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Europäische Integration: Ende der Nachkriegszeit oder Rückkehr nach gestern? | APuZ 1/1993 | bpb.de

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APuZ 1/1993 Artikel 1 Entwicklungsperspektiven der Europäischen Gemeinschaft Die Zukunft der Europäischen Gemeinschaft sichern Europäische Integration: Ende der Nachkriegszeit oder Rückkehr nach gestern? Chance Europa Die europäische Einigung aus Sicht der deutschen Wirtschaft Europäische Einheit, föderatives Prinzip und Währungsunion: Wurde in Maastricht der richtige Weg beschritten?

Europäische Integration: Ende der Nachkriegszeit oder Rückkehr nach gestern?

Heinz-Werner Meyer

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Zusammenfassung

Am Ende dieses Jahrtausends soll ein kohärentes, geeinigtes und supranationales Europa stehen. Das wäre dann -im Westen Europas -tatsächlich das Ende der Nachkriegszeit, ein plausibler Schlußstrich unter die keineswegs nur glorreiche Geschichte der europäischen Nationalstaaten: ein wirklicher Bruch mit der alten Geschichte, ein wohlorganisierter Abschied vom ewigen Wechsel zwischen Streit und Versöhnung, zwischen Krieg und Frieden. Der Binnenmarkt, der Maastrichter Vertrag, die Währungsunion -das sind rationale Politikkonzepte, ausgearbeitet allerdings unter weitgehendem Ausschluß der Öffentlichkeit, entstanden in einer Zeit von Veränderungen und Brüchen, auf den Tisch gebracht zu Beginn einer drohenden Weltwirtschaftskrise. Daß aber Gewerkschaften in der Lage sind, auf neue Fragen akzeptable Antworten zu finden -das zeigt sich auch im Prozeß der Vollendung des Binnenmarktes. Zunehmende grenzüberschreitende Tätigkeit der Unternehmen verlangt zwangsläufig eine Europäisierung der betrieblichen Interessenvertretungen. Dieses Problem haben die Gewerkschaften schon Ende der siebziger Jahre aufgegriffen und über den Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) Vorschläge für ein europäisches Informations-und Konsultationsrecht sowie für das Recht auf Mitwirkung in transnationalen Konzernen unterbreitet. Die Vielzahl der gewerkschaftlichen Organisationen in den EG-Ländem und die in einigen Staaten bestehende pluralistische gewerkschaftliche Konkurrenz ist dann kein wirkliches Hindernis mehr, wenn es um die Bewältigung konkreter Probleme geht. Bei einer langfristigen Betrachtung werden sich die Gewerkschaften auf das Ziel europäischer Vertragsbeziehungen orientieren müssen. Eine Desintegration, einen Rückfall in die alten Konflikte kann sich Europa um seiner selbst und um der internationalen Entwicklung willen nicht leisten. Vor diesem globalen Ziel erhalten die sicherlich nicht zu unterschätzenden Probleme bei der Vollendung des Binnenmarktes und der Herstellung der Politischen sowie der Wirtschafts-und Währungsunion ihre relative Bedeutung.

Die Bauzeichnungen, die Kommissionspräsident Jacques Delors im Jahre 1985 für den Ausbau der Europäischen Gemeinschaft vorlegte, fanden damals weithin Zustimmung bei den Regierungen der EG-Mitgliedsländer. Delors’ Plan sah die Schaffung des Gemeinsamen Marktes -nun Binnenmarkt genannt -bis zum 31. Dezember 1992 vor. Dann sollte das Werk vollendet werden durch einen Vertrag, der aus der Wirtschaftsgemeinschaft eine politische, wirtschaftliche und monetäre Union entstehen lassen sollte. Am Ende dieses Jahrtausends soll ein kohärentes, geeinigtes und supranationales Europa stehen. Das wäre dann -im Westen Europas -tatsächlich das Ende der Nachkriegszeit, ein plausibler Schlußstrich unter die keineswegs nur glorreiche Geschichte der europäischen Nationalstaaten: ein wirklicher Bruch mit der alten Geschichte, ein wohlorganisierter Abschied vom ewigen Wechsel zwischen Streit und Versöhnung, zwischen Krieg und Frieden.

