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Rußland sucht nach einem Weg | APuZ 52-53/1992 | bpb.de

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APuZ 52-53/1992 Zur Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen Rußland sucht nach einem Weg Die Beziehungen Rußlands zu seinen europäischen Nachbarn Die Beziehungen Rußlands zu seinen europäischen Nachbarn Das institutionelle und rechtliche Profil der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) Die Osteuropaforschung, das Ende der Sowjetunion und die neuen Nationalstaaten Tödliche Erbschaften -das atomare Potential in Kasachstan

Rußland sucht nach einem Weg

Grigori Jawlinski

/ 10 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Beitrag beschreibt die enormen wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten, denen sich Rußland ausgesetzt sieht. Wichtigstes Anliegen der Russischen Föderation muß es sein, die auseinanderstrebenden Kräfte auf die Erhaltung der Föderation zu verpflichten; dazu bedarf es der Einigkeit und eines positiven psychologischen Klimas. Den Kräften der Reaktion, den Altkommunisten, räumt der Autor keine Erfolgsaussichten ein.

Wie Deutschland schon mehrmals in seiner Geschichte, so sieht sich heute auch Rußland vor die Notwendigkeit gestellt, seine Länder zu einem Bundesstaat zu vereinigen. Dieses Problem entstand erst, nachdem im August 1991 das totalitäre Regime zusammengebrochen war, das in seiner Verwaltungszange die Sowjetgesellschaft mit der ihr eigenen ethnischen Vielfalt und den enormen Unterschieden in der Lebensweise der verschiedenen Regionen und sozialen Gruppen gehabt hatte.

Die Jahrzehnte lang unterdrückten nationalen und religiösen Gefühle, die gegenseitigen Gebietsansprüche und die Mißstimmungen infolge ungerechter interregionaler Arbeitsteilung wurden noch durch die persönlichen Ambitionen einiger kurzsichtiger Politiker verstärkt. Die erste Etappe der Desintegration führte zum Zerfall der Sowjetunion. Aber auch die Russische Föderation (Rußland), ein souveräner Staat und Nachfolger der UdSSR in der UNO, mußte sich nun mit den gleichen Problemen auseinandersetzen, die die Desintegration der Sowjetunion bewirkt hatten.

Der zusammengebrochene Totalitarismus schloß schon aufgrund seiner Natur die Schaffung von politischen Institutionen und Schlichtungsmechanismen aus, die nicht mit der Staatsgewalt zusammenhingen. Die Schwächung der administrativen Gewalt ließ eine Art von institutionellem Vakuum entstehen: Die Widersprüche innerhalb der Gesellschaft nahmen zu, während die Gesellschaft keine demokratischen Mechanismen besaß, um die Interessen der verschiedenen Kräfte in Einklang zu bringen.

Mit der Zunahme des ethnischen Bewußtseins verkündeten die Republiken ihre Souveränität. Zwei von ihnen -Tatarstan und Tschetschenien -weigerten sich, den neuen Föderationsvertrag zu unterzeichnen und traten faktisch aus Rußland aus, obwohl sie wirtschaftlich auch weiterhin mit Ruß-land ein einheitliches Ganzes bilden. Im Süden und Osten Rußlands erhoben die durch die Bolschewik! schickanierten Kosaken die Forderung, ihre traditionellen Rechte wiederherzustellen.

Praktisch alle Länder (Gebiete, Regionen, Autonomien) stellten die Forderung auf, die Politik des Zentrums ihnen gegenüber zu ändern. Denn Moskau zentralisiert nach wie vor ihre Einkommen, um sie dann umzuverteilen, und läßt sich dabei nicht von wirtschaftlichen Gesetzen, sondern von nicht immer verständlichen konjunkturbedingten Erwägungen leiten. Die Regionen mit solchen „wirtschaftlichen Trümpfen“ -wie etwa Natur-reichtümer oder eine günstige geographische Lage -forderten nun ihre Unabhängigkeit von Moskau, um die vorhandenen Vorteile im eigenen Interesse zu nutzen. Es kam zu einem weiteren Abbruch von Wirtschaftsbeziehungen.

