Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Verwirklichung der Europäischen Währungsunion | APuZ 28/1993 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 28/1993 Die Europäische Union und dieVerfassung derDeutschen Europäische Union: Erfüllung des Grundgesetzes Verwirklichung der Europäischen Währungsunion Europa nach Maastricht -Die Skepsis bleibt

Verwirklichung der Europäischen Währungsunion

Jürgen von Hagen

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Maastrichter Vereinbarungen legen zwar die Europäische Währungsunion (EWU) als politisches Ziel fest, lassen aber zugleich erstaunlich viele Fragen ihrer Gestaltung offen. Sie reichen von der Regulierung der Finanzmärkte über die Konzeption der Geldpolitik ihrer Zentralbank bis zur Frage der Mitgliedschaft in der EWU. Da die ökonomischen Vor-und Nachteile der EWU von diesen Fragen abhängen werden, bedürfen sie der Klärung vor deren Beginn. In der Vorbereitungsphase der EWU kommt es darauf an, die Grundlagen für eine möglichst tiefe Integration der europäischen Finanzmärkte einerseits und für eine europäische Konzeption der Geldpolitik andererseits zu schaffen. Die größte Schwäche der Maastrichter Vereinbarungen liegt zweifelsohne in der Vorgabe eines verfehlten Wegs zur Währungsunion. Die Krisen der letzten Monate auf den europäischen Währungsmärkten haben deutlich gemacht, daß der Maastrichter Weg zur EWU über die schrittweise Verhärtung der Wechselkursbindung im EWS ein Irrweg ist. Die vernünftige Alternative liegt in der Wiederherstellung des EWU als ein Verbund zur flexiblen Kooperation in der Währungspolitik. Ein anpassungsfähiges und von politisch unabhängigen Zentralbanken geführtes EWS böte den Ländern, die für die EWU am ehesten bereit sind, die Möglichkeit, ihre geldpolitische Koordination schrittweise zu verstärken und so den Übergang zur EWU vorzubereiten.

I. Maastricht -ein Irrweg?

Das letzte Jahr hat mit seinen Turbulenzen auf den europäischen Währungsmärkten und den unerwarteten Hindernissen im Ratifikationsprozeß der Maastrichter Verträge Beobachter und Befürworter der Europäischen Währungsintegration wieder ernüchtert. Nach der Euphorie und dem großen Optimismus, mit denen die Europäische Währungsunion (EWU) seit 1988 vorangetrieben worden war, macht sich nun Skepsis breit: Haben die Maastrichter Verträge unrealistische Ziele gesetzt? Über die Vor-und Nachteile einer Währungsunion in Europa ist in den letzten Monaten eingehend diskutiert worden. Ohne auf Einzelheiten eingehen zu wollen, lassen sie sich wie folgt zusammenfassen: Erstens sind die zu erwartenden, rein wirtschaftlichen Vorteile einer europäischen Währung gering. Selbst die EG-Kommission veranschlagt sie mit nur 0, 1 Prozent des jährlichen Pro-Kopf-Einkommens in der EG; das entspricht dem Gegenwert von dreieinhalb Schachteln Zigaretten pro Bundesbürger im Monat. Zugleich sind die zu erwartenden Kosten des Verlustes der Wechselkursflexibilität zwischen den EG-Staaten aufgrund der engen Handelsverflechtung ebenfalls gering Schließlich gibt die institutioneile Gestaltung der Europäischen Zentralbank (EZB) Anlaß zu der Erwartung, daß ihre Geldpolitik dem Primat der Preisstabilität gehorchen wird

Zweitens ist der eigentlich erhoffte Gewinn aus der EWU politischer Natur. Seit Beginn der EG haben sich die Befürworter einer EWU stets von der Idee leiten lassen, daß die monetäre Einigung die politische Einigung Europas wesentlich vorantreiben würde. Dahinter steht die Vorstellung, daß eine gemeinsame Währung die Staaten so eng aneinander binden würde, daß immer mehr Bereiche der Wirtschafts-und schließlich der allgemeinen Politik auf die Gemeinschaftsebene verlagert würden; ein Integrationsprozeß der gleichsam zwangsläufig in einem politisch geeinten Europa münden müßte

Akzeptiert man den Grundsatz, daß die EWU mehr ein politisch denn ein ökonomisch begründetes Projekt ist, dann stehen in der Umsetzung der Maastrichter Vereinbarungen drei Fragen im Vordergrund: die Ausgestaltung der Finanzmärkte in der EWU, die Konzeption ihrer Geldpolitik und die beste Strategie zu ihrer Verwirklichung.

Die Maastrichter Vereinbarungen legen zwar die EWU als politisches Ziel fest, lassen aber zugleich viele Fragen ihrer Gestaltung offen. Sie reichen von Aspekten der Finanzmarktintegration über die Durchführung der Geldpolitik der EZB bis hin zur Frage der Mitgliedschaft in der EWU. Da die ökonomischen Vor-und Nachteile der EWU in entscheidendem Maße davon abhängen werden, wie ihre Finanzmärkte gestaltet sind und wie die europäische Geldpolitik konzipiert und durchgeführt wird, bedürfen diese Fragen der Klärung vor dem Beginn der EWU. In der Vorbereitungsphase kommt es darauf an, die Grundlagen für eine möglichst tiefe Integration der europäischen Finanzmärkte einerseits und für eine europäische Konzeption der Geldpolitik andererseits zu schaffen. Gerade weil die EWU im Grunde ein politisches Projekt ist, muß die wirtschaftliche Ausgestaltung so sein, daß ihren Mitgliedern sehr rasch ein möglichst großer wirtschaftlicher Nutzen aus dem Zusammenschluß entsteht, um die Gefahr zu vermeiden, daß die Union aufgrund enttäuschender wirtschaftlicher Ergebnisse früh ihren politischen Rückhalt verliert. Dies setzt voraus, daß die EWU mit einer Gruppe relativ homogener und stabilitätsorientierter Länder beginnt.

