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Polens Teilnahme an der Invasion in der Tschechoslowakei 1968 | APuZ 36/1992 | bpb.de

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APuZ 36/1992 Die Unterdrückung des Prager Frühlings Sowjetische Parteiherrschaft und Prager Frühling 1968 Polens Teilnahme an der Invasion in der Tschechoslowakei 1968 Die DDR und die Besetzung der Tschechoslowakei am 21. August 1968 Die DDR-Bevölkerang und der Prager Frühling

Polens Teilnahme an der Invasion in der Tschechoslowakei 1968

Feliks Tych

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die polnische Beteiligung am Einmarsch von fünf Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei hatte eher politische als militärische Bedeutung. Der polnische Parteiführer Wladyslaw Gomulka war neben Walter Ulbricht außerhalb der Sowjetunion der Hauptinitiator der Intervention. Für die Sowjetunion war der polnische militärische Beitrag nicht notwendig. Polens Zustimmung, zumindest aber seine Neutralität waren jedoch eine unerläßliche Bedingung. Die Sowjetunion hätte nicht gleichzeitig Polen und die Tschechoslowakei besetzen können, wenn es in Polen eine analoge Freiheitsbewegung wie bei seinem südlichen Nachbarn gegeben hätte. Daher trägt die damalige polnische Parteiführung eine besondere Verantwortung dafür, daß es überhaupt zur Intervention kam. Der Sowjetunion erlaubte die polnische Beteiligung an dieser die Normen des Völkerrechts verletzenden Aggression, die Verantwortung hierfür auch auf die anderen vier Staaten des Warschauer Paktes zu verteilen. Polens Teilnahme an der Intervention in der Tschechoslowakei sowie die ihr vorangehende brutale Unterdrückung der demokratischen Bewegung im eigenen Lande im Frühjahr 1968 ließen das politische Klima im Lande für viele Jahre erstarren.

I. Die polnische Armee im Unternehmen „Donau“

Am 20. August 1968 erhielten Einheiten des polnischen Heeres, die als Zweite Armee eigens zur Durchführung dieser Operation zusammengestellt worden waren, den Befehl, die polnisch-tschechische Grenze zu überschreiten Dieser Befehl kam für die bereits seit einer Reihe von Wochen entlang der polnisch-tschechischen Grenze stationierten Divisionen nicht unerwartet; nur der genaue Zeitpunkt der Aktion war nicht bekannt. Nach einem verschlüsselten Telegramm, das der polnische Generalstab bereits am 29. Juli den Kommandeuren der Divisionen und selbständigen Einheiten übermittelte, die an diesem Unternehmen beteiligt waren, sollte die Zweite Armee zusammen mit den Truppen der Sowjetunion, Bulgariens, Ungarns und der DDR den Kommunisten in der Tschechoslowakei “ internationalistische Hilfe“ bei der Unterdrückung der „Konterrevolution“ und bei der Wiederherstellung der „Ordnung“ leisten. So begann das Unternehmen „Donau“ -die erste und einzige militärische Operation des Warschauer Paktes, die sich jedoch nicht gegen die Armeen der „imperialistischen Länder“ richtete, vor denen der Pakt angeblich schützen sollte, sondern gegen ein Land, das ihm selbst angehörte. „Fallschirmjäger öffneten ungehindert die Grenzübergänge und besetzten die Po-sten der tschechoslowakischen Wachmannschaften. Eine gewaltige Lawine aus Menschen und Stahl rollte an. Die Kolonnen der taktischen Verbände und selbständigen Einheiten stürzten sich auf das Territorium der Tschechoslowakei. In dieser Nacht begleitete uns in der Luft das Dröhnen der schweren Transportmaschinen der sowjetischen Armee, die Gerät und Truppen nach Süden brachten.“ Der Hauptangriff des Unternehmens „Donau“ erfolgte von seiten der Grenze der Tschechoslowakei mit Polen und der DDR, während ein Unterstützungsangriff vom Gebiet der Ukraine und Un-garns aus geführt wurde. Die polnische Zweite Armee schlug von Schlesien aus zu. Ihre Stärke betrug 26000 Mann (knapp zehn Prozent des Personalbestandes der Polnischen Armee), 600 Panzer, 450 Geschütze verschiedenen Typs, 3000 Fahrzeuge, drei Hubschrauber-Regimenter und zwei Geschwader Verbindungsflugzeuge. Sie besetzte 20000 qkm tschechoslowakischen Territoriums westlich und nordwestlich von Prag, von Mlada Boleslav in Richtung auf Ostrava. Dieses Gebiet umfaßte insgesamt 18 Kreise mit Städten wie JTcin, Hradec Kralove und Pardubice, d. h. etwa 16 Prozent des tschechoslowakischen Staats-gebietes Wenn man in Erwägung zieht, daß die erste Welle aller fünf Invasionsarmeen 200000-250000 Soldaten und etwa 4200 Panzer zählte, dann betrug der polnische Anteil 10-15 Prozent aller zu Beginn der Invasion eingesetzten Kräfte.

Es handelte sich demnach nicht nur um eine symbolische Beteiligung, doch war sie für die Sowjetarmee auch nicht notwendig, um die ganze Operation durchzuführen; dazu verfügte sie über genügend eigene Kräfte. Die Teilnahme anderer Armeen des Warschauer Paktes war rein politisch bedingt. Einerseits sollte sie den „internationalistischen“ Charakter des Unternehmens betonen und seine Interpretation als Großmachtaktion der Sowjetunion unmöglich machen, andererseits sollte sie die Verantwortung für die Invasion gewissermaßen gleichmäßig verteilen und aus den vier übrigen Ländern Komplizen dieses politischen Verbrechens machen, das die Normen des Völkerrechts verletzte, und sie damit noch enger an die Sowjetunion binden.