In eine schwierige Lage sahen sich die Länder versetzt, denen das noch existierende System der Arbeitsteilung die Rolle des letzten Gliedes im technologischen Prozeß, nämlich die Rolle von riesengroßen Fabriken als Verbraucher von angelieferten Rohstoffen und Energieressourcen, beimaß. Diese Länder wurden durch ausgefallene Lieferungen, einen allgemeinen erdrutschartigen Rückgang der Produktion, ausgebliebene Investitionen und ein juristisches Durcheinander als Folge der Desintegration an den Rand des wirtschaftlichen Zusammenbruchs gebracht. Am schwersten haben es die Länder, in denen zahlreiche Rüstungsbetriebe konzentriert sind, denn Moskau kauft ihnen die Produktion nicht mehr ab, stellt auch kein Geld zur Konversion bereit und behält eventuell anfallende Einnahmen.

In dieser Situation versuchte die Regierung Gaidar, eine finanzielle Stabilisierung durchzuführen, die drei Viertel der bestehenden Betriebe in den Ruin mit allen daraus resultierenden Folgen führen würde. Außerdem führte ein unsachgemäßes Vorgehen der Regierung und der Zentralbank zu einem Mangel an Bargeld. Es war nur zu verständlich, daß die „Industriellenpartei“ (Leiter der Staatsbetriebe) und der mit ihr verbundene Oppositionsblock „Bürgerunion“ die Forderung aufstellten, diese Politik zu revidieren; ihnen schlossen sich die Gewerkschaften an, und es drohte die Gefahr von Massenstreiks.

Die Regierung sah sich gezwungen, nachzugeben; es wurde eine Politik des Balancierens zwischen finanzieller Stabilisierung und Unterstützung von Produzenten verkündet. In der Tat lief es darauf hinaus, daß man immer wieder von einem Extrem in das andere fiel und willkürlich einzelnen Ländern verschiedene Vergünstigungen einräumte. Die Lage wurde immer verworrener, und die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den Regionennahmen zu. Im Herbst 1992 erreichte die monatliche Inflationsrate 30 Prozent, der Rückgang der Produktion betrug 28 Prozent, und ein US-Dollar kostet heute mehr als 400 Rubel.

Die Stabilisierungspolitik endete also in einem Fiasko. Es scheint, daß Grundlage der Wirtschaftspolitik der Regierung die Konzeption der „'Bürger-union“ sein wird. Diese sieht folgende Maßnahmen vor: Indexierung des Anstiegs der Löhne und Gehälter in Höhe von 90 Prozent des Anstiegs der Verbraucherpreise, Rückkehr zur Vergabe von Staatsaufträgen, Verwandlung staatlicher Großbetriebe in Aktiengesellschaften in Form großer Konzerne, Förderung des kleinen und mittleren Unternehmertums, Erhöhung der Gewinnsteuer mit gleichzeitiger Steuerbegünstigung für Investitionen und die Unterstützung der Vorzugssektoren der Wirtschaft.

Als Mittel gegen die Inflation schlägt die Opposition die Regelung der Energiepreise durch den Staat vor, d. h. Deckung der Differenz zwischen den Erzeugerpreisen und den Verbraucherpreisen aus Haushaltsmitteln; Förderung der Kapitalakkumulation der Betriebe; Regelung des Devisenkurses, d. h. Knüpfung des Exportkurses an den freien Wechselkurs und des Importkurses an die Dynamik der Preise im Verbrauchersektor; Senkung der Mehrwertsteuer; Einführung einer Progreßbesteuerung des Lohnzuwachses sowie eine Preisregelung bei den Hauptnahrungsmitteln.

Angesichts der bevorstehenden Kursänderung und Ministerpostenverteilung verstärkte sich auch der Machtkampf zwischen den unterschiedlichen Gruppierungen in Moskau. Die radikalen regierungsfeindlichen Kreise im Parlament bereiten sich darauf vor, auf dem nächsten Kongreß der Volks-deputierten, der im Dezember stattfinden soll, der Exekutive eine Rechnung für die gescheiterte Stabilisierungspolitik zu präsentieren und eine Revision der Idee der demokratischen Reformen durchzusetzen.

