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Rückblick auf die Entspannung | APuZ 14/1994 | bpb.de

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APuZ 14/1994 Rückblick auf die Entspannung Der goldene Angelhaken: Entspannungspolitik und Systemwandel Die Ostpolitik der konservativ-liberalen Bundesregierung seit dem Regierungsantritt 1982 Neue Ostpolitik und das Bild der Sowjetunion von 1968 bis 1975 Aus den Anfängen der Revision der sowjetischen Deutschlandpolitik. Ein Dokument zur Deutschen Frage aus dem Jahre 1987

Rückblick auf die Entspannung

Timothy Garton Ash

/ 22 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Entspannungspolitik war meines Erachtens von einem Paradoxon gekennzeichnet, das den originellen Beitrag der Deutschen ausmacht, und zwar eine Liberalisierung durch Stabilisierung. Unter Honecker kam es in der Zeit von 1971 bis 1986 zu einer Stabilisierung ohne Liberalisierung, und die Bundesrepublik leistete zu dieser Stabilisierung ihren Beitrag. Unter dem Einfluß der sowjetischen Politik der Perestroika kam es schließlich zur Liberalisierung durch Destabilisierung. Daß die westdeutsche Entspannungspolitik bewußt das Ziel der Destabilisierung betrieben habe, läßt sich so nicht behaupten. Von Versäumnissen läßt sich nur insofern sprechen, daß die deutsche Politik sich mehr um symbolische Gesten hätte bemühen sollen, wie dies weiland Willy Brandt 1970 in Warschau vorgemacht hatte. In dem sich formierenden neuen Europa ist es nicht unbedingt hilfreich, auf nationale Interessen zu verzichten, da auch weiterhin trotz aller Kooperation bedeutende Unterschiede in den Prioritäten und Auffassungen zwischen den Staaten in Europa bestehen.

Anmerkungen zur Diskussion in Deutschland

Die Geschichte der als „Entspannung“ bekannten, vielfältigen, aber häufig unzulänglich definierten Folge westlicher Außenpolitiken, Politikansätze und Einstellungen ist noch ein aktuelles Problem. Vor allem ist die Geschichte der westdeutschen Version(en) der „Entspannung“, genannt Entspannungs-oder Ostpolitik, in Deutschland im Wahljahr eine sehr aktuelle Frage.

Diese „Aktualität“ und vor allem diese besondere deutsche, parteipolitische Aktualität der Frage, die es in vergleichbarer Form in keinem anderen westlichen Land gibt, bedeutet, daß die Beteiligten auf allen Seiten versucht sind, umfassende Verallgemeinerungen aufzustellen hinsichtlich des Einflusses des Westens auf die Politik des Ostens oder umgekehrt, wie die Diskussion um die Rolle Herbert Wehners zeigt. Auf diese Weise wiederholen wir post factum eine der Eigentümlichkeiten der Debatten um die Entspannung in dieser Zeit. Damals handelte es sich um simplifizierte und spekulative Äußerungen über die Zukunft, heute über die Vergangenheit. Diejenigen, die Jacob Burckhardt als terribles simplificateurs charakterisierte, sind wieder oder immer noch am Werk.

Das überrascht vielleicht nicht. Auch ist die politische Auseinandersetzung nicht völlig ohne positive Ergebnisse. Ich habe schon an anderer Stelle angeführt daß ein kleiner Witwenstreit tatsächlich mehr neue Fakten und Dokumente ans Licht bringen könne als ein ganzer Historikerstreit. Andererseits könnte die politisierende Weise der Debatte den Zugang zu den Quellen, die nun wirklich zugänglich gemacht werden sollten, weiter hinauszögern. Das beträfe z. B. eine der wichtigsten Quellensammlungen zur Erforschung der deutsch-deutschen Beziehungen. Es handelt sich dabei um die Akten der BRD-Abteilung des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten der DDR. Dort wurden die Aufzeichnungen der wichtigsten deutsch-deutschen politischen Gespräche zwischen 1970 und 1990 aufbewahrt. Die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages hat immer wieder darauf bestanden, diese für eine wissenschaftliche Untersuchung zugänglich zu machen.

Nach meiner Meinung besteht das größte Hindernis, diese Geschichte angemessen darzustellen, nicht darin, daß wichtige Quellen nur zum Teil zur Verfügung stehen. Das größte Problem liegt in der bloßen Komplexität des Gegenstandes, und zudem sind die Verbindungen, die zwischen den Ursachen westlicher Politik und den Auswirkungen auf die Politik und Gesellschaft des Ostens hergestellt werden können, äußerst dünn. Das liegt zum Teil daran, daß die kommunistischen Regime aus ganz offensichtlichen Gründen immer darum bemüht waren, den Einfluß der Westpolitik herunterzuspielen, obwohl man in den Aufzeichnungen des SED-Politbüros gelegentlich erstaunlich offene Bekenntnisse zu Verbindungen findet, die sonst energisch geleugnet wurden. Das liegt zum Teil daran, daß zu den wichtigsten Wirkungen westlicher Politiken jene auf die Einstellungen in der Bevölkerung des (früheren) Osteuropas gehören, aber diese sind besonders schwierig auch nur annähernd nachweisbar festzulegen. Und schließlich ist da noch die besonders interessante Frage der unbeabsichtigten Auswirkungen westlicher Politik. Inwieweit kann man diese als „Erfolg“ für die Entspannungspolitik verbuchen?

