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Die neue Furcht vor der Freiheit Eine Herausforderung an die politische Bildung | APuZ 34/1993 | bpb.de

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APuZ 34/1993 Politische Bildung und politische Kultur im vereinigten Deutschland Die neue Furcht vor der Freiheit Eine Herausforderung an die politische Bildung Die neue Furcht vor der Freiheit Eine Herausforderung an die politische Bildung „Verfassungspatriotismus“ und „Bürgergesellschaft“ oder: Was das demokratische Gemeinwesen zusammenhält Orientierungen für die politische Bildung Politische Stiftungen und politische Bildung in Deutschland

Die neue Furcht vor der Freiheit Eine Herausforderung an die politische Bildung

K. Peter Fritzsche/Herbert Knepper

/ 26 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Überlegungen gehen von den beiden Thesen aus, daß sich hinter der Xenophobie und dem Rechtsextremismus eine „neue Furcht vor der Freiheit“ verbirgt und daß politische Bildung hilfreiche Präventivstrategien entwickeln kann, wenn sie sich an einem modernisierten Autoritarismus-Ansatz orientiert. Die Argumentation wird in drei Schritten entfaltet: Erstens wird die klassische Figur der „Furcht vor der Freiheit“ vorgestellt Und ihre Bedeutung innerhalb neuer Autoritarismus-Kritik aufgezeigt. Zweitens werden die Streßkonstellationen (vor allem in Ostdeutschland) skizziert, die die, neue Furcht vor der Freiheit und die Anfälligkeit für autoritäre Antworten hervorbringen. Drittens werden Elemente einer Prävention durch die politische Bildung präsentiert: Schulklima, Selbstwertstabilisierung und Multiperspektivität.

I. Die Herausforderung: xenophobe Gewalt und Rechtsextremismus nach der Vereinigung ality“ (deutsch: „Der autoritäre Charakter“) zusammengefaßt und 1950 in den USA erschienen -Das Konzept des „autoritären Charakters“ besagt, daß vor allem Menschen mit einer bestimmten, eben autoritären Persönlichkeitsstruktur anfällig für faschistische Propaganda und Ideologien sind. -Die Theorie, an der sich die Berkley-Gruppe bei der Entwicklung ihres Persönlichkeitsmodells orientiert hatte, war die Psychoanalyse. Im Mittelpunkt der autoritären Persönlichkeit steht danach ein schwaches Ich, das nicht in der Lage ist, zwischen den eigenen Triebansprüchen, den Forderungen des strengen Über-Ichs und den Imperativen des Realitätsprinzips zu vermitteln. Aus dieser Schwäche vor allem erwächst die Bereitschaft, durch autoritäre Unterwürfigkeit sich seiner Freiheit zu entledigen. -Die Ursachen für diese Persönlichkeitsstruktur liegen in der frühen Kindheit, in einer autoritären Familie. Diese Familienstruktur und ihre autoritären Erziehungspraktiken schließlich werden als Produkt der kapitalistischen Gesellschaft interpretiert. -Der autoritäre Charakter äußert sich in bestimmten Einstellungen, die durch Befragung mittels speziell konstruierter Skalen ermittelt werden können. Alle Skalen wurden auf der Grundlage eines ausgedehnten Interviewmaterials konstruiert. Das berühmteste Instrument zur Ermittlung dieser Einstellungen, die auf den autoritären Charakter schließen lassen sollen, ist die F-Skala (Faschismus-Skala), eine Synthese von vorher von der Gruppe bereits entwickelten Konservatismus-, Antisemitismus-und Ethnozentrismusskalen. Ein besonderes Gewicht hatte die Vorurteilsforschung bei der Genese der Theorie und Analyse des „autoritären Charakters“. -Mit der F-Skala versuchte man, potentielle Faschisten zu ermitteln. Der Inhalt der F-Skala besteht u. a. aus Statements autoritärer Unterwürfigkeit, autoritärer Aggressivität gegenüber Minderheiten, starrer Bindung an konventionelle Werte des Mittelstandes und rigiden Denkens. Diejenigen, die hohe Werte auf der F-Skala hat­ ten, d. h.den angebotenen Statements weitgehend zustimmten, wurden als besonders anfällig gegenüber dem Faschismus eingestuft.

3. Die Furcht und die Flucht vor der Freiheit

Der Ansatz war vor allem in seiner Verknüpfung von Theorie und Empirie neu. Das theoretische Fundament hatte aber bereits Erich Fromm Jahre vorher in seinem Werk „Escape from Freedom“ gelegt Von ihm stammt unseres Wissens auch der Begriff des „autoritären Charakters“. Während die Adorno-Gruppe die allgemeine Anfälligkeit demokratischer Gesellschaften für faschistische Bewegungen aufzeigen will, argumentiert Fromm stärker im historischen Kontext des deutschen Faschismus.

Fromm zeigt, wie sich viele Bürger durch die Freiheit verunsichert fühlen. Sie sehen nicht die Chancen der Freiheit zu etwas, sondern erleben die Befreiung von ehemaligen Autoritäten nur als Freisetzung in eine Welt ohne Schutz und Sicherheit. Diese verunsicherten Bürger erleben die historischen Zuwächse an individueller Freiheit als Isolation. Für sie bedeutet Freiheit, dem Risiko ausgesetzt zu sein, zwischen sozialen und politischen Extremen zerrieben zu werden. Fromm zeigt, wie aus der Furcht vor der Freiheit die Flucht vor der Freiheit wird, die Flucht in die vermeintlichen Schutzzonen der starken Masse und des starken Führers. Das Bedürfnis sich zu unterwerfen, ist beim autoritären Charakter gepaart mit dem Bedürfnis nach Macht und Aggressivität. Diese Aggressivität richtet sich vornehmlich gegen Minderheiten.

Im Mittelpunkt von Fromms Aufmerksamkeit stehen die deutschen Mittelschichten, da sie sich als besonders anfällig für den Faschismus erwiesen hatten. Aber Fromm verschweigt nicht, daß bei empirischen Untersuchungen über deutsche Arbeiter in den Jahren 1929/30 bei einer Minderheit von ihnen ebenfalls ein „autoritärer Charakter“ zu identifizieren gewesen war Den Grund dafür, daß gerade die deutschen Mittelschichten sich so anfällig für die Unfreiheit zeigten, sieht Fromm in der autoritären Kontinuität deutscher Vergangenheit und in den besonderen Krisenbelastungen der Nachkriegsperiode für diese Schichten.

III. Kritik und Stimulus

Die Studien zum „autoritären Charakter“ von Adorno u. a. wurden in den USA bald zu einem Klassiker der Sozialpsychologie, der gleichwohl sofort ins Kreuzfeuer der Kritik geriet Neben vielen methodischen Einwänden dominierten folgende Argumente die Debatte: -Die psychoanalytisch orientierte Erklärung der Persönlichkeitsstruktur sei nicht zwingend, sondern eher verwirrend; andere Ansätze könnten besser den Beitrag des subjektiven Faktors bei der Entwicklung des Autoritarismus erklären. -Man dürfe nicht vorschnell von Einstellungen auf das Verhalten schließen. -Situative Faktoren hätten einen kaum zu überschätzenden Einfluß auf das Verhalten, der stärker sein kann als Persönlichkeits-Faktoren. -Die Konzentration auf den rechten Autoritarismus unterliege selbst einem Vorurteil in seiner Ausblendung eines linken Autoritarismus.

