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Zur Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen | APuZ 52-53/1992 | bpb.de

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Zur Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen

Nikolaj V. Pawlow

/ 19 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen ist nicht nur durch dunkle Flecken, sondern auch durch einen großen Reichtum gekennzeichnet. Die ersten Kontakte gehen bereits auf das dritte nachchristliche Jahrhundert zurück; damals drangen die germanischen Völker nach Osteuropa vor. Vielfältige Verbindungen gab es auch zwischen deutschen und russischen Dynastien. Im gemeinsamen Kampf gegen Napoleon erwiesen sich Deutsche und Russen als strategische Verbündete. Nach dem Ersten Weltkrieg galten beide Länder als Paria der internationalen Politik. Im Zweiten Weltkrieg hatte die Sowjetunion einen hohen Blutzoll zu entrichten, und Deutschland ging als geteiltes Land aus diesem hervor. Durch den Zusammenbruch der Sowjetunion haben sich völlig neue Perspektiven der Kooperation eröffnet, die zum Nutzen beider Völker intensiv ausgebaut werden müssen.

Zu Beginn der neunziger Jahre vollzog die Geschichte einen jähen Schwenk. Eine schwere Zeit kam über uns. Der einstmals mächtige „ewige Bund freier Volksrepubliken“ (so die Anfangszeile der sowjetischen Nationalhymne) hatte dem Druck der demokratischen Veränderungen nicht standgehalten und war vor den Augen einer erstaunten Weltöffentlichkeit wie ein Kartenhaus zusammengebrochen. Die alten Ideale und Weltbilder, die das Leben einfach und sonnenklar hatten erscheinen lassen, waren spurlos verschwunden und hatten bei den Menschen nur eine bittere Frage zurückgelassen, auf die es keine Antwort gab: Warum hat sich die Geschichte ausgerechnet unser Volk für ihre Experimente ausgesucht? Warum muß wieder einmal Rußland leiden, so als würde irgendein böser Fluch es über den gesamten Verlauf der Entwicklung der europäischen Zivilisation verfolgen? Und wieder herrschen in Rußland Chaos, Bruderkrieg, Verfall und Hunger.

Kassandrarufe werden laut, die uns Untergang und Verfall prophezeien, und es ist keine Macht da, die uns davor bewahren könnte, in das „schwarze Loch“ der Nichtexistenz zu fallen. Aber das russische Volk braucht sich nicht auf Leiden einzustellen, die Zeiten sind heute anders. Zu klein ist die Welt heute geworden. Die meisten der ideologischen Barrieren, die sie trennten, sind zerbrochen.

I. Die Besiegten helfen den Siegern

Die ersten, die uns zu Hilfe kamen, waren die Deutschen, und sie halfen wie kein zweiter. Außer einer unentgeltlichen Gabe der deutschen Bundesregierung in Höhe von 220 Millionen DM, die uns Anfang 1990 von Bundeskanzler Kohl gewährt wurde, erhielten wir im Verlauf der zwei folgenden Jahre Waren, Nahrungsmittel und Medikamente im Wert von vielen hundert Millionen DM. In die Republiken der ehemaligen UdSSR und vor allem nach Rußland wurden ganze Karawanen schwer beladener Lastwagen geschickt, die häufig von denjenigen Deutschen begleitet waren, die diese Hilfsgüter selbst gesammelt hatten und sich persönlich davon überzeugen wollten, daß sie nicht an den einfachen Menschen -zum größten Teil Invaliden, Kinder, Alte und einfach Mittellose -Vorbeigehen.

Ich kann J. Iljin nur zustimmen, der in der Molodaja gvardija (Junge Garde) schrieb: „Die Konstellation der Kräfte, wie sie sich in Europa und der Welt gegenwärtig darstellt, ist sehr interessant. Und es mag vielleicht seltsam klingen, aber die Entwicklungsperspektive wird von unserem Land bestimmt, für das es in der Zukunft keinen anderen Weg gibt als den nach oben. Es stellt sich heraus, daß alle uns brauchen: sowohl die USA... als auch Frankreich und natürlich Deutschland. Die Deutschen haben immer besser als andere verstanden, welche Möglichkeiten und welches Potential Ruß-land tatsächlich hat und welche Bedeutung freundschaftliche russisch-(sowjetisch-) deutsche Beziehungen für die ganze Welt haben.“ Und jetzt, so führt er aus, nehmen sie uns gegenüber eine Sonderstellung ein, „da sie bemüht sind, uns nicht für irgendwelche , Sünden'zu . bestrafen', sondern uns wirtschaftlich zu stimulieren. Vielleicht wissen sie aus ihrer eigenen Erfahrung aus den zwanziger Jahren, daß es gefährlich ist, ein großes Volk in eine ausweglose Situation zu treiben“.

