die unvollendet gebliebene Konstituierung einer Bürgergesellschaft. Die Hegelsche Geschichtsphilosophie überhöhte die Rolle des Staates in der Gleichsetzung des „Vernünftigen“ mit dem „absoluten Endzweck der Souveränität“, in dem der Einzelne bereit sein solle „zur Aufopferung im Dienste des Staates“; Ruhe gewönnen Nationen im Innern durch Kriege nach außen. So wird der Staat, in dem die Nation ihre Erfüllung findet, zum neuen absoluten Herrscher. Das Individuum mußte seine Gesellschaftlichkeit im Pathos der Kämpfe um Leben und Tod der Nation definieren und nicht durch den Gewinn seiner persönlichen Freiheit.

In unterschiedlichen Schattierungen der Regionen zwischen den universalen Entwürfen des demokratischen Nationalstaatskonzeptes des Westens und des absolutistischen Multinationalstaatskonzeptes des Ostens bilden die Nationen der europäischen Mitte widersprüchliche Modelle der Zusammenfassung voneinander getrennter Nationen aus. Sie schwanken zwischen individuellem Freiheitsanspruch und kollektivem Anpassungsdruck. In unaufhebbarem Gegensatz bleiben die Quellen kultureller Selbstbehauptung als partikulares Widerstandspotential gegen die unitarischen Zentren gerichtet. Weil sich das revolutionäre Subjekt nicht durchsetzen konnte gegen die Macht des Staates, gelang es ihm nicht, die Autonomie einer Bürger-gesellschaft zu konstituieren. Es mußte sich bescheiden mit der Autonomie des kulturellen Partikularismus, der ambivalent blieb gegenüber dem Konzept des Nationalstaates: Residuum des Aufbegehrens.

Die Kunst bestätigte das Genie des großen Einzelnen in seinem Spiel mit dem ästhetischen Potential der Revolution. Die Revolte des Künstlers blieb abgeschnitten von seiner Verantwortung für die gesellschaftliche Veränderung, zumal die Gesellschaft sich selbst beschränkte auf eine halbierte Freiheit des Eigentums an Wirtschaftsgütern.

II. Die Zukunft der Vergangenheit: Nationalstaaten zwischen Emanzipation und Chauvinismus

Alle Länder der europäischen Zwischenregionen haben einen Preis für ihre unvollendeten Freiheitsrevolutionen zu bezahlen.

Die „Rückkehr nach Europa“, zuerst ausgerufen von der polnischen Solidarnosc und nach und nach als Forderung aufgegriffen von allen Freiheitsbewegungen des zerfallenden Sowjet-Blocks, ist ein Versuch, den Preis für die unterdrückte, ausgebliebene oder halbierte Revolution so niedrig wie möglich zu halten. Die revolutionäre Entwicklung muß nachgeholt werden. Ohne sie werden ökonomische Modernisierung und gesellschaftliche Reform nur schwerlich gelingen. Zugleich jedoch wiederholen sich im Laufe dieser Revolution alle Gefahrenmomente des im Westen mittlerweile gezähmten, wenn auch noch nicht überwundenen Nationalismus.

Die bipolare Spaltung der Welt seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat es den westeuropäischen Regionen erlaubt, eine doppelte Aufgabe zu bewältigen: Zum einen wurde der Bundesrepublik Deutschland eine parlamentarische Demokratie westlicher Prägung verliehen, in die sie in vierzig Jahren von unten Strukturen einer Bürgergesellschaft einbauen konnte. Durch wirtschaftlichen Aufschwung konnten Rückfälle in irredentistischen Nationalismus vermieden, durch erweiterte Partizipationschancen der Arbeitnehmerschaft zugleich die soziale Frage gemildert und durch den kooperativen Föderalismus die Balance zwischen regionaler Selbstbestimmung und Erfordernissen des Bundesstaates gehalten werden.

Zum anderen wurde parallel dazu -als autonomer Prozeß und zur Domestizierung deutschen Unruhepotentials -ein Netz internationaler Verflechtungen geschaffen, das die westeuropäische Integration verdichtete. Staatliche Funktionen wanderten aus den Nationalstaaten in neue suprastaatliche Strukturen. Schritt für Schritt entsteht ein multinationales Gebilde, das den Kern der Volkssouveränität im jeweiligen Nationalstaat beläßt, die notwendige Internationalisierung moderner Ökonomien zugleich jedoch fördert. Ein allmähliches Angleichen der Lebenschancen wird durch gezielte Interventionen der Ausgleichsfonds der Europäischen Gemeinschaft ermöglicht. Zwar können Disparitäten der nationalen, sozialen und kulturellen Entwicklungen nicht abgeschliffen werden -dem steht die Autonomie der Regionen entgegen und das Gefälle unterschiedlich wachsender Produktivität. Im Blick auf bislang ausgebliebene Demokratisierungsschübe der • Europäischen Gemeinschaft bleibt auch die Frage offen, ob bzw. wann weitere Selbstbestimmungsrechte der Nationalstaaten abgegeben werden.