Der letzte Einwand signalisierte bereits eine deutliche Grenze der Akzeptanz des Autoritarismus-Ansatzes. Er geriet nämlich sofort in die Konflikt-linien des Kalten Krieges. „Er zielt gegen den falschen Feind“ hieß es in Amerika: Die prominente Rolle der Kapitalismuskritik erwies den Ansatz schnell als einen von Linksintellektuellen. Das Bedrohungsgefühl von rechts entsprach nicht mehr der Konstellation des Kalten Krieges. Die Bedrohungen, deren man sich nun meinte erwehren zu müssen, kamen von links.

IV. Widerstände in Deutschland

In Deutschland hatte es der Ansatz zunächst noch wesentlich schwerer als in Amerika. Erst über 20 Jahre nach seinem Erscheinen publizierte man endlich das Werk auch auf deutsch. Die Zeit nach 1945 war einerseits durch die Umerziehungspläne der Alliierten geprägt, andererseits durch das skeptische Zurückweichen der Jugend gegenüber Politik überhaupt und durch die Verdrängung bei den meisten Erwachsenen. Schnell drückte der beginnende Kalte Krieg der Zeit seinen Stempel auf. Anti-Nazismus degenerierte zu einem Teil eines übergeordneten Kampfes gegen den Totalitarismus, und dieser wurde als gemeinsame Herrschaftsform von Faschismus und Stalinismus begriffen. Das anti-totalitäre Engagement erschöpfte sich bald in einer anti-kommunistischen Haltung. Da in Deutschland der Streit um den Kommunismus nicht nur durch die soziale und die politische Frage, sondern auch durch die nationale Frage (der geteilten Nation) beherrscht wurde, nahm der deutsche Anti-Kommunismus extreme Ausprägungen an. Unter diesen Bedingungen schien die Aufarbeitung der nazistischen Vergangenheit zunächst sekundär

In diesem politischen Klima kam es zur Ausgrenzung und Tabuisierung von „linken“ Ansätzen und damit auch zur Ausgrenzung oder zumindest Vernachlässigung der Frankfurter Schule und ihrer Theorie des „autoritären Charakters“. Erst antisemitische Schmierereien 1959/60 zerstörten die Illusion, daß sich eine Demokratie vorrangig über ihre ökonomischen Leistungen definieren könne. Nun wurde schnell das Erziehungssystem zum Verantwortlichen erklärt, und dementsprechend erhoffte man sich von einer intensiveren Aufklärung in den Schulen über den Nationalsozialismus Erfolg bei der demokratischen Erziehung. Aber noch 1966 hatte Adorno zu beklagen, daß die „Erziehung nach Auschwitz“ sich den Problemen des Autoritarismus als Erblast der Vergangenheit und als struktureller Bedrohung der Demokratie nicht stellte

Erst mit den kulturrevolutionären und antiautoritären Tendenzen von 1968 wurden ehemalige Tabus durchbrochen, und auch der Ansatz des „autoritären Charakters“ erhielt neue Aufmerksamkeit. Aktuelle Bedeutung erhielt er dann durch einen neuen Rechtsextremismus unter Jugendlichen, der als bittere Frucht der Demokratie und nicht mehr nur als Altlast der alten Diktatur zu begreifen war.

V. Autoritarismus: ein flexibles psychohistorisches Modell

Wie brauchbar ist aber nun das Modell des „autoritären Charakters“? Welche Einflüsse hat es oder eine modernisierte Variante vor allem in Deutschland ausgeübt? In einer selbstkritischen Rückschau auf die Stärken und Schwächen d§s „autoritären Charakters“ brachte Nevitt Sanford, ein ehemaliges Mitglied der Berkley-Gruppe, ein wichtiges Argument ins Spiel. Er verwies darauf, daß die „autoritäre Persönlichkeit“ nur angemessen verstanden werden könne, wenn man sie als eine „psycho-historische Konzeption“ auffasse Dies meint zweierlei. Erstens: Ein Mensch mit einer autoritären Persönlichkeit hatte 1945 andere politische Ängste als heute; und auch die Art, wie autoritäre Unterwürfigkeit und Aggressivität damals in der Erziehung vermittelt wurden, wird eine andere gewesen sein als heute. Zweitens: Die sozialwissenschaftliche Art und Weise, ein solches Modell der Genese und Struktur des Autoritarismus zu entwickeln, unterliegt dem geschichtlichen Wandel. Die besondere Verknüpfung von Psychoanalyse, (undogmatischem) Marxismus, Interviews und Einstellungsforschung war ein Produkt der Zeit und der besonderen intellektuellen Konstellation, die durch die Emigration der Wissenschaftler um das Frankfurter Institut für Sozialforschung gegeben war.

Wenn wir den Autoritarismus-Ansatz in diesem Sinne als historisch und flexibel verstehen, können u. E. folgende Elemente als Konstante akzeptiert werden: -Die Figur der Furcht vor der Freiheit bleibt zentral; wovor die Furcht besteht, kann historisch allerdings stark variieren. -Die subjektive Verarbeitung von objektiven Belastungen liefert einen unverzichtbaren Erklärungszugang; allerdings wird Abschied genommen von dem Monopol der Psychoanalyse als erklärender psychologischer Theorie. -Der sozialisatorische Einfluß der Familie bei der Entwicklung von Autoritarismusanfälligkeit wird nicht geleugnet, aber auch andere sozialisatorische Einflüsse sind zu berücksichtigen. -Neben dem Einfluß der Persönlichkeitsstruktur treten immer stärker die Auswirkungen situativer Komponenten in den Blick. Es gibt Anzeichen dafür, daß der situative Streß so groß werden kann, daß er durchaus auch Personen ohne autoritäre Persönlichkeitsstruktur zu autoritärem Verhalten verleiten kann. -Eine autoritäre Persönlichkeitsstruktur ist nicht an eine einzige -rechtsextreme -Ideologie gebunden; auch Anhänger linker Ideologien können autoritär sein. Nicht die ideologische Orientierung, sondern die rigide und dogmatische Art der geplanten und durchgeführten Umsetzung der Ideologie entscheidet über den autoritären Hintergrund. -Autoritarismus ist auf eine „Ursachen-Trias“ aus Tradition. Sozialisation und Situation zurückzuführen.

Im Folgenden möchten wir an mehreren Beispielen demonstrieren, wie ein flexibel gehandhabter Autoritarismus-Ansatz interpretative Kraft entfaltet und wichtige Erkenntnisse für die politische Bildung im Kampf gegen Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus liefert.

