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Der Aufbau der Kommunalverwaltung und der kommunalen Selbstverwaltung in den neuen Bundesländern | APuZ 36/1993 | bpb.de

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APuZ 36/1993 Kommunale Gebietsreform in den neuen Bundesländern Der Aufbau der Kommunalverwaltung und der kommunalen Selbstverwaltung in den neuen Bundesländern Gemeinden und Gemeinderecht im Regimewandel. Von der DDR zu den neuen Bundesländern

Der Aufbau der Kommunalverwaltung und der kommunalen Selbstverwaltung in den neuen Bundesländern

Herbert Schneider

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Gemeinden und Kreise waren in der DDR ihres Selbstverwaltungscharakters beraubt und in ihrem Aufgabenbestand reduziert worden. Beim Aufbau der kommunalen Selbstverwaltung in den neuen Bundesländern sehen sich die Verantwortlichen vor einer dreifachen Herausforderung: Mit einem weitgehend ausgewechselten Führungspersonal sind auf der Basis neuen Rechts eine Vielzahl von ungewohnten und dringlichen Aufgaben zu erfüllen. So stehen Gemeinden und Kreise vor der Notwendigkeit, die marode Infrastruktur zu reparieren und auszubauen. Diese Modernisierung gilt als Voraussetzung für eine erfolgversprechende Wirtschaftsförderung. Hinzu treten soziale und kulturelle Aufgaben, die in DDR-Zeiten von Massenorganisationen und Betrieben wahrgenommen wurden. Zu ihrem Aufgabenfeld gehören u. a. auch die Eigentumsrückgabe, die Wohnungswirtschaft und die Bewältigung der Umweltlasten. Dabei ist ihre Verwaltungskraft noch nicht voll entwickelt, und in ihrem Haushaltsgebahren bleiben sie auf absehbare Zeit auf Transferleistungen angewiesen. Da zu DDR-Zeiten Kommunen und Kreise einen Teil des Staatsapparates bildeten, muß die kommunale Selbstverwaltung in den neuen Bundesländern erst im Bewußtsein der Bevölkerung einen eigenen, vom Staat abgesetzten Stellenwert erlangen und eine Basis in Form von Parteien, Vereinen, Bürgergemeinschaften finden. Kommunalpolitiker in den neuen Ländern rechtfertigen die Existenz der kommunalen Selbstverwaltung heute damit, daß diese gegenstands-und bürgemahe Lösungen für die Alltagsprobleme anbietet. Es sollte jedoch nicht vergessen werden, daß eine lebendige kommunale Selbstverwaltung auch dazu beitragen kann, mitbürgerliche Identität für den einzelnen und politische Identität für die Gemeinden und Kreise zurückzugewinnen, um damit einer sich ausbreitenden sozialen Atomisierung zu begegnen.

I. Einleitung

Tabelle: Haushaltsvolumen der Kommunen (Gemeinden, Kreise), ohne Krankenhäuser. Vergleich zwischen alten und neuen Bundesländern (in Milliarden DM) Quellen: Engelbert Recker, Kreis-und Gemeindefinanzen 1993, in: Der Landkreis, (1993) 2, S. 58-61; Hans Karrenberg, Finanzierung der Kommunalhaushalte, in Christof Rühl (Hrsg.), Institutionelle Reorganisation in den neuen Bundesländern -Selbstverwaltung zwischen Markt und Zentralstaat, Marburg 1992, S. 56.

Die kommunale Selbstverwaltung kann in Deutschland auf eine lange Tradition zurückblikken. Diese allein rechtfertigt aber noch nicht ihre Existenz, d. h. daß der Staat den Gemeinden und Kreisen das Recht gewährt, im Rahmen seiner Gesetze eigene Organe zu wählen und eigene Handlungsfelder zu bestellen. Zu ihrer Rechtfertigung dienen daher auch Überlegungen wie: Die kommunale Ebene bietet dem Bürger Gelegenheit zu einer unmittelbaren Mitwirkung (Partizipationsargument); in dieser „Schule der Demokratie“ werden politisch relevante Verhaltensweisen erlernt (Sozialisationsargument); Gemeinden und Kreise ermöglichen gegenstandsnahe Lösungen zur Bewältigung des Alltags (Effizienzargument), die „Stabilitätsthese“. Danach erweisen sie sich in Umbruchzeiten als beständiger und lebenskräftiger als umfassendere Gemeinwesen wie Länder und Staaten Wer denkt dabei nicht an die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als nach dem Zusammenbruch des eigenstaatlichen Lebens in Deutschland die Kommunen vieles Lebensnotwendige in ihre Hand nahmen Erfährt diese These jetzt nicht eine zusätzliche Bestätigung durch die Gemeinden und Kreise in den neuen Bundesländern? Diese haben im Unterschied zu I den bereits 1952 praktisch abgeschafften Ländern das SED-System überlebt. So kann sich heute die kommunale Selbstverwaltung in der ehemaligen DDR auf eine überlieferte, im Vergleich zur alten Bundesrepublik nur geringfügig in den Jahren 1952 und 1973/74 veränderte Gemeinde-und Kreisstruktur stützen. Auf den ersten Blick betrachtet, stellt die kommunale Ebene das einzige Element organisatorischer Kontinuität in den von tiefen Umbrüchen gekennzeichneten neuen Bundesländern dar.

II. Von der Staatsverwaltung zur kommunalen Selbstverwaltung

1. Gemeinden und Kreise in der DDR In der DDR blieb zwar das Gehäuse von Gemeinden und Kreisen nahezu unverändert bestehen, doch es war seines Selbstverwaltungsinhaltes beraubt und in seinem Aufgabenbestand wesentlich reduziert worden. So erscheint es nur folgerichtig, daß der noch in der „Demokratischen Gemeinde-ordnung“ von 1946 und in der DDR-Verfassung von 1949 gebrauchte Begriff „Kommunale Selbstverwaltung“ zwischen 1952 und 1990 aus dem offiziellen Sprachgebrauch verbannt worden ist. In diesem Zeitraum galten die Gemeinden und Kreise als örtlicher Teil des Staatsapparates. So waren sie auch dem Prinzip der doppelten Unterstellung unterworfen

Dieses Prinzip beinhaltete zunächst einmal die Unterordnung des Rates (Exekutive) unter die ihm zugeordnete Volksvertretung. Doch die Arbeit der Kommunalverwaltung hatte sich von den Beschlüssen der Gemeinde-oder Kreisvertretung gelöst. Ein Abteilungsleiter in der Stadtverwaltung war in erster Linie nicht seinem Rat oder der Stadtverordnetenversammlung, sondern dem Abteilungsleiter der übergeordneten Ebene unterstellt. Diese bildete für die Gemeinden der Landkreis, bei dem sich die knappen finanziellen, materiellen Ressourcen konzentrierten; er setzte Bürgermeister ein und griff in einem starken Umfang in die Verwaltung der Gemeinden ein. Aber auch der Kreis war in die zentralistisch-hierarchi-sehe Ordnung eingebunden, indem er Beschlüsse und Direktiven der zentralen und bezirklichen Verwaltung auszuführen hatte. Alle Ebenen dieser Staatsverwaltung unterstanden wieder der Kontrolle der allmächtigen Partei.

Die kommunale Verwaltung war stärker auf Parteibeschlüsse und Anweisungen als auf Rechtsvorschriften festgelegt die Möglichkeit der Eingabe stellte für den Bürger den Ersatz für all das dar, was in der Bundesrepublik jedem zur Verfügung steht -informelle Reaktion, Einspruch, Widerspruchsverfahren, Verwaltungsgerichtsklage, Verfassungsbeschwerde -, wenn er bei Kommune und Kreis zu seinem Recht zu kommen versucht.

Die kommunale Verwaltung war Teil der staatlichen Verwaltung. Dieser fehlte es jedoch an entscheidenden Merkmalen, die Max Weber einer effektiven Bürokratie zugeschrieben hat: Verpflichtung zur Regelbeachtung, klare Kompetenz-zuweisung, professionelle Ausbildung. Im Gegensatz hierzu herrschte in der DDR nicht das Gesetz, die SED nahm eine Kompetenz-Kompetenz für sich in Anspruch, es gab kein Karrierebild für die öffentlichen Bediensteten. Dies wird bei der Lektüre von Biographien deutlich: Inhaber von kommunalen Leitungs-und Mitarbeiterpositionen kamen aus unterschiedlichen Lebensbereichen. Bedeutete diese Inhomogenität, daß die Verwaltung auf lokaler Ebene durch eine „politisierte In-kompetenz“beherrscht wurde Einer solchen von Sozialwissenschaftlem vertretenen These ist entgegenzuhalten, daß mindestens ab 1972 Qualifizierungslehrgänge für das Verwaltungspersonal veranstaltet wurden. Stellten aber die Leitungskader nicht in erster Linie gehorsame Parteisoldaten dar? Viele von ihnen waren wesentlich stärker in ihre Partei als in ihre Gemeinde und ihren Kreis eingebunden. Dennoch bemühten sich einige, die auch in einem zentralistischen Planungssystem vorhandenen Freiräume zu nutzen. So kam es unter der Hand zu einem Produkten-und Dienstleistungstausch mit Betrieben. Wußte davon die allmächtige SED? Vermutlich, aber sie hat es offenbar hingenommen, da durch verbesserte Leistungen nicht nur der Unmut der Bevölkerung aufgefangen werden, sondern auch das schwerfällige Planungssystem eine Überlebenschance erhalten konnte. Strittig und untersuchungsbedürftig bleibt die Frage, welcher Umfang und welche Wirkung diesen informellen Handlungsspielräumen auf kommunaler Ebene beizumessen ist.

Der in der DDR vorherrschende politische Ritualismus ist zuerst bei den Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 offen aufgekündigt worden. Um das gewohnte Bild von einer 99-prozentigen Zustimmung herzustellen, haben damals örtliche Organe umfangreiche, nach der Wende zum Gegenstand von Gerichtsverfahren gewordene Wahlfälschungen begangen. Die nicht zu übersehenden Legi Mai 1989 offen aufgekündigt worden. Um das gewohnte Bild von einer 99-prozentigen Zustimmung herzustellen, haben damals örtliche Organe umfangreiche, nach der Wende zum Gegenstand von Gerichtsverfahren gewordene Wahlfälschungen begangen. Die nicht zu übersehenden Legitimationsmängel der über diese Kommunalwahl formal zustandegekommenen Organe stellten einen Grund für die Bildung der „Runden Tische“ im Herbst 1989 dar. Kirchliche Vertreter und Angehörige oppositioneller Gruppen wurden in die kommunalen Willensbildungsprozesse mit einbezogen 6. Diese Symbolkraft erlangende Praxis hat zu einer Aufrechterhaltung des kommunalen Lebens und zum friedlichen Charakter der Übergangszeit wesentlich beigetragen 7. Die lange unterdrückten Vorbehalte gegenüber dem zentralisierten Staat führten zu einem Wiederaufleben der Föderalismusdiskusion und auch zur Forderung nach gebietskörperschaftlicher Selbstverwaltung. Zu den Wortführern dieser Neubesinnung gehörten sowohl Vertreter oppositioneller Bürgergruppen als auch anerkannte DDR-Staatswissenschaftler So ergab sich ein weitgehender Konsens über die Kommunalverfassung Mit dem am 17. Mai 1990 in Kraft getretenen Kommunalverfassungsgesetz wurden die Weichen für eine Erneuerung der kommunalen Selbstverwaltung in der damals noch bestehenden DDR gestellt. Dies war kein isolierter Vorgang. Die Wiedereinführung der kommunalen Selbstverwaltung ist eingebettet in einen Transformationsprozeß, d. h. in den Prozeß der Umwandlung einer realsozialistischen Verwaltung in eine des klassischen Zuschnitts und einen zeitlich etwas versetzten Integrationsprozeß, d. h. in den Prozeß der Integration des Beitrittsgebiets in die föderalistische Ordnung der Bundesrepublik. Was bedeutet dies für die Kommunen und Kreise, ihre politischen Spitzen und Verwaltungen, ihre gewählten Vertreter und Bürger? Hellmut Wollmann erkennt darin einen Paradigmenwechsel, dessen Neubestimmungsdimensionen er zu fassen versucht hat Der Aufbau der kommunalen Selbstverwaltung in den neuen Bundesländern stellt eine politisch komplexe dreifache Herausforderung dar: Ein in personeller Erneuerung begriffener Verwaltungsapparat hat auf der Basis neuen Rechts eine Vielzahl ungewohnter Aufgaben zu erfüllen Gleichzeitig zeichnet sich eine die Existenz vieler Gemeinden und Kreise in Frage stellende kommunale Gebietsreform ab. Die Bewältigung dieser Situation wäre ohne den Beistand aus den alten Bundesländern noch schwieriger. Dieser äußert sich in der Hilfe der kommunalen Spitzenverbände, in der Unterstützung durch parteinahe Stiftungen, in der Tätigkeit von Leihbeamten vor Ort und in Gemeinde-Partnerschaften. Es darf allerdings nicht darum gehen, Selbstverwaltungsmodelle, Rechts-vorschriften und Organisationslösungen aus dem Westen unbesehen auf die Verhältnisse in den neuen Ländern zu übertragen 2. Personelle Erneuerung und neues Recht Am 6. Mai 1990 fanden zum ersten Mal freie Kommunalwahlen in der DDR statt. Schon vorher hatten in der Phase der Runden Tische bisher in der Opposition stehende Personen Zugang zu kommunalen Führungsstellen erhalten. Zu einem kräftigen Erneuerungsschub in den Gemeinde-und Kreisverwaltungen kam es aber erst als Folge der Kommunalwahlen. Jetzt fielen kommunalpolitische Führungsaufgaben (Landräte, Bürgermeister, Dezernenten, Gemeindevertretervorsteher, Fraktionsvorsitzende) Männern und Frauen aus den Blockparteien und der Bürgerbewegung zu. Auf dieser Ebene kam es zu einer weitgehenden Auswechslung des Personals. Auf der Amtsleiter-ebene in der Verwaltung oder bei den Gemeinde-und Kreisvertretungen verlief der Prozeß der personellen Erneuerung weniger konsequent. Hier begegnet man noch immer einem beachtlichen Prozentsatz von alten Verwaltungskadern oder früheren „Volksvertretern“. Keine großen Veränderungen gab es zunächst auf der Mitarbeiterebene, so daß hier ein gewisses Maß an Verwaltungskontinuität gewahrt blieb. Dabei konnte es auch zu Spannungen zwischen den alten Kadern und den neuen Führungskräften kommen

Auf die neuen kommunalen Führungskräfte richten sich die nicht immer realistischen Hoffnungen von Bürgern und Investoren. Vielfach aus politik-und verwaltungsfernen Berufen kommend, versuchen sie ihre mangelnden Verwaltungserfahrungen durch Engagement und Einfallsreichtum wettzumachen. Zwar stehen noch systematische Untersuchungen über die personelle Erneuerung der Selbstverwaltung in Gemeinden und Kreisen und die Persönlichkeitsstrukturen der 1990 ins Amt gekommenen Angehörigen der kommunalen Führungsschicht aus, doch liegen bereits über den Einzelfall hinausweisende Forschungsergebnisse vor 3. Einführung der Kommunalverfassung Mit der Einführung der Kommunalverfassung am 17. Mai 1990 ist das Gesetz über die örtlichen Volksvertretungen von 1985 außer Kraft gesetzt worden. Diese neue Rechtsgrundlage wurde in einem sehr knappen Zeitraum zwischen März und Mai 1990 ausgearbeitet Mit dieser neuen Kommunalverfassung wurden zunächst die vertikalen Machtverhältnisse im politisch-administrativen System neubestimmt, d. h. die Gemeinden und Kreise erhielten den ihnen mit der Aufhebung der „Demokratischen Gemeindeordnung“ von 1946 und der „Demokratischen Kreisordnungen“ von 1946/47 genommenen Status einer Selbstverwaltungskörperschaft zurück.

Das mußte auch eine Klärung des Verhältnisses Gemeinde -Kreis nach sich ziehen. Aufgrund der Konzentration von materiellen und finanziellen Fonds bei den Kreisorganen waren in der DDR die Gemeinden in die Rolle von Bittstellern gegenüber diesen gedrängt worden. Nach der Wende stand daher die Existenz der Landkreise als eigene Selbstverwaltungsebene in Frage. Zumindest sollten diese stärker an die Voten der Gemeinden gebunden werden. Dabei dachte man an eine Gemeindevertreterversammlung neben dem vom Volk zu wählenden Kreistag. Zwar konnten sich diese Überlegungen nicht durchsetzen, doch wurde den Gemeinden eine stärkere Stellung gegenüber dem Kreis zugesichert.

Zum Kommunalverfassungsrecht gehört auch die Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Gemeindevertretung und Kommunalverwaltung. Dabei orientierte sich das Gesetz weitgehend am westdeutschen Kommunalrecht, ohne aber ein bestimmtes Kommunalverfassungsmodell zu bevorzugen; gleichzeitig hatte man aber den Ehrgeiz, etwas Eigenständiges, die Übergangszeit Überlebendes hervorzubringen. Als eine Reaktion auf die Entmachtung der Gemeindevertretungen in der DDR suchte man eine Machtkonzentration beim Bürgermeister und seiner Verwaltung zu verhindern, indem das Gesetz von dessen Urwahl absah, jedoch der Gemeindevertretung ein Abwahl-recht (§ 30) einräumte. Damit erhielt diese eine Schlüsselstellung zugewiesen, wenn auch eingeschränkt durch ein embryonales Magistratssystem für Städte über 100000 Einwohner (§ 28) und den Ausbau der Bürgerrechte (§ 18: Bürgerantrag, Bürgerentscheid, Bürgerbegehren).

Kaum hatten sich die neubestellten Gemeinde-und Kreisorgane mit dem neuen Kommunalverfassungsrecht bekanntgemacht, so standen sie vor der Übernahme des westdeutschen Rechtssystems und seiner Gesetzeswelt. Dabei mußte Bundesrecht vielfach erst in handhabbares Landesrecht umgesetzt werden. Hinzu kommt eine überaus rege -und wie die kommunalen Spitzenverbände beklagen -„engmaschige“ Gesetzgebungstätigkeit der Landtage in den neuen Bundesländern. Die Angehörigen der Kommunalverwaltung sind einem ständigen Lernprozeß unterworfen. Es geht nicht nur um den Kenntniserwerb neuer Rechtsvorschriften, sondern auch um den Umgang mit diesen, d. h. um eine Neubestimmung des kommunalen Verwaltungshandelns. Während beim Verwaltungsvollzug in der DDR die Weisungen („Telefongesetzgebung“) übergeordneter Partei-und Staatsorgane Vorrang vor rechtlichen Regelungen hatten, gilt in der Bundesrepublik die Herrschaft des Rechts. Diese wird u. a. durchgesetzt mit Hilfe der staatlichen Kommunalaufsicht und einer fast lückenlosen Verwaltungsgerichtsbarkeit. Beide Institutionen sind jedoch in den neuen Bundesländern noch nicht voll wirksam: Den Landkreisen steht für die Wahrnehmung ihrer Aufsichtspflicht nicht immer schon das erforderliche rechtskundige Personal zur Verfügung. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit befindet sich erst im Aufbau. Zwar ist laut Umfragen nahezu die Hälfte (43, 5 Prozent) der befragten Bürger mit dem kommunalen Verwaltungshandeln nicht einverstanden, und ein fast ebenso hoher Prozentsatz verneint die Frage, ob er seit der Wiedervereinigung mehr Vertrauen in die Behördenarbeit gewonnen habe aber der Gang zur Kommunalaufsicht oder zum Verwaltungsgericht ist im Vergleich zu den alten Bundesländern vorerst noch selten.

III. Erweiterte Aufgaben und knappe Kassen

Gemeinden und Kreise stehen vor einem „Aufgabenberg“ Um dessen Ausmaße zu erkennen, ist auch hier ein Rückblick angezeigt. In der DDR waren die Gemeinden auf die Aufgaben einer örtlichen Verwaltungsstelle des Staatsapparates reduziert. Mit der Wiedereinführung der kommunalen Selbstverwaltung und dem Fortschreiten des Transformations-bzw. Integrationsprozesses kam es jedoch nicht nur zu einer Umverteilung der Zuständigkeiten zwischen Gemeinde und Kreis, sondern die Kommunen gewannen auch an Betriebe und andere Einrichtungen gegangene Funktionen zurück. Jetzt stehen sie vor der Aufgabe, die ma-rode Infrastruktur im Interesse der Wohnqualität, der Wirtschaftsförderung und des Umweltschutzes zu reparieren und zu modernisieren. Das fängt bei den in schlechtem Zustand befindlichen Straßen und Brücken an und führt über die Erneuerung der Wasserversorgung bis hin zum Ausbau der Abwasseranlagen. Die Modernisierung der Infrastruktur gilt als Voraussetzung für eine erfolgversprechende Wirtschaftsförderung, d. h.den Erhalt und die Ansiedlung von Dienstleistungs-und Produktionsbetrieben.

Bei hohen Arbeitslosenzahlen stehen die Kommunen aber auch vor dem Problem, den Druck auf den Arbeitsmarkt mildem und zusätzliche kommunale Einkommensquellen erschließen zu müssen. Diese Neubestimmung des Verhältnisses Kommune -Wirtschaft hat viele Gemeinden und Kreise dazu veranlaßt, auch Gewerbegebiete außerhalb der Stadtkerne und Industriezentren auszuweisen. Dazu wurden sie nicht nur durch weiterhin ungeklärte Eigentumsverhältnisse, sondernauch durch staatliche Förderrichtlinien bewegt. Diese Praxis führt nicht nur zu einem Überangebot an Gewerbeflächen, sondern auch zu einer Zerfransung der Stadtränder und zu einer Zersiedlung ländlicher Gebiete.

Als größtes Investitionshemmnis gilt in den Augen des „Instituts der deutschen Wirtschaft“ das von der ehemaligen DDR zu verantwortende Eigentumschaos. Erst an zweiter Stelle werden Schwierigkeiten in der Verwaltung genannt, die vor allem auf einen mit dem eingespielten Tagesablauf in Westdeutschland nicht vergleichbaren „Massenandrang“ zurückgeführt werden So lagen in der für Eberswalde zuständigen Bearbeitungsstelle für Bauleitplanung in Frankfurt/Oder vor einem Jahr über 1000 unerledigte Bauleitpläne vor. Solange die kommunale Ansiedlungs-und staatliche Beschäftigungspolitik noch wenig greift, bleibt die Zahl der Arbeitslosen hoch. Durch sie hat sich das noch aus DDR-Zeit herrührende soziale Aufgabenfeld der Landkreise und kreisfreien Städte erweitert. Dazu haben auch Arbeitsbereiche beigetragen, die früher von Massenorganisationen (Jugendbegegnungsstätten, Sozialeinrichtungen) oder Betrieben (Kindergärten, Kulturhäuser) wahrgenommen wurden.

Eine Aufgabenerweiterung ist auch im kulturellen Bereich eingetreten. Gemeinden und Kreise haben wieder die Schulträgerschaft übernommen, ohne daß sie immer die finanziellen Mittel zur Hand hätten, um den schulischen Baubestand an die geänderten Bedürfnisse eines nunmehr gegliederten Schulwesens anpassen zu können. Die durch den Rückzug des Staates und von Betrieben aus dem kulturellen Bereich entstandene Lücke soll durch die Gemeinden und Kreise geschlossen werden. Die neuen Bundesländer verfügen z. B. über ein engmaschiges Theaternetz. So besitzt das nicht einmal drei Millionen Einwohner zählende Thüringen acht Drei-Sparten-Theater. Selbst wenn ein Teil von diesen als Landestheater geführt werden sollte, bleiben den Theaterstädten noch erhebliche Lasten. Diese werden ihnen vermutlich auch nicht durch die Einführung einer kommunalen Pflicht-aufgabe Kulturpflege erleichtert.

Die bisher skizzierten Aufgaben sind auch den westdeutschen Kommunen und Kreisen nicht fremd. Während sie jedoch im Westen zu verschiedenen Zeiten Schwerpunkte bildeten, wie z. B.der Ausbau der Infrastruktur in den fünfziger und sechziger, die Stadtentwicklung in den siebziger und achtziger Jahren, so ballen sich diese jetzt in den neuen Bundesländern zusammen, verschärft durch typische Problembereiche wie Umwelt-belastungen, Vermögensrückgabe oder die Wohnungsfrage. Die kommunale Umweltpolitik wird besonders durch Gewässerverunreinigung und Luftverschmutzung herausgefordert. Sie sieht sich zudem ökologischen Altlasten erheblichen Ausmaßes gegenüber. Die von den Städten und Kreisen im Auftrage des Staates eingerichteten Ämter für offene Vermögensfragen haben mehr als zwei Millionen Vorgänge zu bearbeiten. Dabei fehlt ihnen oft das zur Bewältigung der komplexen Rechtslage notwendige geschulte Personal. So kommt es in einem 1991 von Ort zu Ort unterschiedlichen Umfang zu Bearbeitungsstaus, die sich nachteilig auf Investitionen -auch im Wohnungsbau -auswirken. Im Unterschied zur alten Bundesrepublik gehört in den neuen Bundesländern ein erheblicher Prozentsatz des Wohnungsbestandes Gemeinnützigen oder Arbeiterwohngenossenschaften (16 Prozent) sowie den Kommunen (36 Prozent). Im Ergebnis des Einigungsvertrages sind etwa 2, 7 Millionen Wohnungen in deren Besitz übergegangen, gleichzeitig wurden diese jedoch auch mit rd. 52 Milliarden DM Altschulden belastet.

Nicht nur die Altbau-, sondern auch die Neubau-wohnungen sind mit erheblichen Bau-und Ausstattungsmängeln behaftet. Zu deren Beseitigung müssen ebenfalls Milliardenbeträge aufgebracht werden. Bei chronisch leeren Kassen versuchen die Kommunen, den größeren Teil des ihnen zugefallenen Wohnungsbestandes nach Klärung der Eigentumsverhältnisse zu privatisieren. Nicht immer geht dies reibungslos vonstatten. Die Wohnungspolitik verursacht Konflikte in Rathauskoalitionen: Bei 22000 Wohnungssuchenden in Leipzig fordert dort die SPD einen ausreichenden Bestand an belegungsgebundenen kommunalen Wohnungen, während CDU und FDP stärker auf deren Privatisierung und den privaten Wohnungsbau setzen. Voraussetzung für letzteren sind nicht nur entsprechende Fördermittel, sondern auch die Ausweisung von Baugebieten. Erst allmählich beginnen die Kommunen zu entdecken, daß nicht nur die Gewerbeansiedlung, sondern auch der Zuzug von Einkommensteuerpflichtigen geeignet sein kann, die Gemeindefinanzen aufzubessern.

Zum Repertoire kommunaler Verwaltungschefs gehört es, über knappe Kassen zu klagen. Die Klagelieder westdeutscher Bürgermeister und Landräte verlieren aber an Wirkung, wenn man unterBerücksichtigung des eben dargestellten Aufgabenvolumens die Haushaltslage ihrer Gemeinden und Kreise mit denen in den neuen Bundesländern vergleicht:

Der Vergleich zeigt, daß das Ausschüttungsvolumen der selbstverwaltungsfreundlichen Einnahme-quellen in den Kommunen der neuen Bundesländer noch gering ist. Bedingt durch den drastischen Rückgang der Industrie und die Entlastung der noch im Aufbau stehenden mittelständischen Betriebe fließen die Gewerbesteuern nur als Rinnsal. Der Anteil von kostendeckenden Gebühren hält sich wiederum deshalb in Grenzen, weil die Kommunen diese Quelle mit Rücksicht auf die allgemeine Einkommenssituation nur beschränkt auszuschöpfen wagen. So ist es zu erklären, daß sie bereits beim Verwaltungshaushalt zu über 50 Prozent auf staatliche Zuwendungen angewiesen sind. Diese staatliche Abhängigkeit vergrößert sich noch beim Vermögenshaushalt, der aus einer Vielzahl von Fördertöpfen -in Sachsen sollen es bereits rund 120 sein -gespeist wird. Die Kommunen klagen nicht nur über die damit verbundene Beschneidung ihrer Entscheidungsfreiheit, sondern sehen sich auch durch die Unübersichtlichkeit der Fördermöglichkeiten und den Aufwand bei der Antragstellung in ihrer noch schwachen Verwaltungskraft überfordert. Sie bevorzugen daher eine Investitionspauschale. Von den Länderbürokratien wird dem das Argument der Gefahr einer Zersplitterung der knappen Mittel entgegengehalten.

Wie kann es zu einer Verbesserung der Haushalts-situation kommen? Die Beantwortung dieser nicht Frage hängt nur von einer dauerhaften Stärkung der kommunalen Steuerkraft, sondern auch von einem verläßlichen und raschen Zufluß staatlicher Mittel ab. Vor allem aber bleiben die Kommunen und Kreise gefordert, weiterhin Einsparungen im personellen Sektor zu erzielen. Zwar fordern die Kommunen hartnäckig die Rückübertragung von Aufgaben (wie Energie-und Wasserversorgung) und Eigentum (bei der Treuhand haben sie insgesamt 165 000 Anträge auf Vermögenszuordnung gestellt), aber gleichzeitig verschreiben sie sich der Privatisierung. Dafür sprechen nicht nur prinzipielle marktwirtschaftliche Überlegungen, sondern auch finanzielle Zwänge. Der Ausbau der Entwässerung erfordert Milliardenbeträge. Da Kommunen und Kreise diese nicht nur kurz-und mittelfristig, sondern auch längerfristig nicht zur Hand haben werden, versuchen sie, über Betreibermodelle privates Kapital dafür zu gewinnen. Ähnliches gilt für die Wasserversorgung. Rostock ging hier sogar noch einen Schritt weiter und hat diese einer privaten GmbH übergeben, die sich zu 500 Millionen DM Investitionen innerhalb der nächsten fünf Jahre verpflichtete

IV. Kommunalpolitische Entscheidungsprozesse

Das Nebeneinander von verschiedenen Gemeinde-ordnungen in Westdeutschland erlaubt eine Überprüfung der Frage, welchen Einfluß diese auf kommunale Machtstruktur und Leistungsfähigkeit haben. Empirische Untersuchungen führen zu etwas widersprüchlichen Ergebnissen: Während die einen einen größeren Einfluß nicht zu erkennen vermochten haben die anderen bei einem Vergleich zwischen Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg einen solchen ausgemacht Danach ist in Baden-Württemberg mit seiner „Exekutiven Führerschaft“ der Einfluß des vom Volke gewählten Bürgermeisters eindeutig, während das in Nordrhein-Westfalen verwirklichte Modell des doppelköpfigen „City-Managements“ nur in Ausnahmefällen klare Entscheider hervorbringt, so daß es zu einem Machtvakuum kommen kann. In den neuen Bundesländern besteht eine solche Vergleichsmöglichkeit nicht. Laut dem Einigungsvertrag gilt weiterhin das von der Volkskammer beschlossene Kommunalverfassungsrecht, wenn auch seine Ablösung durch Gemeinde-und Kreisordnungen der neugeschaffenen Länder nur noch eine Frage der Zeit ist. Dieses Kommunalverfassungsrecht weist einen vergleichsweise hohen Grad an Flexibilität auf: zum einen, weil es unterschiedliche Verwaltungsspitzen für Städte über 100000 Einwohner und das Gros der Gemeinden ermöglicht; zum anderen, weil es die Gestaltung der Beziehungen zwischen Gemeindevertretung und Gemeindeverwaltung nicht eindeutig regelt.

Nach § 28 (5) Kommunalverfassungsgesetz kann in kreisfreien Städten mit mehr als 100000 Einwohnern die Stadtverordnetenversammlung dem Oberbürgermeister ein Gremium zuordnen, dem alle Beigeordneten angehören und das gemeinsam mit ihm über alle Angelegenheiten entscheidet. Für eine solche Regelung sprachen nicht nur die Komplexität einer Großstadtverwaltung, sondern auch die personellen Ansprüche von Parteien und Bürgergemeinschaften. Die im Vergleich zu westdeutschen Großstädten überzogene und deshalb eine Verwaltungsfragmentation begünstigende Anzahl von Beigeordnetensitzen läßt Erinnerungen an den personellen Umfang der früheren Räte der Kreise und Gemeinden aufkommen. In der kommunalen Praxis hat dieses „versteckte“ Beigeordnetensystem jedoch zu unterschiedlichen Ausformungen geführt. So begnügt sich der Oberbürgermeister der sächsischen Landeshauptstadt mehr mit der Rolle eines primus inter pares, während sein Leipziger Kollege die Zügel stärker in die Hand genommen hat. Dies erinnert an westdeutsche Vorbilder in den Nachkriegsjahren. Damals haben kraftvolle und eigenwillige Oberbürgermeister erfolgreiche Stadtpolitik gemacht. Zwar können auch heute noch populäre Stadtoberhäupter Wähler mobilisieren, doch hinter den Kulissen erfordert eine komplexe Großstadtverwaltung zur Vermeidung einer drohenden Fragmentierung nicht nur einen kooperativen Führungsstil, sondern auch die Herausbildung kooperativer Strukturen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die hochgelobte Zuständigkeitenkonzentration beim süddeutschen Oberbürgermeister auch zu dessen Überforderung und damit zu Lähmungserscheinungen in der Verwaltung führen kann Nicht ganz so sieht es in kleineren Gemeinden aus: Hier kann der Bürgermeister die Verwaltung noch immer überblicken und koordinieren. Das Kommunalverfassungsrecht macht ihn deshalb nicht ohne Grund zum Chef der Verwaltung. Dabei steht ihm in den neuen Bundesländern eine mit erheblichen Vollmachten ausgestattete Gemeindevertretung gegenüber. Wie die Praxis zeigt, macht diese auch von ihrem parlamentarischen Abwahlrecht Gebrauch. In Sachsen sind bereits mehr als fünf Prozent der Bürgermeister auf diese Weise abgelöst worden.

In den neuen Bundesländern hat sich im öffentlichen Sprachgebrauch der Begriff Parlament für die Gemeindevertreterversammlungen und die Kreistage durchgesetzt. Handelt es sich dabei um ein Mißverständnis der kommunalen Selbstverwaltung? Auf Gemeinde-und Kreisebene besteht weder eine Gewaltenteilung im klassischen Sinne noch ein parlamentarisches System, wenn auch die gewählten Volksvertretungen parlamentsähnliche Züge annehmen können. Dies gilt selbst für Baden-Württemberg mit seinem Bürgermeister als Wahlmonarchen: Je größer die Kommune, desto mehr ist dort bei den Gemeinderäten eine kulturelle (Selbstverständnis als Parlamentarier) und eine strukturelle (parteipolitische Willensbildung) Parlamentarisierung zu verzeichnen Bei einer Übertragung dieser Begriffe auf die neuen Bundesländer fällt zunächst auf, daß das kulturelle Parlamentsverständnis'in der Bezeichnung der gewählten Vertretungen als Kommunalparlamente zum Ausdruck kommt. Zwar bestehen hier in den größeren Gemeinden Rathausfraktionen der Parteien, doch erschöpft sich in dieser Form der politischen Arbeitsteilung oft schon ein strukturelles Parlamentsverständnis. Dessen andere Kennzeichen wie Konkurrenzkampf und Konflikt-bereitschaft erwecken hingegen noch immer Unbehagen. Es meldet sich auch in den durch Fraktionen gegliederten Gemeindevertreterversammlungen und Kreistagen ein starkes Harmoniebedürfnis zu Wort. Dieses wird aber auch durch Einzelaktionen von Gemeindevertretern und Kreisräten Belastungen ausgesetzt. Ein sich auf diese Art und Weise äußernder Individualismus kann eine erfrischende Note in die Beratungen bringen -manchmal allerdings auf Kosten des bestehenden hohen Entscheidungsbedarfs. Beim Besuch von Sitzungen der Gemeindevertretungen überrascht zweierlei: zum einen die Vielzahl der zur Entscheidung anstehenden Fragen. Dabei besteht die Gefahr, daß nicht immer das Wichtige vom weniger Wichtigen unterschieden wird, d. h. es stellt sich das Problem der Prioritätensetzung. Zum anderen verwundert die Abwesenheit von interessierten Zuhörern. Haben geringes Bürger-interesse und hoher Entscheidungsbedarf miteinander zu tun? Die Mitglieder der Gemeindevertretungen und Kreistage waren für ihre neuen Aufgaben kaum vorbereitet, um so positiver ist daher ihre Bereitschaft zur fachlichen Einarbeitung und politischen Entscheidung zu beurteilen Sowohl ihr begrenztes Zeitdeputat als Feierabendpolitiker als auch der starke Entscheidungsdruck lassen den Gemeindevertretern und Kreistagsmitgliedern aber nicht immer genügend Spielraum für Rückkoppelungsprozesse mit den Bürgern, d. h. es fehlt ihnen oft die Zeit, diesen die neuen Verwaltungswege zu erklären und deren latente Interessen in artikulierte umzuwandeln. Diese Informations-und Artikulationsfunktion wird aber auch dadurch beeinträchtigt, daß gesellschaftliche Bindeglieder zwischen Bürgerschaft und Volksvertretung -beispielsweise arbeitsfähige Parteiorganisationen, lebendige Vereine und lokalorientierte Medien -ausfallen oder nur in reduzierter Weise vorhanden sind. Die kommunale Selbstverwaltung muß nicht nur erst im Bewußtsein der Bürger einen eigenen, vom Staat abgesetzten Stellenwert erlangen, sondern auch noch eine gesellschaftliche Basis finden.

V. Zur Rolle der kommunalen Selbstverwaltung in den neuen Bundesländern

Beim Transformationsprozeß von der zentralen Planwirtschaft zur sozialen Marktwirtschaft wird mehr als deutlich, wie sehr der wirtschaftliche Neubeginn von der Leistungs-und Handlungsfähigkeit der kommunalen Verwaltung abhängt: Diese zeichnet für die Bauleitplanung verantwortlich, fördert die Gewerbeansiedlung und räumt Investitionshindernisse aus dem Weg Ohne die Gemeinden und Kreise läuft nichts Sie sind die Ansprechpartner für Investoren -und die Klage-mauern für die Bürger. In einem zeitgleich verlaufenen komplementären Transformationsprozeß der Parteiherrschaft zum föderalen Rechtsstaat aus der Bevormundung des Staates entlassen, erfährt der Bürger mehr und mehr, wie wichtig die kommunale Infrastruktur für sein privates und berufliches Leben ist. Kommunen und Kreise versuchen den Erwartungshaltungen von Investoren und Bürgern gerecht zu werden. Von Utopien Abschied nehmend, wenden sie sich ganz pragmatisch der Bewältigung der Alltagsprobleme zu. Die Politik einer Alltagsmeisterung erscheint jedoch unter den Bedingungen der neuen Bundesländer nur dann Erfolg zu versprechen, wenn der Staat den Kommunen und Kreisen finanziell unter die Arme greift, ohne dabei allzusehr in die Versuchung zu geraten, deren Handlungsspielräume einzuengen. Dies ist nicht von der Hand zu weisen. Dabei kommt mehreres zusammen: eine wiederauflebende Staatstradition in manchen der neuen Bundesländer, die starke Stellung des Staates im Transformations-und Integrationsprozeß und das Mißtrauen einer durch Beamte aus dem Westen professionalisierten Staatsverwaltung gegenüber dem „Dilettantismus“ in den Kommunen. Der Staat sollte sich jedoch fragen, ob diese nicht aufgrund ihrer Bürgernähe in ganz besonderer Weise dafür geeignet sind, auf Erfahrungen und Wünsche ihrer in der DDR großgewordenen Bürger individuell einzugehen, diese zu kommunalen Programmen zu verarbeiten und damit auch in den gesamtstaatlichen Integrationsprozeß einzubringen

Die gegenstands-und bürgemahe (Effizienzargument) Alltagsbewältigung stellt gegenwärtig nicht nur unter Kommunalpolitikern die vorherrschende, sondern auch die überzeugendste Begründung für die kommunale Selbstverwaltung in den neuen Bundesländern dar. Reicht aber auf die Dauer gesehen eine solche mehr oder weniger technokratische Betrachtungsweise aus? Diese kann die Verwaltung motivieren und den Bürger zufriedenstellen, sie weist ihm aber mit seinen Einstellungen, Erfahrungen und Kompetenzen eine Nebenrolle zu. Außerdem läßt sie die zu den Begründungen der kommunalen Selbstverwaltung zählende Vorstellung von der Kommune als „Schule der Demokratie“ außer acht. In den Gemeinden und Kreisen werden demokratische Verhaltensweisen und politische Kompetenzen nicht aus Büchern gelehrt, sondern unmittelbar erlebt. Dieser Auswirkung der kommunalen Selbstverwaltung in den neuen Bundesländern kommt deshalb eine besondere Bedeutung zu, weil hier die Bürger noch Vertrauen zu den neuen Institutionen fassen und demokratische Verhaltensweisen erst heranreifen müssen. Die Menschen stehen mitten in einem Umstellungsprozeß. Auf der einen Seite ist der Prozentsatz der entfremdeten und autoritären Personen noch vergleichsweise hoch, auf der anderen sind die politischen Kompetenzerwartungen kaum geringer als in der alten Bundesrepublik Bei aller Inanspruchnahme durch drängende Alltagsgeschäfte und längerfristige Planungen sollten die politisch Handelnden sowohl diese Bewußtseinslage als auch die politische Sozialisationswirkung der kommunalen Selbstverwaltung berücksichtigen

Kommunen und Kreise sind nicht nur politische Sozialisationsfelder, sondern auch Orte der politisehen Partizipation. Zwar ist die Bundesebene als repräsentatives System angelegt, aber auf kommunaler Ebene schließen sich Repräsentation und Partizipation nicht aus, im Gegenteil, sie können einander ergänzen Dabei erinnert man sich daran, daß die Stadt die Urheimat des Bürgers ist Mit dem Begriff „Bürgergemeinschaft“ (§ 1 Abs. 2 der Kommunalverfassung vom 17. Mai 1990) wollte daher offenbar der Gesetzgeber deutlich machen, daß es sich bei den Gemeinden nicht nur um technokratische Verwaltungseinheiten, sondern auch um sich selbst verwaltende Gemeinschaften von Bürgern handelt Beschrieb er damit einen Ist-Zustand? Manchen Betrachtern erscheint heute die DDR nostalgisch verklärt als Hort des Gemeinschaftslebens. Dabei verengen sich ihre Erfahrungen auf die Notgemeinschaften, deren Kennzeichen allerdings auch darin bestand, sich abzugrenzen von einer durch Zwang und Bespitzelung diskreditierten gesellschaftlichen Solidarität. Es ist daher davon auszugehen, daß mit der „Bürgergemeinschaft“ eher etwas Seinsollendes, in dem Gemeinschaftserlebnis der Umbruch-zeit kurz Auflebendes, ausgedrückt werden sollte. Gemeinschaft vermittelt aber nicht nur die Vorstellung vom Miteinander und vom Bürgersinn, sondern kann auch die Herstellung von Gemeinsamkeit durch gesellschaftliche Einebnung und individuelle Anpassung meinen. Kommt es aber in den neuen Bundesländern nicht gerade jetzt darauf an, schöpferische individuelle Kräfte freizusetzen und gesellschaftliche Formen des Zusammenlebens zu entwickeln? Gleichzeitig brauchen jedoch Gemeinden und Kreise bei einer sich ausbreitenden sozialen Atomisierung ein gewisses Maß an Bürgersinn und Identitätsbewußtsein. Im Sinne einer Wertsynthese sollte sich daher die Begründung der kommunalen Selbstverwaltung als Partizipationsebene nicht nur auf Effizienzsteigerung oder Selbstverwirklichung, sondern auch auf die Rückgewinnung einer mitbürgerlichen Identität für den Einzelnen und politischer Identität für Gemeinden und Kreise beziehen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Carl J. Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, Berlin 1953, S. 273.

  2. Vgl. Michael Völker, Kommunalpolitik in der DDR? -Ein Sonderfall, in: Frank Braschos/Rüdiger Voigt (Hrsg.), Kommunalpolitik in Stadt und Land, Bonn-Erfurt 1991, S. 81.

  3. Vgl. Helmut Melzer, Zum Kommunalgesetz, in: Peter Marcuse/Fred Staufenbiei (Hrsg.), Wohnen und Stadtpolitik im Umbruch, Berlin 1991, S. 217.

  4. Vgl. Wolfgang Bemet/Helmut Lecheier, Zustand einer DDR-Stadtverwaltung vor den Kommunalwahlen vom 6. 5. 1990, in: Landes-und Kommunenverwaltung 2 (1991) S. 70.

  5. Hans-Ulrich Derlien, Professionalisierung und Säuberung, in: Wolfgang Seibel/Artur Benz/Heinrich Mäding (Hrsg.), Verwaltungsreform und Verwaltungspolitik im Prozeß der Deutschen Einigung, Baden-Baden 1992.

  6. Vgl. Walter Seibel, Verwaltungsreform in den ostdeutschen Bundesländern, in: DÖV 1991, S. 199.

  7. Vgl. Helmut Melzer (Anm. 3), S. 212.

  8. Vgl. Christoph Hauschild, DDR -Vom sozialistischen Einheitsstaat in die föderale und kommunale Demokratie, in: Bernhard Blanke (Hrsg.), Staat und Stadt, Politische Vierteljahresschrift, PVS-Sonderheft 22 (1991), S. 224.

  9. Vgl. Hellmut Wollmann, Kommunalpolitik und Verwaltung in Ostdeutschland: Institutionen und Handlungsmuster im „paradigmatischen“ Umbruch. Eine empirische Skizze, in: B. Blank (Anm. 9), S. 238f.

  10. Vgl. Oliver Scheytt, Reorganisation der kommunalen Selbstverwaltung, in: Christoph Rühl (Hrsg.), Institutioneile Reorganisation in den neuen Ländern -Selbstverwaltung zwischen Markt und Zentralstaat, Marburg 1992, S. 34/35.

  11. Vgl. Siegfried Petzold, Zur Entwicklung und Entstehung der kommunalen Selbstverwaltung in den neuen Bundesländern, in: Hellmut Wollmann/Roland Roth (Hrsg.), Kommunalpolitik in der Bundesrepublik Deutschland in den 90er Jahren, Bonn 1993.

  12. Vgl. Rainer Frank, Innovation in Politik und Verwaltung. Uber den Aufbau der kommunalen Selbstverwaltung in den neuen Bundesländern. Eine Zwischenbilanz, in: Die demokratische Gemeinde, (1990) 12, S. 17ff.

  13. Vgl. Helmut Berking/Sighard Neckel, Außenseiter als Politiker. Rekrutierung und Identitäten neuer lokaler Eliten in einer ostdeutschen Gemeinde, in: Soziale Welt -Zeitschrift für sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis (1991) 3, S. 283-299,

  14. Vgl. Franz-Ludwig Knemeyer (Hrsg.), Aufbau kommunaler Selbstverwaltung in der DDR. Grundsätzliches und Dokumentation zur Entstehung der KommunalVerfassung, Baden-Baden 1990.

  15. Vgl. Rainer Pitschas, „Transformation“ oder „Integration“? -Wirkungsgrenzen kommunaler Rechts-und Verwaltungshilfe in den neuen Bundesländern, in: Landes-und Kommunalverwaltung, (1992) 12, S. 389.

  16. Ebd., S. 386.

  17. Vgl. Hans-Joachim Beyer u. a., Ostdeutsche Kommunen im Ringen um den Wirtschaftsaufschwung -Erfahrungsbericht anhand der Stadt Eberswalde-Finow, Institut der deutschen Wirtschaft, Köln-Berlin 1992, S. 21.

  18. Vgl. Neue Zeit vom 16. 3. 1993.

  19. Vgl. Hans-Ulrich Derlien/Christoph Gürtler/Wolfgang Holler/Hermann Josef Schreiner, Konununalverfassung und kommunales Entscheidungssystem, Meisenheim am Glan 1976.

  20. Vgl. Uwe Winkler-Haupt, Gemeindeordnung und Politikfolgen, München 1988.

  21. Vgl. Joachim Kottke, Gemeindeordnungen im Praxis-vergleich, in: Archiv für Kommunalwissenschaft, 2 (1987), S. 242.

  22. Vgl. Helmut Köser, Der Gemeinderat in Baden-Württemberg, in: Theodor Pfizer/Hans-Georg Wehling (Hrsg.), Kommunalpolitik in Baden-Württemberg, Stuttgart 1991, S. 147.

  23. Dazu Erfahrungsberichte wie u. a.: Karl-Heinz Kindervater, Erfahrungen und Einsichten -Aus der Arbeit des Erfurter Stadtrates, in: Die neue Verwaltung, 1 (1992), S. 4-5; Bernd Wittchow, Nüchternheit und Solidität im Alltag -Aus der Arbeit einer Gemeindevertretung, in: ebd., S. 6f.

  24. Vgl. O. Scheytt (Anm. 11), S. 12.

  25. Vgl. Rainer Pitschas, „Transformation“ oder „Integration“? Wirkungsgrenzen kommunaler Rechts-und Verwaltungshilfe in den neuen Bundesländern, in: Landes-und Kommunalverwaltung, 12 (1992), S. 386.

  26. Vgl. Wolfgang Seibel, Necessary Illusions: The Transformation of Govemance Structures in the New Germany, in: La Revue Toqueville/The Toqueville Review, 13 (1992), S. 194 f.

  27. Vgl. zur Integrationsfrage Rudolf Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, Berlin 1968, S. 119ff., 475ff., 482ff; Roman Herzog, Allgemeine Staatslehre, Frankfurt a. M. 1971, S. 80-83.

  28. Vgl. Dieter Fuchs/Hans-Dieter Klingemann/Carolin Schöbel, Perspektiven der politischen Kultur im vereinigten Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 32/91, S. 40f.

  29. Vgl. H. Wollmann (Anm. 10), S. 239.

  30. Vgl. Oscar W. Gabriel, Politische Partizipation und kommunale Politik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 29/88, S. 3.

  31. Vgl. Dolf Stemberger, Die Stadt als Urbild, Frankfurt a. M. 1985, S. 37.

  32. Vgl. S. Petzold (Anm. 12).

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Herbert Schneider, Dr. rer. pol., geb. 1929; Professor für Politikwissenschaft an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg; Lehrbeauftragter für Kommunalpolitik am Institut für politische Wissenschaft der Universität Heidelberg; 1992/93 Gastprofessor an der TU Dresden. Veröffentlichungen u. a.: Kreispolitik im ländlichen Raum, München 1985; Kommunalpolitik auf dem Lande, München 1991; (Hrsg, mit R. Voigt) Verwaltungsautonomie in ländlichen Räumen? -Eine Zwischenbilanz der Gemeindegebiets-und -Verwaltungsreform in den neuen Bundesländern, Erfurt-Bonn 1993; Stadtentwicklung als politischer Prozeß am Beispiel Heidelberg-Dresden (i. V.).