Dabei ist es demütigend und bitter, wenn man die Bilder von weinenden Veteranen mit Lebensmittelpaketen aus Deutschland sieht und in den Ohren die Kommentare aus der Journaille gellen, die genüßlich vermerkt, daß die Sieger milde Gaben von den Besiegten erhalten. Diejenigen, die so reden, kennen weder die Geschichte noch deren Gesetze. Ihnen ist der Begriff „humanitäre Hilfe auf Gegenseitigkeit“ fremd, ihnen fehlt das Verständnis dafür, daß es zwischen den Völkern keine Sieger und Besiegten gibt und geben kann -diese Kategorien können nur für Staaten, für Regime, für Herrscher der jeweiligen Länder gelten, die ihre gänzlich unschuldigen Völker in einen Strudel blutiger Kriege stoßen. Und als Folge davon bleiben Feindschaft und Mißtrauen zurück, die einst durch imperiale Ideen gesät worden sind und auf dem fruchtbaren Boden von Finsternis und Ignoranz reiche Frucht tragen.

Übersetzung ins Deutsche: Bernd Bentlin, Köln.

II. Überwindung von Feindbildern

Am schwierigsten dürfte es wohl sein, die Trägheit des Denkens zu überwinden, besonders dann, wenn sich der Mensch daran gewöhnt hat, in Schwarzweiß-Kategorien nach dem „FreundFeind“ -Schema zu denken. Aber dieses Denken zu besiegen, ist unbedingt notwendig, und sei es nur deshalb, um zu erkennen, wie reich die Palette der menschlichen Existenz ist. Die Stereotypen der Vergangenheit überwinden helfen und dazu beitragen, daß sich der Gedanke durchsetzt, daß für die eigene nationale und staatliche Wiedergeburt Zusammenarbeit mit anderen Völkern notwendig ist -dies kann nur die Geschichte, denn sie allein ist in der Lage, unsere Vorstellungen von der Gegenwart in ganz erstaunlicher Weise zu verändern und uns zu Gedanken darüber zu veranlassen, was für eine Zukunft wir mit wem bauen wollen.

Man kann -um es mit den Worten Eduard Schewardnadses zu sagen -behaupten, daß für Rußland die Beziehungen zu Deutschland „eine zentrale und besondere Frage“ seiner Geschichte sind. Es hat sich so gefügt, daß im nationalen Gedächtnis des russischen Volkes, in seiner Wahrnehmung der Umwelt und in den Vorstellungen von den Herausforderungen der Zeit sowie in seiner Mentalität der deutsche Aspekt schon lange und sehr fest verankert ist. Das betrifft sowohl die historisch gewachsene wechselseitige Beeinflussung der Kulturen beider Völker als auch persönliche Verbindungen der Herrscherhäuser, und es betrifft die reichen Erfahrungen wirtschaftlicher Zusammenarbeit ebenso wie die bitteren Erinnerungen an zwei Weltkriege, deren letzter die Völker der Sowjetunion 27 Millionen Menschenleben kostete, während er für Deutschland zu einer langjährigen Spaltung der Nation mit allen daraus resultierenden Konsequenzen führte. Aber das menschliche Gedächtnis ist seiner Natur nach so angelegt, daß das Schlimme daraus gestrichen wird.

Ich möchte die Behauptung wagen, daß unsere Zukunft und unsere Wiedergeburt in vieler Hinsicht mit dem neuen Deutschland verbunden sind, zu dem die Beziehungen für Rußland weitaus wichtiger sind als zu irgendeinem anderen Land des „fernen Auslands“ einschließlich der Vereinigten Staaten von Amerika. Davon zeugen die dauerhaften Traditionen, die Erfahrungen wirtschaftlicher und politischer Zusammenarbeit zwischen der UdSSR und der DDR und zwischen der UdSSR und der Bundesrepublik ebenso wie die heutige Hilfe des deutschen Volkes an die Bürger Rußlands. Das aufrichtige Zusammenleben mit uns und der Wunsch zu helfen sind eine edle Geste und ein Durchbruch in den Beziehungen zwischen unseren beiden Völkern, und es ist auch, wie ich hoffe, eine Rückkehr zu den Ursprüngen alter freundschaftlicher Beziehungen zwischen zwei großen Mächten: Rußland und Deutschland.