1. Politische Kultur -die Last autoritärer Vergangenheit

Einen nicht zu unterschätzenden Einfluß hat der „autoritäre Charakter“ auf die Entwicklung der Forschung zur politischen Kultur und ihrer Thesen über die Demokratiefähigkeit der Westdeutschen nach 1945 gehabt *Dieser Forschungsansatz, der den subjektiven Faktor von Politik in den Mittelpunkt seines Interesses stellt, hatte skeptisch die Gretchenfrage aufgeworfen: Nun haben die WestDeutschen zwar neue demokratische Institutionen bekommen, aber wie halten es die Bürger, die vielfach bis zum Ende den Faschismus unterstützt oder geduldet hatten, mit dieser Demokratie?

Wie berechtigt diese Frage war, zeigten Umfragen, nach denen Ende der vierziger Jahre noch unge­ fahr die Hälfte der Deutschen der Meinung war, daß der Nationalsozialismus im Grunde eine gute Idee gewesen sei, die nur schlecht ausgeführt worden war. In der Perspektive der Forschung zur politischen Kultur erscheint der Autoritarismus in der jungen westdeutschen Demokratie daher vor allem als ein Produkt der NS-Diktatur, als eine Last der Vergangenheit, die noch nicht aus der Mentalität der Bürger gewichen ist. Autoritarismus erscheint hier lediglich als ein Traditions-und Generationenproblem.

Durch den Partizipations-und Protestschub Ende der sechziger Jahre sahen sich die Vertreter dieses Ansatzes in ihren Annahmen bestätigt, daß unter veränderten Rahmenbedingungen auch Bürger mit einem veränderten Demokratieverständnis heranwachsen würden. Dieser Ansatz liefert mit seinem Akzent auf der Last der Vergangenheit zwar eine wichtige Perspektive, aber er vereinfacht mit seiner Interpretation die Gegenwart, denn hier heißt die Kernthese: Demokratien produzieren Demokraten. Unbeantwortet bleibt die Frage, wie denn aus dem Schoß der Demokratie ihre autoritären Feinde erwachsen können.

2. Vorurteile -autoritäre Elemente der Gegenwart

Erneuten Auftrieb bekam der Autoritarismus-Ansatz in der Folge zunehmender Fremdenfeindlichkeit in Westdeutschland im Rahmen der wieder-erstarkenden Vorurteilsforschung. Dieser Ansatz hilft nämlich zu erklären, warum Vorurteile entstehen und warum sie dann so widerstandsfähig gegen neue Informationen und Aufklärung sind. Er hilft zu klären, warum Vorurteile mit ihren falschen Verallgemeinerungen über Minderheiten, mit ihrer emotionalen Ablehnung, moralischen Abwertung, sozialen Ausgrenzung und diskriminierenden Aggression für die Träger der Vorurteile so attraktiv sind. Kurz: Dieser Ansatz kann die Vorteile aufzeigen, die Vorurteile mit sich bringen

Im Mittelpunkt psychologischer Vorurteilstheoreme stehen zumeist Ansätze, die das Selbstkonzept, das Selbstwertgefühl oder die Identität als wichtigsten Einflußfaktor für Vorurteilshaftigkeit ansehen. Es gibt mittlerweile auch beachtliche empirische Belege dafür, daß die Vorurteilshaftigkeit in starkem Maße von der Selbstwahrnehmung und -beurteilung beeinflußt wird Die Art und Weise, wie der andere wahrgenommen und beurteilt wird, hängt vor allem davon ab, wie man sich selbst sieht und fühlt. Je stabiler und ausgeglichener das eigene Selbstwertgefühl ist, desto weniger Bedrohungsgefühle lösen Fremde aus. Die Probleme, die die Mehrheitsgesellschaft mit Minderheiten hat, sind zumeist ein Resultat der Probleme, die in der Mehrheit selbst bestehen, und nicht eine Folge von Problemen, die Minderheiten der Mehrheit bereiten. Die Furcht vor den Fremden ist meist keine Folge der Eigenschaften oder des Verhaltens der Fremden, sondern eine Folge eigener Furchtsamkeit. Die im Vorurteil vollzogene Konstruktion der Wirklichkeit hat zwei komplementäre Seiten der Verfälschung: einerseits die Einstufung der Fremden und Ausländer als minderwertig und andererseits die Überbewertung des eigenen Kollektivs. Das negative Vorurteil über die Minderheiten wird ergänzt von dem „positiven“ Vorurteil über die eigene Gruppe. Aus der Erfahrung eigener Schwäche und Unterlegenheitsängste wird die Illusion der gemeinsamen und eigenen Überlegenheit und Stärke.

Es ist ein leichtes, hier eine Grundfigur des „autoritären Charakters“ zu erkennen: Aus dem Gefühl der eigenen Schwäche wird der Weg angetreten in die freiwillige Unterwerfung unter kollektive imperative und autoritäre Führung. Diese Flucht wird aber subjektiv wahrgenommen als der Weg in die schützende Macht einer Gemeinschaft und die kompensatorische Kraft eines Kollektivs. Aus den Schutzzonen dieses Kollektivs heraus wird es nun möglich, Minderheiten, die als bedrohlich empfunden werden, zum Sündenbock zu stempeln und die eigene Angst in Aggression zu verwandeln. Aus diesem Ansatz wird es nun auch verständlich, warum Vorurteile für ihre Träger attraktiv und funktional sind: -Intellektuell ist das Vorurteil entlastend, denn es erleichtert (scheinbar) die Orientierung in einer überschaubarer konstruierten Wirklichkeit. -Moralisch führt die Abwertung „der Fremden“ zur Aufwertung des eigenen Selbstwertgefühls. -Emotional erlaubt das Vorurteil, die eigenen Ängste zu kanalisieren und zu kaschieren: Diffuse Verunsicherung verwandelt sich in Furcht vor identifizierbaren Fremden, und diese Furcht tarnt sich als Überlegenheit und Feindseligkeit. -Sozial oder auch national fördert es den Zusammenhalt des eigenen Kollektivs durch die Stärkung des Wir-Gefühls; es gestattet die Verteidigung und Stärkung einer verunsicherten oder bedrohten Identität. -In der Eskalation eines Konflikts erlaubt es die Stigmatisierung einer Minderheit als Sündenbock und legitimiert deren Diskriminierung; es schafft ein Ventil für anderweitig aufgestaute Aggressionen. -Außerdem gestattet das Vorurteil -vor allem im öffentlichen Diskurs -eine ergiebige Instrumentalisierung auch durch solche Personen und Gruppen, die selbst gar keine Vorurteile haben, aber mit ihnen ein politisches Geschäft der Angst betreiben wollen.