Wenn die sowjetische politische und militärische Führung ihre Absicht nicht voll verwirklichen konnte, ist das allein auf das Verhalten der tschechoslowakischen Seite zurückzuführen, der zu verdanken war, daß es nicht zu einem gewaltigen Blutvergießen kam. Das bemerkten auch die Kommandeure der polnischen Einheiten, die an der Besetzung teilnahmen: „Die Tschechen verhielten sich großartig. Sie bewiesen die höchste Klugheit, die jedes Volk in einer ähnlichen Situation aufbringen sollte. Ihr Verhalten war bewundernswert. Alle Truppen, die in die Tschechoslowakei einmarschierten, waren so stark indoktriniert, daß man, ohne mit der Wimper zu zucken, auf dieses Volk und seine Armee geschossen hätte, und in dieser Situation wären die Tschechen ohne jede Chance gewesen (...) Die Tschechen überraschten durch ihr Verhalten vor allem die sowjetische Seite, die gänzlich aus der Fassung gebracht wurde, da sie doch alle Anstalten für eine Generalabrechnung mit der Tschechoslowakei getroffen hatte. Die Russen wären wahrscheinlich zufrieden gewesen, hätten sie sich mit den Tschechen etwas schlagen können und wenn es ihnen gelungen wäre, die Hände der Soldaten der anderen Armeen des War-schauer Paktes mit Blut zu besudeln.“

Die moralisch-politische Hypothek der polnischen Teilnahme am Einmarsch in die Tschechoslowakei 1968 ist zusätzlich dadurch belastet, daß Polen schon einmal, 30 Jahre vorher, der Juniorpartner einer anderen Invasion in dieses Land war: Beim Einmarsch von Hitlers Wehrmacht in die Tschechoslowakei im Oktober 1938 hatte Polen den tschechischen Teil des Teschener Schlesiens, das Olsa-Gebiet mit seiner starken polnischen Minderheit, annektiert. Nach Aussagen von Kommandeuren der Zweiten Armee erinnerten die Tschechen in den von polnischen Truppen besetzten Gebieten ihre Besatzer häufig an den Kasus von 1938

Die Zweite Armee wurde von Generaloberst Florian Siwicki geführt, dem späteren Verteidigungs-minister, damals Kommandeur des Schlesischen Wehrbereichs. Die Truppen dieses Wehrbereichs wurden aus zwei Gründen als Stamm der Zweiten Armee ausgewählt: Es war der stärkste polnische Wehrbereich und er befand sich in unmittelbarer Nähe des künftigen Operationsgebietes. Für das Unternehmen „Donau“ wurde die Zweite Armee durch Einheiten aus anderen Wehrbereichen verstärkt, u. a. durch Luftstreitkräfte, ein Panzerregiment aus Elbing (Elblqg) und das selbständige Sturmbataillon (Fallschirmjäger) der sechsten Pommerschen Luftlandedivision aus Krakau mit ungefähr 700 Mannschaften, Unteroffizieren und Offizieren

Nach Aussage von General Siwicki waren die Vorbereitungen zum Unternehmen „Donau“ bereits im April 1968 angelaufen Am 20. September 1968 erklärte er auf einer Parteiversammlung der Operationsgruppe der Zweiten Armee: „Die Aufgabe, die wir gegenwärtig noch ausführen, wurde uns eigentlich bereits im April gestellt. Damals begannen wir mit der Ausarbeitung von Plänen für den Einsatz unserer Truppen gegen die revisionistischen Kräfte, die sich in der Tschechoslowakei ausbreiteten. Seit dieser Zeit wurden die Pläne wiederholt geändert. Die politische Spannungskurve stieg oder fiel. So war es bis zum 28. Juli. Erst dann wurden die taktischen Verbände in ihre Ausgangsgebiete geführt. Während der gesamten Aufenthaltsdauer in diesen Gebieten blieb die Spannungskurve sehr hoch, und es war nur eine Frage der Zeit, wann der Einmarsch in die Tschechoslowakei erfolgte.“

Neben Stabs-und Operationsvorbereitungen gingen dem Unternehmen „Donau“ im Juni/Juli 1968 große Truppenübungen voraus, die zum einen die tschechoslowakische Führung warnen und den Demokratisierungsprozeß hemmen, zum andern aber auch die geplante Invasion militärisch vorbereiten sollten. Schon Ende Mai/Anfang Juni waren in Polen sowjetische Militärverbände erschienen, die sich auf eine Invasion von seiten der polnischen Grenze einstellten

Das erste größere gemeinsame militärische Unternehmen waren Übungen des Warschauer Paktes auf dem Gebiet der Tschechoslowakei unter dem Decknamen „Schumava“ vom 20. bis 30. Juni 1968. Marschall Iwan Jakubowskij, Oberbefehls-haber der Vereinigten Streitkräfte des War-schauer Paktes, bezeichnete als das formale Ziel dieser Übungen die „Durchführung von Kampfhandlungen der Frontverbände der verbündeten Armeen im Anfangsstadium eines Krieges“

Die Stäbe der künftigen Interventionsarmeen machten sich damals näher mit dem Terrain der geplanten Operation vertraut, präzisierten und korrigierten die Angaben über Stärke und Dislozierung der Einheiten der Tschechoslowakischen Volksarmee (TSVA). In der Nacht vom 28. auf den 29. Juli begannen weitere Übungen, doch diesmal bereits ohne Beteiligung der TSVA. Sie trugen den Decknamen „Bewölkter Sommer 68“ und sollten direkt auf das Unternehmen „Donau“ vorbereiten An diesen Übungen nahmen die polnischen Einheiten bereits als Zweite Armee unter dem Kommando von General Siwicki teil. Im übrigen wurde fast der gesamte Juli für Übungen verwendet: Vom 11. bis 19. Juli fanden Stabsübungen von Streitkräften der UdSSR, Polens und der DDR mit dem Decknamen „Norden“ unter Führung von Admiral Sergej Gorschkow statt; vom 23. Juli bis 10. August wurden in der westlichen Sowjetunion Logistikübungen unter Führung von Armeegeneral Sergej Mariachin abgehalten; in der Schlußphase nahmen daran auch ausgewählte Stäbe und Einheiten der polnischen Armee und der NVA unter Führung von General Walter Allenstein teil. Gleichzeitig fanden in der letzten Juliwoche Manöver von Luftabwehrverbänden unter dem Decknamen „Himmelsschild“ statt, die Marschall Pawel Batitzkij leitete. Und schließlich wurden vom 10. bis 20. August im Südteil der DDR, in Südpolen und der Westukraine, also an der gesamten Nord-und Westgrenze der Tschechoslowakei, Übungen von Femmeldetruppen unter dem Decknamen „Äther“ abgehalten, an denen Stäbe und operative Verbände der UdSSR, Polens und der DDR teilnahmen