Der Volksentscheid in Dänemark gegen die Maastrichter Verträge war nicht zuletzt ein Protestgegen die immer deutlicher werdenden Demokratiedefizite der Europäischen Gemeinschaft. Das Ziel der Vereinigten Staaten von Europa wird erst dann seinen utopischen Charakter verlieren, wenn ein neues Gleichgewicht von Demokratisierung, parlamentarischer Gestaltungsfähigkeit, ökonomischer Modernisierung sowie sozialer und ökologischer Reform gefunden sein wird. Und doch zeichnet sich am historischen Horizont die Möglichkeit ab, das Konzept des Nationalstaats mit sich erweiternden und vertiefenden Schritten der kontinentalen Integration zu verlassen. Die Wirklichkeit der weltweit ineinander verflochtenen Ökonomien verweist auf einen immer schneller wachsenden Grad der Internationalisierung, der der Substanz des Nationalstaats mehr und mehr die Kraft nimmt. Umso wichtiger wird -um die innergesellschaftliche Stabilität in den laufenden Modernisierungsschüben zu festigen -die durch Kultur gestiftete Identität.

Der europäische Osten kann mit seiner „Rückkehr nach Europa“ jedoch nicht solange warten, bis der europäische Westen eine neue innere Balance zwischen suprastaatlichem und nationalstaatlichem Zuschnitt gefunden haben wird oder gar die „Antiquiertheit“ des Nationalstaats hinter sich gelassen hat. Würde der Westen den Osten vertrösten oder sich ihm gegenüber gar abschotten -der Osten wäre nicht allein dazu verdammt, im Zeitraffer-tempo die gesellschaftlichen Umbrüche des Westens nachzuholen, ohne ihn jemals einholen zu können. Der Westen überließe überdies den Osten den Gefahren, alle historischen Fehler zu wiederholen, auch die mörderischsten Rückfälle in den Nationalismus.

Der reformorientierte Risorgimento-Nationalismus hatte in der Mitte Europas seine Chance verspielt, als er seine chauvinistischen Binnenkräfte nicht mehr zähmen konnte und die eigene Nation sich als die von der Geschichte zur Herrschaft berufene über „minderwertige“ andere erhob und sich damit selbst überhob. Der westeuropäische integrale Nationalismus verhalt dem Risorgimento-Nationalismus ungewollt dazu, diesen Irrweg zu betreten. Es fehlte die Empathie des Westens, die eigensinnige Selbstbehauptung der europäischen Mitte in Form kultureller Autonomie als Surrogat der Freiheitsrevolution zu erkennen.

Erleben wir nicht gegenwärtig zeitverschoben eine ähnliche Konstellation? -Könnte es nicht sein, daß der emanzipative Gehalt der Revolution im europäischen Osten verloren zu gehen droht? Besteht nicht die Gefahr, daß der Risorgimento-Nationalismus, wie in einer Zeitmaschine erhitzt, umkippt in integralen Nationalismus und dieser wiederum sich entzündet in Explosionen des Chauvinismus? Die „Rückkehr nach Europa“ ist ein Ruf der Hoffnung auf eine angemessene Antwort des Westens, die verzweifelte Bitte um Aufnahme in die Geborgenheit der Demokratie, und er ist zugleich ein Schrei der Angst vor dem Alleinbleiben im nationalistischen Autismus.

A. R. Penck, Maler aus Dresden, hat die paradoxen Lebensgefühle, die die Mehrheit der Menschen im Angesicht der Umbrüche erfüllt, zugespitzt in einer Bemerkung, alles sei verändert und doch habe sich nichts geändert.

Die scharfe Trennung zwischen der verstaatlichten Gewalt, welche die von der Partei verordnete Lüge durch ein Terrorsystem schützte, und der aufbegehrenden Dissidenz, die sich auf die Suche nach der Wahrheit begeben hatte, war kein verläßliches Muster. Das wirkliche Leben nistete sich in den Zwischenräumen ein, schwankte häufig von aufsässigem Opportunismus zu angepaßter Rebellion. Gefühle der Ohnmacht und der Sinnlosigkeit politischen Handelns machten die Rolle einer bewußten Opposition gegen das Ancien rögime unmöglich. Erst die ungewollte Auflockerung des granitenen Blocks der Nomenklatur durch Perestrojka und Glasnost setzte den euphorischen historischen Moment der demokratischen Revolution frei. Er ließ die Gewaltsysteme der kommunistischen Diktatur implodieren, als ihre Hilflosigkeit der Mehrheit offenbar wurde. Die Nomenklaturen konnten sich des friedlichen Ansturms ihrer Völker nicht mehr erwehren. Die Menschen waren sich ihrer Souveränität bewußt geworden. Sie hatten sich gegen ihren Staat erhoben, ohne den langen Zeitlauf der Konstituierung einer Bürgergesellschaft auf sich zu nehmen.

Nach dem Zerfall der Ideologie des kommunistischen Projekts und seiner mit ihm verschmolzenen staatlichen Strukturen füllt nach der demokratischen Revolution die nationale Revolution das entstandene Vakuum einer für jede soziale Konstruktion notwendigen integrativen Kraft. Gefühle der Ohnmacht und der Sinnlosigkeit kehren in einer anderen Form wieder, weil die ungeheure Beschleunigung der Ereignisse den Erfahrungen der Zeit vor der Revolution diametral entgegengesetzt ist: Es war die Zeit des unermeßlichen Stillstands der öffentlichen Ereignisse. Die erlittene Bewegungslosigkeit und die erlebte Geschwindigkeit macht taumeln. Alte Gewißheiten sind zerstört, Ruhe hat noch keine Chance.