Für diese vielfachen „Vorteile“ der Vorurteile ist die Persönlichkeitsstruktur eine unverzichtbare Variable, wenn auch keine hinreichende. Erst das Zusammentreffen von Bedingungen sowohl auf der Ebene der Persönlichkeit als auch auf den Ebenen der Gesellschaft und der politischen Kultur ist entscheidend. Wenn Belastungen der Gesellschaftsstruktur, des sozialen Wandels und der nationalen Tradition bei den Bürgern auf begrenzte oder fehlende Fähigkeiten ihrer Verarbeitung treffen, provozieren sie Abwehrstrategien wie Vorurteile und Feindbilder. Wenn objektiver gesellschaftlicher Druck auf mangelhafte Kompetenzen bei den Menschen trifft, mit diesem Druck umzugehen, dann entsteht ein Streß, der sich in Gefühlen der Bedrohung und der Furcht äußert. Wenn schließlich diese Gefühlslage auf einen öffentlichen Diskurs der Angst trifft, wachsen die Anfälligkeiten für rechtsextreme „Lösungen“ rapide.

3. Individualisierung -eine neue Chance für den Autoritarismus?

Weitgehend unbemerkt hat das klassische Theorem von der „Furcht und der Flucht vor der Freiheit“ auch an anderer Stelle seine Brauchbarkeit bewiesen. Die einflußreich gewordene Deutung der Xenophobie und des Rechtsextremismus von Wilhelm Heitmeyer entpuppt sich bei näherem Hinschauen als ein modernisiertes Remake der historischen Vorlage

Die Entwicklung der heutigen Gesellschaft ist nach Heitmeyer durch eine zunehmende Individualisierung, durch eine Zunahme individueller Freiheiten gekennzeichnet. Die Individualisierung hat aber ein „Doppelgesicht“: Sie wirkt auch als Desintegration. In der subjektiven Verarbeitung nehmen viele statt der Chancen eher die Belastungen und Risiken dieser Entwicklung wahr: soziale Bindungslosigkeit, Konkurrenz, Ohnmachtsgefühle und Orientierungsnot. Für die Jugendlichen produzieren die modernen Individualisierungsschübe vor allem einen erheblichen Selbstbehauptungsdruck. Rechtsextreme Ideologien können bei Jugendlichen, die von den Folgen der Modernisierung verunsichert und verängstigt sind, als Orientierungshilfe akzeptiert werden.

Bis hierhin liefert Heitmeyer nicht viel mehr als eine modernisierte Autoritarismusthese. Aus den politischen und ökonomischen Freiheitszuwächsen der Bürger in der kapitalistischen und parlamentarischen Gesellschaft bei Fromm und der Berkley-Gruppe sind die Individualisierungsschübe der modernen Gesellschaft geworden. Aus dem Krisen-druck der kapitalistischen Gesellschaft wurde der Modernisierungsdruck der Risikogesellschaft. Und aus der autoritären Charakterstruktur wurde ein schwaches Selbstkonzept.

Es stellt sich allerdings die Frage, ob Heitmeyer mit seiner Konzentration auf die Modernisierung der Arbeitsprozesse und auf die Auflösung verbindlicher Sozialmilieus nicht wesentliche Bereiche einer neuen Furcht vor der Freiheit in den westlichen Demokratien unterbelichtet: die Furcht vor multikultureller Freiheit in demokratischen Gesellschaften. Die Furcht vor der Freiheit meinte ja immer auch die Furcht vor der Freiheit der anderen. Das, was früher als Furcht vor dem Überstimmtwerden in der Demokratie, dem Übermächtigtwerden durch die „proletarischen Massen“ oder dem fremden Kapitalströmen Ausgesetztsein zum Thema der Furcht vor der Freiheit wurde, äußert sich heute eher als Furcht vor der „Über-11 flutung“ durch die „Ströme“ der Migranten und Flüchtlinge.

Der Erfolg des Ansatzes von Heitmeyer beruht wohl auf folgendem: Der Ansatz schließt an die populär gewordene Deutung der modernen Gesellschaft als Risikogesellschaft an. Er verzichtet auf tiefenpsychologische Spekulation zugunsten sozialisationstheoretischer Selbstkonzepte. Er überwindet beim Blick auf den Rechts-extremismus eine Verengung auf rechtsextreme Organisationen. Schließlich arbeitet Heitmeyer empirisch.

Diese empirische Arbeit hat ihm auch ein zunächst überraschendes Ergebnis geliefert, worin womöglich sein eigentliches ‘ Verdienst zu erblicken ist: Nicht nur Jugendliche mit schwachen Selbstkonzepten sind anfällig für den Rechtsextremismus, sondern verstärkt auch solche mit einem starken Selbstkonzept. Heitmeyer benennt diesen zugegebenermaßen überraschenden Befund mit dem Begriff „Machiavellismus“. So treffend diese Haltung in unsere Ellenbogengesellschaft zu passen scheint, so gibt Heitmeyer doch zu, daß noch nicht geklärt ist, ob hinter der Präsentation eines starken Selbstbildes, hinter der oftmals zu konstatierenden Selbstüberheblichkeit nicht doch ein Kompensationsmechanismus eines in Wirklichkeit unsicheren Selbsts versteckt ist. Die Frage bleibt also noch offen, inwieweit die erfragten Selbstkonzepte das genuine Selbstwertgefühl der Jugendlichen zum Ausdruck bringen oder ob sie es nur überdecken.

Weiterhin ist zu überprüfen, ob die Suche nach dem „starken Selbstwertgefühl“ von der richtigen Fragestellung ausgeht oder ob für ein couragiertes wie empathisches Sozialverhalten nicht vielmehr ein stabiles und ausgeglichenes Selbstwertgefühl erforderlich ist.

Wirft man auch hier noch einmal einen Blick zurück in die „Kiste der Klassiker“, dann zeigt sich wiederum, daß dieser Befund nicht allzusehr überraschen muß. Zu den Autoritären gehörten immer auch diejenigen, die sich stark gaben und womöglich auch fühlten und bei denen die autoritäre Aggression und Selbstbehauptung im Vergleich zur Unterwürfigkeit überwog. Gemeinsam scheint dem Schwachen wie dem Starken aber ein Gefühl der Bedrohung, gegen die man sich verteidigen will.

VI. Autoritarismus in Ostdeutschland

Eine außergewöhnliche Renaissance erlebte der Autoritarismus-Ansatz bei der Analyse der ostdeutschen Erblast sowie der Xenophobie und des Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern. Allerdings wurde der Begriff des Autoritarismus nun zuweilen inflationär und stereotyp gebraucht.

1. Die deformierte Gesellschaft

Schon bald nach dem Abebben der Wende-Euphorie und dem Erstaunen über die „friedliche Revolution“ gewannen die skeptischen Stimmen in Deutschland das Übergewicht. Über die ehemalige DDR-Bevölkerung wurde ein Generalverdacht des Autoritarismus verhängt. Maßgeblichen Einfluß bei dieser „Meinungsbildung“ hatte der Hallenser Psychotherapeut Joachim Maaz, der auf der Basis der Erfahrungen aus 5000 Fallstudien ein Psychogramm der ehemaligen DDR erstellte Maaz entwickelte in seinem Buch zwei Kontinuitätsthesen, die schnell auch von den westlichen Medien aufgenommen wurden.