III. Zur Geschichte der deutschrussischen Beziehungen

1. Die Anfänge der Beziehungen Zur Geschichte beider Völker sind die Gedanken S. M. Solowjows bemerkenswert, der schrieb: „Die Stiefmutter Geschichte hat einen der ältesten europäischen Stämme gezwungen, von Westen nach Osten zu ziehen und diejenigen Länder zu besiedeln, in welchen die Natur den Menschen stiefmütterlich behandelt. Zu Beginn der neueren christlich-abendländischen Geschichte errangen zwei Stämme eine beherrschende Position und behielten sie für immer: der germanische und der slawische Stamm, Bruderstämme des gleichen indoeuropäischen Ursprungs; sie teilten Europa unter sich auf, und in dieser ersten Teilung, dieser ersten Wanderung -der Deutschen von Nordosten nach Südwesten, in Gebiete des Römischen Reiches, wo schon ein solides Fundament der europäischen Zivilisation angelegt war, und der Slawen umgekehrt von Südwesten nach Nordosten in weite unberührte, von der Natur benachteiligte Gebiete -, in dieser gegenläufigen Bewegung liegt der Unterschied der gesamten nachfolgenden Geschichte beider Stämme.“ Die „Slawen“ aber, so Solowjow, waren „vorwiegend Russen“ und die „Germanen“ Deutsche.

Die ersten Kontakte der Germanen mit den Russen gehen bis ins dritte nachchristliche Jahrhundert zurück. Damals drangen die germanischen Völker nach Osteuropa vor. Chroniken der alten Pruzzen (Preußen) berichten von häufigen Kriegen zwischen Russen und Pruzzen im 6. Jahrhundert. Nach der Bildung des Kiewer Reichs wurde zum erstenmal in den Jahren 838/39 eine Mission in die Hauptstadt des Reichs der Franken zu Ludwig dem Frommen geschickt. Zeugnisse darüber sind in den Annales Bertiniani des Bischofs Prudentius enthalten.

Im Jahre 959 schickte die Fürstin Olga ihre Gesandten zum deutschen König Otto I. Der altrussi-sehe Staat weitete im 10. Jahrhundert seine Verbindungen zum Ausland zielstrebig aus, er bemühte sich, seinen außenpolitischen Einfluß zu verstärken und sein internationales Gewicht zu vergrößern. Von daher war das Erscheinen einer russischen Mission in den Landen Otto I. ganz folgerichtig, zumal der deutsche König eine aktive Politik im Osten betrieb. Seit dieser Zeit waren ständig deutsche Kaufleute in Rußland zu Gast.

Deutsche lebten zusammen mit anderen ausländischen Kaufleuten seit alters her in Nowgorod, wobei sie sich in zwei Gesellschaften teilten: Winter-und Sommergäste. Den deutschen und holländischen Kaufleuten wurden in der Stadt besondere Höfe zugewiesen, deren Bewohner völlig unabhängig waren und sogar eine eigene Gerichtsbarkeit besaßen, für die sie Älteste wählten. Nur der fürstliche Gesandte hatte das Recht, die ausländischen Siedlungen zu betreten.

Als im 13. Jahrhundert die freien deutschen Städte Lübeck, Bremen und andere einen gemeinsamen engen Handelsbund gründeten, der unter dem Namen Hanse in die Geschichte einging, gewann auch Nowgorod an Bedeutung im Handelssystem Nord-europas. Der Bund der Hansestädte richtete dort sein Hauptkontor ein und war bemüht, sich bei den Russen beliebt zu machen, indem er gegen Fälle von Mißbrauch einschritt, die Anlaß zu Zwistigkeiten geben konnten. Und als im Jahre 1231 in Nowgorod eine Hungersnot grassierte, eilten ihnen Deutsche, die von der Not der Nowgoroder gehört hatten, aus Nächstenliebe und nicht aus Eigennutz mit getreidebeladenen Schiffen über das Meer zu Hilfe. Hier sind die Quellen der heutigen Rußlandhilfe Deutschlands zu suchen!

2. Die Verbindungen deutscher und russischer Dynastien

Beispiele für dynastische Verbindungen zwischen Deutschen und Russen sind schon aus dem Kiewer Reich bekannt. Deutsche Historiker schreiben, daß eine Tochter des Grafen Leopold von Stade namens Oda und die Gräfin Kunigunde von Orlamünde um die Mitte des 11. Jahrhunderts russische Fürsten heirateten, aber frühzeitig verwitwet nach Deutschland zurückkehrten, wo sie bald darauf deutsche Prinzen ehelichten. Vermutlich war Oda die Gemahlin von Wjatscheslaw und Kunigunde die Gemahlin von Igor, den jüngeren Söhnen des russischen Fürsten Jaroslaws des Weisen.