In die neuen Unübersichtlichkeiten können vermeintlich versunkene Muster der sozialen Kohäsion an die Oberflächen gespült werden -zumal dort, wo Nationen in ihrer modernen Eigenstaatlichkeit sich historisch nur von kurzer Dauer konstituieren konnten wie im Baltikum oder dort, wo sie ihre moderne Eigenstaatlichkeit noch nicht erlangten, obwohl sie seit langem darum kämpften und ihre Selbstbehauptung wie im zerbrechenden Jugoslawien durch multinationale Fehlkonstruktionen zugeschüttet wurde.

Chauvinismus kann dort eindringen, wo die soziale Not demagogisch umgedeutet wird in den Haß auf Fremdes. Die Trennlinie zwischen befreiendem nationalem Selbstbewußtsein und in die Enge des Fremdenhasses führendem Chauvinismus wird dort überschritten, wo Nationalismus skrupellos eingesetzt wird als Instrument des Gewinns von politischer Macht nach innen und außen. Die Loslösung von der Konstruktion eines falschen Internationalismus braucht sicherlich zunächst die Vergewisserung vom Wert der eigenen Nation. Der Aufbau einer neuen Konstruktion der eigenen Nation braucht als Stützpfeiler aber auch sich entwikkelnde Strukturen einer Bürgergesellschaft. Ohne eine solche Freisetzung der produktiven Potentiale der Demokratie jedoch finden sich die „Sturzgeburten“ der jungen Nationalstaaten im autistischen Zirkel eines in sich kreisenden Nationalismus wieder. Die „Rückkehr nach Europa“ ist also doppeldeutig: Sie kann zur Explosion des Nationalismus führen, aber auch den Siegeszug der Demokratie beschleunigen. Welche Zukunft sich im Osten realisiert, hängt auch vom Westen ab -wie wiederum auch die Zukunft des Westens davon abhängt, welche sich im Osten durchsetzen wird.

Die Zukunft Europas entscheidet sich nicht zuletzt im Osten. Weil die Vereinigung Europas nur gelingen kann, wenn West und Ost ihre Fähigkeiten verstärken, die jeweiligen Entwicklungen komplementär aufeinander zu beziehen, darf der Westen mit seinen weiter fortgeschrittenen Bürgergesellschaften in Sorge um die Gefährdungen des Ostens Instrumente präventiver Intervention entwickeln. Das Menetekel der chauvinistischen Gewalteruptionen schreckt. Die Zündschnüre im europäischen Osten sind gelegt; die Sprengsätze des Nationalismus liegen offen. Sie können im Chaos des Chauvinismus explodieren. In Jugoslawien hat das Feuer die Zündschnüre bereits in Brand gesetzt.

Die Instrumente präventiver Intervention sind strikt zu binden an die internationalen Übereinkünfte zur Einhaltung der Menschenrechte, besonders, um Minderheiten aktiv zu schützen. Das Recht auf Selbstbestimmung muß verknüpft werden mit dem Toleranzgebot für die ethnischen, sprachlichen oder religiösen Minderheiten. Verfahren, an denen die Bürgergesellschaften zu beteiligen sind, müssen geschaffen werden. Mechanismen zum Erkennen von Konflikten, ihnen präventiv vorzubeugen und sie gemeinsam mit den von den Konflikten Betroffenen zu regeln, sind rasch zu entwickeln; auch international vereinbarte Polizeiaktionen können dazu gehören.

Hilfen zum Aufbau der jungen Staaten des europäischen Ostens sind abhängig zu machen von der Entfaltung der Demokratie. Die von ihren Regierungen unabhängigen bürgergesellschaftlichen Organisationen des Westens sollten zum Ausbau der Strukturen ihrer Partner im Osten intensiver als bisher direkte nichtstaatliche Beziehungen aufnehmen; ihre jeweiligen Staaten müssen sie dabei finanziell stärker unterstützen. Die die Staaten überwölbenden suprastaatlichen Bündnisse sollten schneller als bisher nach Osten geöffnet werden. Der Eintritt in die EG muß über die Verkürzung von Assoziationsverfahren erleichtert werden -es sei denn, die EG Westeuropas ermutigt die rasche Entwicklung einer osteuropäischen EG durch besondere finanzielle und ökonomische Präferenzen.

Werden die Netze zwischen den Bürgergesellschaften von unten dichter geknüpft und fester gezogen durch bilaterale staatliche Beziehungen von Ost nach West und diese in den zusammenwachsenden Rahmen der gesamteuropäischen Vereinigung gestellt, dann führt die „Rückkehr nach Europa“ nicht zur zwanghaften Wiederholung dessen chauvinistischer Vergangenheit. Dann eröffnet sich ein Weg in eine gemeinsame Zukunft.