Dennoch verlief das Unternehmen „Donau“ selbst nicht sehr präzise, und es gab eine Reihe von organisatorischen Schwächen, vor allem bei der Logistik. Die polnische Armee war hier weniger betroffen, die sowjetische dafür um so mehr. Im operativen Sinn diente das Unternehmen „Donau“ vor allem dazu, a) die Einheiten der TSVA zu blockieren, b) sämtliche Formen eines aktiven Widerstands gegen die Intervention zu beseitigen, u. a. auch die zahlreichen Rundfunkstationen, die Sendungen gegen die Besatzer ausstrahlten, sowie andere Zentren, die Aufrufe zum aktiven oder passiven Widerstand verbreiteten, und c) diejenigen Kräfte zu unterstützen, die die Herrschaft der Kommunistischen Partei in der Tschechoslowakei wiederherstellen wollten.

Die Interventionstruppen hatten hier klare Anweisungen: „Gegenüber loyalen Personen war Herzlichkeit Pflicht. Für Feinde des Sozialismus hatten wir Feinde zu sein. Die Garnisonen der TSVA sollten planmäßig isoliert, feindliche militärische Einheiten entwaffnet, die Soldaten nach Hause entlassen und Offiziere, die Widerstand leisteten, verhaftet werden. Wenn tschechoslowakische Truppen uns den Marschweg in unser Ziel-gebiet versperren sollten, war ihnen ein Ultimatum zu stellen: 15 Minuten, um den Weg freizugeben. Hierzu war jeder Führer einer Marschkolonne verpflichtet. Im Falle einer Weigerung konnte er losschlagen, entwaffnen und hatte die Pflicht weiterzufahren. Es lag bereits in der Kompetenz eines Bataillonskommandeurs, ob für den Fall, daß man auf Widerstand stieß, Waffen gebraucht wurden. Hingegen im Fall von Waffen-gebrauch gegen unsere Truppen konnte ein Zugführer den Feuerbefehl geben.“

Trotz einer ostentativ feindlichen Haltung gegenüber den Interventionstruppen sowohl seitens der TSVA als auch der Bevölkerung (Barrikaden wurden errichtet, Frauen und Kinder stellten sich als lebendes Hindernis in den Weg, Wegweiser wurden in die falsche Richtung gedreht, Soldaten wurden Lebensmittel und Wasser verweigert, feindselige Trafisparente und Maueraufschriften wurden angebracht usw.) kam es in dem von polnischen Truppen besetzten Gebiet nirgendwo zu einer offenen Konfrontation. Auf beiden Seiten gab es nur wenige Todesopfer, die eher die Folge von Unfällen als von Auseinandersetzungen waren. So feuerte z. B. ein betrunkener polnischer Soldat am 7. September 1968 in Jicin in eine Menschengruppe, die sich auf der Straße versammelt hatte, wobei er zwei Personen tötete und drei verletzte Es sind jedoch auch Fälle bekannt, wonach polnische Einheiten von tschechoslowaki-scher Seite beschossen wurden, aber nach Aussagen polnischer Kommandeure geschah so etwas weitaus häufiger gegenüber sowjetischen Truppen Nach einem Bericht von General Siwicki gab es einige Einheiten der TSVA (er nennt konkret die 13. Panzerdivision), die sich -„nennen wir es einmal so -herausfordernd verhielten“, und es waren zusätzliche Kräfte nötig, um sie zu blockieren Nach Generaloberst Sawczuk war es jedoch schon am ersten Invasionstag „nötig, einige Marschkolonnen durch Panzerkompanien zu verstärken, und das deswegen, weil der Widerstand der Bevölkerung mit jedem Augenblick zu-nahm. Besonders in Trutnov und Nachod stellten wir das fest.“

Die sowjetische militärische Führung sah bereits am 30. August das Unternehmen „Donau“ als voll gelungen an. An diesem Tag sandte Marschall Iwan Jakubowskij an General Jaruzelski ein chiffriertes Telegramm, in dem es hieß: „Die verbündeten Armeen haben ehrenvoll ihre Aufgabe erfüllt, dem tschechoslowakischen Volk Hilfe bei der Verteidigung des Sozialismus gegen die Konterrevolution zu bringen; sie haben einen hohen Grad an Organisation, Disziplin und Verständnis für ihre internationalistische Pflicht bewiesen.“ Das bewog General Jaruzelski, am nächsten Tag der Zweiten Armee eine Anweisung zu schicken, in der er befahl, die bisherigen Aufgaben zu erfüllen, aber auch betonte, daß das Hauptziel der Aktion bereits erreicht sei: „Die Maßnahmen der verbündeten Armeen auf dem Gebiet der CSSR haben die Bestrebungen der konterrevolutionären Kräfte vereitelt, dieses Bruderland aus der Gemeinschaft der sozialistischen Staaten zu reißen.“ 18

Die polnischen Truppen blieben noch bis zum November 1968 auf tschechoslowakischem Gebiet. Danach blieb dort nur noch ein „ständiges Kontingent“ der Sowjetarmee stationiert, dessen letzte Einheiten die Tschechoslowakei erst fast 25 Jahre später verließen.