Unter dem Vorwand der Bekämpfung dieser Kräfte versuchen einige Gruppierungen, den Präsidenten zu einer Reorganisation des Systems der Vertretungsmacht zu bewegen. In den Kampf wird die Führung der Streitkräfte einbezogen. Dieser Machtkampf, der die ohnehin schon schwierige Situation weiter destabilisiert, wird als Hauptproblem außer acht gelassen, das die Reform gestoppt hat: die Desintegration. Dabei hat dieser Prozeß im Vergleich zum Vorjahr, als die Regierung Gaidar an die Arbeit ging, noch viel größere Ausmaße angenommen: Es ist zu einer bedeutenden Dezentralisierung der Macht gekommen.

Unter diesen Umständen ist jeder wirtschaftliche und politische Kurs, der von Moskau aus gesteuert wird, zum Scheitern verurteilt, wenn nicht zum einen die russischen Länder selbst die Initiative ergreifen und zum anderen das Zentrum das gesamte Konzept seiner Regionalpolitik revidiert. Meine zentrale These ist, daß sich die Interessen des neuen Staates aus den Interessen seiner föderativen Länder zusammensetzen müssen, die sich ihrerseits aus den Interessen ihrer Bevölkerung summieren. Zugleich kommt es darauf an, daß dabei nicht die Grenze zum Regionalismus überschritten wird. Die Etablierung des Staatswesens und des gesellschaftspolitischen Systems in Ruß-land sollte das Resultat eines Aufeinanderzugehens der Regionen sein.

Weiterhin ist wichtig, daß jedes Land die Strategie seiner sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung festlegen muß, die seinen Besonderheiten entspricht, d. h., die Länder müssen ein System von Wirtschaftsbeziehungen aufbauen und Ziele formulieren, die sich erreichen lassen.

Die Verwaltungen vieler Regionen Rußlands vertreten mit Recht die Ansicht, daß das Zentrum eine vollwertige Ausnutzung von gewissen „wirtschaftlichen Trümpfen“, die der jeweiligen Region zur Verfügung stehen und ihr „zu einem besseren Leben“ verhelfen könnten, verhindere. Wenn aber zu Beginn der Anspruch auf Alleinnutzung dieser „Trümpfe“ eine enorme Separatismuspotenz ausgelöst hat, so wurde doch nach und nach sichtbar, daß jeder dieser Vorteile erst in Verbindung mit den Vorteilen anderer Regionen richtig zur Geltung kommt und sich nur unter den Verhältnissen eines aufnahmefähigeren Marktes realisieren läßt.

Die höchste Integrationspotenz weisen die Länder mit entwickelter verarbeitender Industrie, ganz besonders mit deren Endfertigungsstufen und wissenschaftsintensiven Branchen auf, die schon existentiell auf die wechselseitigen wirtschaftlichen Beziehungen zu den Nachbarn angewiesen sind.

Dennoch können eine entsprechende Innenpolitik, die Stabilität der sozialen Lage und eine professionell betriebene Politik der Vereinigung auch solche Länder in Führungspositionen bringen, die zwar nicht über besondere ökonomische Potentiale, wohl aber über ein Interessengleichgewicht verfügen. Und das um so mehr, als angesichts der riesigen Ausmaße des Landes und der Kompliziertheit der interregionalen Wirtschaftsbeziehungen keine Republik bzw. Region Rußlands es je vermögen wird, das ganze Land wirtschaftlich zu dominieren.

Das Bedürfnis der russischen Länder nach Reintegration und die zunehmende politische Rolle derRegionalbehörden, der örtlichen „Industriekapitäne“ und Unternehmer führen schon aus rein ökonomischen Gründen zu einem Interesse an Stabilität und einem einheitlichen freien Markt. Allerdings bleibt seine Realisierung so lange äußerst kompliziert, wie die Föderativbehörden nicht ihre eigene Rolle korrigieren.