Die Schwierigkeiten werden noch gesteigert durch die Tatsache, daß in der Praxis mehrere unterschiedliche Politiken des Westens auf ein und denselben Oststaat gleichzeitig und dies über längere Zeit angewendet wurden. Es ist schon schwierig genug, die Beziehungsgeschichte von nur zwei Völkern, ganz zu schweigen von einem Volk unter sich, wie im Fall Deutschlands, zu schreiben. Aber die Geschichte der Entspannung ist gerade durch den multilateralen und multidimensionalen Charakter des Beziehungsgeflechtes zwischen Ost und West in Europa gekennzeichnet.

Dies ist einer der Hauptgründe dafür, warum ich es in meinem Buch Im Namen Europas. Deutsch-land und der geteilte Kontinent für notwendig und richtig hielt, die deutsche Ostpolitik detailliert und im Kontext mit anderen westlichen „Ostpolitiken“ zu beschreiben. Man kann etwa das Dreieck Bonn -Moskau -Berlin nur im Zusammenhang mit dem größeren Dreieck Amerika -Deutschland -Ruß-land verstehen. Westdeutsche Beziehungen zu Osteuropa kann man nicht ohne Hinweis auf die westdeutschen Beziehungen zur Sowjetunion auf der einen Seite und zur DDR auf der anderen begreifen.

Ein weiterer Grund für eine so ausführliche und genauestens dokumentierte Abhandlung des Themas war, um es etwas hochtrabend auszudrücken, historische Gerechtigkeit oder Fairneß, um ein englisches Wort zu verwenden, das zu einem deutschen geworden ist. Eine Auseinandersetzung aufgrund einiger ausgewählter Zitate von dem einen oder anderen politischen Akteur oder Vermittler eignet sich gut zur Polemik. Aber um fair zu sein, muß man sich immer den gesamten Kontext, in dem das Zitat steht, in Erinnerung rufen: Dies ist eine ganz offensichtliche Tatsache, beinahe schon eine Binsenwahrheit, aber eine, die eher prinzipiell als praktisch beachtet wird. Aus diesen beiden Gründen schrieb ich lieber ein Buch von 850 Seiten als einen Essay von 85 oder eine Rede oder einen Artikel von vielleicht 8 Seiten, wie in den meisten Fällen der aktuellen politischen Debatte über diese Themen in den letzten 50 Jahren.

Im folgenden will ich nur einige der Punkte aus der Auseinandersetzung um mein Buch „Im Namen Europas“ einbringen, die in den oft ausführlichen Entgegnungen aufgeworfen wurden. Dies erscheint mir als der sinnvollste und interessanteste Weg, sich einem Thema zu widmen und eine Debatte weiterzuführen. Ich will mich zunächst mit zwei Linien der Kritik auseinandersetzen, die mir ziemlich unproduktiv erscheinen, um nicht deutlicher zu werden.

I. Späte Einsicht und Alternativen

Eine seltsame Art der Kritik ist es, den Historiker zu beschuldigen, mit der späten Einsicht zu schreiben. Wir, die Politiker im Mittelpunkt der Ereignisse, so lautet die Argumentation, konnten damals nicht gewußt haben, was man heute weiß. Dies scheint mir bestenfalls Offensichtliches zu erklären. Was definitorisch die Historiker von den Politikern und ja auch von den Politikwissenschaftlern unterscheidet, ist, daß sie warten, um zu erfahren, „wie die Geschichte endet“, obwohl natürlich kein Ende ganz endgültig und jedes Ende auch der Anfang einer weiteren Entwicklung ist, die mil der Zeit sich auf unsere Beurteilung der vorhergehenden auswirken wird. Historiker sind diejenigen, die erst auftauchen, wenn alles vorbei ist und mit dem Wissen um das Geschehene versuchen, herauszuarbeiten, warum es geschah. Selbstverständlich ist es von entscheidender Bedeutung, sich dabei vor Augen zu halten, was die historischen Akteure zur gegebenen Zeit nicht wußten, aber auch, was sie wußten. Auch der Eüstorikei muß sich natürlich vor der Gefahr des rückwirkenden Determinismus in acht nehmen. Späte Einsicht jedoch läßt Vergangenheit zur Geschichte werden.

Damit, so glaube ich, ergibt sich eine wichtige Unterscheidung zwischen rein hypothetischen Alternativen oder im Fachjargon „counter-factuals“, die von den historischen Akteuren zu der Zeit nie ernsthaft in Erwägung gezogen wurden, und Alternativen (in diesem Fall der westlichen Politik), die zu der Zeit in Betracht gezogen wurden. Die ersteren nehmen einen (nicht unumstrittenen) Platz in der Logik der historischen Argumentation ein, letztere sind für jede Geschichtsschreibung grundlegend.

Was nun den Fall dieser speziellen Geschichte angeht, so haben wir es hier vor allem mit tatsächlichen alternativen Versionen westlicher Politik gegenüber dem Osten zu tun, die von unterschiedlicher Bedeutung und verschiedenem Stellenwert bis hin zu grundsätzlichen Unterschieden der nationalen Interessen und der politischen Annäherungen reichen. Nebenbei bemerkt, ging es dabei nie nur um die einfache Alternative zwischen „Entspannung“ und „Kaltem Krieg“. Ein Blick auf die Bibliotheksregale zeigt, wieviel Verwirrung es um die Begriffe gab: da steht ein Buch mit dem Titel Cold War to Detente, 1945-1985 neben einem Buch The Rise and Fall of Detente, 1953-1984 und Cold War Europe, 1945-1989. Tatsächlich gab es während des Kalten Krieges mehr Entspannung und während der Entspannung mehr Kalten Krieg als irgendeine der Schlagzeilen vermuten läßt. Und beide existierten nebeneinander, wenn auch mit sehr unterschiedlichem jeweiligen Wirkungsgrad zu unterschiedlichen Zeiten, und sie fanden ein gemeinsames Ende in den Jahren 1989-1991.