Die Intervention löste keines der Probleme, die zum „Prager Frühling“ geführt hatten und eine Reaktion auf die Insuffizienz des Systems waren. Sie verlängerte seine Agonie lediglich um 21 Jahre. Die militärische Aktion kam hier zweifellos einem konkreten Plan politischer Handlungsweisen zuvor, und die Effizienz der Militärmaschine gewann die Oberhand über die elementare politische Kultur. Die politischen Maßnahmen waren von kolossalen Mißgriffen und Fehlern begleitet, beispielsweise die anfängliche Verhaftung der tschechischen Führung, der die sowjetische Seite sicherlich das gleiche Schicksal wie Imre Nagy zugedacht hatte. Diesen Schritt mußte sie dann peinlicher-weise wieder rückgängig machen. All das kompromittierte die polnische Beteiligung an der Invasion nur noch mehr.

Es stellt sich natürlich die Frage, ob die polnische Armee am Unternehmen „Donau“ teilnehmen mußte. Das war selbstverständlich keine Entscheidung der militärischen Führung, sondern geschah in Ausführung der Entscheidungen, die die polnische politische Führung gefällt hatte. Doch hätte das polnische Politbüro nicht, wie das die Rumänen taten, eine Beteiligung an der bewaffneten Intervention in der Tschechoslowakei ablehnen können? Polen war von der Sowjetunion aus verschiedenen Gründen objektiver Natur zweifellos weitaus abhängiger, beispielsweise durch die sowjetische Garantie der polnischen Westgrenze oder weil es für die Sowjetunion strategische Bedeutung hatte, da es auf dem kürzesten Weg nach Deutschland lag. Rumänien war hier in einer anderen Situation. Andererseits hätte Polen für eine Verweigerung seiner Teilnahme an der Intervention mehr Voraussetzungen gehabt als Rumänien: Das sozialistische Regime in Polen war wesentlich weniger repressiv als das in Rumänien, und die Tschechen und Slowaken hatten sich von den gleichen Motiven zu ihrem „Prager Frühling“ inspirieren lassen, die zwölf Jahre zuvor zum „Polnischen Oktober“ geführt hatten. Darüber hinaus stand in Polen immer noch derselbe politische Führer an der Spitze der Partei, den alle mit dem „Polnischen Oktober“ in Zusammenhang brachten: Wladyslaw Gomulka. Warum kam es also anders?

II. Der politische Hintergrund der polnischen Teilnahme an der Intervention

Polen hätte 1968 die Tschechoslowakei retten können, wenn die polnische politische Führung das gewollt hätte: Eine gleichzeitige sowjetische Intervention und Invasion in Polen und der Tschechoslowakei wäre kaum vorstellbar gewesen. Juliusz Mieroszewski, ein Publizist der bekannten polnischen Emigrationszeitschrift „Kultura“ (Paris), bemerkte bereits damals: „Hätte Polen einen Führer gehabt, hinter dem das Volk gestanden hätte wie hinter Duböek, hätten sich die Russen nicht für eine Intervention entschieden (.. -.) Wenn die Reformbewegung Polen ebenso wie die Tschechoslowakei erfaßt hätte, wären die Tage des Stalinismus in Osteuropa buchstäblich gezählt gewesen.“

Das Problem bestand jedoch darin, daß sich die damalige politische Führung unter Gomulka der Intervention in der Tschechoslowakei nicht nur nicht widersetzte oder hier zumindest einen so gemäßigten Standpunkt einnahm wie Janos Kadar, sondern daß sie im Gegenteil geradezu darauf drängte.

Als sich Alexander Duböek am 7. Februar 1968 mit Gomulka in Ostrava traf und in einem Gespräch unter vier Augen versuchte, seinen polnischen Partner zu überzeugen, daß die tschechoslowakischen Reformen sich weder gegen den Sozialismus noch gegen die Gemeinschaft der sozialistischen Staaten richteten, sondern nur den Sozialismus wiederherstellen sollten, stieß er bei Gomulka auf eine Mauer der Ablehnung und einen völligen Mangel an Verständnis

Gomulka war neben Ulbricht außerhalb der Sowjetunion der Hauptverfechter einer Intervention in der Tschechoslowakei und begann zusammen mit ihm -zumindest seit dem Treffen der Führer der Sowjetunion, der DDR, Polens, Ungarns, Bulgariens und der Tschechoslowakei am 23. März 1968 in Dresden -, die sowjetische Führung zu überzeugen, daß die Unterdrückung des tschechoslowakischen Experiments im Interesse des ganzen Ostblocks läge. Beide waren damals die kommunistischen „Veteranen“ der War-schauer-Pakt-Staaten und ihre Ansicht galt in dieser Sache viel. Doch Ulbrichts Unterstützung hatte die sowjetische Führung nicht nötig, während eine Unterstützung der Intervention von seiten Gomulkas eine unerläßliche Bedingung für die Durchführung der gesamten Operation war. Deshalb ruht auch auf ihm die Hauptverantwortung dafür, daß das Unternehmen „Donau“ überhaupt stattfand.