Die regionalbezogene Wirtschaftspolitik der Staatsführung muß darin bestehen, daß sie die Eigentumsrechte in den Regionen sichert, eine umfassende Nutzung der Besonderheiten jedes einzelnen Landes fördert, seine Wirtschaftspotenzen erschließt und sie in einer für die Bevölkerung maximal vorteilhaften Form im Rahmen des gesamtstaatlichen und des weltweiten Marktes zur Geltung bringt. Durch diese Logik wird eine Einmischung des Staates in die Wirtschaft der Länder nur dann gerechtfertigt sein, wenn es zwecks Hilfe-leistung bei Problemen, die die Länder mit eigenen Kräften nicht bewältigen können, oder zur Durchsetzung von interregionalen und gesamtstaatlichen Wirtschaftsprogrammen erforderlich ist.

Wenn eine solche Politik sich Bahn bricht, wird ihr erstes Ergebnis die Überwindung der Krise der Macht und die Entstehung normaler Bundesstaatsverhältnisse sein. Des weiteren sollten die ökonomischen und politischen Voraussetzungen für die Entwicklung eines Unternehmertums und damit für die Herausbildung eines Mittelstandes mit der ihm eigenen Mentalität und den entsprechenden gesellschaftspolitischen Schlichtungsverfahren geschaffen werden. Erst dann wird man von einer Nichtumkehrbarkeit der demokratischen Reformen sprechen dürfen, denn heutzutage -ungeachtet eines allgemeinen Kampfes gegen die äußeren Erscheinungen der totalitären Vergangenheit -lassen der Umstand, daß die überwiegende Mehrheit unserer Bürger keine Beziehung zum Eigentum hat, es der Gesellschaft an Zukunftssicherheit mangelt, die schwache Entwicklung von Schlichtungsverfahren sowie die Desintegration ein für die Demokratie sehr gefährliches Potential entstehen.

Gibt es Anzeichen dafür, daß das Zentrum eine neue Konzeption seiner Beziehungen zu den Ländern vorbereitet? Auf den ersten Blick scheint es so, denn man verlautbart, daß jedes Land der Föderation ein eigenes Entwicklungsprogramm brauche, das ein Bestandteil der gesamtrussischen Wirtschaftspolitik werden soll. Es werden auch staatliche Betriebe und Staatsvermögenswerte aus dem Föderationseigentum in Ländereigentum überführt. Ferner ist ein sehr wichtiges interregionales Schlichtungsorgan, der Rat der Repräsentanten der zu Rußland gehörenden Republiken, gebildet worden. Und trotzdem reichen die Dimensionen der vor sich gehenden Veränderungen offenbar nicht aus. Mehr noch, manche Gruppierungen in Moskau versuchen, die im Entstehen begriffenen interregionalen Strukturen als Bundesgenossen für den Kampf gegen andere Gruppierungen zu gewinnen.

Die neue, interregionale Konzeption weist viele Klippen auf. Unklar ist beispielsweise, wie sich die Beziehungen zwischen dem erwähnten Rat der Republikrepräsentanten und dem Parlament gestalten werden. Vor dieses Problem sah sich seinerzeit auch Gorbatschow gestellt, als der Oberste Sowjet der UdSSR seine Versuche unterbunden hatte, wichtige Probleme auf geschlossenen Konferenzen mit den Präsidenten der Unionsrepubliken zu lösen. Unklar ist schließlich der Weg der rechtlichen Regelung in den gegenseitigen Beziehungen zwischen den Ländern und dem Föderationszentrum. Heute werden sie durch den Föderationsvertrag geregelt, der zahlreiche Mängel hat. Sein gravierendster ist, daß dieser Vertrag zwischen den Ländern und dem Zentrum geschlossen worden ist, d. h. damit gehört auch das Zentrum als Subjekt der Föderation an. Durch dieses juristische Paradoxon wird eine Unmenge von Schwierigkeiten heraufbeschworen. Ein anderes juristisches Problem stellen die drei Beilagen zum Vertrag dar; das sind Sonderabkommen über die Verteilung der Machtbefugnisse, die das Zentrum gesondert mit den Republiken, den Gebieten und Regionen sowie mit den Autonomien geschlossen hat.