Im Jahre 1089 heiratete der deutsche König und Kaiser des „Heiligen Römischen Reiches“ Heinrich IV. die russische Fürstentochter Agnessa (Adelheid), Witwe des Markgrafen von der Nord-mark. Die seit jeher freundschaftlichen Beziehungen zwischen dem deutschen und dem russischen Volk führten objektiv dazu, daß beide schon in alten Zeiten versuchten, zusammenzugehen und sich gegenseitig beizustehen, um sich gegen gemeinsame Feinde zu verteidigen.

3. Deutsche kamen auch mit Schwert und Pflugschar

Die Geschichte kann niemals einfarbig sein, und so gibt es auch in den russisch-deutschen Beziehungen dunkle Seiten. Im Jahre 1201 wurde der Orden der Krieger Christi oder Schwertbrüderorden gegründet, der mit Kreuz und Schwert begann, die starrsinnigen Heiden an den Ufern der Dwina zum christlichen Glauben zu bekehren, wofür die Schwertbrüder die volle Vergebung ihrer Sünden durch die katholische Kirche erhielten. Große Mengen fahrender Pilger tauschten Jahr für Jahr den Pflug gegen das Schwert und begaben sich aus den deutschen Landen nach Livland.

Die enge Interaktion unserer Völker in der fernen Vergangenheit mußte sich auch auf die gegenseitige Bereicherung der Spräche, der Sitten und Gebräuche sowie insgesamt auf die kulturellen Leistungen von Russen und Deutschen auswirken. Dabei muß der Gerechtigkeit halber angemerkt werden, daß unsere Vorfahren in höherem Maße zu Entlehnungen von den germanischen Völkern neigten, die aus objektiven historischen Gründen eine höhere Zivilisation besaßen als die Slawen. So ging etwa der Brauch der russischen Fürsten, ein zahlreiches Gefolge um sich zu sammeln, auf eine alte, schon von Tacitus beschriebene germanische Tradition zurück. Unter Jaroslaw dem Weisen hatten die russischen Gesetze, vor allem auf dem Gebiet des Strafrechts, vieles gemeinsam mit alten deutschen Gesetzen. Und über sprachliche Entlehnungen braucht gar nicht erst gesprochen zu werden.

Nach der Inthronisierung einer neuen russischen Zarendynastie brechen die Verbindungen zwischen Russen und Deutschen nicht ab, sondern entwikkeln sich positiv weiter. Das Mittelalter näherte sich seinem Ende, und für uns stand diese Epoche unter dem Zeichen des tatarisch-mongolischen Jochs. Die Zeit stellte das russische Staatswesen vor neue Aufgaben und Herausforderungen. Nach der Befreiung vom tatarisch-mongolischen Ansturm wurden der Handel und die entstehende Industrie zur Haupteinkommensquelle des russischen Staates. Hier sehen wir, daß schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts unter dem ersten Zaren aus der Romanow-Dynastie Menschen aus dem Ausland nach Rußland gerufen wurden, die verschiedene Handwerke beherrschten und ihre Kunst den Russen beibringen und für eine fortlaufende Produktion verschiedener Güter sorgen konnten. Faktisch lassen sich drei Bereiche deutsch-russischer Interaktion ausmachen, die in dieser Zeit angelegt wurden: Militär, Wissenschaft und Handel. Zu Beginn des 18. Jahrunderts gelang Peter dem Großen eine beispiellose Öffnung des russischen Staates nach Westen, indem er die Mauer gegenseitigen Mißverständnisses und, daraus resultierend, Mißtrauens und Argwohns niederriß. Dieser Durchbruch ermöglichte es den Zeitgenossen Peters und ihren Nachkommen, Anschluß an die westeuropäische Zivilisation zu finden, daraus das Beste anzunehmen und im Gegenzug die Reichtümer des Landes und die Talente der russischen Menschen einzubringen.

4. Rußland und Preußen

In der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde Rußland -und zwar gleich zweimal -in einen Krieg mit Preußen verwickelt. England und Frankreich kämpften damals um Einflußgebiete und intrigierten gegen Rußland, indem sie es mal in das eine, mal in das andere Bündnis hineinzogen. Die Erfolge der russischen Waffen brachten Friedrich II. an den Rand des Untergangs. Er war schon zum Thronverzicht bereit, und nur der Tod Elisabeths im Jahre 1762 befreite ihn vom gefährlichsten seiner Feinde. Peter III., der ein großer Bewunderer Friedrichs war, vollzog erneut einen jähen Richtungswechsel in der russischen Außenpolitik und schloß nicht nur Frieden mit Preußen, sondern beeilte sich sogar, mit ihm in Bündnisbeziehungen einzutreten. Die Annäherung zwischen Rußland und Preußen mündete in ein Verteidigungsbündnis, das im April 1764 in Petersburg geschlossen wurde. Das Bündnis der zwei Staaten gestattete es Rußland, in Polen Einfluß zu nehmen, die Türkei einzudämmen, die Vormacht im Norden zu sein und ohne eigenen großen Kostenaufwand eine führende Rolle in Europa zu spielen.