Die erste These behauptet eine fast bruchlose Kontinuität zwischen faschistischer und statistischer Diktatur. Die Folge sei eine Repression gewesen, der sich niemand habe entziehen können und die bei allen DDR-Bürgern Deformationen hinterlassen habe. Die zweite These baut hierauf auf und besagt, daß solchermaßen beschädigte Bürger eben nicht in der Lage gewesen seien, eine wirkliche Revolution zu vollbringen. Selbst in der Wende sei die Kontinuität der Deformation noch spürbar gewesen, was sich auch in der unterdrückten Aggressivität der „friedlichen Revolution“ und in dem schnellen Anpassungsprozeß nach der Maueröffnung gezeigt hätte.

Dieses düstere Bild einer letztlich doch gelungenen totalitären Unterdrückung wurde vor allem von Vertretern der politischen Kulturforschung recht unbesehen übernommen. Vorschnell gaben sie ihre Erkenntnisse über die politische Kultur der ehemaligen DDR auf, die besagt hatten, daß auch dieses System keinesfalls nur über eine einzige, gleichgeschaltete politische Kultur verfügte, sondern sich mindestens nach drei Teilkulturen unterschied: der kommunistischen Propagandakultur, der aus der Vorkriegszeit nachwirkenden traditionellen politischen Kultur und einer ökologischen und reformsozialistischen Alternativ-Kultur. In der Forschung zur politischen Kultur dominierte die These autoritärer Kontinuität und eine einseitige Parallelisierung von 1945 und 1989. Die politische Übergangskultur der Wende geriet unter dieser Perspektive bald aus dem Blick Aber es gibt und gab auch Opposition als Folge von Repression, und wir müssen uns hüten, dem Stereotyp von Maaz zu folgen, nach dem ausnahmslos alle ehemaligen DDR-Bürger beschädigt seien.

2. Eine Gesellschaft im Streß

Das Explodieren der Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland nach der Wende forderte differenzierte Erklärungen Eine Simplifizierung wäre es, wollte man hierin lediglich einen Ideologieaustausch bei den immer schon Autoritären sehen. Soziale Vorurteile und Xenophobie hatte es bereits vor der „Wende“ in der DDR gegeben, aber der Schleier der offiziell verordneten internationalen Solidarität hatte dies verhüllt. Die Aggressionen und Diskriminierungen richteten sich sowohl gegen Arbeitsmigranten aus der sogenannten Dritten Welt als auch gegen die polnischen Nachbarn. Über das Ausmaß und die Dynamik dieser alten, „DDR-typischen Fremdenfeindlichkeit“ (Thierse) haben wir bislang noch viel zu wenig Kenntnisse. Neu sind die eskalierenden Äußerungen manifesten Fremdenhasses in den neuen Bundesländern. Sie sind aus dem Zusammentreffen von kumulierendem, real existierendem Druck mit unzureichenden psychischen Verarbeitungsmechanismen zu erklären: Dieser Druck wird nicht mehr als Herausforderung, sondern als Überforderung erlebt

Wir sehen vor allem drei Streßebenen des Wandels für die Bürger der ehemaligen DDR und ihr Selbstwertgefühl: 1. Die Vergangenheit des real existierenden Sozialismus erweist sich als belastender, als es die Bürger vermutet haben. 2. Die schon Vergangenheit gewordene Wende brachte nicht nur den Übergang vom real existierenden zum real verschwindenden Sozialismus, sondern ihr folgte die Abschaffung der DDR als Staat und das Verschwinden der Reformperspektiven vom Herbst 1989. 3. Die Gegenwart bringt nicht nur die Verwirklichung der Freiheit und die Hoffnung auf Wohlstand, sondern sie bringt auch eine „Furcht vor der Freiheit“, denn Freiheit bedeutet auch die Konfrontation mit drei Unbekannten: -die Konfrontation mit ökonomischer Konkurrenz, -die Konfrontation mit ideologisch-politischer Unsicherheit, -die Vereinigung nicht nur mit den Westdeutschen, sondern auch mit einer „real existierenden multikulturellen Gesellschaft“ und ihren Feinden. Welches Repertoire haben die Bürger der ehemaligen DDR heute, um mit den Herausforderungen des Wandels umzugehen und die Kränkung ihres Selbstwertgefühls zu verarbeiten? Wir müssen in Rechnung stellen, daß fast bruchlos zwei Diktaturen den Hintergrund für ihre politische Sozialisation abgegeben haben. Auch der radikalste politische Wandel und ökonomische Fortschritt könnten kurzfristig nicht die Spuren tilgen, die das autoritäre Erbe in der politischen Mentalität hinterlassen hat. Es ist deshalb anzunehmen, daß die Verarbeitung der aktuellen und kommenden Probleme bei vielen Bürgern nach einem Mechanismus ablaufen wird, den wir als eine autoritäre Ersatzlösung erkannt und dargestellt haben.

Drei Varianten des Autoritären sind allerdings zu unterscheiden: -Anhänger des ehemaligen autoritären Regimes; -Untertanen als passive Bürger: „Produkte“ des SED-Regimes, nun befreit, aber politisch gelähmt; -Untertanen als potentielle Rechtsextreme, d. h. diejenigen, die beim Zusammentreffen von tradierter Inkompetenz und Schwäche mit aktuellem, vielfältigem Streß den Weg in rechtsextremen Pro­ test suchen. Aufgabe von politischer Bildung muß es vor allem sein, den Übergang vom politisch gelähmten zum rechtsextremen Bürger zu verhindern.

Es besteht kein Zweifel darüber, daß auch in Westdeutschland wie in den „alten“ Demokratien Europas vielfach Fremdenfeindlichkeit und sogar Rassismus eskaliert sind und daß immer dann, wenn es in Gesellschaften zu den skizzierten Streßkonstellationen kommt, auch Fremdenfeindlichkeit eine wahrscheinliche Reaktion sein wird Die Anfälligkeit für autoritäre oder auch rechtsextreme „Antworten“ auf die Probleme der Gesellschaft und ihrer Bürger ist z. Z. in Ostdeutschland deshalb besonders groß, weil von der Ursachen-Trias alle drei Bedingungen stark ausgeprägt sind: -Aus der politischen Kultur des zusammengebrochenen Systems wirkt eine autoritäre Altlast nach. -Die Sozialisation hat zumeist unsichere Untertanen geprägt. -Die aktuellen Umbrüche schaffen kumulierende Situationen von Streß.