Durch diesen Vertrag wird eine ungleiche Rechtsstellung der Subjekte der Föderation verankert, während die Gebiete und Regionen die gleichen Rechte wie die Republiken beanspruchen. Darüber hinaus gibt es keinen ausgeprägten Mechanismus, der das Funktionieren dieser Abkommen regelt. Wie soll man sich nun zum Föderationsvertrag verhalten? Gilt es, auf den Abschluß eines neuen Vertrages hinzuarbeiten und somit die Aussichtslosigkeit des vorhandenen einzugestehen? Es ist jedoch nicht zu verkennen, daß der bestehende Vertrag der einzige ist, der den Föderationscharakter dieses Staates fixiert. Wenn jemand schon diese Akte in Frage stellt, wird dadurch einerseits eine Kettenreaktion von verfassungswidrigen Handlungen heraufbeschworen. Andererseits läßt sich das Problem der Reintegration ohne Anerkennung der gleichen Rechtsstellung für alle Subjekte der Föderation offenbar nicht lösen.

Wahrscheinlich soll das entscheidende Wort für eine rechtliche Absicherung des föderativen Staatsaufbaus letzten Endes dem Parlament gehören, das die Länder durch ihre Vertreter zur Durchsetzung politischer Initiativen ausnutzenkönnen. Um aber diese Arbeit aufzunehmen und ihr einen konstruktiven Charakter zu verleihen, bedarf es der Überwindung des langwierigen Konfliktes zwischen der Legislative und dem Präsidenten, eine Konfrontation, die gegenwärtig bedrohliche Formen annimmt.

Die Vereinigungsprobleme, denen sich Rußland ausgesetzt sieht, sind im Grunde nicht neu. Viele Staaten waren damit konfrontiert, darunter auch Rußland selbst in verschiedenen Perioden seiner Geschichte. Allerdings haben es bei weitem nicht alle Regime vermocht, sie zu bewältigen.

Heute kommt es für die Politiker Rußlands darauf an, spezifische „rußlandeigene“ Schwerpunkte festzulegen, die eine zuverlässige Stütze beim Aufbau einer starken Föderation und einer Bürgergesellschaft abgeben, die auf demokratischen Grundlagen basiert.

Rußland und Deutschland sind traditionell enge Partner in europäischen Angelegenheiten. Und es hat ebenfalls Tradition, daß unsere Kollegen mit bestimmten Schwierigkeiten zu tun haben, wenn sie einen besseren Einblick in die russische Wirklichkeit gewinnen wollen. Diese Tatsache veranlaßt mich, folgendes zu erklären: Die Kräfte, die Rußland in die totalitäre Vergangenheit zurückversetzen wollen, genießen hierzulande, trotz einer tiefen wirtschaftlichen und politischen Krise, keine nennenswerte gesellschaftliche Unterstützung. Aus diesem Grunde hat es wenig Sinn, das Geschehen nur als einen Kampf zwischen Reformern und Reaktionären zu betrachten. Das Problem von heute liegt woanders: Die neue russische Gesellschaft braucht dringend Einigkeit, eine politische Infrastruktur und ein entsprechendes psychologisches Klima. Wir sollten lernen, das Vorgehen jeder beliebigen Kraft -sei es die Regierung oder die Opposition, das Zentrum oder die Regionen -unter folgendem Blickwinkel zu betrachten: Wird dadurch die Vereinigung gefördert oder die Spaltung vertieft? Dementsprechend sollten wir unsere eigenen historischen Erfahrungen und die anderer Völker auswerten, die die gleichen Probleme zu bewältigen hatten.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Grigori Jawlinski, Dr. oec., geh. 1952; Studium der Volkswirtschaftslehre am Plechanow-Institut in Moskau; Berater der Präsidenten Gorbatschow und Jelzin; seit Januar 1991 Leiter des Forschungsinstituts „Zentrum für ökonomische und politische Forschungen“ in Moskau. Zahlreiche Veröffentlichungen zu politischen und ökonomischen Fragen.