Bereits Mitte April 1968 hatte Gomulka in einem Gespräch mit dem sowjetischen Botschafter in Warschau, Averkij Aristov, die Ansicht geäußert, daß die Lage in der Tschechoslowakei dringend eine Intervention erfordere; denn am 17. April in­ formierte Aristov sein Außenministerium: „Gomulka sagte mir, daß dort bereits ein Prozeß der Umgestaltung der sozialistischen Tschechoslowakei in eine bürgerliche Republik eingesetzt habe. Unsere sofortige Intervention sei nötig, da man sich in einer Situation, in der in der Tschechoslowakei bereits damit begonnen worden sei, konterrevolutionäre Pläne zu verwirklichen, nicht wie ein gleichgültiger Beobachter verhalten könne“

Was hatte Gomulka, dem 1956 als einzigem Politiker im gesamten Ostblock -mit einer Rückkehr zum Privateigentum in der Landwirtschaft und mit der Einführung eines begrenzten ideologischen Pluralismus -ein struktureller Durchbruch im Entstalinisierungsprozeß gelungen war, zu einem so entschlossenen Gegner der tschechoslowakischen Reformen werden lassen? Dafür gab es mindestens drei Gründe: 1. Umstände doktrinärer Natur: Die Alleinherrschaft der kommunistischen Partei und ihr politisches Monopol waren für Gomulka stets ein Dogma, das er durch die tschechoslowakische Entwicklung gefährdet sah. 2. Gomulkas antideutsche Komplexe: Er befürchtete eine Bedrohung der „Südflanke“ Polens, zu der es hätte kommen können, wäre die Tschechoslowakei vom Ostblock abgefallen. Er war höchst beunruhigt über die Versuche der Tschechoslowakei, ihre Beziehungen zur Bundesrepublik zu normalisieren. Diese Normalisierungsversuche (Polen unternahm ähnliche Schritte bekanntlich erst zwei Jahre später) hatten zwar noch unter Novotny, also vor dem „Prager Frühling“, begonnen und konnten als Begründung für eine militärische Intervention allein nicht ausreichen, aber jetzt häuften sich nach seiner Meinung alle Gefahren. Neben Walter Ulbricht war Gomulka aus verständlichen Gründen (Garantien für den Bestand der polnischen Grenze) am meisten an der Erhaltung des europäischen Status quo interessiert. Es ist bemerkenswert, daß Gomulka die Notwendigkeit der militärischen Intervention in der Tschechoslowakei gegenüber der polnischen Öffentlichkeit hauptsächlich mit Argumenten aus diesem Bereich begründete: Die tschechoslowakische Führung habe eine Bresche in die bisher festgefügte Mauer der sozialistischen Staaten gegen den Imperialismus und insbesondere gegen den deutschen Revanchismus geschlagen. Es liege im Interesse der polnischen Staatsräson, den Status quo in Europa zu erhalten. Das führte er auch in seiner Rede anläßlich des zentralen Erntefestes in Warschau am 8. September 1968 aus: „Die ganze Welt weiß, daß es eines der obersten Ziele der Politik aller Regierungen Westdeutschlands war und ist, die bestehenden Staatsgrenzen Polens zu zerstören und den dritten Teil des polnischen Staatsterritoriums an Deutschland anzuschließen. (...) Das Streben nach Beseitigung des Status quo in Europa, nach Streichung der Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs zugunsten des Imperialismus, das ist eine Bedrohung des Friedens. (...) In den letzten Monaten hat diese Gefahr bestanden. Es bestand die konkrete Drohung, die Tschechoslowakei aus den Reihen der Staaten des Warschauer Paktes zu reißen. Um das nicht zuzulassen, war es notwendig, sowjetische, polnische, ungarische und bulgarische Streitkräfte (die Beteiligung der NVA an der Invasion verschwieg Gomulka -F. T.) auf das Territorium der verbündeten Tschechoslowakei zu führen. (...) Es gab keine andere Alternative.“

3. Die innenpolitische Situation in Polen: Gomulka sah sich selbst und seine Führungsrolle sowohl von seiten der demokratischen Opposition innerhalb und außerhalb der Partei als auch und vor allem von seiten des faschistoiden nationalistischen Parteiflügels bedroht, von der sogenannten „Partisanen-Fraktion“, die der Innenminister General Mieczyslaw Moczar anführte.

In der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) koexistierten drei Richtungen, die sich einen unablässigen, höchst verbissenen Kampf um Schlüsselpositionen lieferten. Einerseits gab es die verkrustete Parteiführung unter dem autoritären Gomulka, andererseits die Reformer, die schon seit 1956 die Ideen des „Polnischen Oktobers“ weiterentwickeln wollten, und endlich gab es den eben genannten dynamischen faschistoiden Flügel der Nationalkommunisten. Seit etwa 1962 läßt sich eine erfolgreiche Offensive der letztgenannten Gruppe feststellen, die ihre Vertreter in politisch sensible und zumeist auch lukrative Bereiche wie Parteiapparat, Medien, Diplomatie, Militär oder Massenorganisationen einschleuste, was zweifellos dadurch erleichtert wurde, daß Moczar mit dem Innenministerium -oder anders dem Ministerium für Staatssicherheit -über ein allmächtiges Instrument verfügte. Aller Wahrscheinlichkeit nach war es 1966 zu einem taktischen Bündnis zwischen der ersten und dritten Richtung gegen die Reformer gekommen, aber seit 1968 war die Gomulka-Gruppe bereits eindeutig ein politischer Gefangener der „Partisanen“.

Mit seiner Entscheidung für eine Intervention in der Tschechoslowakei wollte Gomulka zwei Probleme auf einmal lösen: die innere wie äußere Bedrohung seiner politischen Führung neutralisieren und seine politische Position in den Augen der sowjetischen Führung stärken.

In Polen herrschte infolge einer seit 1965 festzustellenden Rezession und einer schon seit 1957 bemerkbaren Regression des Demokratisierungsprozesses eine latente Unzufriedenheit, die seit Anfang 1968 unter dem Einfluß der tschechischen Ereignisse stärker spürbar wurde. Am deutlichsten zeigte sie sich in der demokratischen Massenbewegung unter den Studenten im März 1968, die von vielen Solidaritätsbekundungen bekannter Intellektueller mit und ohne Parteibuch begleitet war. Dieser Protest und seine brutale Unterdrückung sind als „Märzereignisse“ bekannt geworden.