Auch Heitmeyer spricht dem Autoritarismus-Ansatz für Ostdeutschland ausdrücklich Erklärungskraft zu Uns scheint, daß sein Begriff von den „Individualisierungsschüben“ erst für den Wandel in Ostdeutschland seine Treffsicherheit erhält. Verglichen mit den Freisetzungs-und Desintegrationsprozessen in den neuen Bundesländern erscheinen die Freiheitszuwächse westlicher Modernisierung nur noch als graduelle Veränderungen, kaum noch als „Schübe“ der Individualisierung. Reizvoll ist Heitmeyers These, daß im Westen eher die machiavellistische Variante des Autoritären dominieren wird, der konkurrenz-erfahrene und selbstbehauptungswütige „Wessi“, und daß im Osten stärker mit dem klassischen Typ des Autoritären zu rechnen sei, dem konkurrenzunerfahrenen und unsicheren „Ossi“. Es wird zukünftiger empirischer Forschung Vorbehalten sein, diese These zu testen.

VII. Pädagogische Gegenstrategien

1. Die Grenzen von Aufklärungsstrategien Wenn man einem modernisierten Autoritarismus-Ansatz folgt, hat das für die pädagogischen Strategien gegen Vorurteile, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus natürlich erhebliche Konsequenzen.

Zunächst einmal erklärt dieser Ansatz, warum all die Ansätze, die Informations-und Aufklärungsstrategien in ihren Mittelpunkt stellen, schnell an eine unreflektierte Grenze stoßen. Bedrückend sind die resignierenden Rückblicke auf gescheiterte Anstrengungen dieser Art. Dort, wo Vorurteile sich schon eingenistet haben oder die Streß-Trias aus historischen Erblasten, gesellschaftlichen Belastungen und psychischen Schwächen eine autoritäre Disposition geschaffen hat, dort besteht ja gerade ein Interesse an verzerrten Sichtweisen, an Welt-Deutungen, wo nicht die Wirklichkeit, sondern der Wunsch der Vater des Gedankens ist. Neue Informationen werden hier höchstens verzerrt ins bestehende Stereotyp oder Vorurteil eingepaßt. Diese emotionale Kraft von Vorurteilen setzt auch häufig den Strategien der Begegnung und der moralischen Erziehung enge Grenzen

2. Die Unverzichtbarkeit von Aufklärungsstrategien

Dennoch kann auf Aufklärungsstrategien in der Schule nicht verzichtet werden, und zwar aus zwei Gründen: 1. Wir wissen doch immer erst im nachhinein, nach der Konfrontation des Fehlurteils mit neuen Informationen, ob das Fehlurteil, auf das wir als Pädagogen stoßen, ein Voraus-Urteil oder ein resistentes Vorurteil ist. Die Mühe der Aufklärung ist also immer wieder zu unternehmen; erst durch ihr Scheitern erfahren wir etwas über die psychischen Widerstände der Vorurteile. 2. Aufklärung hat aber vor allem dort ihre Bedeutung, wo sie nicht als Korrektur, sondern als Prävention eingesetzt wird: als frühzeitige Vorbeugung gegen die Anfälligkeit für autoritäre Einstellungen und Verhaltensdispositionen, als Befähigung, eine schwierige Welt auszuhalten und mitzugestalten.

3. Prävention statt Korrektur

Gefordert ist also eine Erziehung zu Empathieund Konfliktfähigkeit wie auch zur Streßtoleranz, die rechtzeitig Barrieren errichtet gegen die Anfälligkeit des Autoritarismus

Wenn Kinder und Jugendliche rechtzeitig erfahren, daß zum Zusammenleben in der Gesellschaft auch Konkurrenz und Konflikte gehören, brauchen sie später nicht die Flucht anzutreten in utopische Harmoniemodelle der Gesellschaft.

Wenn man Kinder und Jugendliche darauf vorbereitet, daß es in der Gesellschaft und in der Politik auch Krisen, Frustrationen und Streß gibt, dann wird die Gefahr geringer, daß sie unter Bedingungen von sozialem Streß das Bedürfnis nach Sündenböcken entwickeln.

Wenn Kinder rechtzeitig erfahren, daß unsere gesellschaftliche Wirklichkeit multikulturell geworden ist, wenn man sie in eine Art multiperspektivischer Wahrnehmung der Gesellschaft einübt, dann werden die „anderen“ -die Minderheiten -erst gar nicht zu Fremden, zumindest erhalten sie dann keine Dimension des Bedrohlichen.

4. Multiperspektivische Erziehung

Die Strategie der multiperspektivischen Erziehung zielt auf die Vermittlung einer Kompetenz, sie zielt auf eine Einübung in die Wahrnehmung der „anderen“ und dadurch auf eine Vorbeugung gegen Vorurteile und gegen die Furcht vor Fremden -Im Mittelpunkt steht eine frühe Anleitung zur Perspektivenübemahme, zu Empathie und zu Toleranz gegenüber Minderheiten und Fremden. Der kognitive und der affektive Bereich müssen hier gleichermaßen berücksichtigt werden, denn die intellektuelle Leistung, sich in jemanden hinein­ zudenken, garantiert noch keinesfalls ein Mitfühlen. -Wechselseitige Perspektivenübernahme erfolgt aber nicht nur zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheit, sondern auch zwischen verschiedenen Nationen und Religionen. -Die Perspektivenübernahme muß wechselseitig sein, denn auch die Minderheiten müssen dazu angeleitet werden, sich in die Perspektiven der Mehrheitsgesellschaft hineinzuversetzen. -Zur Perspektivenübernahme gehört ferner die Fähigkeit, sich vorstellen zu können, wie der „andere“ einen selbst wahrnimmt und welche Folgen aus der Differenz von Selbst-und Fremdbild entstehen. -Da wechselseitige Perspektivenübernahme auch das Sichhineinversetzen in die Ängste und die Interessen der „anderen“ bedeutet, kann sie besonders bei einer zivilen Konfliktregelung helfen. Dies ist wichtig, denn es bleibt zu beachten: Die multi-kulturelle Gesellschaft ist auch eine multikonfliktuelle Gesellschaft! Die Kompetenz, die Welt auch durch die Augen der „anderen“ zu sehen, kann in Konflikten eine kontrollierende Wirkung entfalten, kann konfliktbegrenzend wirken. Das Ziel der multikulturellen Gesellschaft ist nicht, daß es keine Konflikte mehr gibt und daß alle Inländer alle Ausländer mögen, sondern daß die vorhandenen Konflikte zivil, d. h. vor allem gewaltfrei, ausgetragen werden. -Für eine rationale Konfliktaustragung ist eine Perspektivenübernahme auf argumentativer, sozialer und emotionaler Ebene wichtig: Es gilt, die Argumente der Gegenseite zu verstehen, die Wirkung der eigenen Aktionen auf andere abschätzen und sich in die Ängste des Gegenübers einfühlen zu können. -Die entwickeltste Form der Perspektivenübernahme ist die Fähigkeit, auch die Position „eines generalisierten Dritten“ übernehmen zu können. Erst aus dieser Sicht lassen sich dann konsensfähige Positionen entfalten, die für alle Mitglieder einer Gemeinschaft Gültigkeit haben, unabhängig davon, welche besonderen individuellen oder kollektiven Perspektiven existieren. Diese übergeordnete Perspektive ist die eines unverzichtbaren gesellschaftlichen Grundkonsenses und die der Menschenrechte. -Um die wechselseitige Perspektivenübernahme durchsetzen zu können, muß sie allerdings als Prinzip verteidigt werden, d. h.: keine Toleranz gegenüber Intoleranz.

5. Selbstwertstärkung statt Selbstverteidigung

Die präventiven Anstrengungen multiperspektivischer Erziehung können aber nur gelingen, wenn im Mittelpunkt eine Stabilisierung von Selbstwertgefühlen und der Aufbau von Identität stehen. Nur Menschen, die sich selbst mögen, können Empathie oder Solidarität gegenüber anderen entwikkeln. Nur Menschen, die über ein ausgeglichenes Selbstwertgefühl verfügen, brauchen andere weder zu unterdrücken noch auszugrenzen. Denn dies ist doch die „Botschaft“ der Autoritarismusforschung: Ein schwaches Ich oder ein gekränktes oder deformiertes Selbst -je nach dem psychologischen Ansatz, der präferiert wird -ist eine der drei zentralen Bedingungen, die für autoritäre Einstellungen und Verhaltensweisen verantwortlich sind. Auch wenn die historischen und die situativen Bedingungen meist noch hinzukommen müssen, werden diese doch immer noch durch die subjektiven Verarbeitungsmechanismen gefiltert: Historische und situative Belastungen können von einem ich-starken, selbstbewußten Menschen durchaus „nicht-autoritär“ verarbeitet werden.

Was machen wir aber mit den Schülern, die zu Heitmeyers Typ der „Machiavellisten“ gehören, die also nicht zuwenig, sondern scheinbar zuviel Selbstvertrauen haben, die sich durch Selbstüberheblichkeit auszeichnen? Hier kann uns ein neues, ungelöstes Problem ins Haus stehen. Zunächst aber möchte ich die Vermutung äußern, daß sich diese demonstrierte Stärke bei vielen bei näherem Hinsehen als Tarnung erweisen wird, hinter der sich durchaus Unsicherheit und Furcht verbergen. Diese Frage kann aber nur durch künftige Forschung geklärt werden, und dann kann es sein, daß wir uns einer neuen Herausforderung gegenübersehen.

6. Demokratische Erziehungsstile

Wie kann Schule jedoch der Aufgabe gerecht werden, Schüler mit Selbstvertrauen und Zivilcourage zu erziehen? Stellt Schule nicht selbst ein Hemmnis für die Entfaltung jugendlichen Selbstbewußtseins dar? Der mögliche Beitrag der Schule ist vor allem wohl eine Frage des demokratischen Schulklimas und der Offenheit der Schule gegenüber der Wirklichkeit der Gesellschaft. Das Schulklima wiederum ist weitgehend eine Frage des Erziehungsstils der Lehrer Ist der Erziehungsstil eher automatisch: befehlend, anordnend, tadelnd, ungeduldig, mit wenig Respekt für die Wünsche der Schüler? Oder ist er eher sozial-integrativ: anleitend, ermutigend, bekräftigend, lobend, verständnisvoll, tolerant, kooperativ?

Die empirische Unterrichtsforschung kann belegen, daß sozial-integratives Lehrerverhalten Verhaltensstile unterstützt, die für eine demokratische politische Kultur unverzichtbar sind. Sie hat ebenfalls Belege dafür, daß der autokratische Erziehungsstil der Lehrer mit deren Persönlichkeitsstruktur zusammenhängt: Lehrer mit einem „autoritären Charakter“ unterrichten auch überwiegend in einem automatischen Stil. Die Frage eines alten Philosophen, der ansonsten heute etwas aus der Mode gekommen ist, hat also weiterhin Bedeutung: Und wer erzieht die Erzieher?

7. Demokratische Elemente im außerunterrichtlichen Schulleben

Zunächst sei versichert, daß hier nicht die abstrakte Utopie einer völligen Demokratisierung von Schule aufgebaut werden soll. Einer solchen Zielsetzung stehen Grenzen entgegen, die bereits vom gesellschaftlichen Erziehungsauftrag selbst gesetzt sind. Andererseits ist jedoch gerade auch die Entwicklung einer demokratischen, d. h. nichtautoritären Persönlichkeit ein gesellschaftliches Erziehungsziel.

Das bedeutet: Wenn wir im Rahmen geplanter und geordneter Erziehung zu einer demokratischen Persönlichkeit beitragen wollen, befinden wir uns zunächst in einer paradoxen Situation. Die einzige Möglichkeit, dieser paradoxen Situation zu entkommen, besteht darin, die Institution Schule, die schon aus ihrer Anlage als eine im staatlichen Auftrag stehende Organisation einen hierarchischen und damit autoritären Charakter hat, so weit wie möglich mit demokratischen Spielräumen zu durchsetzen. Weil die Schüler die Schwächeren sind, geht dies nur mit rechtlichen Absicherungen. Dabei haben sich im außerunterrichtlichen Schulleben zweierlei Bereiche als besonders wichtig erwiesen: -Die Sicherung eines geregelten Rechtes auf freie Meinungsäußerung von Schülern, und zwar gerade auch dann, wenn sie an der Schule und/oder an den Lehrern Kritik üben. Dies darf nicht nur in einem formalen Recht bestehen, sondern muß auch Realität werden: Auch die Ermutigung, von dem formalen Recht Gebrauch zu machen, ist pädagogische Aufgabe. Eine funktionierende Meinungsfreiheit findet am deutlichsten Ausdruck in einer Schülerpresse, die auch unangenehme Wahrheiten sagt und gleichwohl nicht gemaßregelt wird (Anschläge, Plakate, Wandzeitungen, Flugblätter usw.). -Die geregelte Mitverwaltung der Schule durch Schülermitwirkungsorgane sowie die Regelung der schülereigenen Angelegenheiten durch Schüler-parlamente oder Selbstverwaltungsorgane. Dies bedeutet nicht die Abgabe von Verantwortung aus den Händen der Verantwortlichen: Auch die Wahrung eines Rechts auf Anhörung und Mitberatung vor einer Entscheidung kann von großem Gewicht sein.

Sicherlich ist es sehr kompliziert, dies alles zu regeln, und vor allem schwierig, es in einem funktionierenden Schulalltag Wirklichkeit werden zu lassen, aber zur Schule in der Demokratie gehört dies alles zwingend dazu. Unterschiedliche praktische Lösungsansätze gehören bereits in etlichen Ländern der Bundesrepublik seit Jahrzehnten zum Schulalltag.

8. Besondere Anti-Streß-Strategien im Osten

Schließlich müssen wir den Unterschieden zwischen Ost-und Westdeutschland Rechnung tragen. Wir sind zwar ein Staat und ein Volk, wir sind aber durch unterschiedliche politische Erfahrungen und Kulturen geprägt. Politische Bildung kann allerdings nur dann Sinn haben, wenn man davon überzeugt ist, daß Hoyerswerda nicht überall ist und daß wir nicht stereotyp alle Bürger der ehemaligen DDR unter Autoritarismus-Verdacht stellen können.

