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Islamischer Fundamentalismus aus soziologischer Sicht | APuZ 33/1993 | bpb.de

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APuZ 33/1993 Der islamische Fundamentalismus zwischen „halber Moderne“ und politischem Aktionismus Islamischer Fundamentalismus aus soziologischer Sicht Klerus und Staat in der Islamischen Republik Iran

Islamischer Fundamentalismus aus soziologischer Sicht

Martin Riesebrodt

/ 17 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Seit dem Zusammenbruch des Kommunismus wird der islamische Fundamentalismus im Westen zunehmend zur neuen Bedrohung hochstilisiert. Dabei kommt es immer wieder zur tendenziellen Gleichsetzung von Fundamentalismus mit Islam überhaupt. Dies ist nicht nur problematisch, sondern auch politisch unverantwortlich, da es unter anderem einer kollektiven Stigmatisierung der muslimischen Minderheiten in den EG-Ländem Vorschub leistet. Zudem hat der islamische Fundamentalismus viele Gesichter. Er zeigt sich in Pakistan anders als in Marokko, in Ägypten anders als in Indonesien. Der militante Fundamentalismus stellt nur eine Variante dar, andere Gruppen versuchen ihre Ziele auf reformistischem Wege durch Mission, Sozialarbeit und Beteiligung an Wahlen zu erreichen. Während der Fundamentalismus der vierziger Jahre wesentlich ein Protest eines mobilisierten traditionalistischen Milieus war, wird der revolutionäre Fundamentalismus der siebziger und achtziger Jahre überwiegend von Studenten getragen. Was alle Fundamentalisten eint, ist ihr Ideal einer religiös integrierten, nach patriarchalischen Prinzipien strukturierten Gesellschaft, das sie der individualistischen westlichen Konsumgesellschaft entgegenhalten.

I. Islamischer Fundamentalismus und westliche Politik

Seit der Revolution im Iran und noch verstärkt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wird der „islamische Fundamentalismus“ von manchen im Westen zum neuen Schreckgespenst hochstilisiert. Dabei war die Haltung des Westens gegenüber islamisch-fundamentalistischen Regierungen und Bewegungen zu keinem Zeitpunkt von Prinzipien, sondern stets von Opportunismus geprägt. Unterminierte der Fundamentalismus Regime, die mit dem Ostblock verbunden waren, wie in Afghanistan, wurde er aufgerüstet, und westliche Politiker ließen sich als Waffenbrüder fundamentalistischer Freiheitskämpfer ablichten. Stürzten oder gefährdeten fundamentalistische Bewegungen Verbündete des Westens, wie in Iran und Ägypten, wurden sie als dramatische Bedrohung von Demokratie und Freiheit dargestellt.

Da der Westen den islamischen Fundamentalismus nun nicht mehr zur Bekämpfung des Kommunismus benötigt, benutzen ihn einige als Feindbild zur Legitimierung anderer politischer Ziele. Im Zuge dieser Entwicklung hat der Begriff des islamischen Fundamentalismus eine inflationäre Ausweitung erfahren, die tendenziell den gesamten Islam einschließt. Bilder von betenden Muslimen in einer Moschee oder einer türkischen Frau mit Kopftuch reichen nunmehr schon aus, um die Assoziation von „islamischem Fundamentalismus“ zu erzeugen. Diese Identifizierung von islamischem Fundamentalismus mit Islam überhaupt ist nicht nur ein Zerrbild, sondern führt auch tendenziell zu einer kollektiven Stigmatisierung islamischer Minoritäten in den EG-Ländern, auf Deutschland bezogen also der türkischen Minderheit.

Angesichts der Instrumentalisierung des Begriffs ist man geneigt, ihn im islamischen Kontext überhaupt zu vermeiden, zumal er von den damit Bezeichneten oftmals zurückgewiesen wird. Da er aber in der Umgangssprache fest etabliert ist, erscheint es mir nützlicher, den Begriff des islamischen Fundamentalismus zu präzisieren und zu versachlichen

II. Fundamentalismus zwischen Modernismus und Traditionalismus

„Fundamentalismus“ ist eine unter mehreren Reaktionen islamischer Gesellschaften, denen durch die kolonialen Eroberungen des 19. und 20. Jahrhunderts die Überlegenheit des Westens vor Augen geführt wurde. Die einen optierten für eine Übernahme des westlichen Modells und modernisierten vor allem das Militär und das Erziehungswesen. Andere plädierten für Abschottung und Bewahrung der traditionellen Kultur. Eine mittlere Position vertrat der islamische Modernismus, aus dem sich dann der Fundamentalismus in spezifischer Verengung entwickelte