5. Die Beziehungen im 19. Jahrhundert

Der Kampf der europäischen Staaten gegen den Angriff Napoleons Anfang des 19. Jahrhunderts bewies ein weiteres Mal, daß Russen und Deutsche strategische Verbündete waren, daß Frieden auf dem Kontinent im wesentlichen von ihrer Zusammenarbeit abhing. Gemeinsam vergossen sie Blut in der „Völkerschlacht“ bei Leipzig im Oktober 1813 und halfen, Europa von dem „korsischen Monster“ zu befreien. In der Folgezeit veranlaßten gegenseitige Widersprüche und die Angst vor der revolutionären Bewegung in der Mitte des Jahrhunderts England, Frankreich und Rußland, einseitige Schritte zur Stärkung Preußens zu unternehmen (Deutschland war damals ein „Flickenteppich“, der aus gut drei Dutzend Königreichen, Fürstentümern, Grafschaften usw. bestand, von denen Preußen nur eines war), was schließlich zur Annäherung der Regierung des Zaren an Preußen führte. Einen großen Beitrag dazu leistete Otto von Bismarck, der eine Zeitlang Gesandter in Petersburg war. Außerdem trug der Umstand dazu bei, daß der Nachfolger Nikolaus’ I. auf dem russischen Thron, Alexander II., die freundschaftlichsten Gefühle sowohl für seinen Onkel, König Wilhelm I., als auch für Bismarck hegte. Eine Folge dieser engen, freundschaftlichen Beziehungen zwischen Rußland und Preußen war die nationale Vereinigung Deutschlands, die unter der Ägide Preußens vollzogen wurde.

Meine Behauptung mag anfechtbar erscheinen, aber ich kann der unter einzelnen Historikern verbreiteten Meinung nur zustimmen, daß die zwei Weltkriege, in denen unsere Völker in erbitterten Schlachten gegenseitig Blut vergossen, weitgehend eine Folge der -ziemlich erfolgreichen -Versuche Englands und Frankreichs waren, eine deutsch-russische, später deutsch-sowjetische Annäherung nicht zuzulassen. Bezeichnend ist, daß schon Bismarck unmittelbar vor dem russisch-türkischen Krieg von 1877/78 in einem Schreiben an die russische Regierung darauf verwies, daß „es nicht in unserem Interesse liegen kann, wenn die Macht Rußlands ernsthaft und auf Dauer erschüttert ist“. Der „eiserne Kanzler“ brauchte die Freundschaft Rußlands, um Frankreich zu isolieren. „Nicht Gefühle“, so versicherte er in diesem Zusammenhang, „sondern politisches Kalkül sagt uns, daß eine solche Macht (deren Wohlwollen wir schätzen und brauchen -N. P.) Rußland ist, das allein für uns von erheblichem Nutzen sein kann, und dessen Freundschaft für uns notwendig ist.“

Im internationalen Verkehr ist die Politik nicht von der Wirtschaft zu trennen; besonders deutlich wird dieser Zusammenhang dann, wenn die Länder einen bestimmten Stand der industriellen Entwicklung erreicht haben. Und wenn Rußland auch im Laufe mehrerer Jahrhunderte nicht den letzten Platz als Absatzmarkt für deutsche Waren einnahm, so ist doch der Beginn einer aktiven deutsch-russischen Zusammenarbeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts anzusetzen. So begann z. B. die Firma Siemens 1853 mit dem Bau einer Telegraphenlinie, die Sankt Petersburg mit Odessa verband, und um 1855 besaß Siemens in Rußland schon ein großes Werk, in dem mehrere tausend Arbeiter beschäftigt waren. Firmen wie Daimler-Benz, BASF, Bayer, Hoechst und Thyssen arbeiteten schon am Ende des vorigen Jahrhunderts in der Elektromechanik, der chemischen Industrie und im Maschinenbau mit Rußland zusammen. Auch die Deutsche Bank war auf dem russischen Markt vertreten. Eine bemerkenswerte Entwicklung nahm der Handel: Hatte das durchschnitt-liehe Jahresvolumen des deutsch-russischen Handels im Zeitraum 1900-1904 428, 8 Millionen Rubel betragen, so stieg es im Zeitraum 1909-1913 auf 932, 2 Millionen an.