Was ich analysiert habe, sind verschiedene deutsche und andere westliche Versionen der Entspannung, die mehr oder weniger reichlich mit Bestandteilen des „Kalten Krieges“ durchmischt waren, die zu jener Zeit vorgeschlagen und in einigen Fällen zum Teil ausgeführt wurden. Diese ver­schiedenen Versionen basierten wenigstens zum Teil auf unterschiedlichen Hypothesen über das Wesen und die mutmaßlichen Ausgangsbedingungen eines wünschenswerten Wandels innerhalb des „Ostens“. Es ist nichts anderes als eine klassische und erstrangige Aufgabe des Historikers, sowohl die Politiken als auch die zugrundeliegenden Hypothesen mit der Gunst der späten Einsicht zu beurteilen.

II. Biographischer Determinismus

Die zweite Linie der Kritik, die mir ganz unfruchtbar erscheint, besteht darin, die Argumentation eines solchen Buches in Beziehung zur Biographie des Autors zu setzen und damit zumindest implizit zu werten und zu relativieren. Die einfachste und häufigste Form dabei ist die bekannte und scheinbar harmlose Äußerung: „aus britischer Sicht“. Nun ist eine der ganz bewundernswerten Eigenschaften Westdeutschlands seine grundsätzliche Offenheit gegenüber kritischen Meinungen zu Deutschland aus dem Ausland, die in vielfältiger Weise auch durch die Institution vorgeführt wird, die diese Zeitschrift herausgibt. Aber die Kehrseite dieser Offenheit ist vielleicht eine Tendenz, diese Stimmen zu sehr unter national-charakteristischen Gesichtspunkten zu sehen: die polnische Sicht, die französische Sicht, die russische (früher sowjetische) Sicht und so weiter. Dies ist ein Beitrag zum „Europäisch sein“ des heutigen Deutschland, aber auch auf eine seltsame Weise die implizite Leugnung, es könne eine echt europäische Sicht geben. Zumindest wird der nationale Faktor bei der Bestimmung der „Ansicht“ des jeweiligen Autors anderen Faktoren gegenüber bevorzugt. In meinem Fall wird diese Version des biographischen Determinismus mit einem anderen in Verbindung gebracht. Dieser läßt vermuten, daß ich deutsche Politik durch eine polnische Linse betrachtet habe. (Wie man gleichzeitig zwei verschiedene nationale Brillen tragen kann, ist nicht ganz klar). Ein extremes Beispiel dafür wurde von einem der herausragenden Analytiker und Vordenker der deutschen Ostpolitik, Peter Bender, in seiner Rezension in der Zeit gegeben Bender geht von der Prämisse aus, daß jede Generation ihre Schlüsselerlebnisse hat und behauptet weiterhin, daß mein persönliches Schlüsselerlebnis Solidamosc in Polen war. Er fährt damit fort, beinahe die gesamte Argumentation des Buches in dem Licht dieses behaupteten Schlüsselerlebnisses zu erklären. „Garton Ash sieht das anders“, schreibt er an einer Stelle, „muß es anders sehen“. „Muß“? Und direkt am Ende seiner Rezension beschreibt er meine Ansicht, daß Solidamosc das zweite Loch in der Berliner Mauer, die Ostpolitik dagegen das erste gewesen sei, als einen „Satz, der ihn Selbstüberwindung gekostet haben muß“. Selbstüberwindung? Der Rezensent als Psychoanalytiker!

Wie kann man auf eine solche Kritik reagieren? Es ist irgendwie absurd, darauf zu entgegnen: „Nein, das ist nicht wahr, es hat mich überhaupt keine Selbstüberwindung gekostet. Ich habe einfach geschrieben, was mir richtig erschien.“ Oder: „Nein, das ist nicht wahr, die Erfahrung, in der DDR zu leben, lag zeitlich früher und war auch mindestens so wichtig wie die, in Polen zu leben.“ (Obwohl ich mit unanfechtbarer Autorität sagen kann, daß beide Erwiderungen ganz und gar richtig wären).

Der springende Punkt liegt woanders. Wir alle haben prägende Erfahrungen -gewöhnlich nicht eine, sondern viele, es sei denn, wir führen ein sehr kümmerliches Dasein. Es ist sicherlich interessant, ihren Einfluß herauszufinden zu versuchen. Aber es gibt auch eine geistige Disziplin, genannt Zeit-geschichte. Diese erfordert Argumente, die auf Quellen mit exakten Normen der Logik und der Beweisbarkeit beruhen. Wenn man solche Argumente klar und deutlich formuliert hat, dann hat man ein Recht auf eine logisch formulierte Erwiderung auf diese Argumente, nicht eine psychoanalytische Spekulation über Motive. Der Verzicht auf biographischen Determinismus sowohl in seiner nationalen als auch psychoanalytischen oder -innerhalb Deutschlands -in seiner parteipolitischen Form wäre ein nützlicher Beitrag zu einer vernünftigen Debatte.