Der islamische Modernismus entsteht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als eine wesentlich von Intellektuellen getragene Bewegung. Die beiden herausragenden Repräsentanten sind der schiitische Iraner Jamal ad-Din al-Afghani (1839-1897) und der sunnitische Ägypter Muhammad Abduh (1849-1905) Die Modemisten wenden sich gegen zwei grundlegende Positionen. Zum einen kritisieren sie die traditionalistischen Vertreter des Islam, die Orthodoxie der Geistlichkeit und die Volksfrömmigkeit der Sufi-Orden, die für die Stagnation und Unterlegenheit der islamischen Länder verantwortlich seien. Zum anderen lehnen sie aber auch eine blinde Nachahmung des Westens ab. Statt dessen plädieren sie für eine islamische Renaissance, die an die Blütezeit der islamischen Zivilisation im Hochmittelalter anknüpft. Der Westen wird trotz partiell scharfer Kritik in wesentlichen Aspekten positiv beurteilt.

Oftmals wird der islamische Fundamentalismus als Fortsetzung des Modernismus dargestellt. Diese Sicht ist nur partiell richtig und bedarf der Präzisierung. Der Fundamentalismus stellt aus meiner Sicht eine spezifische Integration modernistischer und traditionalistischer Elemente dar. Ideengeschichtlich baut er in vielerlei Hinsicht auf dem Gedankengut des Modernismus auf, verschiebt aber zugleich dessen Stoßrichtung und formt die Ideologie in wichtigen Punkten entscheidend um. In seiner Trägerschaft hingegen verkörpert er jedoch primär das mobilisierte traditionalistische Milieu. Im Unterschied zum Modernismus ist der Fundamentalismus das intellektuelle und organisatorische Produkt einer späteren Generation. Seine bedeutendsten Repräsentanten sind der Inder Maulana Abu 1-Ala al-Maududi (1903-1979), der iranische Geistliche Ayatollah Ruhollah Khomeini (1900-1988) sowie die Ägypter Hasan al-Banna (1906-1949) und Saiyid Qutb (1906-1966) Der Fundamentalismus formiert sich zwar auch gegen den Kolonialismus des Westens, richtet sich dabei aber verstärkt gegen die innere Zersetzung traditionaler Sozialstrukturen und Kultur. Träger des Fundamentalismus sind nicht primär Intellektuelle, sondern überwiegend Angehörige der alten und neuen Mittelschicht. Diese Unterschiede der historischen Konstellation wie auch der Trägerschaft wirken sich auf weitere Merkmale des Fundamentalismus aus, die ihn deutlich vom Modernismus wie vom Traditionalismus unterscheiden.

Der Westen wird weniger als eine positive Herausforderung für den Islam gesehen, sondern eher als eine Bedrohung, der man mit Ablehnung und Ressentiment begegnet. Das Ideal ist nicht mehr die Blütezeit der islamischen Zivilisation im Hochmittelalter, sondern die muslimische Urgemeinde Mohammads und der vier „recht-geleiteten Kalifen“. Die philosophische und wissenschaftliche Tradition im Islam wird als heidnisch abgelehnt entweder zugunsten der theologischen Orthodoxie der Hanbali-Schule und Ibn Taimiya’s oder direkt von Koran und Sunna Während die Modemisten primär an einzelne Herrscher und andere Intellektuelle appellierten, wendet sich der Fundamentalismus verstärkt an die muslimischen Massen.

Modernismus wie Fundamentalismus richten ihre Kritik gegen den religiösen Traditionalismus der klerikalen Orthodoxie wie auch der Volksfrömmigkeit, aber mit unterschiedlicher Stoßrichtung. Der Modernismus sieht in ihnen Stagnation und Aberglauben und will einen Islam wiederherstellen, in dem Vernunft und Offenbarung versöhnt sind. Der Fundamentalismus steht Orthodoxie und Volksfrömmigkeit zwar auch ablehnend gegenüber, kritisiert an beiden aber vornehmlich ihren politischen Quietismus und ihre ethische Laxheit

Wie sich der islamische Fundamentalismus von Marokko bis Indonesien im Verlauf dieses Jahrhunderts ausgeformt und historisch gewandelt hat, kann hier nicht dargestellt werden. Im folgenden soll lediglich versucht werden, Kontinuität und Wandel sowie Einheit und Vielfalt des Fundamentalismus aus soziologischer Sicht zu skizzieren. Dabei beschränken sich die Ausführungen auf die Bewegungen in Iran, Pakistan und Ägypten und unterscheiden zwei Generationen: Gründerväter sowie reformistische Erben und revolutionäre Er-neuerer.