III. Skizze einer neuen europäischen Architektur

Soziale Konstrukte, wollen sie nicht Fragment bleiben, sondern sich behaupten, brauchen eine „Architektur“. Diese muß ihre gesellschaftlichen Funktionen erfüllen, sich zugleich der Lebenswirklichkeit stellen und der Zustimmung der Menschen vergewissern. Die Generierung neuer gesellschaftlicher Konstruktionen kann gelingen, wenn die architektonischen Elemente überzeugend wirken, wenn sie technisch stimmig sind und sie zugleich in ihrer Tauglichkeit erkannt werden. Diese systemischen Bedingungen zu erfüllen sind Voraussetzungen; allein reichen sie jedoch nicht hin. Sie müssen verknüpft werden mit den Prozessen ihrer sozialenVerankerung und ihrer demokratischen Legitimation, wenn sie ihren Geltungsbereich erweitern wollen.

Drei Ebenen der Vermittlung zwischen individuellem und gesellschaftlichem Lernen müssen in Beziehung zueinander gesetzt werden, wenn die Politik über eine Moderatorenrolle hinauswachsen soll. Sie verknüpfen utopisches Denken im gesellschaftlichen Dialog mit der Arbeit an Projekten der Gestaltung. Stetigkeit und Offenheit der Partner im Konsens wie im Konflikt sind in diesem Prozeß Grundbedingungen. Sie bilden die notwendige Sicherheit in die Reversibilität der vorzunehmenden Schritte und das aufzubringende Zutrauen, den Traum von einer Sache verwirklichen zu wollen.

1. Eine andere Zukunft entwerfen

Die Sicht der Dinge verändert sich, wenn aufgrund neuer Deutungsmuster ein Blick geworfen wird auf ein real mögliches Bild eines anderen Weges der gesellschaftlichen Entwicklung. Erkenntnisse der Vergangenheit können linear in Modelle des gesellschaftlichen Werdens kaum übersetzt werden. Die Widerstände der Gegenwart begrenzen die Entfaltungsmöglichkeiten der Entwürfe und zugleich rufen sie den Willen zu ihrer Transformation wach. In aufklärerischer Absicht kann es nur liegen, die Konturen der Zukunft offen zu halten für ihre immer neue Bestimmung. In den Prozessen des Zusammenwachsens des europäischen Kontinents heißt der Zukunftsentwurf: Wandel zur Gemeinsamkeit.

Er beruht nicht zuletzt auf Begründung, Design und Erfolg der Politik der Entspannung. Diese durchlief mit Beginn der sechziger Jahre drei voneinander unterschiedene Phasen: den „Wandel durch Annäherung“, der den „Wandel durch Auflehnung“ vorbereitete. Schließlich hat der „Wandel durch Selbstbestimmung“, ermutigt durch die Politik der Entspannung, die friedlichen Revolutionen befördert. Die Entspannungspolitik hatte kühn auf die Zuspitzung der Blockkonfrontation geantwortet und mit dazu beigetragen, sie schließlich aufzulösen.

2. Die Gestaltungspotentiale der neuen sozialen Bewegungen nutzen

Auf den unerhörten Aufbruch im europäischen Osten hat der Westen noch nicht angemessen geantwortet. Mit großer Erwartung hat Osteuropa den Weg zur „Rückkehr nach Europa“ beschritten. Die Dissidenz war ihre Vor-Läuferin. Sie hatte sich neue Formen geschaffen, ihren Widerstand gegen die Entmündigung zu bekunden. Die Nomenklatura hatte verloren, als die Symbole der Dissidenz als die Erkennungszeichen einer neuen Zeit erkannt wurden. Die Macht des Ancien regime verschwand im Strudel des Aufbruchs, als der Mut zur Veränderung stärker wurde als die Angst vor den Gewalten der auf Beharrung setzenden Nomenklatura. Die Trägerin der volkssouveränen Legitimität erhob sich gegen die etatistisch verformte Legalität. Die neuen sozialen Bewegungen für Freiheit und Demokratie hatten in den Jahren der Unterdrückung Netze der Solidarität von unten geknüpft. Sie zeigten sich in der politischen Revolution stärker als alle autoritären Versuche, von oben die Veränderungen aufzuhalten.

Die Kräfte der kreativen Neugestaltung im Osten unseres Kontinents brauchen den Dialog mit dem Westen, damit die Konfliktpotentiale, die ihre Zukunft bedrohen, umgearbeitet werden können zu Projekten der Gemeinsamkeit. Die sozialen Bewegungen des Westens brauchen den Dialog mit ihren Partnern im Osten, weil auch Westeuropa sich ändern muß, wenn eine gemeinsame Perspektive für unseren Kontinent entwickelt werden soll. Dieser Dialog kann in Prozesse münden, in denen das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit aller Regionen des europäischen Kontinents aus den Gesellschaften heraus wachsen wird.