6. Die Notgemeinschaft der Ausgestoßenen

Man kann nur spekulieren, wie sich unsere Beziehungen weiter entwickelt hätten, wäre nicht der Erste Weltkrieg gewesen, an dessen Ende Deutschland kein Kaiserreich mehr war, sondern eine Republik und Rußland kein Zarenreich mehr, aber auch keine Republik. Beide Länder waren ausgeblutet, am Boden zerstört, und es schien, als könne keine Macht der Welt sie dazu bringen, wieder auf die Beine zu kommen.

Der Vertrag zwischen der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik und Deutschland sah die sofortige Wiederaufnahme voller diplomatischer Beziehungen zwischem beiden Ländern sowie die Regelung aller Streitfragen durch gegenseitigen Verzicht auf Forderungen vor. Es wurde vereinbart, die Entwicklung von Handels-und Wirtschaftsbeziehungen zwischen Rußland und Deutschland nach dem Prinzip der Meistbegünstigung zu fördern. Die gegenseitige diplomatische Anerkennung als gleichberechtigte Partner im internationalen Verkehr half Rußland, die internationale Blockade zu durchbrechen, Deutschland hingegen sah sich von den Westmächten isoliert und geriet dadurch in einen Sumpf schwerster innerer sozial-ökonomischer Probleme, und so wurde der faschistischen Diktatur der Weg bereitet. Über die Vor-und Nachteile und die Folgen des Vertrags von Rapallo (zu dessen Resultaten u. a. die enge Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Roter Armee gehörte) mag man diskutieren, eines steht jedoch fest: In einem schwierigen historischen Augenblick reichten Deutsche und Russen einander eine helfende Hand und begannen, sich einander anzunähern. Und während auf die UdSSR 1923 1, 5 Prozent des deutschen Imports entfielen, stieg dieser Anteil bis 1932 auf 5, 8Prozent. Im gleichen Zeitraum stieg der Anteil der UdSSR am Export Deutschlands von 1, 2 auf 10, 9 Prozent.

7. Vom kalten Krieg zur Entspannung

Es fällt schwer, über die düsteren Seiten in unserer Geschichte zu schreiben, und zwar nicht nur deshalb, weil auf der Kommandobrücke der Staats-schiffe Wahnsinnige standen, die von Großmacht-ambitionen besessen waren und das Wertvollste auf der Welt, das menschliche Leben, verachteten. Wenn zwei Diktatoren miteinander ein Komplott schmieden, dann werden sie früher oder später, wenn sie ihre kleinen Konkurrenten ausgeschaltet haben, versuchen, sich gegenseitig zu vernichten.

Die Geschichte fügte es, daß auf den Ruinen des Dritten Reichs die Gebäude zweier deutscher Staaten entstanden. Nach der Niederlage des Nationalsozialismus war Deutschland schon zur Zeit der Besatzungszonen faktisch zweigeteilt: Auf der einen Seite befanden sich die USA, Großbritannien und Frankreich, also Länder mit vergleichbaren politischen und wirtschaftlichen Systemen, was letztlich auch die Nähe bzw. Übereinstimmung vieler Ansichten in der Außenpolitik bestimmte. Auf der anderen Seite stand die Sowjetunion mit ihrem starren vertikalen Administrativ-und Kommandosystem, der Allmacht der Kommunistischen Partei -oder genauer: ihres Führers und Diktators Stalin -und einer Millionenarmee, die einen Siegeszug von Moskau bis nach Berlin vollbracht hatte und sich mit eiserner Macht in den Weiten Europas von den Ostgrenzen Polens bis an die Ufer der Elbe festgesetzt hatte. Es begann die Epoche des „großen Gegeneinanders“ zwischen dem Westen und dem Osten, wobei es faktisch um Einflußgebiete, genauer: um deren Grenzen ging. Da sich die Interessen der drei Westmächte und der Sowjetunion auf deutschem Gebiet unmittelbar überschnitten -jede Seite wollte in dem besiegten Land die Ordnung durchsetzen, die ihren Vorstellungen entsprach -, verlief hier die Demarkationslinie zwischen dem Westen und dem Osten und wurde hier die von gegenseitiger Angst und Feindschaft zementierte Mauer aus Unverständnis und Mißtrauen errichtet.

Sowohl die DDR als auch die Bundesrepublik wurden zu führenden Partnern der UdSSR in Wirtschaft, Handel und Politik. Spielte die DDR in vieler Hinsicht eine führende Rolle unter Moskaus Verbündeten im „sozialistischen Lager“, so nahm die Bundesrepublik einen entsprechenden führenden Platz unter den entwickelten kapitalistischen Ländern ein. Anders konnte es bei der langen und engen Verbundenheit der Geschichte unserer Völker auch gar nicht sein. Ohne den konstruktiven Dialog unserer Länder hätte es nicht die Periode der Entspannung gegeben, es wären keine Fortschritte auf der Stockholmer Konferenz über Vertrauens-und Sicherheitsbildende Maßnahmen und Abrüstung in Europa erzielt worden, der Vertrag über die Begrenzung der atomaren Mittelstrecken-waffen in Europa und der Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa wären nicht zustande gekommen, die Pariser Charta für das neue Europa nicht unterzeichnet worden, und die Vereinigung Deutschlands hätte nicht stattgefunden.

Es ist nicht zu übersehen, daß Europa in eine qualitativ neue Phase seiner Entwicklung eingetreten ist. Nachdem das bipolare System der Militärblöcke zerstört ist und das geopolitische und machtpolitische Gleichgewicht auf dem europäischen Kontinent sich infolge des totalen Zusammenbruchs der pseudo-sozialistischen Machtstrukturen in den Ländern Osteuropas und wegen des Zerfalls des sowjetischen Imperiums radikal verändert hat und nachdem mit dem vereinigten Deutschland ein neuer Akteur auf die internationale Bühne getreten ist, wird es für Rußland wichtig, seine Außenpolitik gegenüber Europa klar zu definieren. Außer Zweifel steht, daß die Geschichte Deutschland und seiner stabilen, ausgewogenen Politik, bei der die Beziehungen zum hauptsächlichen Rechtsnachfolger der UdSSR -also zu Rußland -keineswegs die unwichtigste Rolle spielen, eine zentrale Schlüsselrolle bei einigen tragenden Elementen einer künftigen europäischen Friedensordnung zuweisen wird. Von der Entwicklung der russisch-deutschen Beziehungen wird nicht nur die Lage auf dem europäischen Kontinent, sondern auch das gesamte Weltklima abhängen.

Unter geostrategischen und ökonomischen Aspekten macht die zentrale Lage des Landes auf dem europäischen Kontinent Deutschland objektiv zum vorrangigen Partner Rußlands unter den westeuropäischen (und eventuell auch unter den westlichen) Ländern. Nach der Bevölkerungszahl (80 Millionen) wird es in Westeuropa von niemandem übertroffen, nach der Fläche (357 000 km 2) nur von Frankreich und Spanien. Das Bruttosozialprodukt betrug 1991 2, 8 Billionen DM und war damit fast doppelt so hoch wie das des Hauptpartners und -rivalen Frankreich. Dabei können Frankreich und Großbritannien bei keiner der wirtschaftlichen Indexzahlen auch nur annähernd mit der Bundesrepublik mithalten. In der Zukunft wird sich diese Kluft noch erweitern. Entsprechend wird das politische Gewicht dieser Staaten ab-und dasjenige Deutschlands zunehmen. Ähnliches wie den Franzosen und den Briten steht auch den USA bevor. Deren militärische Präsenz in Europa wird erheblich reduziert. Auch die nuklearen Garantien für die westeuropäischen Partner werden nach dem Verschwinden des „Feindbildes“ in Gestalt der Rechtsnachfolger der UdSSR und im Zuge der Verbesserung der Beziehungen zu Amerika geringer. Wirtschaftlich sind zunehmende Widersprüche im Machtdreieck USA-Japan-Westeuropa zu erwarten, wo als Hauptopponent und -konkurrent Amerikas in naher Zukunft Deutschland, der Motor der westeuropäischen Integration, auftreten wird.

In keinem Feld der Außenpolitik sind Rußland und die Bundesrepublik Konkurrenten. Zudem ergänzen und benötigen sie einander. Man kann unschwer vermuten, daß das vereinigte Deutschland ein großes Interesse daran haben wird, es mit einem ständigen Partner zu tun zu haben, der einen außerordentlich aufnahmefähigen Markt bietet und einen großen Bedarf an ausländischen Investitionen hat. Die deutsche Unterstützung für die Bürger Rußlands und der gesamten ehemaligen UdSSR ist sehr stark spürbar. Die (in unterschiedlicher Form schon geleistete und geplante) deutsche Hilfe für die Sowjetunion und ihre Rechtsnachfolger wird -humanitäre Lieferungen nicht mitgerechnet -auf 75 Milliarden DM geschätzt. Von der Gesamtsumme der ausländischen Investitionen in die Wirtschaft der GUS-Länder entfallen auf Deutschland 57, 45 Prozent (USA 11, 95 Prozent). Außerdem entfällt mit 32, 7 Milliarden US-Dollar -davon 6, 4 Milliarden kommerzielle, staatlich nicht verbürgte Kredite -der Hauptanteil der Schulden der ehemaligen UdSSR im Westen auf deutsche Banken.

Enge Verbindungen mit Deutschland versprechen große Vorteile für Rußland, denn sie gestatten es Moskau, durch Zusammenarbeit und nicht durch eine Politik militärischer Stärke am Europa des 3. Jahrtausends mitzubauen, dies um so mehr, als die Deutschen klar verstanden haben: Das vereinte Europa kann nicht ohne und schon gar nicht gegen Rußland geschaffen werden.

IV. Ausblick

Um über Rußlands Entwicklungsperspektiven zu sprechen, muß man sich mit allen Partnern Rußlands und nicht nur mit Deutschland auseinander-setzen. Wenn ich von den Perspektiven deutsch-russischer Zusammenarbeit spreche, dann will ich damit keineswegs dazu aufrufen, wieder in ein geopolitisches Denken alter Prägung zu verfallen, das häufig die Ursache für Kriege und Konflikte auf dem Kontinent gewesen ist. Heute muß man nicht mehr nach Verbündeten suchen und Koalitionen schließen, mit dem Ziel, gegen andere Staaten Gewalt anzuwenden. Die Zeiten, in denen „heilige“ und andere militärisch-politische Allianzen gebildet wurden, sind vorbei. Nicht der Verbündete, sondern der zuverlässige Partner und treue Freund wird heute und morgen gebraucht.

Es mag eingewendet werden, daß für Rußland die Zeit, sich um internationalen Verkehr zu bemühen, noch nicht gekommen ist. Rußland müsse sich, so könnte argumentiert werden, erst einmal von der Außenwelt abkapseln, um die eigenen innenpolitischen und wirtschaftlichen Probleme zu lösen. Wer so spricht, irrt zutiefst, denn -so S. M. Solowjow -„die Völker, die isoliert leben und sich nicht gern an andere Völker annähern und nicht gemeinsam mit ihnen leben wollen, sind die am wenigsten entwickelten Völker; sie leben sozusagen noch in ländlicher, dörflicher Abgeschiedenheit. Am weitesten entwickelt sind die Völker, die in ständigem Kontakt miteinander stehen, was bei den Völkern des christlichen Abendlands der Fall ist. Aber natürlich muß ein Volk, wenn dieser Kontakt fruchtbar sein soll, auf ein anderes Volk bzw. andere Völker treffen, mit denen es Gedanken, Kenntnisse und Erfahrungen austauschen kann, von denen es etwas aufnehmen, etwas lernen kann“.

Es sieht so aus, als eröffneten sich für die Zusammenarbeit unserer Staaten und Völker verheißungsvolle Perspektiven. Dabei stellt sich die berechtigte Page: Haben wir denn gar keine Probleme miteinander? Sicher gibt es die, große wie kleine, aber das gilt allgemein für den normalen Umgang miteinander. Zu nennen wären hier die Fragen im Zusammenhang mit dem Abzug der ehemals sowjetischen (nunmehr russischen) Truppen vom deutschen Territorium, ferner das Problem der Einrichtung von Siedlungsgebieten für die Wolgadeutschen in Rußland, die Frage der Tilgung der Schulden gegenüber Deutschland sowie die Vervollkommnung der vertraglichen Grundlage der gegenseitigen Beziehungen. Aber es kommt gar nicht darauf an, was für Probleme vor uns noch auftauchen werden, wenn wir zusammen daran arbeiten, unser großes und architektonisch kompliziertes Haus herzurichten. Die Hauptsache ist, daß wir, wenn wir an die Lösung der uns vom Leben gestellten Aufgaben gehen, nicht vergessen, miteinander in einer Sprache zu sprechen: in der Sprache des Vertrauens und der Zusammenarbeit.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Anmerkung des Übersetzers: Als „fernes Ausland“ werden heute in Rußland alle Länder außerhalb der Grenzen der ehemaligen UdSSR bezeichnet, als „nahes Ausland“ dementsprechend die ehemaligen Sowjetrepubliken.

Weitere Inhalte

Nikolaj V. Pawlow, Prof. Dr.; Sektionsleiter Sicherheitspolitik der Diplomatischen Akademie des Außenministeriums der Russischen Föderation. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Fragen der Politik und Geschichte.