III. Die Generation der Gründerväter

Obgleich man für eine ideengeschichtliche Betrachtung des islamischen Fundamentalismus historisch weit zurückgehen könnte, macht es für eine soziologische Analyse mehr Sinn, mit der Untersuchung dort zu beginnen, wo der Fundamentalismus auf spezifische Strukturprobleme von Gesellschaften reagiert, die Prozessen der Urbanisierung, politischen Zentralisierung und kulturellen Säkularisierung ausgesetzt sind, und wo er zur Ideologie einer modernen Massenbewegung wird. Die erste fundamentalistische Bewegung in diesem Sinne entwickelt sich in Ägypten mit der Gründung der Muslimischen Bruderschaft durch Hasan al-Banna im Jahre 1928. 1941 folgt dann die Gründung der Djamaat-i Islami in Indien durch Maududi, der nach der Teilung 1947 nach Pakistan emigriert. In Iran entstehen die militanten Fedayan-i Islami Mitte der vierziger Jahre, die von Khomeini inspirierte Massenbewegung erst in den sechziger Jahren *Wie ist der Fundamentalismus organisiert, was leistet er für seine Anhängerschaft und wessen Erfahrungen und Hoffnungen sind in seiner Ideologie reflektiert? Soziologische Untersuchungen der Trägerschaft sozialer Bewegungen erschöpfen sich oftmals darin, die sozioökonomische Dimension und somit den „Klassencharakter“ zu betonen. Obgleich die sozioökonomische Lage einen wichtigen Aspekt darstellt, erweist sich dieser in der Regel selbst bei klassenmäßig relativ homogenen Bewegungen als ergänzungsbedürftig. Speziell im Falle des islamischen Fundamentalismus kann man die Trägerschaft ohne Einbeziehung kultureller Faktoren nicht sinnvoll bestimmen. Fundamentalismus stellt keine Klassenbewegung im sozioökonomischen Sinne dar, sondern ist primär religiös-kulturell geprägt. Mit anderen Worten, Fundamentalismus thematisiert nicht primär Eigentums-oder Verteilungsinteressen einer Klasse, sondern auf religiösen Heilsinteressen basierende Ideale der Lebensführung. Diese Ideale sind zwar vom sozialen Standort derjenigen, die sie rhetorisch und praktisch prominent vertreten, gefärbt, transzendieren ihn aber gleichzeitig. Aus der Erneuerung und Erweiterung des traditionalistischen Milieus formt sich ein fundamentalistisches Milieu, das seinem Selbstverständnis und seiner Praxis gemäß klassen-übergreifend und -integrierend sein will und auch ist.

Die Trägerschaft des islamischen Fundamentalismus wird widersprüchlich beschrieben. Zwar stimmen alle überein, daß es sich um eine primär städtische Bewegung handele, in der weder Großgrundbesitzer noch Bauern eine Rolle spielen. Ansonsten schildern die einen den Fundamentalismus als eine Bewegung von Teilen der alten wie neuen Mittelschicht, während andere seine soziale Heterogenität betonen Erstaunlicherweise haben beide recht, wenn man zwischen Organisatoren und Repräsentanten einerseits sowie der breiten Anhängerschaft andererseits unterscheidet. Diese Unterscheidung ist nicht einmal artifiziell, sondern liegt der Organisationsstruktur der fundamentalistischen Bewegungen selbst zugrunde, mit besonderer Klarheit im pakistanischen Djamaat-i Island und der ägyptischen Muslimischen Bruderschaft.

Beide Organisationen unterscheiden zwischen drei Stufen der Mitgliedschaft: Vollmitglieder, assoziierte Mitglieder und Helfer bzw. Sympathisanten Es scheint kaum Zweifel darüber zu geben, daß der jeweilige organisatorische Kern wesentlich der alten Mittelschicht (Handwerker, Händler) sowie der unteren neuen Mittelschicht (Angestellte) zuzurechnen ist Gleiches trifft auch auf den Fundamentalismus im Iran zu, nur daß dort aufgrund der Eigenheiten des schiitischen Islams die Geistlichen eine bedeutende Rolle spielen, allerdings auch nicht die Großayatollahs, sondern eher die mittleren und unteren Ränge der Gelehrten und Prediger Angehörige der Mittelschicht des traditionalen wie des modernen Sektors finden sich natürlich auch auf den Ebenen der assoziierten Mitglieder und der Sympathisanten. Doch treten hier andere Gruppen stärker in Erscheinung wie Studenten, Arbeiter und Straßenhändler.

Der Einschluß von Arbeitern und Angehörigen der Unterschicht in das fundamentalistische Milieu beschränkt sich in der Regel auf den traditionellen Wirtschaftssektor und ist oft durch klientelistische Beziehungen vermittelt. Beide sind nicht zuletzt durch die praktische Überzeugungskraft funktionierender Wohlfahrtseinrichtungen und Dienstleistungen vom Fundamentalismus angezogen, welche der Ideologie Glaubhaftigkeit verleihen. Ansonsten findet man die unteren Schichten eher in apolitischen, mystisch-pietistischen Vereinigungen, die Industriearbeiterschaft hingegen in gewerkschaftlichen Organisationen.