Soweit die Vision. Und nun ein Blick auf die Lage: Die westeuropäische Integration war ein -durchaus wohlgeratenes -Kind des Ost-West-Konfliktes, des sogenannten „Kalten Krieges“. Die Gemeinschaft sollte ein Modell des Wohlstandes, der Demokratie und des Fortschritts sein, eine Insel der Stabilität und der Sicherheit. Doch das Jahr 1985 war nicht nur der Beginn des Binnenmarktprojektes -es war auch das Jahr, in dem mit dem Amtsantritt Gorbatschows der Startschuß für eine in der Tat epochale Veränderung der europäischen Realität erfolgte: das Ende des Ost-West-Konfliktes. Die Träume derer, die an die Möglichkeiten einer friedlichen und erfolgreichen Reform des kommunistischen Systems glaubten, mußten unerfüllt bleiben. Auch Gorbatschow kam zu spät. Das sowjetische Imperium mußte Konkurs anmelden; ein Vergleichsverfahren war nicht mehr möglich. Die Hoffnungen der Westeuropäer, das eigene Projekt könne in Ruhe fortgeführt werden und Osteuropa könne sich in einem friedlich organisierten Übergangsprozeß integrationsfähig machen, erwiesen sich als blanke Selbsttäuschung. Der Übergang zu einer neuen Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung in Ost-und Mitteleuropa, vor allem in der ehemaligen Sowjetunion und in Südosteuropa, ist weder friedlich noch organisiert: Er entpuppt sich als radikaler Bruch, geprägt von Emotionen und Chauvinismen, gekennzeichnet auch durch Rückgriffe in die Klamottenkiste der Geschichte.

Der alte Konflikt zwischen Ost und West hat viele seiner Teilnehmer genährt. Der Status quo war Garant für Wachstum im militärisch-technischen Bereich, die Welt war sauber aufgeteilt, das Arrangement funktionierte. Selbst Diktatoren hatten ihr Auskommen. Gelegentliche Zwischenfälle (Berlin 1953, Budapest 1956 oder Prag 1968) störten dieses Arrangement nur unwesentlich. Sie wurden als Betriebsunfälle zu den Akten gelegt. Die Rechnung für diesen (in Europa jedenfalls) kriegsfreien Zustand zahlten die Menschen in Osteuropa: mit einem jahrzehntelangen Verzicht auf Freiheit und Selbstbestimmung; mit dem Erdulden einer perfiden, perfekt organisierten Repression. Diese Rechnung aber, so sehen es die Menschen im Osten, ist eine gesamteuropäische. Sie muß geteilt werden, so brüderlich wie möglich. Daß das nicht so ohne weiteres funktionieren kann, haben wir gemerkt, als wir den 1. Mai des Jahres 1992 unter die Überschrift „Teilen verbindet“ gestellt haben. Dabei trifft dieses verbindende Teilen, so unsere Überzeugung, nicht nur die deutsche und europäische Lage, sondern auch die Beziehungen zwischen dem Norden und dem Süden der Welt. Über den deutschen Aspekt dieses Anspruches sind wirjedoch nicht hinausgekommen. Gelernt haben wir dabei: Nicht nur die Politik in West und Ost war völlig unvorbereitet auf die Ereignisse nach 1985, sondern (natürlich) auch die Menschen. Selbst wenn es vernünftig ist -man darf den Menschen nicht zu schnell zu viel zumuten; pädagogisches Vorgehen ist vonnöten. Lernen müssen vor allem wir, die wir im privilegierten Teil dieser Welt leben, daß uns diese nur eingeschränkt zur Verfügung steht. Faire Teilhaberschaft ist die einzige Grundlage, auf der Frieden und Demokratie gedeihen können. Manche nennen das neue Wirtschaftsordnung, doch ist dieser Begriff nicht umfassend genug: Ihm müssen Begriffe wie Menschenrechte und Minderheitenschutz, Demokratie und Vielfalt an die Seite gestellt werden.