Wir hatten argumentiert, daß die besondere Anfälligkeit in Ostdeutschland für autoritäre „Antworten“ eine Folge der dortigen Streßkonstellation ist. Wie kann aber der Streß durch pädagogische Intervention reduziert oder kontrollierbar gemacht werden? Pädagogik -auch politisch-historische Bildung -kommt hier sicher rasch an ihre Grenzen, denn man kann die Stressoren, die aus der DDR-Vergangenheit und aus der Vereinigungsgegenwart erwachsen, nicht „wegpädagogisieren“! Allerdings kann man Hilfestellung leisten, um mit dem Streß subjektiv besser umgehen zu können:

Bei der Vergangenheitsbewältigung geht es um eine doppelte Aufgabe. Zu vermeiden ist sowohl die nostalgische Flucht in eine DDR-Vergangenheit, die es nie gegeben hat, wie auch eine Unterwerfung unter das West-Stigma der Stasi-Gesellschaft, in dem alle zu Tätern geworden sind.

Bei der Gegenwartsbewältigung ist politisches und wirtschaftliches Orientierungswissen für das Leben in einer Konkurrenz-und Konfliktgesellschaft zu vermitteln; es ist das partizipatorische Know-how zu vermitteln, damit die Chancen wahrgenommen werden können, um nun „mitzumischen“. Hier liegt auch die Aufgabe der politischen Bildung -zu verhindern, daß aus den passiven und nun politisch geradezu gelähmten Untertanen Anhänger autoritärer Scheinlösungen werden.

Für die Zukunftsgestaltung gilt es -vor allem bei den in Ostdeutschland aufwachsenden jungen Menschen eine Identität, ein Selbstvertrauen aufzubauen. Erst dann wird es möglich, daß die objektiven Herausforderungen nicht mehr nur als Überforderungen wahrgenommen werden und daß vor allem die neue Furcht vor der Freiheit einem neuen Engagement der Bürger weicht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Th. W. Adorno u. a., The Authoritarian Personality, New York 1950; ders., Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt/M. 1973.

  2. Vgl. E. Fromm, Escape from Freedom, New York 1947; deutsch: Die Furcht vor der Freiheit, Frankfurt/M 1966.

  3. Vgl. ebd., S. 208.

  4. Vgl. N. Sanford, Authoritarian Personality in Contemporary Perspective, in: J. Knutson (Ed.), Handbook of Political Psychology, San Francisco 1973; J. D. Meloen, Critical Analysis of Forty Years of Authoritarian Research, Paper prepared fbr the International Round Table Conference of the RCPE of IPSA, Akademie Sankelmark, September 1990.

  5. Vgl. B. Hafeneger, Pädagogik gegen rechts. Zur Geschichte der pädagogischen Reaktionsmuster gegen den Rechtsextremismus, in: G. Paul (Hrsg.), Hitlers Schatten verblaßt, Bonn 1989.

  6. Vgl. Th. W. Adorno, Erziehung nach Auschwitz, in: ders., Stichworte. Kritische Modelle 2, Frankfurt/M. 1969.

  7. Vgl. N. Sanford (Anm. 4).

  8. Vgl. W. M. Iwand, Paradigma Politische Kultur, Opladen 1985.

  9. Vgl. K. P. Fritzsche, Kommen wir nicht ohne Vorurteile aus?, in: Internationale Schulbuchforschung, (1989) 4.

  10. Vgl. Ch. Bagley, Personality, Self-Esteem and Prejudice, Hampshire 1984.

  11. Vgl. W. Heitmeyer, Rechtsextremistische Orientierungen bei Jugendlichen, Weinheim 1987; ders., Gesellschaftliche Gewalt und politische Paralysierung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 2-3/93.

  12. Vgl. J. Maaz, Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR, Berlin 1990.

  13. Vgl. K. P. Fritzsche, Politische Sprache und Kultur im Umbruch, in: Gegenwartskunde, Sonderheft 1991.

  14. Vgl. K. H. Heinemann/W. Schubarth (Hrsg.), Der antifaschistische Staat entläßt seine Kinder. Jugend und Rechts-extremismus in Ostdeutschland, Köln 1992.

  15. Vgl. K. P. Fritzsche, Gesellschaft im Streß. Fremden-feindlichkeit in Ostdeutschland, in: Geschichte -Erziehung -Politik, (1992) 7.

  16. Vgl. A. Pfahl-Traughber, Rechtsextremismus. Eine kritische Bestandsaufnahme nach der Wiedervereinigung, Bonn 1993.

  17. Vgl. P. Hainsworth (Hrsg.), The Extreme Right in Europe and the USA, London 1992; Ch. Butterweege/S. Jäger (Hrsg.), Rassismus in Europa, Köln 1992.

  18. Vgl. W. Heitmeyer, Die Wiederspiegelung von Modernisierungsrückständen im Rechtsextremismus, in: K. H. Heinemann/W. Schubarth (Anm. 14).

  19. Vgl. K. P. Fritzsche (Anm. 9); ders., Xenophobie -a Problem of Human Rights Education, in: Internationale Schulbuchforschung, (1992) 1.

  20. Vgl. Das Ende der Gemütlichkeit. Theoretische und praktische Ansätze zum Umgang mit Fremdheit, Vorurteilen und Feindbildern, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 316, Bonn 1993.

  21. Vgl. K. P. Fritzsche, Multiperspektivität -eine pädagogische Antwort auf die multikulturelle Gesellschaft, in: Pädextra, (1992) 11; G. Breit, Mit den Augen des anderen sehen -Betroffenheit durch soziale Perspektivenübemahme. Eine Unterrichtsskizze zur Lage der Jugendlichen in der DDR 1990, in: Internationale Schulbuchforschung, (1990) 3.

  22. Vgl. R. Tausch/A. M. Tausch, Erziehungspsychologie, Göttingen 1973.

Weitere Inhalte

K. Peter Fritzsche, Dr. phil., geh. 1950; Professor für Politikwissenschaft an der Technischen Universität Magdeburg. Zahlreiche Veröffentlichungen auf den Gebieten der politischen Kulturforschung, der politischen Psychologie und der politischen Bildung. Herbert Knepper, Dr. phil., geb. 1933; Referatsleiter für Politische Bildung im Kultusministerium des Landes Nordrhein-Westfalen; Bundesvorsitzender der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung. Veröffentlichungen u. a.: Kritische Bildung. Zur Theorie einer integrierten Kollegstufe, München 1971; (zus. mit Michael Dorn) Wider das allmähliche Entgleiten der Schüler und der Wirklichkeit, in: Gegenwartskunde, (1987) 2; Handlungsorientierung des Politikunterrichts: Möglichkeiten und Grenzen, in: Walter Gagel/Dieter Menne (Hrsg.), Politikunterricht, Handbuch zu den Richtlinien NRW, Opladen 1988.