Gomulkas Regierung, die unfähig war, selbst im Rahmen der Autonomie, die die einzelnen Staaten des Warschauer Paktes besaßen, irgendwelche neuen Lösungen zu finden, stand den Problemen, die das System immer wieder hervorbrachte, ratlos gegenüber. Symptome ökonomischer Insuffizienz, Warenmangel auf dem Markt und keine Aussichten auf eine rasche Verbesserung der materiellen Lage des größten Teils der Bevölkerung riefen Krisenerscheinungen hervor, die zu einer Explosion führen konnten.

Das Bewußtsein, daß die Gesellschaft die Unfähigkeit des Systems immer schwerer ertrug, war bei allen Strömungen innerhalb der regierenden Partei vorhanden, aber jede hatte eine andere Antwort auf die angewachsenen sozialen Probleme. Die sogenannten Revisionisten wollten das System reformieren und auch demokratisieren, aber gleichzeitig wollten sie etwas Unmögliches: die Utopie bewahren. Die faschistoide „Partisanenfraktion“ dachte nicht Systemveränderungen, sondern hauptsächlich an die Stärkung der eigenen Position in der Machtelite, der politischen Klasse. Ihrer Ansicht nach hatten die bestehenden Schwierigkeiten keinen Strukturcharakter, sondern waren eher Erscheinungsformen eines Geisteszustands, einer Krankheit, die sich erfolgreich durch eine Dosis Nationalismus und Rassismus sowie die Entfernung der „Fremden“, d. h.der Juden, kurieren ließ. Gomulka dagegen befürchtete vor allem, daß die durch die Perspektivlosigkeit frustrierten Massen sich der Kontrolle von Partei und Staat entziehen könnten, was in Verbindung mit dem Ferment unter den Intellektuellen unberechenbare Folgen für das System und -wie er meinte -auch für Polen haben würde. Für besonders bedrohlich hielten die beiden letztgenannten Fraktionen alle Forderungen und Reformmaßnahmen, die sich immer noch im Rahmen des Systems hielten und sich auf den Marxismus und die sozialistische Ideologie beriefen Daher beobachtete man auch mit einer derartigen Beunruhigung die Evolution der tschechischen Partei und fürchtete ihren Einfluß auf die Situation in Polen. Im April 1968 war auf der Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees (ZK) der PVAP offen davon die Rede, daß der Boden für die Polen im März drohende „Konterrevolution“ von „Parteirevisionisten“ vorbereitet worden sei, die sich von der Entwicklung der Ereignisse in der Tschechoslowakei hätten inspirieren lassen

Vergleicht man den Ablauf der Ereignisse in Polen und in der Tschechoslowakei, so wird deutlich, daß die Demokratisierungsbewegung in der Anfangsphase ähnlich verlief: Die ersten Impulse kamen aus Intellektuellen-und Studentenkreisen. In der Tschechoslowakei erhielt die Bewegung jedoch erst eine Beschleunigung, als Reformer in der regierenden Partei sie unterstützten. Diese Entwicklung wurde in Polen von der gegen die Reformer gerichteten Mehrheit im Parteiapparat sehr aufmerksam verfolgt. Auch hier gab es -wie bereits erwähnt -innerhalb der Partei Kräfte, die bereit waren, eine demokratische Bewegung zu fördern, was die Verteidiger des Anden Regime sehr wohl wußten. Gerade das aber wollten sie verhindern und unternahmen daher die notwendigen Schritte, um die Reformer so schnell wie möglich von ihren einflußreichen Posten in den Medien, im Parteiapparat, an den Universitäten und in der Verwaltung zu entfernen. Ihrer Meinung nach reagierte Gomulka nicht schnell genug, und so handelten sie kurz entschlossen über seinen Kopf hinweg.

Im März 1968 wurde eine monströse politische Kampagne gegen einen Teil der alten Parteikader ausgelöst, die man des „Zionismus“ und „Revisionismus“ bezichtigte. Binnen weniger Wochen verloren im März und April 1968 allein in Warschau etwa 400 hohe Parteifunktionäre (Abteilungsleiter und stellvertretende Abteilungsleiter des ZK, Chefredakteure der Parteizeitungen und -Zeitschriften, Professoren der Parteihochschule) und Staatsbeamte (Minister, Vizeminister, Ministerialdirektoren, Direktoren der sozialistischen Wirtschaftskonzerne, Verlagsleiter, Universitätsprofessoren usw.), die fast ausschließlich jüdischer Abstammung waren, ihre Posten. Die gleiche Vorgang wiederholte sich auf Bezirksebene Das Bemerkenswerteste an dieser Kampagne war, daß sie nicht vom Politbüro oder ZK-Sekretariat ausgelöst und gesteuert wurde, sondern von informellen Gremien, die sich aus Vertretern des Innenministeriums und der Bezirkskomitees der Partei -also aus Exponenten der neuen Mittelklasse -zusammensetzten. Sie wollten die Parteiführung vor vollendete Tatsachen stellen.

Der Ton der polnischen Zeitungen erinnerte im März 1968 -mit seltenen Ausnahmen -eher an Julius Streichers „Stürmer“ als an Presseorgane von internationalistischem Zuschnitt. Wie bei einem Feuerwerk lag plötzlich die wahre Zusammensetzung der Partei im grellen Licht, von der die „altkommunistische“ Minderheit irrtümlicherweise angenommen hatte, sie wäre imstande, diese nach ihrem internationalistischen Bild zu formen. Hier rächte sich die Geschichte gewissermaßen dafür, daß die Revolution von 1944/45 eine Minderheitsrevolution war.

Selbst Gomulka war geschockt und fühlte sich bedroht, da er diese Welle nicht mehr kontrollieren konnte, und gab deshalb sein Plazet für die Kader-verschiebungen. Der faschistoide nationalistische Parteiflügel trat zum ersten Mal offen auf, und zwar mit eindeutiger Unterstützung der Moskauer KGB-Lobby und des dortigen Parteiapparats.