Die Lage in der Welt hat sich gründlich geändert. Fixe Orientierungspunkte wie zum Beispiel das Zielder europäischen Integration haben an Anziehungskraft eingebüßt. Das, was jahrzehntelang als unumstrittenes Ziel der Politik in Westeuropa galt, muß sich heute neuen Fragen stellen, und Zweifel müssen ausgeräumt werden. Die Macher von Maastricht waren sich noch einer breiten Zustimmung zu sicher. Die neu aufgekommenen Unsicherheiten über die Zukunft, die nicht nur kollektiv, sondern auch individuell erfahren werden, vermindern die Bereitschaft der Menschen ganz erheblich, die Bunker ihrer nationalen Gewohnheiten zu verlassen und einem supranationalen Projekt wie dem der Politischen Union ihre Stimme zu geben. Die Auswertung des Abstimmungsverhaltens der französischen Wähler beim Referendum über Maastricht ist aufschlußreich für die Beschreibung von Grundstimmungen, die wir auch im eigenen Lande vorfinden. Für Maastricht entschieden sich die Alten und die Jungen: die Alten, weil ihnen die Erinnerung an ein zerrissenes und zerstörtes Europa noch gegenwärtig ist; die Jungen, weil sie ihre existentiellen Hoffnungen auf die grenzüberschreitende Moderne setzen. Gegen Maastricht stimmte die Mehrheit der Arbeiter in den sogenannten traditionellen Industrien: bei Stahl, im Bergbau und auf den Werften. Für Maastricht sprachen sich deutlich die besser Ausgebildeten, die Angehörigen „moderner Berufe“, das versammelte mittlere Management aus. Die einen waren dagegen, weil sie den Niedergang ihrer Branchen und Regionen der europäischen Integration auf die Rechnung setzen; die anderen waren dafür, weil sie sich Aufschwung und bessere Chancen von eben dieser Integration versprechen. Für Maastricht votierten die Menschen in den Grenzregionen nicht nur im Westen, sondern auch an der Pyrenäengrenze zu Spanien: Für sie ist Europa Wirklichkeit geworden, auf die sie nicht verzichten, sondern die sie ausbauen wollen. Und selbstverständlich stimmten die gegen Maastricht, die fundamentalistische Abneigungen gegen die europäische Supranationalität pflegen: die Chauvinisten vom Schlage Le Pens und die Kommunisten. Die einen, weil ihr Nationalismus sich zu Europa verhält wie das Feuer zum Wasser; die anderen, weil ihr Dogmatismus es ihnen untersagt, in der Gemeinschaft etwas anderes zu sehen als eine monokapitalistische Machination. Falsch und fahrlässig jedoch wäre es, die Maastrichtfrage zur Trennfrage zwischen Guten und Schlechten, zwischen Ewiggestrigen und der Zukunft Zugewandten zu machen.

Der Binnenmarkt, Maastricht, die Währungsunion -das sind Kopfgeburten, oder freundlicher formuliert: sehr rationale Politikkonzepte, ausgearbeitet unter weitgehendem Ausschluß der Öffentlichkeit, entstanden in einer Zeit von Veränderungen und Brüchen, auf den Tisch gebracht zu Beginn einer drohenden Weltwirtschaftskrise. In solchen Zeiten sind viele Menschen zu Reformen nicht bereit: Sie halten sich lieber an dem fest, was sie haben und das sie für bedroht halten. In ihrer Erklärungsnot nennen sie das dann Identität und manchmal auch „nationale Werte“.

Gewerkschaften und europäische Integration -nicht nur eine Liebesgeschichte

Die deutschen Gewerkschaften haben den Prozeß der europäischen Integration von Anfang an unterstützt; nicht nur, weil der Aufbau des Gemeinsamen Marktes und die Zusammenarbeit im Bereich der Schlüsselindustrien (Montan) ein Gebot der wirtschaftlichen Vernunft war, sondern weil die Überwindung von Grenzen und Schlagbäumen im Bewußtsein der meisten Menschen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine der Schlußfolgerungen aus der europäischen Geschichte dieses Jahrhunderts war.

Doch das Gedächtnis der Menschen ist kurz, und der Transfer der Erfahrungen von der einen auf die nächste Generation hat offenkundig seine Schwierigkeiten. Manches von dem, was heute in Deutschland, aber auch anderswo in Europa geschieht, schließt an die Vorkriegszeit an -so als habe es keine kollektiven Erfahrungen danach gegeben. Könnte das, was heute selbstverständlicher Alltag in Europa geworden ist -freies Reisen, freier Austausch, kulturelle Nähe, Zusammenarbeit auf allen Ebenen -mit der Methode der Simulation für eine kurze Zeit rückgängig gemacht werden, dann erst würde den Menschen klar, was sie verlören, wenn es den jetzt erreichten Stand der europäischen Integration nicht gäbe. Überzeugungen müssen daher immer neu gewonnen und Erfahrungen immer neu vermittelt und bewußt gemacht werden.