3. Die Menschen zueinanderführen

Durch Zustimmung der Menschen können Zukunftsentwürfe Wirklichkeit werden. Sind sie konsensual im Diskurs erarbeitet oder in der argumentativen Konfrontation entstanden, sind in herrschaftsfreier Rede und Gegenrede ihre inneren Schwächen aufgedeckt und im Konflikt geheilt, dann können sie zu Stabilisatoren der Demokratie werden. Eine der Bedingungen für die Übertragung vom Entwurf in die Wirklichkeit ist, daß die persönlichen Ziele selbstbestimmten Lebens erkennbar werden in den gesellschaftlichen Ereignissen. Grundlinien der Gegenwart müssen verknüpfbar werden mit dem real möglichen Bild von einer anderen Zukunft. Scheinen in der individuellen Biographie Momente des Kontinuums von Vergangenheit und Gegenwart auf, die sich mit den Konturen einer als offen erwarteten Zukunft kreuzen, dann können Potentiale der Kreativität aufgeschlossen werden, die sich im Zusammenspiel mit gemeinsamen Hoffnungen optimieren können.

Die sich beschleunigenden Modernisierungsprozesse rufen -parallel zum Anwachsen der innergesellschaftlichen Komplexität, der Ungewißheit, die den Zerfall der bipolaren Welt begleitet, und der Unsicherheit, die von der Umgestaltung unseres Kontinents ausgeht -den Wunsch nach Stabilisatoren hervor, die das Gleichgewicht zwischen den individuellen und kollektiven Lernprozessen neu ausbalancieren. In dieser Entwicklung liegen Chancen und Gefahren eng nebeneinander: Das Bedürfnis nach Reduktion der oft als paradox erfahrenen komplexen Wirklichkeit auf handliche Muster der Erklärung kann individuell und kollektiv so mächtig werden, daß es demagogisch ausgebeutet werden könnte. Zugleich kann der Ruf nach Umorientierung die Lembereitschaft so stark erweitern, daß neue persönliche und gesellschaftliche Dispositive sich durchzusetzen vermögen.

IV. Paradoxien im Transit

Alles kehrt wieder, aber nichts kommt zurück. An seinem Ende scheint das zwanzigste Jahrhundert sich in seinen Anfängen noch einmal zu begegnen. Mit Eruptionen der Gewalt hatte uns der Nationalismus in die Hölle des Chauvinismus geschleudert, aus der wir Deutschen uns erst nach verzweifelten Mühen befreit glauben. Ob diese Befreiung von Dauer sein wird, steht noch dahin. Nichts ist endgültig entschieden, solange die Demokratie zerbrechlich bleibt. „Für den Menschen gibt es nichts, das ihm fremder wäre als er selbst“, sagt uns der französische Sozialphilosoph Edgar Morin. Die Implosion des sowjetischen Imperiums hat Fremdheitsgefühle explodieren lassen. Die Gebärde des Triumphs der westlichen Sieger und das Gefühl der Niederlage der östlichen Verlierer ergäben, bliebe es bei dieser gemischten Unvereinbarkeit, zusammen keine perspektivische Gemeinsamkeit. Eher wüchsen daraus Konfliktpotentiale, die, würden ihre Sprengsätze freigelegt, durch die Lunte der Demagogie entzündet werden könnten.

Die Konfliktpotentiale werden als Paradoxien erlebt, als Zusammenstoß von Erfahrungen der Vertrautheit mit Ängsten vor der Veränderung. In vier solcher Paradoxien lassen sich die zentralen Dilemmata des Postkommunismus im Transit beschreiben: 1. Die neuen Gesellschaften haben sich demokratisch bislang nur schwach konstituieren können. Erst die gesellschaftlich notwendige Differenzierung wird die Kräfte freisetzen, die die Strukturen der zivilen Bürgergesellschaft prägen werden. Empfunden wird der damit verbundene Streit um politischen Einfluß und um die politische Gestaltung von der Mehrheit weniger als ein Ringen um den richtigen Weg, sondern mehr als Störung des Harmoniebedürfnisses. Dieses erste Paradoxon der jungen Reformstaaten erklärt die Schwankungen in ihren Gesellschaften zwischen Schüben von Überschwang und Lähmung. 2. Die Eigenstaatlichkeit im europäischen Osten ist ungesichert. Das zweite Paradoxon entsteht im Prozeß der einzelstaatlichen Konstituierung, die der später einsetzenden Phase der suprastaatlichen Verbindungen vorangeht. Im Zeitraffer des Um-bruchs erscheinen beide Entwicklungen fast gleichzeitig. Zudem brechen die Widersprüche der künstlich eingefrorenen Nationalismen auf und verschärfen die Widersprüche zwischen den Ethnien. 3. Die Ökonomien der Reformstaaten haben den Endpunkt ihres Kollapses noch nicht erreicht. Wurde der Staat bislang als übermächtiges Repressionsinstrument erfahren, so müssen nunmehr seine Kapazitäten auf die ökonomische Innovation hin umgebaut werden. Der Staat muß die Entstaatlichung der Gesellschaft betreiben. 4. Die sozialen Netze der Reformstaaten sind unterentwickelt. Den neuen Reformländem wird es schwer gelingen, Erwartungen der Mehrheit der Bevölkerung auf soziale Gerechtigkeit zu erfüllen, zumal die Organisierung von sozialen Interessen, etwa durch unabhängige Gewerkschaften, bis auf weiteres vorbelastet bleibt.

Diese als paradox erlebten Dilemmata folgen aus den tiefen Strukturbrüchen postkommunistischer Übergangsphasen. Sie können nicht vermieden werden; durch sie muß „hindurchgearbeitet“ werden. Mit der Schubkraft der friedlichen Revolution können in der Frühphase des gesellschaftlichen Wandels die ersten Hürden noch leicht übersprungen werden. Lassen die Kräfte der ideellen Motivation nach, weil die objektiven Hindernisse den Lauf der Ereignisse deutlich zu erschweren beginnet!, dann setzt die Phase der Desillusionierung ein. Zeitweilig drohen Rückfälle in überwunden geglaubtes Verhalten -zumal dann, wenn eingespielte Muster der Deutung aktueller Geschehnisse demagogisch den Schein von Geltung wiedererlangen können. Hier schließt sich ein fataler Kreis, weil wahrgenommene Konflikte aufgrund der gesellschaftlichen Umbrüche auf die individuelle Bereitwilligkeit stoßen können, auch verbogenen Interpretationen zu folgen. Hier ist eine der Quellen, die die Manipulationschancen von Gerücht und Einflüsterung erhöhen.Weite Regionen im Osten Europas finden sich nach dem säkularen Zerfall in anomischer Verwirrung wieder. Die Dekomposition betrifft nicht allein die notwendige Auflösung monströser Superstrukturen wie etwa den aufgesetzten falschen Internationalismus. Insoweit die soziale Identifikation mit der eigenen Nation aus diesem Prozeß hervortritt, kann sie sich als eine Form der Emanzipation dann Geltung verschaffen, wenn sie nicht vom Prozeß der demokratischen Selbstbestimmung und der vollen Anerkennung der Rechte von Minderheiten abgeschnitten wird.

Die fortschreitende Auflösung umfaßt jedoch mehr als den Zerfall des künstlich komponierten Konzepts eines Superstaates. Die UdSSR war ein Projekt -wie Jugoslawien -, das an seinen selbst-geschaffenen inneren Widersprüchen scheiterte. Sein Zerfall ist notwendig, weil seine Bauelemente hypertroph konstruiert waren. Sie waren nicht reformierbar; das haben die verschiedenen Versuche in den letzten Jahrzehnten gezeigt. Die Suche nach der nationalen Identifikation konnte durch das System der hierarchisch auf den Moskauer bzw. Belgrader Zentralismus ausgerichteten Republiken auch gewaltsam nicht länger unterdrückt werden. Am Ende brach die Architektur des Internationalismus in sich zusammen, als seine Brüchigkeit in der Phase des „Wandels durch Selbstbestimmung“ augenscheinlich wurde. Seine Integrationsfunktion hatte das suprastaatliche Konzept verloren, weil seine Strukturen auf die Lösung von Problemen inadäquat zugeschnitten waren.

Mit dem Zerfall staatlicher Strukturen insgesamt wird die Anomie der Gesellschaften offengelegt. Das Projekt der Diktatur des Proletariats hatte sich längst auf die Verstaatlichung der Gesellschaft verengt. Nach dem Ende des tödlich erkrankten kommunistischen Etatismus hob sich der Vorhang, der ihre Gesellschaften verhüllt hatte. Nur verkümmerte Reste von Strukturen untergegangener Bürgergesellschaften waren übriggeblieben. Neue soziale Bewegungen schossen aus den Kristallisationskemen der Dissidenz in den Zeiten der Umbrüche hervor. Sie mischen sich in der „Revolution in der Revolution“: im Prozeß des Werdens neuer Demokratien, der in den Prozeß des Werdens neuer Nationen fließt. Beide Fließrichtungen können sich rasch ändern, auch Strudel erzeugen. Anders als im europäischen Westen haben sich im europäischen Osten beide politischen Strömungen noch nicht voneinander geschieden.

Mögliche Ungleichzeitigkeiten der miteinander verzahnten Prozesse lösen Gefühle der Unsicherheit und der Verwirrung aus, solange sozialpsychologische Stabilisatoren ausbleiben, weil die gesellschaftlich produzierten Veränderungen fast ausschließlich individuell aufgefangen werden müssen. Soweit ein gesondertes Muster der Sozialisation im Lauf der letzten Jahrzehnte sich hat durchsetzen können, rühren die Prozesse der Veränderungen auch an die Strukturen der Persönlichkeit und werfen Probleme der tiefen Identitätsstörung auf.

Die Leitfigur der gesonderten Sozialisation in der ehemaligen UdSSR wurde „Homo sovieticus“ genannt. Sie versuchte, idealtypisch auf den „neuen Menschen“ zu zielen. Er sollte zum individuellen Muster der vergesellschafteten Form der „Pax Sovietica“ werden und sie von innen stützen. Beide Konzepte waren aufeinander bezogen und sollten sich wechselseitig fördern. Da sie jedoch beide auf fragwürdige Inhalte hin orientiert waren, demokratiefeindliche suprastaatliche Strukturen sichern wollten und zugleich die individuelle Anpassung gewalttätig durchzusetzen beabsichtigten, zerbrachen sie in dem Moment, als der Freiheitswille der Menschen die Angst vor der eigenen Selbstbestimmung besiegte. Zutrauen zu individuellem und zu gemeinsamem Handeln wurde zunächst in kleinen Gruppen entdeckt und wuchs mit dem persönlichen Mut zum gesellschaftlichen Wandel.

Als Glasnost und Perestrojka als Versuche einer nicht mehr zu rettenden Gegenwart eingesetzt wurden, erkannte eine rasch wachsende Zahl von Menschen, daß sie eine andere Zukunft gewinnen könnten, wenn sie die selbstverschuldete Unmündigkeit hinter sich ließen. Geplant als Instrumente der Modernisierung des kommunistischen Projekts, wendeten sich Glasnost und Perestrojka gegen ihren Erfinder, weil sie von einer immer größer werdenden Zahl der Menschen radikalisiert wurden. Aus einer „List der Vernunft“ wurde eine Revolution der Vernunft. Der „Homo sovieticus“, geboren in der Zeit des gespaltenen Bewußtseins, in der er dem Staat als nichtswürdiger Einzelner schon unterworfen war, bevor er ihm fast rechtlos gegenübertrat, hatte ausgespielt.

Die Metamorphosen, die bis zum „Homo politicus“ der aktiven demokratischen Bürgergesellschaft zu erarbeiten sind, werden schmerzhaft sein -auch, weil die Ablösungen von kulturell vermittelten Instanzen jener spezifischen Sozialisation, die in langer Dauer geprägt worden sind, nicht ohne harte Auseinandersetzungen erfolgen können.

Kategorial unterschieden sich die Nationalstaats-konzepte bis in das zwanzigste Jahrhundert hinein im Osten unseres Kontinents wenig. Ihr innererCharakter war autoritär oder diktatorisch dominiert. Ob Karl August Wittfogels Begriff von der „orientalischen Despotie“ weiterträgt, müßte genauer untersucht werden. Die Einflüsse des Islam haben gewiß den europäischen Osten mitgeprägt. Auch Konflikte zwischen Katholizismus, Orthodoxie und dem europäisch gefilterten Islam haben auf dem Balkan schwierige kulturelle Mischungen entstehen lassen. Allein der flüchtige Blick auf die unerhörten Kulturleistungen des Islam verbietet jedoch ein eindimensionales Urteil. Soviel scheint allerdings klar: Systemische Differenzierungen zwischen Individuum, Gesellschaft und Staat, wie sie den Westen bestimmten, verloren im Osten an Kontur. Oben und unten standen sich als schiere Antinomien gegenüber. Wesentliches Kriterium der Differenz war die Gewalt.

V. Schicksalsgemeinschaft Europa

Die „Rückkehr nach Europa“ war die Beschreibung des Weges, den SolidamoSc als erste in die Zukunft hinein zu formulieren wagte. Alle Regionen im Osten unseres Kontinents hat dieser Ruf erfaßt. Alle neuen sozialen Bewegungen dort haben sich ihn zu eigen gemacht. Er dokumentiert das Verlangen, die bedrückende Enge zu verlassen, in der man sich jahrzehntelang eingeschlossen sah. György Konrad und Milan Kundera haben vom Osten als dem „gekidnappten Kontinent“ gesprochen und vom „unglücklichen Europa“; dies sind genaue Metaphern, die die Gefahr der Selbst-isolierung bezeichnen. Aus den eisernen Gehäusen des Projekts des bürokratischen Kommunismus konnte nur entfliehen, wer die europäischen Werte als Heimat erkannte. Nur: welches Europa ist es, dem der Aufbruch gilt -das Europa der Expansion und der Konsumorientierung oder das Europa der Aufklärung und der selbstreflexiven Moderne?

Der Osten verknüpft mit seiner Ankunft im Westen hohe Erwartungen. Jan Patoöka empfand das „Elend des Sturzes im Bewußtsein der unmittelbar bevorstehenden Finsternis“ als Schmerz, der gemildert werden könne durch die „Solidarität der Unterdrückten“. Die ethische Revolution der Dissidenz, die mit der Charta 77 und mit SolidarnoSc begann, schuf die untergründige Kraft, die in die gewaltbewehrten Festungen hinein Höhlen baute. Ihre Hoffnung war, daß der Westen dem Osten mit gleicher Hoffnung begegne, mit dem Willen zu einem neuen Europa.

Noch am Vorabend der Umbrüche schien es, so Andr 6 Glucksman, als sei die Herrschaft des Totalitarismus ewig. Aber die Gegenwart hielt den Erwartungsdruck auf eine andere Zukunft nicht mehr aus. Das Prinzip der Dia-Logik -des komplexen, wechselseitigen Friedens -hatte das Prinzip der Mono-Logik -der einfachen Konfrontation -abgelöst. Wohin aber führt die Agonie der bipolaren Welt? Ist es die Agonie zum Tode oder leitet sie eine Geburt ein -und welche? Wird die Welt multipolar, wird sie unipolar?