Erst im Juni-Juli 1968, als Gomulkas Macht wieder gefestigt schien, beendete er die kompromittierende „antizionistische“ Kampagne, die dazu geführt hatte, daß Polen von der internationalen Presse stigmatisiert worden war. Aber das eigentliche Ziel war zu dieser Zeit bereits erreicht. Die März-Gewinnler hatten die Partei fest im Griff, und die Gefahr, daß sich in Warschau der „Prager Frühling“ wiederholen würde, war vorüber. Im August 1968, als die Invasion anrollte, waren die Partei und das Land bereits völlig pazifiziert.

Es ist schwer zu sagen, ob der Einmarsch in die Tschechoslowakei nur infolge der brutalen Befriedung der Studentenbewegung und der Unruhe unter den Intellektuellen im Frühjahr 1968 sowie aufgrund der Terrorisierung der öffentlichen Meinung durch die Medien während der „antirevisionistischen“ und „antizionistischen“ Kampagne in Polen keinen Massenprotest verursachte. Die Arbeiterklasse schwieg. Kein höherer Offizier nahm aus Protest gegen die Beteiligung des polnischen Heeres an dieser schandbaren Aktion seinen Abschied. Allein unter den Studenten kam es nach der Invasion zu etwa 120 Verhaftungen Einige wenige Intellektuelle, Schriftsteller und Künstler protestierten zwar, aber ihre Proteste konnten nur in der Emigrationspresse erscheinen und gelangten so nicht zur Kenntnis der polnischen Öffentlichkeit: Die Presse wurde von der Zensur schärfer denn je kontrolliert und war außerdem -abgesehen von zwei Wochenzeitungen, dem katholischen „Tygodnik Powszechny“ und der „Polityka“, dem Blatt des Reformflügels der Partei -, bereits vollkommen von Anhängern des März-Kurses übernommen worden. Der individuelle Protest gegen die Invasion spielte sich während des zentralen Erntefestes am 8. September 1968 im größten Warschauer Stadion ab: Ryszard Siwiec aus Przemyäl zündete sich vor der Regierungstribüne selbst an, nachdem er zuvor laut gegen die Invasion protestiert hatte. Das Publikum bemerkte jedoch nichts davon, da Agenten des Regierungsschutzes ihn sofort abschirmten und aus dem Stadion schafften, während die Fernsehkameras in eine andere Richtung geschwenkt wurden. Siwiec starb fünf Tage später an den Folgen seiner Verbrennungen.

Die einzige Organisation, die praktisch die Möglichkeit besaß, öffentlich gegen die Invasion zu protestieren und mit ihrem Protest auch breite Bevölkerungskreise zu erreichen, war die katholische Kirche mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln. Doch sie entschied sich, zu schweigen. „Man wird bestimmt sehr lange nicht vergessen“, schrieb im Herbst 1968 die Pariser „Kultura“, „daß Kardinal Wyszynski in der Zeit zweier aufeinander folgender nationaler Schanden: des , zionistischen'Hexensabbats (die antisemitische Kampagne der Partei vom Frühjahr 1968 -F. T.) und der Invasion der Tschechoslowakei das Schweigen gewählt hat.“

Gomulka hatte damit gerechnet, daß seine Unterstützung der Invasion seine Position als treuer Vasall Breschnews stärken werde, aber das war nur kurze Zeit so; Die sowjetische Führung wußte sehr wohl, daß eigentlich Moczars Leute regierten. Bald darauf verlor der Erste Sekretär sein politisches Urteilsvermögen: Seine politische Entscheidung für eine militärische Intervention in der ÖSSR führte folgerichtig zum dramatischen Schießbefehl gegen die eigenen Arbeiter, als diese zweieinhalb Jahre später, im Dezember 1970, in den Hafenstädten auf die Straße gingen; damit fand seine politische Laufbahn ihr Ende. Er wurde durch einen „Staatsstreich“ im Politbüro und ZK-Sekretariat abgesetzt. Die März-Seilschaft blieb.

Die neue Mittelklasse, der „Nachwuchs“, wurde in ihrer Rolle als herrschende Klasse bestätigt. Der Neostalinismus hatte damit seine „kleine Stabilität“ erreicht. Die Ereignisse in der Tschechoslowakei beschleunigten diese Prozesse in entscheidender Weise und versteinerten die Situation für etwa zwei Jahrzehnte (mit dem kurzen aber wichtigen Zwischenspiel in den Jahren 1980/81).

Wie jeder primitive Nationalismus schreckte auch der Nationalismus der März-Profiteure nicht vor einer Verletzung der Souveränität anderer zurück. Ihre Unterstützung der Intervention in der Tschechoslowakei war aber nicht nur wie bei Gomulka von der Furcht vor einer Demokratisierung und dem eigenen Sturz bestimmt. Moczar und seine Gruppe wußten, daß ihre nationalistische Phraseologie von einem Teil der sowjetischen Führung mit Mißtrauen aufgenommen wurde und daß vor allem die höchsten Posten ohne Billigung der sowjetischen Führung für sie unerreichbar bleiben würden. Das bewog sie zusätzlich, die Intervention zu unterstützen. Die Moczar-Gruppe wollte damit ihre Zuverlässigkeit als Alliierter der Sowjetunion unter Beweis stellen. Der polnische „National-Kommunismus“ entpuppte sich als eifriger Befürworter der Breschnew-Doktrin. Es ist bemerkenswert, daß die Moskauer KGB-Lobby und der dortige Parteiapparat in dem offenen Nationalismus der Moczar-Fraktion keinerlei Hinderungsgrund sah, sie zu unterstützen.