Eine nicht gering zu schätzende Ursache für die nachlassende Strahlkraft der europäischen Einigungsidee ist die Reduzierung des Konzepts Europa auf das Ökonomische und die bürgerferne Technokratisierung. Das, was vor sechs Jahren unter dem Titel „Vollendung des Binnenmarktes“ vorgelegt wurde, ist in seiner Gestaltung rein ökonomischer Vernunft untergeordnet; es hat keinesoziale und schon gar keine kulturelle Komponente. Die Ausgangsüberlegung der Architekten dieses Konstrukts entsprach folgender Logik: Der vollendete Binnenmarkt, so hieß es, werde zwangsläufig zu einer wesentlichen qualitativen Erhöhung des Integrationsgrades und zu einer politischen und wirtschaftlichen Union führen. Und die Erfolge, so das Kalkül, würden sich schnell einstellen und überzeugend auf die Menschen wirken. Europa würde seine Wettbewerbs-kraft wesentlich erhöhen, den Menschen würde es besser gehen, signifikant mehr Arbeitsplätze würden geschaffen. Die Anziehungskraft der europäischen Idee würde auf dem Wege des wirtschaftlichen Erfolges unwiderstehlich.

Doch was in Klausuren und Konzilien von Politikern und Experten entstand, übte nur wenig Faszination auf die Menschen aus. Es wurde keine zündende Idee transportiert, sondern eine nüchterne Wegbeschreibung. Verwunderlich war es deshalb nicht, daß der Binnenmarktplan von allen Verbänden unter der Optik der jeweiligen Partikularinteressen untersucht wurde. Grundsätzliche Zustimmung wurde von vielen kleinen Einschränkungen und Ablehnungen begleitet. Die von vielen Menschen offenbarte Einstellung zeigt jedoch, wie groß der Abstand zwischen denen werden kann, die Politik entwerfen, und denen, die diesen Entwürfen folgen sollen. Auf einen einfachen Nenner gebracht, kann man die Grundstimmung der Arbeitnehmer in Europa so zusammenfassen: Die Deutschen nährten Angst vor dem Verlust von Wohlstand und Sicherheit in Europa und die (meisten) anderen europäischen Arbeitnehmer fürchteten sich vor deutscher Dominanz in Europa. Sehr demagogisch hat das im Europawahlkampf 1979 der damalige Generalsekretär des französischen kommunistischen Gewerkschaftsverbandes CGT ausgedrückt: „Die Deutschen brauchen ihre Panzer nicht mehr aufzufahren. Sie haben ja die DM.“

Diese emotionalen Aspekte sind -heute wissen wir es -maßlos unterschätzt worden. In zahlreichen Informations-und Seminarveranstaltungen haben wir lernen müssen, wie nachhaltig das unbedachte Wort vom „deutschen Zahlmeister in Europa“ in den Köpfen wirkte. Die deutschen Arbeitnehmer könnten, so ein Einwand, durch einen Abfluß von Investitionen in europäische Billiglohnzonen sowie durch eine unkontrollierte Zuwanderung von Billiglohnkräften aus dem Süden Europas Arbeit und Wohlstand riskieren. Und schließlich könne durch eine normierte europäische Vereinheitlichung das System der sozialen Sicherheit in Gefahr geraten.

Veränderungen sind immer von Unsicherheiten und Ängsten begleitet, zumal dann, wenn Veränderungen nicht in einem breiten Prozeß mit vielen Teilnehmern vorbereitet werden, sondern in distanzierten Politikentwürfen entstehen. Unternehmen definieren ihre Politik vor allem mit betriebswirtschaftlicher Logik unter Berücksichtigung der gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Zahllose Unternehmen haben sich schnell für eine Europäisierung ihrer Tätigkeit entschieden, viele haben fusioniert und dazugekauft und die Chancen des Binnenmarktes schnell errechnen können. Für Gewerkschaften ist die Europäisierung viel schwerer: Sie müssen Menschen von der Notwendigkeit von Veränderungen überzeugen und Traditionen und Üblichkeiten überwinden, die für viele ihrer Mitglieder Identifikationsmerkmale sind. Deshalb geht der Vorwurf, die Gewerkschaften hätten Europa verschlafen, zum großen Teil ins Leere. Gewerkschaften geben Antworten auf reale Fragen, und nur selten kann es gelingen, schon heute Antworten auf Fragen von morgen zu geben.