Die einzelnen Gruppen bringen unterschiedliche Erfahrungen, Erwartungen und Hoffnungen in die neue Milieubildung ein, die in einen systematischen ideologischen Zusammenhang gebracht und durch gemeinsame Symbole und Praxis vermittelt werden. Das fundamentalistische Milieu entsteht also nicht zufällig durch spontane Interaktion von Gleichgesinnten, sondern bildet sich durch Institutionalisierung von ideologisch bedeutsamer Praxis und praxisrelevanter Ideologie, die den klassen-übergreifenden sozialen Zusammenhalt stiften, verstärken und reproduzieren. Die Institutionalisierung des fundamentalistischen Milieus wird durch die jeweiligen politischen und religiös-institutionellen Gegebenheiten der einzelnen Staaten entscheidend mitgeprägt.

Im Iran der sechziger und siebziger Jahre wurden oppositionelle Vereinsbildungen unterbunden, weshalb sich der Fundamentalismus neben privaten Zirkeln und Untergrundorganisationen eher in religiösen Institutionen wie Moscheen und Medersen (islamische Hochschulen) ausbildete. Dies mag die ohnehin schon bestehende Prominenz von Geistlichen, Predigern und Theologiestudenten noch verstärkt haben. In Pakistan und Ägypten hingegen konnte sich der Fundamentalismus relativ frei organisieren und wurde fast ausschließlich von Laien geprägt. Dies hatte zur Folge, daß anstelle von Moscheen und Medersen reguläre Vereinsquartiere und öffentliche Plätze für Treffen ge­ nutzt wurden und weit komplexere Organisationen geschaffen werden konnten. Darüber hinaus bedient sich der Fundamentalismus ungeniert aller modernen Techniken der Massenkommunikation, die ihm als kulturell neutrale Produkte gelten.

Innerhalb der Ideologie des Fundamentalismus kann man drei Dimensionen unterscheiden: eine Kritik der sich modernisierenden Gesellschaft, einen Entwurf von Prinzipien einer idealen Ordnung sowie eine heilsgeschichtliche Dramatisierung des Konflikts zwischen Fundamentalismus und westlichen Modernisieren! In der Gesellschaftskritik des Fundamentalismus spielen ökonomische und politische Probleme eine relativ untergeordnete Rolle. Der frühe Fundamentalismus ist weder antikapitalistisch noch revolutionär. Vielmehr appelliert er an die Regierungen und Monarchen, die Verwestlichung einzudämmen, soziale Ungerechtigkeit zu mildern und die politische Unabhängigkeit des Landes zu wahren. Die ärgsten Auswüchse der Verwestlichung werden dabei primär im kulturellen Bereich gesehen. Die Haupt-kritik des Fundamentalismus konzentriert sich auf den Verfall der Sozialmoral, speziell der Sexual-moral, der zwischengeschlechtlichen Beziehungen sowie der Familienstruktur. Neben Glücksspiel und Alkoholkonsum sind es Themen wie Prostitution, Ehebruch, Frauenbekleidung, die immer wieder im Zentrum der fundamentalistischen Gesellschaftskritik stehen, und terroristische Anschläge treffen oftmals westliche Hotelbars und Spielkasinos

Die ideale Ordnung des Fundamentalismus ist eine religiös integrierte Gemeinschaft ohne Klassengegensätze, die auf dem Modell der Urgemeinde Mohammads aufbaut. Der Islam wird als ein totales System der Lebensführung und Gesellschaftsregulierung interpretiert. Im Prinzip könnten alle Probleme der Gesellschaften durch Rückgriff auf den Koran und die Sunna gelöst werden, und das Resultat wäre eine blühende islamische Gemeinschaft. Gesellschaftskritik und ideale Ordnung werden vom Fundamentalismus zusätzlich heilsgeschichtlich dramatisiert zu einem eschatologischen Kampf zwischen den Mächten des Lichts und denen der Finsternis, den Agenten Gottes und denen des Satans, den wahren Muslimen und den Heiden. Diese heilsgeschichtliche Dramatisierung ist integraler Bestandteil der fundamentalistischen Ideologie. Ob aus ihr jedoch revolutionäre Zielsetzung, gesellschaftsverändernde Reformen durch Massenkonversion oder Absonderung von der Gesellschaft abgeleitet werden, hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab.