Die großen Schismen hatten Europa, den unbestimmten Kontinent, in langen Jahrhunderten auseinandergerissen. Von hier aus haben in den beiden letzten Jahrhunderten die großen Revolutionen die Welt erschüttert. Die industrielle Moderne hat die demokratische, die soziale und die nationale Revolution beschleunigt, sie über unseren Kontinent in die Welt hinaus getrieben. In neuer Form kommt die industrielle Moderne nach Europa zurück. Der europäische Osten tritt aus den langen Schatten der Vergangenheiten, die die untergehende rote Sonne wirft, heraus. Er sucht neue Fixpunkte, um Halt zu finden im Strudel der Zeit. Kann die Wiederentdeckung der Nation den Bedarf an Orientierungen und Bindungen erfüllen, nach denen die Menschen im Angesicht der Zusammenbrüche verlangen? Muß der „Weg zurück nach Europa“ über die Nation gehen?

György Konrad charakterisiert daraus entstehende Gefahren: „Identität verspricht Hochmut“. Und doch -Umwege, an der Identitätssuche vorbei, sind versperrt. Nur, die Suche nach der Identität darf nicht zur Sucht nach nationaler Überheblichkeit werden. Kulturelle Autonomie, das Selbstgewißwerden der Sprache, der Geschichte, der eigenen Region sind unverzichtbare Bedingungen, um individuell mithalten zu können in der sich beschleunigenden Geschwindigkeit der anstehenden Modemisierungsprozesse.

Nationalismus kann auch eindringen durch die Poren der Verletztheitsgefühle. Demütigungen haben die Diktaturen des Faschismus und des Kommunismus allen Völkern zugefügt. Die Wunden schmerzen noch. Potentiale nationaler Unruhe finden sich verstreut über unseren Kontinent, zumal im ungefestigten Osten. Verführerisch für die Vereinfacher in der classe politique: Sind Gefühle nationaler Würde verletzt, dann wächst die Sehnsucht nach Anerkennung. Im Kampf um die politische Macht kann das Schüren des Nationalismus zur billigsten Waffe verkommen.

Welchen Weg wird nun Europa gehen? Den in die Sackgasse des autistischen Nationalismus? Den indas offene Feld der kreativen Begegnungen der Kulturen und Nationen? Den in die Vertiefung der Spaltungen unseres Kontinents oder den in ihre Überwindung? Die Möglichkeiten, der Zukunft eine feste Gestalt zu geben, sind weitgespannt wie selten.

Die europäische Identität ist die Erfahrung des Widerspruchs, der nicht endenden Spannung zwischen Einheit und Vielheit, zwischen Universalismus und Partikularismus. Der Post-Kommunismus betritt die Bühne des Nationalismus; der Post-Nationalismus will die Bühne des Konsumismus nicht verlassen. Wir begegnen der Kontinuität unserer Brüche in den immer neuen Versuchen, die Brüche produktiv umzuarbeiten in eine Reformperspektive.

Im Siegeszug der universellen Europäisierung wurden partikulare Kulturen eingeebnet. In ihrem Untergang schien ihre Vergeblichkeit, die Unverwechselbarkeit ihrer Ästhetik, noch einmal auf. Der Nationalismus tritt in der Pose des Retters des Partikularismus auf und ist doch dessen grausamster Zerstörer. Die Gewalt ist sein Instrument, das der Nationalismus mit seiner Empfindungslosigkeit gegenüber der Würde anderer Nationen einsetzt. Er überhöht sich, weil er sich nur bestätigen kann, wenn er andere erniedrigt. Die letzte Grenze des Nationalismus will Mischungen beenden. Das Ende des Nationalismus wird Mischungen entgrenzen. Wo Ethnos chauvinistisch verformt wird, ist Demos verloren.

Tatjana Tolstaja beobachtet im europäischen Westen das allmähliche Verschwinden der Geschichte in der Zivilisation und im europäischen Osten die Wiederkehr der Geschichte ohne Zivilisation. Ihre Begegnungen kreuzen sich in den Verschiebungen zwischen der Prä-Moderne und der Post-Moderne. Was werden die Begegnungen kreieren? Neue Grenzen , neue Grenzüberschreitungen? Einander wiederstrebende politische Konzeptionen?

Am Anfang der Konstituierung der politischen Identität Europa steht das Bewußtsein der europäischen Kulturen von ihrer Identität in ihrer Nicht-Identität. Lange bevor Europa als politische Einheit in seinen politischen Vielheiten zusammenwachsen wird, werden Toleranz, Autonomie und Gegenlauf der Kulturen die selbstbehaupteten Fundamente sein, die die neuen Konstruktionen bauen und festigen und immer wieder ändern werden. Der Engel der Geschichte, den Walter Benjamin voller Todesahnung die Zukunft erkennen ließ, mag seine von Trauer schwer gewordenen Flügel ein letztes Mal dem Sturm der Zeit öffnen. Mag sein, dieses Mal ist die Hoffnung stärker.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Gert Weisskirchen, M. A., geb. 1944; Mitglied der SPD-Bundestagsfraktion; Professor für Sozialpädagogik an der Fachhochschule für Sozialwesen, Wiesbaden; zur Zeit Lehrbeauftragter an der Humboldt-Universität Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Ein schwieriges Bündnis. Das Verhältnis sozialistischer Parteien zur Friedensbewegung in Europa, Bonn 1988; Paradoxien im Transit, in: Frankfurter Hefte/Die Neue Gesellschaft, (1992) 5; Ambivalenzen der Entspannungspolitik, in: Deutschland Archiv, (1992) 5.