Daß aber Gewerkschaften in der Lage sind, auf neue Fragen akzeptable Antworten zu finden -das zeigt sich auch im Prozeß der Vollendung des Binnenmarktes: Die Europäisierung der unternehmerischen Tätigkeit unterläuft zunehmend die Wirkungskraft betrieblicher Interessenvertretungen, so wie sie in den Arbeitsgesetzgebungen der EG-Mitgliedsländer verankert sind. Die zunehmende grenzüberschreitende Tätigkeit der Unternehmen verlangt zwangsläufig eine Europäisierung der betrieblichen Interessenvertretungen. Dieses Problem haben die Gewerkschaften schon Ende der siebziger Jahre aufgegriffen und über den Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) Vorschläge für ein europäisches Informations-und Konsultationsrecht sowie das Recht auf Mitwirkung in trans-nationalen Konzernen unterbreitet. Die EG-Kommission (der niederländische Kommissar Henk Vredeling) nahm diese Vorschläge auf und legte dazu eine Richtlinie vor. Die Verwirklichung dieser Richtlinie scheiterte jedoch an einer eigentümlichen und mit demokratischen Grundsätzen schwer zu vereinbarenden institutioneilen Konstruktion: Der Ministerrat der EG fungiert de facto als Legislative, demokratisch (wenn überhaupt) nur mittelbar durch das Europaparlament kontrolliert und bei zahlreichen Entscheidungen auf Einstimmigkeit festgelegt. Die „VredelingRichtlinie“ verschwand in den Schubladen. Ihre Verabschiedung Anfang der achtziger Jahre hätte der Entfaltung europäischer Sozialbeziehungen erhebliche Schubkraft geben können.Die Gewerkschaften haben in dieser Lage den Weg vertraglicher Vereinbarungen beschritten und mittlerweile in einer größer werdenden Zahl von (vor allem großen) Unternehmen Vereinbarungen über die Einrichtung „Europäischer Betriebsräte“ geschlossen. Die Rechte dieser Gremien beschränken sich im wesentlichen auf Information und Konsultation, was jedoch angesichts der derzeit noch völlig ungeregelten europäischen Sozialbeziehuhgen deutlich mehr als nichts ist und eine Weiterentwicklung zuläßt. Anzunehmen ist, daß die Zahl dieser Gremien zunehmen wird und damit eine Grundlage für eine betrieblich unterfütterte gewerkschaftliche Dimension in Europa entsteht. Damit werden auch für die mittlerweile in beachtlicher Zahl bestehenden, strukturell aber noch schwachen gewerkschaftlichen Zusammenschlüsse in Europa (denen übrigens auch die Gewerkschaften aus den EFTA-EWR-Ländem und der Türkei sowie Zypern und Malta angehören) Bedingungen entstehen, die sie in die Lage versetzen, mehr als nur Lobbyisten und Koordinatoren zu sein. Ein weiteres hat die Entstehungsgeschichte der Europäischen Betriebsräte gezeigt: Die Vielzahl der gewerkschaftlichen Organisationen in den EG-Ländem und die in einigen Ländern bestehende pluralistische gewerkschaftliche Konkurrenz ist dann kein wirkliches Hindernis mehr, wenn es um die Bewältigung konkreter Probleme geht.

Von entwickelten sozialen Beziehungen auf EG-Ebene kann derzeit nicht die Rede sein. Der EG-Vertrag sieht den Sozialen Dialog als Instrument solcher Beziehungen vor, und im Sozialprotokoll zu Maastricht ist sogar eine Disposition enthalten, die über vertragliche Beziehungen zwischen den Spitzenverbänden der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer in Europa (UNICE und EGB) die Möglichkeit einräumt, unter Subsidiaritätsgesichtspunkten über Verträge das zu regeln, was sonst über Gesetze geregelt werden müßte. Bei allem Respekt vor den Initiativen der EG-Kommission und insbesondere ihres Präsidenten -in diesem Feld muß auf einige Hindernisse verwiesen werden, die vorerst einer Verwirklichung funktionierender Vertragsbeziehungen im Wege stehen.