Die ideale Ordnung des islamischen Fundamentalismus repräsentiert ein Gegenmodell zur modernen, bürokratisch organisierten Industriegesellschaft, die auf gesetzlich reguliertem Interessenkonflikt und pluralistisch organisierter Interessenrepräsentation beruht. Das fundamentalistische Ideal verkörpert dagegen eine religiös integrierte, patriarchalisch organisierte „Gemeinschaft“. Obgleich dies eine typische „Mittelstands“ -Ideologie ist, wird dieses Ideal auch von Angehörigen anderer Klassen wie Segmenten der Arbeiterschaft, der Unterschicht und vor allem der modernen Mittel-schicht geteilt. Es macht jedoch Sinn, die Mobilisierungsursachen für die eirizelhen Teilgruppen getrennt zu betrachten.

Die traditionelle Mittelschicht stellt ideologisch gesehen das Zentrum des Fundamentalismus dar. Sie reagiert primär auf ihre kulturelle Marginalisierung durch die verwestlichte neue Mittel-und Oberschicht, die in der Regel die politische Macht besitzen. Da die traditionelle Mittelschicht der Händler und Handwerker in der Regel Stätte frommer Lebensführung ist, betrifft sie die Verwestlichung der Sozialmoral und des Erziehungswesens im besonderen Maße. Ihre Mobilisierung erfolgt speziell unter dem Eindruck der enormen Schwierigkeiten, die religiöse Kultur angesichts der sozialmoralischen Wandlungsprozesse und unter dem Einfluß des staatlichen Erziehungswesens an die nächste Generation weiterzugeben. Die elterliche Autorität über die Kinder wie auch die männliche Autorität über Frauen ist in Zweifel gestellt oder schwindet. Da fromme Lebensführung engstens mit patriarchalischer Autorität verknüpft ist und die westliche Kultur gerade diese untergräbt, reagiert die traditionelle Mittelschicht mit einer verstärkten Betonung des patriarchalischen Ideals. Die patriarchalische Ordnung, deren normative Funktion weitgehend bedroht oder geschwunden ist, wird auf den Ebenen der Familie und der religiösen Gemeinschaft in radikalisierter Form propagiert und praktiziert.

Die speziell in der traditionellen Mittelschicht verkörperte fromme Lebensführung hat stets Vorbildfunktion besessen und wurde deshalb auch von anderen sozialen Gruppen als Norm und Ideal verinnerlicht. In ihrer fundamentalistischen Variante bietet sie darüber hinaus eine Kritik der modernen Gesellschaft, die geeignet ist, negative Erfahrungen verschiedenster Art zu reflektieren. Auf engstem Raum hausende Slumbewohner, die unter Wassermangel leiden; Arbeiter, denen die Unpersönlichkeit moderner Arbeitsorganisation fremd ist; subalterne Angestellte, die der Arroganz von Vorgesetzten ausgesetzt sind; Studenten, deren Aufstiegshoffnungen und Idealismus in schlechtbezahlten, untergeordneten Positionen enden; junge Männer, die Probleme mit dem Wandel der Frauenrolle und Sexualmoral wie auch dem späten Heiratsalter haben; Frauen, die die sexuelle Belästigung in öffentlichen Verkehrsmitteln oder überfüllten Hörsälen leid sind sie alle können in der fundamentalistischen Ideologie eine Artikulation ihrer Frustrationen finden. Darüber hinaus bietet ihnen der Fundamentalismus Orientierung und Hoffnung, Identität und Selbstwertgefühl, Solidarität und Gemeinschaft.

IV. Die Generation der Reformer, Revolutionäre und Kommunarden

Nachdem wir bisher primär die erste Generation des islamischen Fundamentalismus untersucht haben, wenden wir uns jetzt der zweiten Generation zu. Hier erweisen sich die gewählten Beispiele Pakistan, Iran und Ägypten wiederum als besonders günstig, weil sie die Vielfalt der Entwicklungsmöglichkeiten trotz weitgehender Kontinuität der Ideologie gut illustrieren.

Iran repräsentiert den siegreichen Fundamentalismus, der nach dem Tode des charismatischen Führers unter doppeltem Legitimationsdruck steht. Zum einen muß er die Herrschaft von der Person Khomeinis auf institutionell definierte Rollen übertragen und damit notwendigerweise versachlichen und veralltäglichen. Zum anderen muß das Regime sich bei der Lösung wirtschaftlicher und sozialer Alltagsprobleme bewähren. Dabei setzt es seinen Anspruch aufs Spiel, daß der Islam zur Bewältigung all dieser gesellschaftlichen Probleme das geeignete Mittel sei. Resultat ist eine weitgehende sozial-und wirtschaftspolitische Delegitimierung des Regimes, die die Regierenden durch Betonung ihrer „historischen Mission“ im außen-politischen Bereich zu kompensieren trachten. Es ist ein Schlingerkurs zwischen Radikalismus und Pragmatismus, der seine Erklärung in den Legitimationsproblemen des Regimes findet.