Die größte Schwäche der Maastrichter Vereinbarungen liegt Zweifelsohne in der Vorgabe eines Wegs, der von vornherein als wenig erfolgversprechend angesehen werden muß. Die Krisen derletzten Wochen und Monate haben gerade dies gezeigt; sie verdeutlichen ja nicht, daß die EWU selbst ein verfehltes Projekt ist, sondern allein, daß der Maastrichter Weg dorthin über die schrittweise Verhärtung des Europäischen Währungssystems (EWS) ein Irrweg ist. Die Alternative liegt in der Aufweichung des EWS, das ohnehin als ein Verbund zur flexiblen Kooperation in der Währungspolitik konzipiert war. Ein flexibleres, von politisch unabhängigen Zentralbanken geführtes EWS böte den Ländern, die für die EWU am ehesten bereit sind, die Möglichkeit, ihre geldpolitische Koordination schrittweise zu verstärken und so den Übergang zur EWU vorzubereiten.

II. Die EWU: Kein „hartes“ EWS

In der aktuellen Diskussion um die EWU ist der Irrtum weitverbreitet, die Währungsunion sei im Grunde nur eine Fortführung des EWS mit völlig fixen Wechselkursen. Da bereits im heutigen EWS die Begrenzung der Wechselkursschwankungen eine enge Koordination der Zinspolitik in den Teilnehmerländern erfordert, suggeriert diese Ansicht einen zunehmenden Bedarf an Koordination und Angleichung der geldpolitischen Instrumente auf dem Weg zur EWU -und im Umkehrschluß, daß die EWU solange nicht realisierbar sei, wie die Zentralbanken unterschiedliche Instrumente benützen. In der Tat wird weithin die Angleichung der Zentralbankinstrumente als vordringliche Aufgabe für die nächsten Jahre gesehen. Das Beispiel Österreichs erscheint hier besonders suggestiv: Hat doch die Nationalbank zur Vermeidung unliebsamer, technisch bedingter Zinsschwankungen am Geldmarkt etwa aufgrund unterschiedlicher Mindestreservevorschriften ihr geldpolitisches Instrumentarium weitgehend dem der Deutschen Bundesbank angepaßt.

Diese Interpretation der EWU ist jedoch grundlegend falsch und die Schlußfolgerung daher irreführend Das EWS bleibt, selbst mit völlig fixen Wechselkursen, ein System, in dem nationale Geldmärkte nebeneinander existieren, zwischen denen keine unmittelbaren Geldflüsse stattfinden können. Zahlungen von einem Währungsgebiet in ein anderes benötigen stets den Umweg über den Devisenmarkt und die Suche nach einem tausch-willigen Handelspartner. Wechselkursfixierung erfordert, daß die Zentralbanken ständig in das Marktgeschehen eingreifen und nationale Währungen gegen andere Finanzaktiva, z. B. staatliche Wertpapiere, kaufen und verkaufen. Sie müssen dafür sorgen, daß sich die kurzfristigen Geld-marktzinsen im System nicht zu weit auseinander-bewegen; ein Bemühen, das durch enge Koordination der Instrumente und ihres Einsatzes erleichtert wird.

Eine Währungsunion hat dagegen nur einen gemeinsamen Geldmarkt für die gesamte Union. Geldflüsse zwischen den beteiligten Ländern werden innerhalb des gemeinsamen Banken-und Zentralbanksystems durch einfache Buchungsvorgänge abgewickelt und erfordern keine Marktinterventionen der Zentralbanken. Im Gegensatz zum EWS führen regionale Verschiebungen der Geldnachfrage, wie sie beispielsweise durch eine regionale Umverteilung wirtschaftlicher Aktivität oder Einkommen auftreten können, in der EWU nicht zu Zinsmanipulationen zur Fixierung der Wechselkurse. In der EWU entfällt daher die im EWS wahrscheinliche Übertragung solcher Verschiebungen auf andere wirtschaftliche Größen wie Einkommen und Beschäftigung durch die Zinsniveaueffekte. In diesem Sinn ist die EWU ein effizienteres System als das „harte“ EWS.

III. Angleichung und Koordination der Zentralbankinstrumente

Ein Vergleich der Zentralbanken im EWS offenbart deutliche Unterschiede Einige (in England, Italien, Portugal und Irland) intervenieren zur Durchsetzung ihrer kurzfristigen Zinspolitik fast ausschließlich am heimischen Kapitalmarkt, andere (in Deutschland, Frankreich, Spanien und den Niederlanden) stützen sich überwiegend auf Geschäfte mit Geschäftsbanken. Einige Zentralbanken fordern von den Geschäftsbanken die Haltung einer Mindestreserve, die in anderen Ländern längst abgeschafft ist. Auch die Rolle der Zentralbanken in der Regulierung des Kreditwesens ist unterschiedlich.

Bedeuten diese Unterschiede, daß bis zur Einführung der EWU ein Harmonisierungsbedarf besteht? Grundsätzlich nein. Prinzipiell kann eineuropäischer Geldmarkt auch mit großen Unterschieden in den Zentralbankinstrumenten funktionieren. Wieviel Harmonisierungsbedarf besteht, hängt davon ab, inwieweit die nationalen Regierungen die Integration der europäischen Geldmärkte zulassen wollen und welche Rolle sie für ihre nationalen Zentralbanken in der Durchführung der europäischen Geldpolitik beanspruchen.

Eine Gestaltungsmöglichkeit liegt in der Übernahme des englischen Zentralbankmodells für die EZB. Die EZB würde dann die geldpolitische Steuerung allein durch Operationen am Kapitalmarkt vollziehen. Dieses Modell hat eine natürliche Tendenz zur Zentralisierung, d. h., alle relevanten Zentralbankoperationen würden an einem lokalen Markt getätigt. Das amerikanische Beispiel beweist, daß dies (New York) nicht am Sitz der Zentralbank (Washington) sein muß. Dieses Modell würde aber dazu führen, daß sich in der EWU ein Finanzplatz als dominierend herausbilden würde.

Die Alternative besteht in der Übernahme des deutschen Modells einer Zentralbank, die direkte Geschäfte mit Geschäftsbanken vornimmt. Es ist einer regionalen Dezentralisierung der Zentralbankoperationen eher zugänglich und damit auch der Beibehaltung eines Nebeneinanders von nationalen, in der Geldmarktsteuerung aktiven Zentralbanken. Dieses Modell wäre auch besser mit der Koexistenz mehrerer mittelgroßer Finanzplätze in der EWU zu vereinbaren. Da nationale Regierungen in der EG auf den Erhalt ihrer heimischen Finanzplätze und Institutionen bedacht sein werden, ist dieses Modell für die EG wahrscheinlicher, es sei denn, England würde mit der Aussicht, sein Modell zu übernehmen und London als zentralen EG-Finanzplatz auszubauen, zur Mitgliedschaft in der EWU bewogen.

Kommt es zu einer dezentralen Lösung, dann stehen die Geschäftsbanken in der EWU vor der Frage, bei welcher nationalen Zentralbank sie Zentralbankgeld anlegen oder borgen. In einem vollständig integrierten, europäischen Geldmarkt würde dies dazu führen, daß die nationalen Zentralbanken gewissermaßen im Wettbewerb um das Geschäft mit den Geschäftsbanken stehen würden. Offensichtlich würden letztere ihre Geschäfte mit der Zentralbank tätigen wollen, die ihnen die besten Konditionen bietet. Da sich aber die geldwerte Attraktivität einer Anlage oder Verschuldung bei einer Zentralbank aus vielen Dimensionen zusammensetzt -Laufzeit, Liquidität, Kontingentierung, Verzinsung -, bedeutet dies nicht, daß alle Zentralbanken in der EWU dieselben Geschäfte anbieten müssen, um miteinander konkurrieren zu können. Die Zentralbanken hätten durchaus Spielraum, in der Gestaltung ihrer Instrumente historische Umstände oder Besonderheiten ihres nationalen Finanzsektors zu berücksichtigen. Ihr allseitiges Bemühen, ihr Geschäft nicht an andere zu verlieren, würde als Koordinationsmechanismus für die geldpolitischen Instrumente ausreichen.

Man muß fragen, ob ein solcher, vollständig integrierter europäischer Geldmarkt zustande kommen wird. Vollständige Integration setzt voraus, daß die Zentralbanken Geschäfte mit Geschäftsbanken unabhängig davon eingehen, wo letztere ihren Sitz haben. Da Zentralbanken darauf bedacht sein müssen, ihr eigenes Kreditrisiko zu minimieren, werden sie nur mit solchen Banken tätig, deren Kreditwürdigkeit sie als unzweifelhaft einschätzen. Dies setzt aber voraus, daß die Zentralbanken die Vorschriften der Bankenaufsicht in allen anderen Ländern der EWU als mindestens gleichwertig mit den eigenen anerkennen. Ein vollständig integrierter Geldmarkt erfordert daher, daß alle nationalen Kreditaufsichtsbehörden die Vorschriften des Landes übernehmen, das die strengsten Standards aufstellt. Diese Forderung geht weit über die derzeit vereinbarte, wechselseitige Anerkennung von Bankzulassungen in der EG hinaus. Da weniger stringente Standards Banken Wettbewerbsvorteile verschaffen können, hängt das Zustandekommen eines vollständig integrierten Geldmarkts wesentlich davon ab, inwieweit die nationalen Regierungen ihren Banken Wettbewerbsvorteile sichern wollen. Die Schaffung einheitlicher Richtlinien der Bankenaufsicht wäre insofern der monetären Integration förderlich.

Kommt die nötige Einigung nicht zustande, so muß die Integration des europäischen Geldmarkts durch Vorschriften, welche Banken mit welchen Zentralbanken Geschäfte abschließen dürfen, wo Banken ihre Reserven zu halten haben, und durch Begrenzungen des grenzüberschreitenden Zahlungsverkehrs unter den europäischen Banken eingeschränkt werden. Sie würden künstliche Barrieren schaffen, die die nationalen Geldmärkte gegeneinander abgrenzen und lokale Monopolstellungen der nationalen Zentralbanken erhalten. Letztere werden schon aus bürokratischem Interesse am Erhalt einer dominanten lokalen Markt-stellung eine solche Lösung befürworten. Hinzu kommt, daß einzelne nationale Regierungen versuchen werden, die mit der Marktsegmentierung verbundenen Möglichkeiten, heimischen Geschäftsbanken in gewissem Umfang Wettbewerbs-vorteile zu sichern, auszunutzen.In solch einem künstlich segmentierten europäischen Geldmarkt führt der Marktmechanismus nicht mehr reibungslos zum Ausgleich des Zins-niveaus zwischen den verschiedenen regionalen Märkten. Dieser Ausgleich muß dann zur Vermeidung störender, abrupter Kapital-und Geldbewegungen in der EWU durch eng koordiniertes Feinsteuem der geldpolitischen Instrumente der einzelnen Zentralbanken hergestellt werden, das letztlich um so leichter durchführbar ist, je ähnlicher die eingesetzten Instrumente sind. Weitgehende Angleichung der Instrumente und enge Koordination ihres Einsatzes sind daher nur dann Erfordernisse der EWU, wenn der europäische Geldmarkt durch künstliche Barrieren im Interbankverkehr weitgehend segmentiert bleibt.

Aus ökonomischer Sicht ist die vollständige Integration des europäischen Geldmarktes die bessere Lösung, da sie dem Wettbewerb der Investoren und Sparer in Europa um günstige Finanzierungsund Anlagemöglichkeiten keine unnötigen Hindernisse entgegensetzt und so den Wachstums-und Entwicklungsprozeß der europäischen Wirtschaft stärkt. In der Vorbereitungsphase der EWU ist es wichtig, dafür zu sorgen, daß die partikulären Interessen an Wettbewerbsvorteilen für nationale Banken und an der Erhaltung von Aktionsspielräumen für nationale Währungsbehörden nicht die Überhand gewinnen.

IV. Dezentrale versus gemeinschaftliche Konzeption der Geldpolitik

Zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben muß die EZB eine geldpolitische Strategie entwickeln, d. h., sie muß geldpolitische Ziele konkret formulieren und Wege finden, um ihre Ziele zu erreichen. Eine Möglichkeit besteht darin, europäische Aggregate von Preisen und Beschäftigung als Zielgrößen zu verwenden. Preisniveaustabilität hieße dann zum Beispiel, daß der Durchschnitt aller Güterpreise in den beteiligten Ländern nicht um mehr als zwei Prozent pro Jahr steigen darf, was nicht ausschließt, daß die Preise in einzelnen Regionen mehr oder weniger steigen. Alternativ könnte die EZB Zielvorgaben für die Inflationsraten in den einzelnen Mitgliedsländern machen und das Ziel für die EWU einfach aus der Addition dieser Einzelziele berechnen.

Der Unterschied zwischen diesen beiden Ansätzen wird dann wichtig, wenn die Mitgliedsländer unterschiedlichen wirtschaftlichen Einflüssen und Entwicklungen ausgesetzt sind, deren Ausgleich regionale relative Preisänderungen erfordern, d. h. Veränderungen der realen Wechselkurse. Dies kann der Fall sein, wenn ein konjunktureller Aufschwung in einem Land stärker ausgeprägt ist als im übrigen Gebiet der EWU. Solange die Politik der EWU ein europäisches Preisniveau zu steuern versucht, können sich die regionalen relativen Preise frei an die realen Entwicklungen anpassen. Eine Geldpolitik, die auf nationale Inflationsraten abzielt, müßte dagegen auch die realen Entwicklungen prognostizieren und hat daher einen weitaus größeren, in der Praxis unrealistischen Informationsbedarf. Sie wird daher zu häufigeren und schwerwiegenderen geldpolitischen Fehlentscheidungen führen als eine an europäischen Zielen orientierte Politik.

Hinzu kommt der wichtige politische Aspekt der Zielformulierung. Eine Geldpolitik, die auf nationale Zielgrößen abstellt, ist gezwungen, die Verteilung der Anpassungslasten an relative Preisänderungen in der EWU explizit zu machen, so daß diese zum Objekt politischer Auseinandersetzung werden.

Man stelle sich etwa vor, daß die realwirtschaftliche Entwicklung eine relative Verteuerung deutscher gegenüber französischen Gütern um fünf Prozent erfordert, weil die Nachfrage nach deutschen Gütern stark zugenommen hat. Um Preisstabilität in der EWU (d. h. eine allgemeine Steigerung der Preise um zwei Prozent) zu erreichen, müssen die Preise in Deutschland dann um mehr als zwei Prozent steigen, in Frankreich dagegen um weniger, eventuell sogar fallen. Sofern die Geldpolitik allein auf die durchschnittlichen Preise in der EWU abstellt, muß dieser Unterschied in der Zielformulierung nicht explizit gemacht werden. Falls die Zielformulierung aber auf die nationalen Preisniveaus abstellt, wird sich der französische Vertreter in der EZB gezwungen sehen, seinem heimischen Publikum gegenüber die Ankündigung einer Deflation in Frankreich zu vertreten mit der alleinigen Begründung, dies sei angesichts der höheren Preissteigerung in Deutschland nötig, um die europäische Preisstabilität zu wahren. Es ist leicht einzusehen, daß das französische Publikum in einer solchen Lage der Vermutung unterliegt, es trage die größere Last der Anpassung. Daher wird sich das französische Mitglied des EZB-Rates nationalem, politischen Druck ausgesetzt sehen, dem es nur schwer Widerstand leisten können wird. Allgemein bedeutet dies, daß die nationalen Währungspolitiker in den Verhandlungen um nationale Inflationsziele in der EWU nicht bereit sein werden, Zielraten um oder unter Null zu akzeptieren. Eine EZB mit einem dezentralen Zielansatz wird daher im Mittel mehr Inflation produzieren als eine EZB mit einem europäischen Preisniveauziel.

Darüber hinaus werden die Währungspolitiker der EZB bemüht sein, gleiche Inflationsraten in allen Mitgliedsländern durchzusetzen, um solche politischen Konflikte zu vermeiden. Die Volkswirtschaften werden dann gezwungen, Anpassungen an unterschiedliche realwirtschaftliche Entwicklungen durch Beschäftigungs-und Produktionsschwankungen anstatt über Preisveränderungen zu erreichen mit der Folge durchschnittlich höherer Arbeitslosigkeit und geringeren Wirtschaftswachstums. Nicht nur die Preisstabilität, sondern auch Beschäftigung und Wirtschaftswachstum werden daher in einer EWU mit einem dezentralen Zielansatz im Mittel schlechter ausfallen.

Die Krise des EWS vom Herbst 1992 verdeutlicht diesen Punkt: Die realwirtschaftliche Anpassung an die deutsche Einigung machte eine reale Aufwertung der DM innerhalb des EWS unvermeidlich. Die Bundesbank war jedoch -ihrem Auftrag entsprechend -nicht gewillt, die deutliche Preissteigerung, die dies bei fixen Wechselkursen und mäßiger Inflation in den Partnerländern erfordert hätte, hinzunehmen. Gleichzeitig zeigten sich England und Italien und schließlich auch Spanien unwillig, die Deflation zu akzeptieren, die eine reale Aufwertung der DM bei fixen Wechselkursen und geringer deutscher Inflation bedeutete. Das Resultat ist bekannt, die Lektion jedoch allgemeiner: Solange die europäische Geldpolitik auf die Preissteigerung in den einzelnen Mitgliedsländern achtet und damit ständig auf die Verteilung der Anpassungslasten schielt, sind Krisen des Währungsverbundes bis zu seinem Zerfall nicht auszuschließen. In der Vorbereitung der EWU kommt es darauf an, die künftigen europäischen Währungspolitiker ebenso wie das europäische Publikum auf die Ausrichtung der Geldpolitik an europäischen Ziel-größen einzustimmen. Insofern ist die Ansicht, eine engere Koordination der nationalen Geldpolitiken im EWS mit dem Ziel stärkerer Konvergenz der nationalen Inflationsraten sei eine gute Vorübung für die EWU, wie sie heute manchmal vertreten wird nicht nur irreführend, sondern, wenn sie als Vorübung auf eine EWU mit dezentralem Zielansatz verstanden wird, auch gefährlich.

An dieser Stelle offenbart sich besonders klar die enge Verflechtung zwischen monetärer und politischer Integration Europas. Eine Geldpolitik der EZB, die auf Stabilität des europäischen Preisniveaus abzielt, kann nur erfolgreich sein, wenn dieses Ziel von privaten wirtschaftlichen Entscheidungsträgem und Interessengruppen in der EWU allgemein akzeptiert wird. Dies setzt voraus, daß die Bürger in einem Teil der EWU bereit sind, die Lasten der Anpassung an Inflationsdruck in anderen Teilen der EWU mitzutragen. Konkret heißt das, daß Arbeitnehmer und Gewerkschaften in einem Teil der EWU, sagen wir beispielsweise in Frankreich, bereit sein müssen, in ihren Lohnforderungen Zurückhaltung zu üben, wenn -aus welchen Gründen auch immer -anderswo in der EWU, wie z. B. in Dänemark, ein stärkerer Lohn-und Preisauftrieb herrscht.

So wie heute in den nationalen Volkswirtschaften ist dies nur vorstellbar, wenn sich die Bürger der EWU als Teil eines Gemeinwesens verstehen und ein Mindestmaß an Solidarität füreinander empfinden. Die Schaffung dieser für den Erfolg der EWU unerlässlichen politischen Basis der EWU gehört zu den zentralen Aufgaben ihrer Vorbereitung. Es ist klar, daß ihre Erfüllung leichter fallen wird, wenn die EWU mit einer Gruppe von Ländern beginnt, die bereits heute ähnliche Zielvorstellungen in bezug auf die Geldpolitik teilen.

V. Drei Szenarien für die EWU

Nach der Ratifizierung der Maastrichter Verträge wird die Verantwortung für die Vorbereitung der EWU bei dem neu zu schaffenden Europäischen Währungsinstitut (EWI) liegen. Dieses neue Institut, das ähnlich wie die spätere EZB von den Regierungen unabhängig sein soll, wird von den nationalen Zentralbanken der EG geleitet. Auf seinem Weg zur EWU kann es verschiedene Wege einschlagen, deren Endpunkte sich durch drei besonders typische Szenarien für die EWU kennzeichnen lassen

Szenario 1: Die EZB verfolgt einen zentralen Ziel-ansatz, Zentralbankoperationen werden zentral oder dezentral durchgeführt, und es herrscht ein hoher Grad der Integration der europäischen Geldmärkte.

Szenario 2: Die EZB verfolgt einen zentralen Zielansatz, Zentralbankoperationen sind dezentralisiert und der Grad der Integration der Geldmärkte ist geringer als unter Szenario 1. Weder die Zentralbankinstrumente noch die Vorschriften der Bankenregulierung sind vollständig harmonisiert oder koordiniert. Dieses Szenario gleicht den Vorstellungen des Delors-Reports

Szenario 3: Die EZB verfolgt einen dezentralen Zielansatz, Zentralbankoperationen sind dezentralisiert; es gibt mehrere, nationale Währungen, die durch völlig fixe Wechselkurse verbunden sind; der Integrationsgrad der Geldmärkte ist minimal. Die EWU besteht aus einer Verhärtung des EWS. Dies gleicht den Vorstellungen, wie sie etwa von dem Präsidenten der Deutschen Bundesbank als Leitbild zumindest für die Anfangsphase der EWU vertreten worden sind

Alle drei Szenarien sind mit den Maastrichter Vereinbarungen kompatibel; die Verträge legen nicht fest, welches von ihnen schließlich vorherrschen wird. Die drei Szenarien unterscheiden sich aber in ihren wirtschaftlichen Vorteilen einerseits und dem Grad der Unsicherheit der Geldpolitik andererseits. Das erste Szenario maximiert die erwarteten Wohlfahrtsgewinne der Währungsunion. Es erlaubt die größtmögliche Freizügigkeit des Finanzverkehrs und stellt sicher, daß sich die EZB in der richtigen Weise an europäischen statt an nationalen Zielen orientiert. Szenario 1 führt jedoch zugleich zu dem höchsten Grad an geldpolitischer Unsicherheit in der Anfangsphase der EWU. Die Durchführung der Geldpolitik in der EWU würde verläßliche Informationen über die empirischen Zusammenhänge zwischen Zentralbankoperationen und Geldversorgung einerseits und zwischen der Geldversorgung und den geldpolitischen Zielgrößen der EZB andererseits benötigen. Ungeachtet jüngster empirischer Forschung über diese Fragen wird es in der Anfangsphase der EWU wenig Material über diese Zusammenhänge geben Szenario 1 paart also die größten zu erwartenden Vorteile mit der höchsten Unsicherheit.

Szenario 2 beinhaltet einen geringeren Grad der Marktintegration und daher geringere wirtschaftliche Vorteile der EWU. Es erzeugt aber auch weniger Unsicherheit, da die bestehenden empirischen Beziehungen im operativen Bereich der Geldpolitik, also zwischen Zentralbankinstrumenten und GeldVersorgung, erhalten bleiben. Die wichtigste neue Quelle der Unsicherheit ist hier die Verbindung zwischen Geldversorgung und geldpolitischen Zielen auf europäischer Ebene. Szenario 3 führt schließlich zu den niedrigsten Wohlfahrtsgewinnen, aber auch zu den niedrigsten Unsicherheiten.

Man könnte meinen, daß angesichts der Unterschiede zwischen den drei Szenarien die beste Strategie darin bestehe, die EWU mit Szenario 3 zu beginnen und dann allmählich zu Szenario 1 überzugehen. Tatsächlich bietet Szenario 3 der EZB aber wenig Möglichkeiten, Erfahrungen zu sammeln, die in einem späteren Szenario 1 nützlich wären. Da in einer solchen Anfangsphase die alten Marktverhältnisse weitgehend erhalten blieben, würde dieser Weg gerade die erforderlichen Lernprozesse verhindern. Die Konsequenz wäre, daß die Vorteile der EWU gerade in der Anfangsphase gering wären und daher die Erwartungen der Bevölkerung an die EWU enttäuscht und ihr politischer Rückhalt gefährdet würden.

Der Vergleich der drei Szenarien verdeutlicht, daß die Vorbereitung der EWU Entscheidungen zwischen erwarteten wirtschaftlichen Vorteilen einerseits und geldpolitischer Unsicherheit andererseits erfordert. Dem EWI kommt in diesen Entscheidungen eine Schlüsselrolle zu. Da das EWI von Zentralbankpolitikem geführt wird und Vertreter von Zentralbanken im allgemeinen zu konservativen Entscheidungen neigen, kann man erwarten, daß das EWI sich in der Vorbereitungsphase eher risikoscheu verhalten wird. Es wird Lösungen anstreben, die möglichst viele alte Strukturen beibehalten und die EWU mit möglichst wenig unbekannten Aufgaben konfrontieren. Ohne eine klare politische Führung wird der Entscheidungsprozeß, der in Maastricht vorgegeben wurde, dazu führen, wenig riskante, aber ökonomisch ineffiziente Gestaltungen der EWU zu entwickeln.

Die Entscheidung im EWI, welcher Weg eingeschlagen wird, ist eng mit der Frage der Mitgliedschaft in der EWU verknüpft, die die Maastrichter Verträge insofern offengelassen haben, als die EWU mit einer Teilgruppe der EG-Mitglieder beginnen kann. Die Vertreter derjenigen Zentralbanken in der EG, die in den letzten Jahren durch konsequente Stabilitätspolitik sich den Ruf verschafft haben, verläßliche Hüter der Preisstabilität zu sein -die Deutsche Bundesbank, die Zentralbanken der Beneluxstaaten und, in den achtziger Jahren, Frankreichs -, werden dabei wenig Bereitschaft zeigen, sich so vollständig in eine Gemeinschaft mit den weniger gut reputierten Zentralbanken einzubringen, wie es das erste, aus der Sicht der erwarteten Vorteile beste Szenario erfordert. Diese Kerngruppe im EWS wird daher innerhalb des EWI zugunsten eines schlechteren Szenarios (2 oder 3) stimmen, solange die übrigen Zentralbanken eine realistische Chance haben, in der EWU zu sein. Da es aufgrund der Stimmenverhältnisse im EWI sowohl unwahrscheinlich ist, daß sich die Kerngruppe gegenüber den anderen Ländern durchsetzt, als auch, daß die anderen Länder die Kerngruppe zwingen können, mit ihnen eine vollständig integrierte EWU einzugehen, wird das EWI, solange die Mitgliedsfrage ungeklärt ist, schließlich eine Lösung annehmen, die Szenario 2 oder 3 ähnlich ist. Die Entscheidung für das erste Szenario ist um so wahrscheinlicher, je eher und klarer die Mitgliedschaft in der EWU am Anfang auf die Kemgruppe beschränkt wird.

In diesem Zusammenhang wird auch die Frage der Erweiterung der EG relevant. Die Aufnahme Österreichs, Finnlands, Schwedens und Norwegens in die EG und damit in den Entscheidungsprozess um die Vorbereitung der EWU würde das Gewicht der stabilitätsorientierten Länder im EWI verstärken und die Chancen für eine EWU mit einer Teilgruppe der EG erhöhen. Dies erklärt, warum gerade die weniger stabilitätsorientierten Staaten in der EG gegen die Erweiterung der EG opponieren und ihre Zustimmung von der Kompensation durch zusätzliche Struktur-und Regionalfonds abhängig machen.

VI. Die EWU mit zwei Geschwindigkeiten

Die vorangegangenen Überlegungen verdeutlichen das Grundproblem: Kommt es zu einer Währungsunion, die alle EG-Staaten einschließt, so werden die Interessengegensätze in der Vorbereitungsphase zu einer Ausgestaltung führen, die durch geringe Integration der Geldmärkte und eine dezentrale Konzeption der Geldpolitik gekennzeichnet ist. Die EWU wird wirtschaftlich unbefriedigend sein und im schlechtesten Fall auf Ablehnung der Bevölkerung stoßen, die letztlich auch die politische Integration Europas behindern wird. Kommt es dagegen zu einer EWU zunächst nur mit den Mitgliedern der genannten Kemgruppe, so steigen aufgrund der geringeren Interessengegensätze die Aussichten für eine Einigung auf einen hohen Integrationsgrad und eine gemeinsame Konzeption der Geldpolitik.

Aus der Sicht der weiteren Entwicklung der Gemeinschaft wäre es vor allem aus drei Gründen vorteilhaft, dem Interesse der Kemgruppe stattzugeben. Erstens würden dadurch die Chancen steigen, daß die EWU unmittelbar mit der effizientesten Gestaltung der Finanzmärkte und der Geldpolitik beginnt und damit wirtschaftlich erfolgreich wird. Der Erfolg der EWU könnte dann tatsächlich zum Motor der weiteren politischen Integration werden. Zweitens würde das Zusammenfügen einer Gruppe relativ homogener Länder gerade in der Anfangsphase der EWU den notwendigen Lernprozeß im Umgang mit einem integrierten Geldmarkt und einer auf die Gruppe ausgerichteten Geldpolitik der EWU erleichtern. Drittens würde die EWU zum wirtschaftspolitischen Vorbild der anderen Länder der EG, die zwischenzeitlich ihre Geld-und Fiskalpolitik darauf ausrichten könnten, die notwendigen Voraussetzungen für eine spätere Aufnahme in die EWU allmählich und ohne die Kosten übereilter Anpassung herbeizuführen.

Eine EWU, die mit zwei Geschwindigkeiten zu einem wirklich erfolgreichen Zusammenschluß führt, ist offensichtlich einer Union, die mit allen EG-Mitgliedem beginnt, aber zum Mißerfolg wird, aus wirtschaftlicher wie aus politischer Sicht vorzuziehen. Es ist klar, daß die Entscheidung zugunsten dieser Lösung nicht von den Zentralbank-Vertretern im EWI getroffen werden kann, die damit politisch überfordert wären. Die Vorbereitung einer erfolgreichen EWU benötigt vielmehr möglichst bald ein klares Votum der politischen Führung der EG und ihrer Mitglieder.

Das Konzept einer EWU mit zwei Geschwindigkeiten ist mit dem Argument kritisiert worden, die Mitglieder der Kerngruppe würden, wenn die EWU einmal begonnen habe, den anderen EG-Staaten den Zutritt zur Währungsunion verwehren Auf diese Weise würden die zwei Geschwindigkeiten langfristig zu EG-Mitgliedschaften „erster“ und „zweiter“ Klasse führen. Dies Argumentist nicht stichhaltig. Zum einen haben die EG-Staaten, die anfangs nicht an der EWU teilnehmen, im Generalrat der EZB eine Vertretung. Zum anderen liegt gemäß den Maastrichter Vereinbarungen die Entscheidungskompetenz über die Mitgliedschaft in der EWU nicht bei deren Mitgliedern, sondern beim Rat der EG. Es ist unwahrscheinlich, daß die Kerngruppe sich auf Dauer gegen die Mitgliedschaft anderer Staaten, die die wirtschaftspolitischen Voraussetzungen für die Aufnahme in die EWU erfüllen, wehren könnte.

VII. Ein zweistufiges EWS als Vorbereitung zur EWU

In der ersten Zeit nach der Unterzeichnung der Maastrichter Beschlüsse glaubte man, die Vereinbarungen würden am besten durch die schrittweise Verhärtung der Wechselkursbindung im EWS implementiert. Diese Meinung basiert auf der irrigen Wunschvorstellung, Zentralbanken könnten durch Wechselkursbindung Glaubwürdigkeit ihrer Stabilitätsorientierung erlangen. Die Krise des vergangenen Herbstes hat gezeigt, daß dies falsch ist.

Für die Regierungen der weniger stabilitätsorientierten Länder der EG ist es notwendig, die eigene Bevölkerung von der Ernsthaftigkeit ihrer Absicht zu überzeugen, in einer EWU Mitglied zu werden, deren Geldpolitik dem Primat der Preisstabilität unterworfen ist. Gelingt dies nicht, so werden mit der EWU unvereinbare Inflationserwartungen in diesen Ländern verhindern, daß die Lohn-und Preisentwicklung sich den Erfordernissen der EWU anpaßt. Solange aber Regierungen im EWS nicht streng zur Wahrung der Preisstabilität angehalten sind und Leitkursanpassungen benutzen können, um Inflationsunterschiede nachträglich auszugleichen, schafft eine Wechselkursbindung im EWS keine Glaubwürdigkeit. Anhaltende Inflationsunterschiede verzerren bei fixen Wechselkursen die Wettbewerbsposition der Wirtschaften. Da Regierungen dem gegenüber nicht völlig gleichgültig sein können, wird die nächste Kursänderung um so wahrscheinlicher, je länger der Wechselkurs fixiert bleibt. Private Erwartungen antizipieren die Preisniveaueffekte der Abwertung und verhindern die Inflationskonvergenz. Fixe Wechselkurse unterminieren so im Vorfeld der EWU die Glaubwürdigkeit der Geldpolitik, und dies um so mehr, als sie Wettbewerbsprobleme verschärfen und so die EWU unattraktiv erscheinen lassen.

Die Alternative zu dem Vertrauen auf die fragwürdige Symbolkraft fixer Wechselkurse liegt in der zügigen Schaffung der geeigneten institutioneilen Basis für den Übergang zur EWU. Sie erfordert zuerst die Durchsetzung der Unabhängigkeit der Zentralbanken von den Regierungen in allen Mitgliedsländern. Diese unabhängigen Zentralbanken sind sodann mit dem Übergang zur EWU und der Leitung des EWS zu betrauen. Da politische Unabhängigkeit die Stabilitätsorientierung der Zentralbanken stärkt werden Inflationserwartungen und -unterschiede zwischen den EG-Staaten aufgrund dieser Gemeinsamkeit der institutioneilen Basis reduziert und die Glaubwürdigkeit solider Geldpolitik erhöht.

Zweitens ist das EWS in ein zweistufiges System zu überführen, in dem die Zentralbanken lediglich zur Verteidigung von Wechselkursbändern von (mindestens) 12 Prozent (statt derzeit 4, 5 Prozent) um die Leitkurse verpflichtet sind. Innerhalb dieser breiten Bänder könnte jede Zentralbank in eigener Regie und Verantwortung engere Bänder ihrer eigenen Währung um die Leitkurse der stabilsten anderen Währungen des Systems bekanntgeben und durchsetzen. Da die anderen Zentralbanken nicht zur Verteidigung dieser engen Bänder verpflichtet wären, würden sie deren Geldpolitik nicht beeinflussen und nicht zu spekulativen Unruhen führen. Zentralbanken, die sich gemeinsam stärker am Ziel der Preisstabilität orientieren wollen, könnten ihre engen Bänder im Zeitablauf weiter verkürzen und damit die Konvergenz zur EWU schrittweise erreichen.

Das zweistufige EWS würde so zu einem Mechanismus führen, der die Länder, die am ehesten für die EWU geeignet sind, selbst herauskristallisieren würde. Die breiten Bänder im EWS dienen dann allein zur Vermeidung großer und abrupter Wechselkursschwankungen. Den übrigen Mitgliedern böte ein zweistufiges EWS den Vorteil stabilerer Wechselkurse ohne die Kosten zu großer Rigidität und den Zwang zu übereilter Anpassung.

Die Wiederherstellung größerer Flexibilität der Wechselkurse mit der Einrichtung des zweistufigen EWS und die EWU der zwei Geschwindigkeiten, die damit verbunden ist, mögen heute aus tages-politischer Sicht unattraktiv erscheinen. Für den wirtschaftlichen Erfolg der EWU und damit langfristig für die politische Einigung Europas sind sie unerläßlich.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Europäische Kommission, One Market One Money, European Economy Nr. 44, Brüssel, Oktober 1990.

  2. Vgl. Jürgen von Hagen, Zwei Bänder für Europa, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. 11. 1992; ders. /Manfred J. M. Neumann, Real Exchange Rate Variability Within and Between Currency Areas: How Far Away is EMU, in: Review of Economics and Statistics (i. E.).

  3. Vgl. Michele Fratianni/Jürgen von Hagen/Christopher Waller, The Maastricht Way to EMU, in: Princeton Essays in International Finance, 187 (1992).

  4. Vgl. Michele Fratianni/Jürgen von Hagen, The EMS and European Monetary Union, Boulder/Col. 1992.

  5. Vgl. Peter Kenen, The EMS After Maastricht, Group of the Thirty, New York 1992.

  6. Siehe z. B. Michele Fratianni und Dominick Salvatore (Hrsg.), Handbook of Monetary Policy in Developed Economies, New Haven 1992; Ben Bernanke/Frederick Mishkin, Central Bank Behavior and the Strategy of Monetary Policy, National Bureau of Economic Research Working Paper 4082, Cambridge 1992.

  7. Siehe z. B. Helmut Schlesinger, Auf dem Weg zur Europäischen Währungsunion: Die Rolle des EWI, in: Deutsche Bundesbank, Auszüge aus Presseartikeln 38, Frankfurt/M. 1992.

  8. Vgl. Jürgen von Hagen und Michele Fratianni, The Transition to European Monetary Union and the European Monetary Institute, in: Economics and Politics (i. E.).

  9. Vgl. Commission for the Study of European Monetary Union, Report on economic and monetary union in the European Community, Office for Official Publications of the European Communities, Luxembourg 1989.

  10. Vgl. H. Schlesinger (Anm. 7).

  11. Vgl. z. B. Michael Artis, Monetary Policy in Stage Two of EMU, Center for Economic Policy Research (CEPR) Discussion paper 629, London 1992; Jeroen Kremers/Timothy Lane, Economic and Monetary Integration and the Aggregate Demand for Money, Internationaler Währungsfonds, Staff Papers 37, S. 777-805.

  12. Siehe Alberto Alesina/Vittorio Grilli, On the Feasibility of a Multi-Speed European Monetary Union, in: Economics and Politics (i. E.).

  13. Vgl. Jürgen von Hagen/Michele Fratianni/Chris Waller, Central Banking as a Political Principal Agent Problem, in: CEPR Discussion paper, London 1992.

Weitere Inhalte

Jürgen von Hagen, Dr. rer. pol., geb. 1955; Assistant bzw. Associate Professor an der Indiana University School of Business, seit 1992 Ordinarius für Volkswirtschaftslehre, Wirtschaftspolitik an der Universität Mannheim. Aufenthalte als Gastforscher bei der Federal Reserve Bank of St. Louis, dem Federal Reserve Board in Washington und dem Internationalen Währungsfonds. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Michele Fratianni) The European Monetary System 10 Years After, Carnegie Rochester Conference Series 32, 1990; (zus. mit Michele Fratianni) The European Monetary System and European Monetary Union, Boulder 1992; (zus. mit Michele Fratianni und Christopher Waller) The Maastricht Way to EMU, Princeton Essays in International Finance 187, Princeton 1992.