Der „Europäische Tarifvertrag“ bleibt bis auf weiteres eine Kunstfigur, weil die ganz unterschiedlichen wirtschaftlichen, sozialen, aber auch rechtlichen Rahmenbedingungen in den Mitglieds-ländern länderübergreifende Vereinbarungen über „Tarife“ nicht zulassen. Mit Einschränkungen gilt dies auch für Arbeitsbedingungen und sonstige Vereinbarungen, die in der Bundesrepublik Deutschland zum Beispiel in Manteltarifverträgen festgelegt werden. Die Voraussetzungen für europäische Verträge zwischen den Tarifparteien bestehen nicht. Insofern ist es unrealistisch, mit dem Abschluß von Verträgen in nächster Zeit zu rechnen. Bewegung in den sozialen Beziehungen muß erst in den Branchen und Sektoren entstehen. Außer Zweifel steht, daß dies infolge der durch den Binnenmarkt geschaffenen neuen Rahmenbedingungen mittelfristig geschehen wird. Verordnet aber oder gar erzwungen werden können solche Entwicklungen auch nicht durch europäische Vertragswerke. In diesem Punkt darf der soziale Dialog nicht mit allzu vielen Erwartungen belastet werden. Dennoch kommt dem Sozialen Dialog eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Er ist geeignet, den Sachverstand und die Erfahrungen der Sozialpartner in Europa zu nutzen, um den Gesetzesentwürfen der Kommission vor allem im sozialen Bereich eine möglichst große Praxisnähe und -wenn immer möglich -den Konsens der Sozialpartner zu sichern. Auszuschließen ist dabei auch nicht, daß es zu Rahmenvereinbarungen in außertariflichen Bereichen kommt.

Bei einer langfristigen Betrachtung werden die Gewerkschaften sich auf das Ziel europäischer Vertragsbeziehungen orientieren müssen, wenn sie der Gefahr entgehen wollen, daß in einem gemeinsamen Markt die Unternehmen grenzüberschreitend organisieren, während andererseits Gewerkschaften, Arbeitnehmerrechte und soziale Beziehungen spätestens an den nationalen Grenzen haltmachen. Dann würden sich die ansonsten nicht mehr relevanten Grenzen auf die sozialen Beziehungen wie Demarkationslinien auswirken.

Die mit dem Binnenmarkt verbundene soziale Dimension ist (nicht nur) aus gewerkschaftlicher Sicht völlig unzulänglich entwickelt und nicht geeignet, die Zustimmmung der Arbeitnehmer zur Vollendung des Binnenmarktes zu fördern. Die in Straßburg Ende 1989 Unterzeichnete EG-Sozial-charta enthält zwar eine ganz Reihe von guten Absichten, aber sie hatte -wie die weitere Entwicklung belegte -eher die Funktion eines Tranquilizers. Ganz abgesehen davon, daß schon damals die britische Regierung ihre Unterschrift verweigerte und diese Politik bei den Verhandlungen zum Maastrichter Vertrag beibehielt, scheiterte die Kommission weitgehend in ihrer Absicht, auf der Grundlage der „feierlichen Erklärung“ von Straßburg ein soziales Aktionsprogramm in die Tat umzusetzen.

Die Gewerkschaften teilen die Philosophie der Kommission: Es geht nicht um die Einführung eines „neuen“ europäischen Sozialsystems, das an die Stelle der gewachsenen Sozialsysteme der Mit­gliedsländer tritt, sondern vielmehr um die Definition eines Sockels sozialer Mindestnormen, der nicht unterschritten werden darf. Vor allem muß verhindert werden, durch weitergehende Deregulierungen und den systematischen Abbau von Sozialstandards („Sozialdumping“) Wettbewerbs-faktoren entstehen zu lassen, die im Widerspruch zu der erklärten Absicht des Europäischen Vertrages stünden, die Integration auf dem Wege des Fortschritts zu verwirklichen.