Die Jahre 1968-1970 mit der im Frühjahr 1968 entfesselten größten antisemitischen Kampagne in Europa seit dem Ende des Dritten Reifches, mit der Beteiligung Polens an der Invasion der Tschechoslowakei und schließlich mit ihrem tragischen Finale, dem Massenmord an den im Dezember 1970 in den Hafenstädten protestierenden Arbeitern, stellen zweifellos die schmählichsten Kapitel in der Geschichte der Herrschaft der PVAP seit Stalins Tod im Jahre 1953 dar. Die gesamte Folge dieser dunklen Ereignisse ist mit der Person Wladyslaw Gomulkas verbunden, desselben Mannes, der im Herbst 1956 während des „Polnischen Oktobers“ die Hoffnung all derer verkörperte, die einen „Sozialismus mit menschlichem Gesicht“ wollten. War das nur ein grausames Paradoxon der Geschichte oder aber die eigentliche Logik des Systems?

Fussnoten

Fußnoten

  1. Noch bis vor kurzem verfügten die Historiker über keinerlei Material, das Auskunft über die militärische Seite der polnischen Intervention in der Tschechoslowakei gegeben hätte. Diesbezügliches Archivmaterial ist weiterhin als streng geheim eingestuft. Vor wenigen Wochen erschien als erste Publikation, die wesentliche Informationen zu diesem Thema enthält, eine Sammlung von Interviews mit höheren Offizieren der polnischen Armee, die direkt an der Intervention beteiligt waren und sie praktisch durchführten: Lech Kowalski, Kryptonim „Dunaj“. Udzial wojsk polskich w interwencji zbronej w Czechoslowacji w 1968 roku (Deckname „Donau“. Die Beteiligung polnischer Truppen an der bewaffneten Intervention in der Tschechoslowakei 1968), Warszawa 1992. Übersetzung aus dem Polnischen: Jürgen Hensel.

  2. Interview mit Generaloberst Wlodzimierz Sawczuk, stellvertretender Kommandeur der Zweiten Armee, zuständig für politische Angelegenheiten, vom 20. Dezember 1990, in: L. Kowalski (Anm. 1), S. 63.

  3. Vgl. L. Kowalski (Anm. 1), S. 18, 67, 107.

  4. Interview mit dem Chef der Abteilung für Spezialpropaganda der Zweiten Armee, Oberst Henryk Nowaczyk, vom 29. März 1991. Vgl. L. Kowalski (Anm. 1), S. 106.

  5. Vgl. Interview mit Generaloberst W. Sawczuk (Anm. 2), S. 65.

  6. Vgl. L. Kowalski (Anm. 1), S. 107, 134, 191, 193.

  7. Vgl. Interview mit Generaloberst Florian Siwicki, Kommandeur der Zweiten Armee vom 29. Juni 1991, in: L. Kowalski (Anm. 1), S. 36.

  8. Interview mit General W. Sawczuk (Anm. 2), S. 57.

  9. Vgl. L. Kowalski (Anm. 1), S. 12.

  10. Verschlüsseltes Telegramm von Marschall Iwan Jakubowskij an den polnischen Verteidigungsminister General Wojciech Jaruzelski vom 1. Juni 1968, vgl. L. Kowalski (Anm. 1), S. 13.

  11. Vgl. Interview mit Generaloberst W. Sawczuk (Anm. 2), S. 59.

  12. Vgl. L. Kowalski (Anm. 1), S. 11, 17.

  13. Interview mit Generaloberst W. Sawczuk (Anm. 2), S. 59.

  14. Vgl. Interview mit Oberst Ryszard Konopka vom 28. Januar 1991, in: L. Kowalski (Anm. 1), S. 150f.

  15. Vgl. ebd., S. 153.

  16. Interview mit General F. Siwicki, in: L. Kowalski (Anm. 1), S. 47.

  17. Interview mit Generaloberst W. Sawczuk (Anm. 2),S. 64. 18 L. Kowalski (Anm. 1), S. 18f.

  18. Juliusz Mieroszewski, Konfrontacja w Pradze (Konfrontation in Prag), in: Kultura (Paris), 253 (1968), S. 8.

  19. Vgl. Darstellung Alexander Duböeks auf der Internationalen Konferenz über die Ereignisse in der Tschechoslowakei 1968 auf Schloß Liblice vom 2. bis 6. Dezember 1991, Aufzeichnungen des Verfassers.

  20. Dokumenty predany glasnosti. Sei avgust 68... (Der Öffentlichkeit übergebene Dokumente. Es kam der August 68), in: Prawda (Moskau) vom 18. Februar 1991, S. 6.

  21. Trybuna Ludu vom 9. September 1968, S. 3.

  22. Vgl. Krystyna Kersten, Polacy -Zydzi -Komunizm. Anatomia pölprawd 1939-1968 (Polen -Juden -Kommunismus. Die Anatomie von Halbwahrheiten), Warszawa 1992, S. 163.

  23. Biuro polityczne proponuje. Notatka protokolama z posiedzenia Biura Politycznego KC PZPR z 8 kwietnia 1968r. (Das Politbüro schlägt vor. Protokollvermerk von der Sitzung des Politbüros des ZK der PVAP am 8. April 1968), in: Polityka, Nr. 23 vom 8. Juni 1991, S. 13.

  24. Die bis jetzt umfangreichste, aber auch noch lückenhafte Analyse der Märzereignisse in Polen lieferte Jerzy Eisler, Marzec 1968. Geneza, przebieg, konsekwencje (März 1968. Entstehung, Verlauf, Folgen), Warszawa 1991. Vgl. auch K. Kersten (Anm. 23), S. 143-171.

  25. Vgl. J. Eisler (Anm. 25), S. 416.

  26. J. Mieroszewski (Anm. 19), S. 18.

Weitere Inhalte

Feliks Tych, Dr. phil., geb. 1929; Professor am Institut für Geschichte der Polnischen Akademie der Wissenschaften und des Archivs der Arbeiterbewegung in Warschau; seit 1987 freier Forscher und Schriftsteller; 1990/91 Gastprofessor an der Universität Göttingen. Veröffentlichungen u. a.: Monographien und Dokumentenreihen zur polnischen Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts; (Hrsg.) Briefe von Rosa Luxemburg an Leo Jogiches, Frankfurt/M.