Wendet man sich nun den wesentlichen historischen Argumenten zu, so lohnt es sich zunächst, auf das weite Ausmaß politisch-historiographischer Übereinstimmung hinzuweisen. So würden z. B. wenige bestreiten, daß es eine der zentralen Leistungen deutscher Ostpolitik war, um das Vertrauen der sowjetischen Führung zu werben und es zu gewinnen, während man gleichzeitig das Vertrauen der wichtigsten Partner der Bundesrepublik im Westen aufrechterhielt. Hier erzielte man den erwünschten Erfolg auf dem mehr oder weniger geplanten Weg. Ähnlich war es eine große und gewollte Leistung westdeutscher Politik, das Image der Bundesrepublik als eine Bedrohung für Osteuropa (und für die DDR) durch das Image (West-) Deutschlands als eines Vorbildes zu ersetzen. Auch gibt es wenig Streit um die Tatsache, daß es zum Wandel in der DDR nicht auf dem Weg kam (geschweige denn in dem Tempo), den die meisten der Praktiker der Deutschlandpolitik (oder präziser der DDR-Politik) in den achtziger Jahren erwarteten.

Von den Punkten, die sowohl kontrovers als auch interessant bleiben -es gibt auch welche, die kontrovers, aber nicht interessant sind -will ich fünf herausnehmen.

III. Kalter Krieg oder Entspannungspolitik: SDIoderSI?

Immer noch gibt es eine Kontroverse um die einschlägige Bedeutung der berühmten „zwei Gleise“ des Harmel-Berichtes: der Entspannung und der Abschreckung. Wie wirkten sich die Stationierung von Cruise Missiles und Pershings durch die NATO in den frühen achtziger Jahren und das SDI-Programm Präsident Reagens einerseits und die neue Einstellung zur Sicherheitspolitik, die im Bericht der Palme-Kommission und besonders von der SPD entwickelt wurde, auf die sowjetische Außenpolitik andererseits aus? Welches Element, der „Kalte Krieg“ oder die „Entspannung“, trug mehr dazu bei, daß sich in der Sowjetunion unter Gorbatschow und Schewardnaze „Neues Denken“ in der Außenpolitik durchsetzen konnte?

Hier handelt es sich um ein Gebiet, auf dem wir noch viel ernsthafte Forschung zur militärischen und politischen Entscheidungsfindung in der Sowjetunion unter Breschnew und Gorbatschow benötigen. Dies ist jedoch nicht einfach: erstens wegen der politischen Sensibilität (und der versuchten Instrumentalisierung) einiger der wichtigen Quellen (z. B. jener im Präsidialarchiv), zweitens, weil in den Dokumenten des sowjetischen Parteistaates Einflußnahmen des Westens häufig nicht zugegeben wurden (oder ihnen wenigstens nicht das Gewicht beigemessen wurde, das ihnen zustand), und drittens, weil es scheint, daß von Gesprächen mit zentralen Persönlichkeiten der Entscheidungsebene schriftliche Berichte von einigen der wichtigsten Gespräche wahrscheinlich nie aufbewahrt wurden. Letztgenannte Schwierigkeit wird in der Diskussion darüber deutlich, wer von den politischen Akteuren der Sowjetunion wann und in welcher Bedeutung die deutsche Einheit antizipiert hat.

Sowohl mündliche Reminiszenzen als auch schriftliche Berichte sowjetischer Politiker sind oft sehr ungenau; sie enthalten kaum Dokumente und Daten, dafür aber viel „Philosophie“ und einander Widersprechendes. Ob die Gorbatschow-Memoiren eine Ausnahme von der Regel bilden, wird sich zeigen. Aber bisher war Gorbatschow auffallend pluralistisch in seiner Ursachenforschung, indem er großzügig Kohl, Genscher, Brandt, Reagan und den Papst als gemeinsame Initiatoren der Beendigung des Kalten Krieges preist. Willy Brandt meinte im Gespräch mit mir, daß das neue Sicherheitsdenken der westeuropäischen Linken entscheidend zum Wandel der sowjetischen Außenpolitik beigetragen habe. Hatte irgend jemand in Moskau ihm dies bestätigt? Ja, Gorbatschow. Helmut Kohl meinte im Gespräch mit mir, daß die Stationierung von Mittelstreckenraketen der NATO, die im Oktober 1983 begann, entscheidend zum Wandel der sowjetischen Außenpolitik beigetragen habe. Hatte irgend jemand in Moskau ihm dies bestätigt? Ja, Gorbatschow.

Obwohl das erforderliche Werk der Geschichtsforschung zu diesem Thema noch bevorsteht, lautet meine eigene vorläufige Antwort auf die Frage: beides und keines. Sowohl die Abschrekkung als auch die Entspannung, Eindämmung und Engagement waren notwendig. In den frühen achtziger Jahren betonte ein Teil der Rechten in Westeuropa in Harmeis Doppelstrategie fast ausschließlich die Abschreckung, während ein Teil der Linken ebenso fast ausschließlich auf Entspannung setzte. Die einen hielten Aufrüstung für den entscheidenden Schritt, um das sowjetische Verhalten zu modifizieren, die anderen wollten hierdurch Abrüstung erreichen. Ironischerweise sind nun vielleicht beide Abweichungen hilfreich gewesen. Offensichtlich scheint es so, daß die Bedrohung durch das SDI-Programm (Strategische Verteidigungsinitiative) eine wichtige Rolle dabei spielte, die Führungskräfte der sowjetischen Militär-und Sicherheitspolitik davon zu überzeugen, daß sie ein Wettrüsten mit den USA einfach nicht gewinnen könnten. Andererseits hatte die Möglichkeit von westeuropäischen (und besonders der westdeutschen) sozialdemokratischen Regierungen, die sich -zumal im Rahmen der Sozialistischen Internationale (SI) -auf weitreichende Programme der Abrüstung, der Reorientierung auf eine defensive Verteidigung, auf gemeinsame Sicherheit usw. einigten, wahrscheinlich eine bedeutende Anziehungskraft für ein „Neues Denken“ in der Sowjetunion. Das erstere zeigte den sowjetischen Führern, daß sie in eine Sackgasse geraten waren, letzteres ließ vermuten, daßes vielleicht einen recht anziehenden und kühnen Ausweg gäbe.

Jedoch gibt es darin keine genaue Symmetrie. Denn während erstere eine Zeitlang reale Außenpolitik des Westens war, blieb letztere eher die Politik der Oppositionen. Die chronologische Tatsache ist, daß Gorbatschow nach fünf Jahren des andauernden Drucks aus dem Westen -insbesondere des Drucks von drei Mitte-Rechts-Regierungen (Reagan, Kohl, Thatcher) -an die Macht kam, und mit Eduard Schewardnaze eine grundlegende Korrektur der sowjetischen Außenpolitik begann. Außerdem war es damals in den Verhandlungen mit eben jenen Regierungen, daß die Sowjetunion eine neue Entspannungspolitik begann, die das Ende des Kalten Krieges einleitete.

So weit so gut -aber es ist auch wichtig, den zweiten Teil der Antwort zu berücksichtigen: das „Keines von beiden“. Man kann es nicht deutlich genug hervorheben, daß die grundlegenden Ursachen für das Ende zunächst des äußeren Imperiums der Sowjetunion -im Westen bekannt als „Osteuropa“ -und schließlich der Sowjetunion selbst innerhalb der Sowjetunion und Osteuropas gesucht werden müssen. Die Politik des Westens blieb eine zweitrangige, unterstützende Ursache, wenn auch eine wichtige.

IV. Stabilisierung, Liberalisierung und die DDR

Ich habe argumentiert, daß eine der zentralen und originellen Ideen der westdeutschen Entspannungspolitik gegenüber der DDR die der Liberalisierung durch Stabilisierung war; daß das, was tatsächlich unter Honecker in den fünfzehn Jahren von 1971 bis 1986 geschah, jedoch eher eine Stabilisierung ohne Liberalisierung war, wobei ein wichtiger Beitrag zur Stabilisierung durch die westdeutsche Politik geleistet wurde, und daß es am Ende zur Befreiung durch Destabilisierung kam, als sich der Wandel unter dem Einfluß der sowjetischen Perestroika, einer permissiveren sowjetischen Ost-europapolitik und unter dem Einfluß der „Refolutionen“ (einer Mischung aus Reform und Revolution) in Polen und Ungarn zeigte.

Zwei Haupteinwände sind gegen diese Argumentation vorgebracht worden. Der erste lautet, daß es unter Honecker tatsächlich eine Liberalisierung gab. Der zweite lautet, daß eine gewisse gesellschaftliche Destabilisierung ein beabsichtigtes (aber bewußt unausgesprochenes) Ziel der ursprünglichen Politik war. Diese war Teil des „Wandels“, der nicht nur folgen sollte auf, sondern ausdrücklich folgen sollte durch „Annäherung“.

Zum Beweis der Liberalisierung wird an erster Stelle die Verbesserung der Reisebedingungen für DDR-Bürger angeführt. Außerdem wird argumentiert, daß die DDR in den achtziger Jahren in vielen kleinen Bereichen ein Ort war, an dem man entspannter lebte, als es in den sechziger Jahren der Fall gewesen war. Es gab mehr und größere „Nischen“, um Günter Gaus bekanntes Bild zu gebrauchen. Die veränderte Beziehung des Staates zur protestantischen Kirche wurde ebenfalls als Beweis der Liberalisierung angeführt.

Was die inneren Entwicklungen angeht, so muß man sich zunächst auf die Bezugspunkte des Vergleichs festlegen. Wenn man die DDR der achtziger Jahre mit der DDR der fünfziger Jahre vergleicht, dann ist eine Verbesserung hin zu Veränderungen über den gleichen Zeitraum anderswo im Sowjet-Block und besonders in Ostmitteleuropa mindestens ebenso festzustellen. Insoweit es den materiellen Lebensstandard betraf, hielt die DDR dem Vergleich gut stand (obwohl, wie wir jetzt deutlich sehen, dies eher auf unsicher finanzierten Importen und Konsumgütern beruhte, als auf einer soliden Basis von Produktionsgütern und Exporten). Insofern es jedoch Freiheiten de jure oder einfach auch nur de facto oder politische und ökonomische Reformen betraf -und das Konzept der Liberalisierung verbindet beide -, hielt die DDR dem Vergleich nicht stand.

Egon Bahr hat in seiner Tutzinger Rede von 1963 zu Recht angeführt, daß die DDR in dieser Hinsicht nicht nur hinter Polen und Ungarn zurück-stand, sondern sehr wahrscheinlich Zurückbleiben würde aufgrund ihrer besonders schwierigen Lage. Aber Tatsache ist, daß die DDR etwa im Jahre 1986 weiter hinter Polen und Ungarn in diesen Belangen zurücklag als sie etwa im Jahre 1966 zurückgelegen hatte, trotz (oder vielleicht zum Teil wegen) einer mehr als fünfzehnjährigen kooperativen Politik Westdeutschlands, die zum Teil dafür entworfen wurde, diese Lücke zu schließen. Um sowohl das, was unter Honecker, als auch das, was unter Kadar geschah, als „Reform“ zu bezeichnen, muß man das Wort bis zur Unkenntlichkeit strapazieren. Außerdem wurden die Transferzahlungen und Anleihen aus dem Westen nicht für eine Reform, sondern als Ersatz für dieselbe verwendet. Honeckers Strategie, so habe ich behauptet, war die der „Reformersetzung“.Außerdem spricht viel für die Behauptung, daß die Reiseerleichterung nach Westen auch ein Teil dieser Strategie war. Ist es etwa ein Zufall, daß die wichtigsten Verbesserungen in den Reisemöglichkeiten für die DDR-Bürger unterhalb des Rentenalters ins Jahr 1986 fielen, als Gorbatschow begann, seine Perestroika einzuführen? Reiseerleichterung war Honeckers Alternative zur Perestroika. Wenn die mittelfristigen Auswirkungen dieser Reiseerleichterung nicht, wie Honecker hoffte, zur Stabilisierung führten, dann kam das daher, daß sie nicht begleitet waren von irgendeiner Maßnahme zur innerpolitischen Liberalisierung -während gleichzeitig in Ungarn, der Sowjetunion und Polen (obgleich deutlich an dritter Stelle, sofern es direkte Auswirkungen auf die DDR betraf) solche Maßnahmen sprunghaft vor-angingen.

Aufgrund dieses doppelten Gegensatzes, mit dem Westen auf der einen Seite und dem sich schnell wandelnden Osten auf der anderen Seite, erwies sich diese vorsichtige Politik der Reiseerleichterung am Ende als Destabilisierung. Jedoch auch hier sollte man anführen, daß bis zum Sommer 1989 Opposition und Emigration Alternativen blieben, obwohl der einzelne, wenn er sich auf erstere einließ, häufig zum letzteren kam -und umgekehrt.

Das führt uns zum zweiten Hauptpunkt: das Ausmaß, in welchem eine solche Entwicklung in der DDR eine verborgene Absicht der westdeutschen Politik war. Man kann natürlich nie beweisen oder widerlegen, was gedacht, aber nie ausgesprochen oder gar aufgeschrieben wurde. Aber aufgrund der verfügbaren Beweise scheint es mir klar zu sein, daß eine gesellschaftliche Entwicklung, die das kommunistische Regime in eine Krise stürzte, von der Philosophie der Ostpolitik nie erträumt wurde. Denn die grundlegende Voraussetzung (und der historische Ausgangspunkt) jener Politik war, daß eine solche Entwicklung auf Repression hinauslaufen würde, und wenn es hart auf hart käme, auf eine sowjetische Intervention. Während man deshalb natürlich hoffte, daß wachsende Kontakte mit dem Westen zu einer gewissen Öffnung der ostdeutschen Gesellschaft führen würden und während man hoffte, daß gesteigerte gesellschaftliche Erwartungen den Partei-Staat zu Reform-und Liberalisierungsmaßnahmen veranlassen würden, fürchtete man gleichzeitig, daß zu-viel Druck -ob von außen oder von unten -in Wirklichkeit gerade das Gegenteil bewirken würde. Die Möglichkeiten einer direkten Aktion durch eine „selbst organisierte Gesellschaft“, also durch „das Volk“, das seine eigene politische Situation aus eigener Anstrengung ändert, wurden von der Bonner Politik, vorsichtig ausgedrückt, nicht sehr hoch eingeschätzt.

Aufgrund der zur Verfügung stehenden Beweise kann man deshalb nicht länger behaupten, daß das, was innerhalb der DDR in den Jahren 1989/90 geschah, ein Erfolg der westdeutschen Politik in dem Sinne war, daß die Entwicklung der Beziehung Bonn-Moskau eindeutig ein Erfolg jener Politik war. Es ist ein großer Unterschied, ob man erreicht, was man zu erreichen hoffte, und zwar mehr oder weniger auf dem Weg, den man sich vornahm, oder ob man 100 Meilen darüber hinaus kommt auf einen Weg, den man für unpassierbar hielt.

V. Wer wen?

Dies führt uns zu einer wichtigen Auseinandersetzung über die entsprechende Bedeutung dessen, was Oppositionsgruppen und gesellschaftliche Bewegungen in Osteuropa einerseits und Gorbatschow und seine sowjetischen Reformer andererseits zur Beendigung des Kalten Krieges und der Teilung Europas seit Jalta beitrugen. Deutsche Entspannungspolitik, die darauf konzentriert war, um Moskau zu werben und Reformen von oben zu fördern, war (bestenfalls) sehr skeptisch Versuchen eines „Wandels von unten“ gegenüber, deren größter und fruchtbarster Versuch der der Solidarnosc in Polen war. Nicht überraschend war es, daß man direkt nach 1989 geneigt war, Gorbatschow im Osten am meisten historische Anerkennung zu geben (während im Westen die Verteilung des historischen Verdienstes umstritten war). All diese Anstrengungen wachsender Selbstbefreiung von unten waren -so heißt es in nicht wenigen Darstellungen -sehr bewundernswert, aber ohne Gorbatschow wäre nichts davon möglich gewesen. Dies ist eine unannehmbare Übersimplifizierung in zweierlei Hinsicht. Zum einen wird die Interaktion zwischen Osteuropa und der Sowjetunion vor 1985 und deren Bedeutung für die Entstehung des „Neuen Denkens“ in der Sowjetunion unterschätzt. Die Einflüsse in einem Imperium gehen nie nur in eine Richtung, vom Zentrum zur Peripherie, besonders in diesem ziemlich ungewöhnlichen Fall, in dem die Peripherie, also Osteuropa, historisch weiter entwickelt war als das Zentrum. So hatten die wirtschaftlichen Reformen in Ungarn einen wichtigen Einfluß auf die Reformer der sowjetischen Wirtschaft. Der Prager Frühlinghatte einen unmittelbaren Einfluß auf mehrere Personen, wie z. B. Alexander Jakoview, die Gorbatschow sehr nahe standen. Tatsächlich beschrieb Gorbatschow im Jahre 1989 sein eigenes Ziel als das des „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“. Aber in gleicher Weise waren die Auswirkungen von Solidamosc und die Unfähigkeit von General Jaruzelski, Polen zu „normalisieren“ und es auf annähernd sowjetische Verhältnisse zurückzuführen, Ausgangspunkt für die Veränderungen der sowjetischen Politik gegenüber Osteuropa. Wenn man sagt, daß „nichts von dem, was 1989 in Osteuropa geschah, möglich gewesen wäre ohne Gorbatschow“, dann muß man auch fragen, wäre Gorbatschow denn möglich gewesen ohne die Ereignisse der vergangenen 40 Jahre in Osteuropa?

Zum zweiten übersieht man nach dieser Auffassung die Interaktion zwischen dem „Druck“ aus Osteuropa (besonders Ostmitteleuropa) und dem „Ziehen“ aus Moskau im Jahre 1989/90. Was Gorbatschow anbot, war eine permissivere Politik gegenüber Osteuropa. Polen und Ungarn nahmen aufgrund der Dynamik ihrer eigenen innerpolitischen Entwicklungen die Gelegenheit wahr, sich auf das einzulassen, was als eine Mischung aus Reform und Revolution („Refolution“) bezeichnet werden könnte, die ihrerseits das Ergebnis eines langen Lernprozesses auf allen Seiten war. Dies brachte sie sehr schnell über das hinaus, was sowjetische Führer gehofft hatten, das sie erreichen würden -Versionen eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, und lieferte ein Beispiel, das indirekt und direkt den Volksprotest auslöste, der zum Zusammenbruch der nicht reformierten Regime der Tschechoslowakei und der DDR führte. Von Sommer 1989, man könnte mit Recht behaupten, schon vom späten Frühling an, war die sowjetische Osteuropapolitik im wesentlichen reaktiv. Diese Spannung zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen Wandel von oben und unten bewirkte die besondere Dynamik, die zum Ende des sowjetischen Imperiums führte.

VI. Bonner Versäumnisse?

Dies wiederum führt zu der Frage, ob deutsche Entspannungspolitik Maßnahmen versäumte, die getan hätten werden können und sollen in bezug auf osteuropäische (einschließlich ostdeutsche) Oppositionsgruppen, gesellschaftliche Bewegungen und den, sozusagen, gesellschaftlichen Boden, auf dem sie handelten. Die Antwort ist nicht einfach. Es wäre offensichtlich falsch, anzunehmen, daß deutsche Politiker sich der gesellschaftlichen Dimension der Ost-West-Interaktion auf dem Gebiet, das Pierre Hassner als „heißen Frieden“ gut beschrieb, nicht bewußt waren. Weit gefehlt. Die spezifische deutsche Version von Helsinki -das Helsinki der menschlichen Kontakte -war genau dadurch gekennzeichnet, die gesellschaftliche Interaktion zwischen Ost und West zu fördern, und kein größeres westliches Land war offener für Menschen aus Osteuropa als Westdeutschland. Wenn jedoch jene Menschen, zum Teil auf der Grundlage jener Westkontakte und -erfahrungen, nun in ihre eigenen inneren Angelegenheiten sich einmischen wollten, reagierte die Bonner Regierung wegen der möglichen negativen Auswirkungen auf ihre eigenen zerbrechlichen Beziehungen mit der Sowjetunion und Ostdeutschland sehr unruhig.

In bezug auf direkte Kontakte zu Oppositionsgruppen oder gesellschaftliche Bewegungen in Osteuropa lagen nicht nur die (west) deutsche Regierung, sondern (mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen) auch die etablierten Parteien und sogar die Stiftungen und regierungsunabhängige Organisationen deutlich hinter einigen ihrer amerikanischen, französischen oder britischen Partner zurück. Die Gründe dafür sind komplex, und sie sind in meinem Buch bis ins Detail dargelegt. Ein Punkt jedoch verdient es, hier wieder aufgegriffen zu werden. Es ist zweifellos so, daß die Bonner Regierung in einer besonders sensiblen und verletzlichen Position in bezug auf die damaligen Mächte in Moskau und Ost-Berlin war. In jeder Phase mußte die Bonner Regierung sowohl an die 17 Millionen Menschen in der DDR als auch an die zwei Millionen in West-Berlin denken, für deren allmähliche Verbesserung ihrer Lage sie eine Strategie entwickelt hatte, die von der Zustimmung Moskaus und der Kooperation Ost-Berlins abhing. Ich habe daher nie behauptet, daß die Bonner Regierung sich einfach wie die Washingtoner Regierung unter Carter, Reagan und Bush hätte verhalten können oder sollen, mit einer offensiven, der Öffentlichkeit zugewandten Diplomatie für Menschenrechte, einer direkten Kopplung zwischen wirtschaftlichen Verbindungen und innerpolitischen Entwicklungen (bis hin zu Sanktionen) und spektakulären Gesten der symbolischen Anerkennung jener, die als „Dissidenten“ bekannt waren. Die Bundesrepublik nahm hier eine andere Stellung ein, hatte ihre eigenen, besonderen Interessen und Abhängigkeiten.

Ich möchte in diesem Zusammenhang jedoch zweierlei behaupten: Erstens gab es selbst unter diesenspeziellen Umständen zumindest symbolische Gesten, die man hätte machen können, aber nicht machte -besonders von jenen, die nicht der Regierung angehörten. Aus subjektiven Gründen, als Ergebnis falscher Analyse oder Zurückhaltung am falschen Platz wurde auf Gelegenheiten verzichtet, bei denen der zur Verfügung stehende Spielraum, wenn auch begrenzt, nicht ausgenutzt wurde. Nachdem alles im einzelnen geklärt ist, bleibt Willy Brandts Besuch in Warschau im Jahre 1985 hierfür ein herausragendes Beispiel. Denn im Jahr 1970 hatte Brandt in Warschau gezeigt, wieviel eine symbolische Geste wert sein kann.

Zweitens, selbst wenn deutsche Politiker und Entscheidungsträger (im weitesten Sinne) nicht in der Lage waren oder sich nicht in der Lage fühlten, dies zu tun, so hatten sie Unrecht, z. B. amerikanische Politiker für etwas zu kritisieren, was sowohl moralisch richtig als auch am Ende politisch erfolgreich war. Denn die Geschichte zeigt, so glaube ich, was man damals hätte wissen können, daß auch hier beides notwendig war: das deutsche Helsinki der menschlichen Kontakte und das amerikanische Helsinki der Menschenrechte, das deutsche Zuckerbrot und die amerikanische Peitsche.

Außer der historischen Gerechtigkeit handelt es sich hier vielleicht um eine bescheidene Lektion für zukünftige Politik. Es ist jedoch auf keinen Fall eine einfache Lektion. Denn offensichtlich nur in den wenigsten Fällen, in denen größere Westmächte verschiedene Politikansätze, basierend auf verschiedenen Positionen, Interessen, Vergangenheiten und Auffassungen, zeigen, erweisen sich jene verschiedenen Ansätze in ihrer endgültigen Wirkung als sich eher gegenseitig ergänzend als einander widersprechend. Unterschiedliche westliche Politikansätze des Westens gegenüber dem früheren Jugoslawien seit 1990 scheinen dies zu illustrieren.

VII. „Im Namen Europas“

Schließlich ein Wort zur (Fehl-) Interpretation eines Titels. Bismarck sagte: „Ich habe das Wort , Europa immer im Munde derjenigen Politiker gefunden, die von anderen Mächten etwas verlangten, was sie im eigenen Namen nicht zu fordern wagten.“ Da sich internationale Beziehungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, deutlich unterscheiden von den internationalen Beziehungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, und da die Bundesrepublik in den siebziger und achtziger Jahren ein ganz anderes Deutschland war als das Deutsche Reich, erfaßt Bismarcks bissige Bemerkung nur die halbe Wahrheit über den westdeutschen Gebrauch des Wortes „Europa“. Die andere Hälfte der Wahrheit ist genauso bedeutend: Ein ganz echtes Engagement für Europa im Zusammenhang eines wachsenden Multilateralismus und eines, was ich bürgerlichen Internationalismus genannt habe.

Keinesfalls ist der Punkt, daß der Gebrauch des Wortes „Europa“ einfach instrumental war und die Verfolgung nationaler Interessen verdeckte. Es ist ein subtileres Problem: nämlich, daß die alte europäische Gewohnheit, nationale Interessen im Namen Europas zu verfolgen (siehe Frankreich), im Fall Deutschlands so gründlich durchmischt war mit einem echten, emotionalen, philosophischen und politischen Engagement in und für Europa, daß in den achtziger Jahren viele deutsche Politiker und Kommentatoren fast nicht in der Lage zu sein schienen, zwischen dem einen und dem anderen zu unterscheiden. Dies, so habe ich behauptet, ist nicht notwendigerweise hilfreich -weder für Deutschland noch für seine Nachbarn. Denn selbst wenn die gemeinsamen Interessen im heutigen Europa besondere nationale Interessen überwiegen (eine Möglichkeit, die an sich fraglich ist), und selbst wenn das nationale Interesse weiter aufgeteilt werden muß in sektorale und regionale Interessen, besonders in einer Bundesrepublik, so bleiben trotzdem bedeutende Unterschiede der Interessen, der Prioritäten und der Auffassungen zwischen den Staaten in Europa.

In der Tat ist es keinesfalls klar, daß diese Unterschiede nun geringer sind, Ms sie es in der Entspannungsphase des Kalten Krieges waren. Es hilft niemandem, zu behaupten, diese Unterschiede gäbe es nicht. Es würde jedermann helfen, sie klar und nüchtern zu definieren, und zwar im Geist der Zusammenarbeit und mit dem Ziel, einen Kompromiß zu finden; und wenn man schon nicht eine gemeinsame Politik verfolgen kann, dann wenigstens eine sich ergänzende. Dies betrifft vor allem Beziehungen auf dem Gebiet, das man in der Entspannungsphase noch den „Osten“ nannte, es sich aber heute um ein kompliziertes Gebilde zunehmend unterschiedlicher postkommunistischer Staaten in Mittel-, Ost-und Südosteuropa handelt.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Deutsche Übersetzung: Uta Mayer, Rheinbreitbach. Vgl. Timothy Garton Ash, Was bedeuten die Willy-Brandt-Papiere?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. 1. 1994, S. 29.

  2. Vgl. Peter Bender, Das erste Loch in der Mauer, in: Die Zeit vom 8. 10. 1993, 8. 27.

Weitere Inhalte

Timothy Garton Ash, geh. 1955; Fellow am St. Antony’s College, Oxford. Veröffentlichungen, u. a.: Ein Jahrhundert wird abgewählt. Aus den Zentren Mitteleuropas, München 1990; Im Namen Europas. Deutschland und der geteilte Kontinent, München 1993.