Die Durchsetzbarkeit des Aktionsprogramms zur Sozialcharta scheitert am mangelnden politischen Willen vieler Regierungen, den Binnenmarkt tatsächlich durch eine nachhaltige soziale Komponente, den Markt und den europäischen Wettbewerb durch geeignete soziale Mindestvorschriften zu ergänzen. Der freie Markt als Beschäftigungsund Sozialprogramm sowie die Denunzierung sozialer Komponenten als Bürokratismus und Regelungsfanatismus -dieser Glaubenssatz ist nach wie vor Bestandteil des „ideologischen Besteckkastens“ mancher europäischer Politiker.

Mißbraucht wird dabei gerne der Begriff der Subsidiarität. Er droht zu einem Synonym für Untätigkeit im sozialen Bereich zu werden. Die Gewerkschaften sind keineswegs Anhänger eines bürokratisch durchdeklinierten Europas und sehen in einer intelligenten Anwendung der Subsidiarität ein wichtiges Gestaltungsmerkmal für einen demokratischen, dezentralen und regionalen Aufbau Europas. Aber was dem Binnenmarkt recht ist -das muß den Arbeitnehmern in Europa billig sein.

Für die Vollendung des Binnenmarktes ist die Verabschiedung und Anwendung von fast 300 europäischen Richtlinien und Verordnungen erforderlich. Nicht unbillig ist vor diesem Hintergrund die Vorstellung der Gewerkschaften, Mindeststandards über europäische Gesetze auf den Weg zu bringen. Die Straßburger „Willenserklärung“ (Sozial-charta) ist eine akzeptable Grundlage und von immerhin elf Regierungen anerkannt. Ausdrücklich wird festgestellt, daß „soziale Grundrechte allen Arbeitnehmern ungeachtet ihres Arbeitsverhältnisses und der Art des Unternehmens einzuräumen sind“. Solche Grundrechte beziehen sich u. a. auf die Koalitionsfreiheit und das Streikrecht, das Recht auf Chancengleichheit, das Recht auf Unterbringung, Anhörung und Beteiligung der Arbeitnehmer sowie auf das Recht auf ein garantiertes Mindesteinkommen für Arbeitnehmer, die vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind. Dabei geht es den Gewerkschaften nicht in jedem Fall um eine detaillierte europäische Gesetzgebung, sondern eher um Richtungsangaben (Richtlinien), die die Gleichwertigkeit gewisser sozialer Normen zum Ziel haben.

Doch wenn auch aus der Sicht der Gewerkschaften die bisherige Entwicklung der sozialen Dimension Anlaß zur Kritik bietet, so ist das kein hinreichender Grund zur Ablehnung des Binnenmarktprojektes oder des Vertrages von Maastricht. Im Gegenteil: Die Umwälzungen in Osteuropa und die neu in den Blick der Weltpolitik geratenen Nord-Süd-Beziehungen verlangen eine Beschleunigung der europäischen Integration. Nur so kann gesichert werden, daß Europa seiner internationalen Verantwortung gerecht zu werden vermag.

Der Maastrichter Vertrag enthält neben dem Ziel der Wirtschafts-und Währungsunion eine Reihe interessanter und auch in der gewerkschaftlichen Debatte vernachlässigter Dispositionen, die es verdienen, hervorgehoben zu werden: -Durch die Einführung der Unionsbürgerschaft haben die Bürger der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Politischen Union -also in allen Mitglieds-ländern der Gemeinschaft -frei zu bewegen. Dieses Recht schließt auch die Beteiligung an Kommunal-und Europawahlen ein. Das ist eine wichtige Erweiterung der bisherigen Freizügigkeit, die den Bürger lediglich als „Wirtschaftssubjekt“ behandelte und die Freizügigkeit nur im Zusammenhang mit Erwerbstätigkeit garantierte. -Die Regionen in den Mitgliedsländern und die in einigen Mitgliedsländern verankerte föderale Verfassung erhalten europäische Anerkennung durch die Einrichtung eines Regionalausschusses, der zwar nur beratende Funktion hat, den Regionen der Gemeinschaft jedoch eine unmittelbare Beteiligung am Meinungsbildungsprozeß sichert. -Die Rechte des Europäischen Parlamentes sind zwar erweitert worden, ohne daß dem Parlament aber nun die Rechte eingeräumt werden, die ihm nach den Grundsätzen der parlamentarischen Demokratie zustehen müßten. Das Demokratiedefizit bleibt, aber es ist kleiner geworden. -Erklärtes Ziel der Gemeinschaft bleibt es, das Wohlstandsgefälle zwischen Ländern und zwischen Regionen zu verringern. Bis Ende des Jahres 1993 muß ein sogenannter „Kohäsionsfonds“ (eine der Wortschöpfungen der EG-Politik, die mit belegt, warum es erhebliche Vermittlungsprobleme zwischen Politik und Bürgern gibt) eingerichtet werden, der Ländernoffensteht, deren Wirtschaftsleistung pro Einwohner unter der Marke von 90 Prozent des Gemeinschaftsdurchschnitts liegt.