Pakistan repräsentiert den Fall eines Fundamentalismus, der sich als legale politische Organisation auf den parlamentarischen Prozeß eingelassen hat. Nach dem Tode von Maududi haben seine Erben seine reformistische Politik fortgesetzt. Vor allem ist es ihnen gelungen, die islamisch-fundamentalistischen Kräfte innerhalb der Studentenschaft in die Organisation einzubinden. Trotz radikaler Ideologie hat sich hier ein seinem Programm nach nichtmilitanter Fundamentalismus herausgebildet, der durch Institutionenbildung, Mission und Erziehung zum Erfolg zu kommen hofft. Ägypten bietet das vielleicht interessanteste Beispiel für die vielfältigen Entwicklungsmöglichkeiten fundamentalistischer Bewegungen. Nach der Ermordung von Hasan al-Banna durchlebte die Muslimische Bruderschaft eine Führungskrise. 1954 wurde die Organisation nach einem Attentatsversuch auf Nasser durch ein Mitglied der Bruderschaft verboten, viele Mitglieder wurden in Gefangenenlagern interniert und gefoltert, einige sogar getötet. Das gleiche Szenario wiederholte sich 1966.

Diese Erfahrungen der Fundamentalisten unter Nasser führten zur Aufsplitterung in einen gemäßigten und einen radikalen Flügel Der gemäßigte Flügel wurde durch den offiziellen Führer der Bruderschaft, Hasan Ismail Hudaybi, repräsentiert, der radikale durch Saiyid Qutb. Qutb rechnet mit dem Regime in seiner von Maududi inspirierten Schrift „Wegweiser“ ab Darin verdammt er nicht nur die Regierung, sondern erklärt die Gesellschaft insgesamt für heidnisch bzw. barbarisch. Das Buch wird zur Inspiration islamischer Kommunarden und Revolutionäre. Ebenfalls im Lager verfaßte Hudaybi seine programmatische Schrift „Prediger, nicht Richter“, in der er gegen die Radikalen argumentiert und einen Reformkurs festlegt

Nach der Machtübernahme ließ Sadat zur Bekämpfung der Anhänger Nassers und der Linken viele Fundamentalisten wieder frei, und die Muslimische Bruderschaft konnte sich trotz offizieller Illegalität mit Billigung der Regierung reorganisieren. Innerhalb der radikalen Gruppen der SadatÄra kann man zwischen separatistischen und revolutionären Tendenzen unterscheiden. Prototyp der Separatisten ist die von Shukri Mustafa geleitete „Gesellschaft der Muslime“, von Regierung und Medien al-Takfir w’al-hijra genannt. Sie lehnen die ägyptische Gesellschaft insgesamt ab und bildeten sektiererische Zirkel, in denen sie versuchten, nach den Prinzipien der Urgemeinde Mohammads zu leben

Die Revolutionäre werden durch Gruppen wie die „Militärakademie-Gruppe“ oder Teile der al-Jihad-Gruppen repräsentiert. Sie halten primär den Staat für gottlos und antiislamisch, die Gesellschaft lediglich für verführt. Ihr Programm ist deshalb der revolutionäre Sturz der Regierung als Voraussetzung für die Errichtung einer islamischen Gesellschaftsordnung. Neben terroristischen Aktivitäten konzentrieren die Jihad-Gruppen ihre Aktivitäten oft auf ärmere Stadtviertel und versuchen, durch Sozialarbeit Anhänger zu gewinnen

Die soziale Zusammensetzung dieser neuen Generation von radikalen Fundamentalisten unterscheidet sich signifikant von der ersten Generation sowie deren moderaten Nachfolgern Die überwältigende Mehrheit der radikalen Aktivisten setzt sich aus 20-bis 30jährigen Studenten oder ehemaligen Studenten zusammen, die aus ländlichem oder kleinstädtischem Milieu stammen. Viele kommen aus Elternhäusern der modernen (unteren) Mittel-schicht (Regierungsangestellte). Die Elite der radikalen Gruppen weist überwiegend (ehemalige) Studenten aus Fächern auf, die die schwierigsten Aufnahmeprüfungen haben, wie z. B. Ingenieurs-wissenschaften. Zentren der Aktivitäten sind Ballungszentren mit Universitäten wie Kairo, Alexandria, Asyut, Minya und Sohag.

Was läßt sich aus diesen Daten schließen? Natürlich kann man zu Recht einwenden, daß all diese Merkmale auf Hunderttausende von Studenten zutreffen, die sich nicht radikalen Gruppen zuwenden. Man kann aber auch argumentieren, daß die immerhin in die Tausende gehenden Mitglieder-zahlen dieser Gruppen Strukturprobleme der ägyptischen Gesellschaft aufzeigen, aus denen nur eine Minderheit der Betroffenen solche radikalen Konsequenzen zieht Bei den radikalen Studen­ ten handelt es sich offenbar um besonders begabte, motivierte und aufstiegsorientierte junge Leute, deren Hoffnungen und Erwartungen in mehrfacher Hinsicht enttäuscht werden.

Nachdem die importierten Ideologien (Verwestlichung, Sozialismus, ethnischer Nationalismus) versagt haben, besinnt sich die neue Generation zur Bewältigung der Krise auf die eigene kulturelle Tradition und idealisiert die ursprüngliche islamische Ordnung, wie sie in Koran und Sunna überliefert ist. Dabei lehnt sie sich an die Lebensführungsideale der traditionellen Mittelschicht an, radikalisiert diese aber in ethischer und politischer Hinsicht. An diesem radikalen Revisionismus fällt auf, welch zentrale Rolle den zwischengeschlechtlichen Beziehungen, der Familienstruktur und der Sexualmoral zukommt.

V. Ausblick

Die hier skizzierten Entwicklungen zeigen, daß islamischer Fundamentalismus keineswegs notwendigerweise militant ist oder wird. Der Djamaat-i Island in Pakistan und die Muslimische Bruderschaft in Ägypten stellen Beispiele für einen Fundamentalismus dar, der sich trotz ideologischem Radikalismus zu einer reformistischen Bewegung entwickelt. Andererseits zeigt das Wachstum radikaler Gruppen in Ägypten, was geschehen kann, wenn die Integration des studentischen Protestpotentials mißlingt. Die Kombination von proletarischen Intellektuellen, absinkender Mittel-schicht und Massenarmut stellt eine explosive Mischung dar, die revolutionären Versionen des islamischen Fundamentalismus zugute kommen kann.

Neben seiner offensichtlichen politischen Bedeutung hat der Fundamentalismus auch Auswirkungen auf den Charakter islamischer Gesellschaften und Kulturen. Zum einen stellt er eine weitgehende Stärkung der Laien gegenüber der Geistlichkeit dar, da er mit der Betonung von Koran und Sunna zur unabhängigen Textinterpretation durch Laien beiträgt. Zum zweiten leistet der Fundamentalismus eine politisch-religiöse Massenmobilisierung und stärkt durch Vereinsbildung Selbsthilfe. Nicht zuletzt aber motiviert er andere, die ihm nicht einfach das Feld überlassen wollen, zu ihrer eigenen Reinterpretation des Islam All dies trägt zu einer Mobilisierung des intellektuellen Diskurses im Islam bei, die sich längerfristig als bedeutsamer erweisen mag als der gegenwärtige Fundamentalismus.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Zur Begriffsgeschichte Und -problematik Martin Riesebrodt, Fundamentalismus als patriarchalische Protestbewegung, Tübingen 1990, S. 11-24.

  2. Zur generellen Orientierung vgl. Der Islam der Gegenwart, hrsg. von Werner Ende/Udo Steinbach, München 1984; Rudolph Peters, Erneuerungsbewegungen im Islam vom 18. bis zum 20. Jahrhundert und die Rolle des Islams in der neueren Geschichte: Antikolonialismus und Nationalismus, in: W. Ende/U. Steinbach, ebd., S. 91-131; Bassam Tibi, Die Krise des modernen Islams, München 1981; ders., Der Islam und das Problem der kulturellen Bewältigung sozialen Wandels, Frankfurt 1985.

  3. Vgl. Nikki R. Keddie, An Islamic Response to Imperialism: Political and Religious Writings of Sayyid Jamal ad-Din „al-AfghaniBerkeley 1968; dies., Sayyid Jamal ad-Din „al-Afghani“: A Political Biography, Berkeley 1972; Albert Hourani, Arabic Thought in the Liberal Age, 1798-1939, Cambridge 1983, S. 130-244.

  4. Vgl. John L. Esposito (Hrsg.), Voices of Resurgent Islam, Oxford 1983; Richard Mitchell, The Society of the Muslim Brothers, London 1969; John O. Voll, Fundamentalem in the Sunni Arab World: Egypt and Sudan, in: Martin Marty/Scott Appleby (Hrsg.), Fundamentalisms Observed, Chicago 1991, S. 345-402; Mumtaz Ahmad, Islamic Fundamentalem in South Asia: The Jamaat-i-Islami and the Tablighi Jamaat of South Asia, in: M. Marty/S. Appleby, ebd., S. 457-530; Gilles Kepel, Muslim Extremism in Egypt: The Prophet & Pharaoh, Berkeley 1985; Michael M. J. Fischer, Imam Khomeini: Four Levels of Understanding, in: J. L. Esposito, Voices, S. 150-174.

  5. Vgl. A. Hourani (Anm. 3), S. 122f., 148f.

  6. Zur Politisierung der Aschura-Prozessionen im Iran vgl. Hans Kippenberg, Jeder Tag , Aschura‘, jedes Grab Kerbala, in: Religion und Politik im Iran, hrsg. vom Berliner Institut für Vergleichende Sozialforschung, Frankfurt 1981, S. 217-256.

  7. Vgl. M. Riesebrodt (Anm. 1) und dort die weiterführende Literatur.

  8. Vgl. R. Mitchell (Anm. 4), S. 328-331; M. Ahmad (Anm. 4), S. 493-500.

  9. Vgl. M. Ahmad (Anm. 4), S. 490f.; R. Mitchell (Anm. 4), S. 31, 183. Bei den Muslimbrüdem kam noch eine vierte Kategorie von „Kämpfern“ hinzu.

  10. Vgl. R. Mitchell (Anm. 4), S. 328-330; M. Ahmad (Anm. 4), S. 494f.

  11. Vgl. M. Riesebrodt (Anm. 1), S. 181-186.

  12. Dazu ausführlicher M. Riesebrodt (Anm. 1), S. 25-31, 152-180, 217-224.

  13. Vgl. ebd., S. 152-180; Helen Hardacre, The Impact of Fundamentalisms on Women, the Family, and Interpersonal Relations, in: Fundamentalem and Society, hrsg. von Martin Marty/Scott Appleby, Chicago 1993, S. 129-150.

  14. Zur Frage der Teilnahme von Frauen an fundamentalistischen Bewegungen vgl. Martin Riesebrodt, Fundamentalem and the Political Mobilization of Women, in: Said A. Aijomand (Hrsg.), Political Dimensions of Religion, 1993.

  15. Vgl. Emmanuel Sivan, Radical Islam, London 1985; Saad Eddin Ibrahim, Egypt’s Islamic Activism in the 1980s, in: Third World Quaterly, 10 (1988) 2, S. 632-657; Abdel Azim Ramadan, Fundamentalist Inüuence in Egypt: The Strategies of the Muslim Brotherhood and the Takfir Groups, in: Fundamentalisms and the State, hrsg. von Martin Marty/Scott Appleby, Chicago 1993, S. 152-183; ferner G. Kepel (Anm. 4).

  16. Vgl. dazu G. Kepel (Anm. 4), S. 36-69; E. Sivan (Anm. 15).

  17. Vgl. G. Kepel, ebd., S. 26-35, 61-67.

  18. Vgl. „ebd., S. 70-102. Die geplante Kommunebildung kam nie zustande; vgl. S. E. Ibrahim (Anm. 15), S. 653.

  19. Die in jüngster Zeit sich mehrenden terroristischen Anschläge gegen Touristen gehen überwiegend auf das Konto von Nachfolgeorganisationen des Jihad. Als führender Theoretiker und intellektueller Ratgeber dieser Gruppen gilt der in den USA residierende Scheikh Umar Abd al-Rahman. Er erstellte schon für die Jihad-Gruppe, die Sadat ermordete, fatwas. Von der Anklage, die Ermordung Sadats gerechtfertigt zu haben, wurde er jedoch freigesprochen. Gegenwärtig stehen mehrere seiner Anhänger im Verdacht, den jüngsten Anschlag auf das World Trade Center in New York verübt zu haben.

  20. Vgl. G. Kepel (Anm. 4), S. 219-222; Saad Eddin Ibrahim, Anatomy of Egypt’s Militant Islamic Groups, in: International Journal of Middle East Studies, 12 (1980), S. 423-453.

  21. Allein die Takfir-Gruppe hatte nach S. E. Ibrahim rund 3000-5 000 aktive Mitglieder.

  22. Vgl. Fatima Memissi, Der politische Harem. Mohammad und die Frauen, Frankfurt 1989.

Weitere Inhalte

Martin Riesebrodt, Dr. phil., geb. 1948 in Berlin; 1973 Promotion in Ethnologie (Heidelberg); 1990 Habilitation in Soziologie (München); seit 1990 Professor für Religionssoziologie an der University of Chicago. Veröffentlichungen u. a.; (Hrsg.) Max Weber: Die Lage der Landarbeiter im ostelbischen Deutschland, 2 Bde., Max Weber-Gesamtausgabe 1/3, Tübingen 1984; Fundamentalismus als patriarchalische Protest-bewegung. Amerikanische Protestanten (1910-1928) und iranische Schiiten (1961-1979) im Vergleich, Tübingen 1990; zahlreiche Aufsätze zur Gesellschaftstheorie Max Webers sowie zu fundamentalistischen Bewegungen.