Auf dem Gebiet der Außen-und Sicherheitspolitik sind die Institutionen der Gemeinschaft (Kommission und Parlament) ausgeschaltet, sieht man von Vorschlags-und Konsultationsrechten ab. Die dazu in Maastricht erzielten Vereinbarungen sind nur schwerlich als „Fortschritte“ zu bezeichnen. Gemäß dem Maastrichter Vertrag sollen die Mitgliedstaaten in der Politischen Union eine gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik „erarbeiten und verwirklichen“; im bislang gültigen Vertragstext sollten sich die Mitgliedstaaten lediglich um eine solche Politik „bemühen“ (Einheitliche Akte).

Die Verwirklichung der Währungsunion schließlich kann in den nächsten Jahren durchaus einigen Kurs-und Zeitkorrekturen unterliegen, denn auszuschließen ist nicht, daß aufgrund der internationalen wirtschaftlichen Entwicklung auch diejenigen die Stabilitätskriterien nicht erfüllen können, die so vehement für sie eingetreten sind.

Noch ist die Ratifizierung von Maastricht weder abgeschlossen noch gesichert. Das britische „Spiel auf Zeit“ und nicht auszuschließende dänische Maximalforderungen sowie eine sich verschlechternde Stimmung in den Mitgliedstaaten -gefördert vor allem durch eine krisenhafte Wirtschaftsentwicklung und soziale Konflikte -stellen ein Gefährdungspotential für die Integration dar: Zu ausge

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prägt ist die Neigung vieler Menschen, Fehlentwicklungen und Probleme der Europäischen Gemeinschaft anzulasten. Die Nichtratifizierung von Maastricht wäre ein schwerer Rückschlag, den es zu verhindern gilt. Der Vertrag von Maastricht gewährleistet eine Vertiefung der Zusammenarbeit und ist die Voraussetzung auch für die Wiedergewinnung internationaler Stabilität. Die bevorstehende Erweiterung der Gemeinschaft -u. a. durch einige skandinavische Länder und Österreich -ist ein weiterer Schritt auf dem Wege der Neuordnung Europas. Die Europäische Gemeinschaft wird nicht eine „Insel der Seligen“ in einer unsicheren Welt sein können. Aber ohne sie wäre die Bewältigung der Probleme in Europa und in der Welt um vieles schwerer.

Die Gewerkschaften in Europa sehen sich als Akteure der europäischen Einigung. Sie werden sich um ihre eigene europaweite Organisation zu kümmern haben, um einen Beitrag zur sozialen Ausgestaltung der Gemeinschaft leisten zu können, ohne die Europa weder politisch noch wirtschaftlich ein erfolgreiches Projekt sein kann. Eine Desintegration, ein Rückfall in die alten Konflikte kann sich Europa um seiner selbst und um der internationalen Entwicklung willen nicht leisten. Vor diesem globalen Ziel erhalten die sicherlich nicht zu unterschätzenden Probleme bei der Vollendung des Binnenmarktes und der Herstellung der Politischen sowie der Wirtschafts-und Währungsunion ihre relative Bedeutung.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Heinz-Werner Meyer, geb. 1932; nach Tätigkeit im Bergbau Studium an der Akademie für Wirtschaft und Politik in Hamburg; zahlreiche gewerkschaftliche Funktionen; von 1975-1985 Mitglied des Land-tages von Nordrhein-Westfalen; 1985-1990 1. Vorsitzender der IG Bergbau und Energie; 1987-1990 Mitglied des Deutschen Bundestages; seit Mai 1990 Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes.