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Aus den Anfängen der Revision der sowjetischen Deutschlandpolitik. Ein Dokument zur Deutschen Frage aus dem Jahre 1987 | APuZ 14/1994 | bpb.de

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APuZ 14/1994 Rückblick auf die Entspannung Der goldene Angelhaken: Entspannungspolitik und Systemwandel Die Ostpolitik der konservativ-liberalen Bundesregierung seit dem Regierungsantritt 1982 Neue Ostpolitik und das Bild der Sowjetunion von 1968 bis 1975 Aus den Anfängen der Revision der sowjetischen Deutschlandpolitik. Ein Dokument zur Deutschen Frage aus dem Jahre 1987

Aus den Anfängen der Revision der sowjetischen Deutschlandpolitik. Ein Dokument zur Deutschen Frage aus dem Jahre 1987

Wjatscheslaw Daschitschew

/ 37 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Schon frühzeitig gab es Stimmen im sowjetischen Machtapparat, die für eine Lösung der deutschen Frage eintraten, denn eine solche lag auch im Interesse der damaligen Sowjetunion. Befürworter eines solchen Kurses hatten mit erheblichem Widerstand von seiten der Nomenklatura zu rechnen. Der Beitrag von Wjatscheslaw Daschitschew gibt Einblicke in das Innenleben dieses Systems wie auch einen Überblick über das Für und Wider der deutschlandpolitischen Argumentation im außenpolitischen Führungszirkel. Die Status-quo-Kräfte hatten sich mit ihren Ansichten ins historische Abseits manövriert, so daß sie am 9. November 1989 mit leeren Händen dastanden. Aus einem hier erstmalig veröffentlichten Dokument wird deutlich, daß es neben den beharrenden Kräften auch solche mit historischem Gespür und Weitblick gegeben hat.

Während meiner Amtszeit als Leiter der Abteilung für internationale Probleme im Institut für die Wirtschaft des sozialistischen Weltsystems der Akademie der Wissenschaften (1972-1990) wie auch als Vorsitzender des konsultativen wissenschaftlichen Beirats bei dem Amt „Sozialistische Länder Europas“ im sowjetischen Außenministerium (1987-1989) hatte ich eine seltene Gelegenheit, mich mit den Grundproblemen der sowjetischen Politik gegenüber den Ländern Ost-, Mittel-und Südosteuropas, insbesondere der DDR, auseinanderzusetzen und das außenpolitische Denken der sowjetischen Führung in diesem Bereich in einem bestimmten Maße zu beeinflussen. Schon im Laufe der siebziger Jahre reifte in mir die Einsicht heran, daß die Politik Stalins und seiner Nachfolger die Sowjetunion bald nach dem Krieg in eine Lage der hoffnungslosen Konfrontation mit dem ganzen Westen gestürzt habe und dies den nationalen Interessen des Landes zuwiderlief. Es wird vielleicht paradox klingen, wenn ich sage, daß den ersten Anstoß zu dieser Erkenntnis einer der Anführer des deutschen Widerstandes gegen Hitler, General Ludwig Beck, gab. Er wurde für mich schon Anfang der sechziger Jahre, als ich mich mit seinen Ideen vertraut machte und über ihn die ersten Artikel veröffentlichte, zum Meister des politischen und strategischen Denkens. Seine glänzenden Denkschriften an die deutsche Wehrmachtführung, die von ihm in den Jahren 1938-1939 verfaßt und später in seinem Sammelwerk „Studien“ (Stuttgart 1955) veröffentlicht wurden, betrachtete ich als ein Muster der Auseinandersetzung mit der Politik und der Strategie eines totalitären Staates, die in die nationale Katastrophe führen. Er warnte Hitler und seine militärischen Berater. Die expansive Politik Deutschlands werde unvermeidbar die Herausbildung einer Weltkoalition Englands, der USA, der Sowjetunion, Frankreichs und anderer Länder auf den Plan rufen. Und in einem hoffnungslosen Mehrfrontenkrieg gegen eine solche Koalition müßte Deutschland eine Niederlage erleiden und der Gunst oder Ungunst der Sieger anheimfallen. Bevor man den ersten Schritt macht, muß man an den letzten denken, schrieb Beck prophetisch im Hinblick auf die Pläne Hitlers, zu einer großangelegten Expansion überzugehen.

Abbildung 1

Im strategischen Sinne sah ich viel Ähnlichkeit zwischen der expansionistischen Politik Hitlers in den Jahren 1938-1945 und der messianisch-expansionistischen Politik Stalins und seiner Nachfolger in der Nachkriegszeit. Die Politik der beiden führte zum Zusammenschluß der bedrohten Länder in einer Weltkoalition, deren Ressourcen bei weitem das Potential der expansiven Macht übertrafen. Im Grunde genommen wiederholte die sowjetische Führung verhängnisvolle Fehler Hitlers: Sie stürzte das Land in einen erbitterten Kampf mit allen Westmächten, stellte der Politik und Strategie -gemessen an dem materiellen und geistigen Potential der Sowjetunion -unerfüllbare Aufgaben, die den nationalen Interessen des Landes zuwiderliefen und die Existenz der Völker gefährdeten. In beiden Fällen war der Expansionismus zum Scheitern verurteilt.

Später habe ich diese Erkenntnis in meinem zweibändigen Buch über Hitlers Strategie, das in Moskau 1973 erschien, dargelegt. Das Konzept des Buches mit seinen „unkontrollierbaren Assoziationen“ (so der Ausdruck des sowjetischen Chefideologen Suslow) führte, wie man mir erzählte, zu einer unzufriedenen Reaktion Gromykos. Das Ideengut von Beck verhalf mir jedoch, zu dem Ergebnis zu kommen: Die Ursachen des Kalten Krieges, des Rüstungswettlaufs und der gefährlichen Spannungen zwischen der Sowjetunion und dem Westen waren in der sowjetischen, ideologisch gefärbten Machtpolitik und in der gewaltsamen Errichtung der sowjetischen Herrschaft über Ost-, Mittel-und Südosteuropa zu suchen, was die Spaltung Deutschlands und des europäischen Kontinents zur Folge hatte.

Der Expansionismus Stalins und seiner Anhänger hatte auch andere verderbliche Folgen: Solange diese Machtpolitik fortdauerte und solange sie an dem von Stalin hergestellten Nachkriegs-Statusquo in Europa festhielt, gab es keine Hoffnung auf Reformen des politischen und wirtschaftlichen Systems in der Sowjetunion und in anderen Ländern der sowjetischen Einflußsphäre. Die äußere Herrschaft der Neostalinisten stand in einer engen Wechselwirkung mit ihrer inneren Herrschaft. Das hat sehr anschaulich die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ im August 1968 gezeigt.

Es war offensichtlich: Ein Volk, dem die Unterjochung anderer Völker aufgezwungen ist, kann selbst nicht frei sein. Man mußte also nach Möglichkeiten suchen, den gefährlichen antinationalen Charakter der sowjetischen Außenpolitik den politischen Kreisen in Moskau in vertraulichen Denkschriften und Gutachten allmählich klarzumachen und einen Wandel dieser Politik herbeizuführen. Schon in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre mangelte es nicht an solchen von mir und meinen Kollegen verfaßten Gutachten, die dem ZK und dem Außenministerium vom Institut vorgelegt wurden.

Natürlich durften neue Ideen damals der Öffentlichkeit nicht durch die Medien zugänglich gemacht werden. Um so mehr bezog sich das auf die Kritik der Außenpolitik. Der einzige Kanal dafür waren vertrauliche Gutachten, die für den internen Gebrauch in den höchsten Gremien der Macht bestimmt waren. Es erforderte aber großen Mut, um selbst in diesen internen Gutachten die Wahrheit zu sagen, die der Führung nicht gefallen konnte. Das kostete zwar den Wahrheitssuchenden nicht das Leben wie unter Stalin, doch es hatte oft andere schwerwiegende Folgen für sie.

Erst die Perestroika eröffnete neue Horizonte für eine freimütige Diskussion der außenpolitischen Probleme. Schon am 4. Januar 1987 verfaßte ich eine vertrauliche Denkschrift „Über einige Lehren aus unserer außenpolitischen Tätigkeit“, die an Eduard Schewardnadse geschickt wurde. Ich habe mich hier scharf mit der Außenpolitik von Breschnew und seinen Gefolgsleuten auseinander-gesetzt. Fast anderthalb Jahre dauerte es dann, bis ich Grundideen dieser Denkschrift in meinem Artikel „Ost-West: Auf der Suche nach neuen Beziehungen“ in der „Literaturnaja Gaseta“ (18. 5. 1988) veröffentlichen konnte (vgl. ebenfalls den Artikel in: Osteuropa, 5/1993). Aber auch in der Gorbatschow-Ära blieben noch viele Themen für eine längere Zeit „unantastbar“. Zu den wohl am meisten tabuisierten Themen gehörte die Deutsche Frage. Eduard Schewardnadse schrieb in seinen Memoiren, er wäre schon 1986 zu dem Schluß gekommen, daß die Wiedervereinigung Deutschlands unvermeidbar sei. „Aber zu dem Zeitpunkt, als diese Prognose gemacht wurde“, so Schewardnadse, „schien es unmöglich zu sein, solch eine Frage auf der prinzipiellen Ebene aufzuwerfen. Zu tief war in unserem Bewußtsein die Überzeugung verwurzelt, daß die Existenz von zwei Deutschland die Sicherheit des Landes und des ganzen Kontinents zuverlässig gewährleistet.“ Im April 1987 wurde ich zum Vorsitzenden des wissenschaftlich-konsultativen Beirats bei dem Amt „Sozialistische Länder Europas“ im Außenministerium ernannt. Diese Ernennung schien mir ziemlich seltsam zu sein, denn ich genoß schon lange den Ruf eines „Ketzers“ in außenpolitischen Angelegenheiten. Ich empfand daher diese Ernennung als ein Indiz dafür, daß mit Schewardnadse ein Geist der Erneuerung ins Außenministerium gekommen war. Mein Stellvertreter wurde Boris Poklad, der die Abteilung Süd-osteuropa im Außenministerium leitete. Als Geschäftsführer des Beirats fungierte Viktor Koslikin, Mitarbeiter der DDR-Sektion (jetzt Botschaftsrat in Wien). Zu den Mitgliedern des Beirats gehörten Vertreter der Führungskräfte des Außenministeriums, der ZK-Abteilung Sozialistische Länder, anderer Regierungsgremien und der Institute der Akademie der Wissenschaften. Dem Beirat wurde die Aufgabe gestellt, akute Probleme der Außenpolitik auf seinen Sitzungen zu besprechen und auf Grund der Besprechungen für Schewardnadse und nötigenfalls auch für die politische Führung insgesamt Resümees und Gutachten zu erstellen. Das erlaubte auch, den Führungskräften des Außenministeriums neue Ideen und Konzepte zu vermitteln. Im Mai 1987 beschloß ich, auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung des Beirates die Besprechung des Standes und der möglichen Entwicklung der Deutschen Frage zu setzen. Denn es gab viele Anzeichen für eine Verschlechterung der wirtschaftlichen und der politischen Lage in der DDR, die in eine Krise mit unvorhersehbaren Folgen einmünden könnte. Man mußte ferner grundsätzliche Probleme der sowjetischen Deutschlandpolitik unter den neuen Verhältnissen der Perestroika klären. Ich rief den Stellvertretenden Leiter der ZK-Abteilung Sozialistische Länder, Rafael Fedorow, an, um ihn über meine Denkansätze zu informieren. Seine Stellungnahme war alles andere als ermutigend. Er sagte, die Deutsche Frage sei „geschlossen“, nicht „diskutabel“, und es wäre nicht zweckmäßig, sie imBeirat zu besprechen. Auch der Leiter des Amtes Sozialistische Länder Europas im Außenministerium, Harald Gorinowitsch, war von meinem Vorhaben nicht begeistert. Die Sitzung wurde mehrmals verschoben und fand endlich am 27. November 1987 statt. Ein Diskussionsbeitrag wurde von mir verfaßt und im Juni 1987 in 30 Ausfertigungen den Beiratsmitgliedern sowie dem ZK und dem Außenministerium vorgelegt.

Ich ging in meinem Beitrag -der im folgenden als Dokument publiziert wird -davon aus, daß die DDR den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Wettbewerb mit der Bundesrepublik verloren habe und daher die weitere Diskreditierung der in der DDR herrschenden politisch-ideologischen Ordnung unvermeidbar sei, was das Problem der nationalen Vereinigung in einem ganz neuen Lichte darstellen werde. Die Teilung Deutschlands und die fortdauernde Existenz von zwei deutschen Staaten betrachtete ich als eine gefährliche und für die Interessen der Sowjetunion schädliche Entwicklung Europas. Von der Spaltung Deutschlands profitiere nur eine dünne Führungsschicht des Partei-und Staatsapparates und des militärischen Establishments der Sowjetunion sowie der DDR und anderer osteuropäischer Länder. Diese Spaltung diene ihr als eine zusätzliche Rechtfertigung ihrer Herrschaft und ihrer Existenz überhaupt. Für die Sowjetunion aber wäre sie eine unerträgliche wirtschaftliche, moralische und politische Bürde. Diese Spaltung stünde als eine Barriere auf dem Wege zur Beseitigung der Ost-West-Konfrontation. Unter bestimmten Verhältnissen könne sie auch zu einer Gefahr für die Perestroika werden.

Aber wie konnte dieser gordische Knoten zerhauen werden? Damals schien mir als die beste Handlungsweise die Rückkehr zur Idee der Wiedervereinigung auf der Grundlage der Neutralität Deutschlands zu sein. Ich hoffte, daß die alte Idee der Stalin-Note vom 10. März 1952 auf die politische Elite nicht sehr abstoßend wirken würde: Der Schlüssel zur Wiedervereinigung läge in Moskau und man mußte ihn gebrauchen, ehe es zu spät wäre. Meinen Vortrag schloß ich mit der Warnung: Die sowjetische Politik muß sich im klaren darüber sein, daß es in der Deutschen Frage zu unerwarteten Umbrüchen als Folge der inneren Entwicklung vor allem in der DDR und in zentraleuropäischen Ländern kommen könne.

Die Reaktion der Teilnehmer der Sitzung auf meine Überlegungen und Vorschläge war extrem negativ. Das Mitglied des Kollegiums des Außenministeriums, W. Belezki, bezeichnete meine Rede als politischen Defätismus und rief dazu auf, „die Wiederbelebung von Nekritschewismus nicht zuzulassen“ (er meinte damit die bekannte Affäre von Alexander Nekritsch vom Februar 1966, als die Besprechung seines Buches „Der 22. Juni 1941“ von den Intellektuellen, darunter auch von mir, zum Anlaß genommen wurde, um gegen die Restalinisierungspolitik der Breschnew-Riege offen zu protestieren. Das führte zur politischen Verfolgung der Teilnehmer dieser Besprechung. Ein Bericht darüber wurde im SPIEGEL, 13/1967 veröffentlicht.) Der Chef des Amtes Sozialistische Länder Europas, Harald Gorinowitsch, sowie andere Teilnehmer der Sitzung, die das Wort ergriffen, wiesen ebenfalls meine Überlegungen zurück. Nur Professor Juri Dawidow, Leiter einer Abteilung im USA-Institut, teilte meine Ansichten. Diese Sitzung des Beirates hatte im Außenministerium offenbar den Effekt einer explodierenden Bombe -so ungewöhnlich war für die meisten schon die Fragestellung und der Gegenstand der Diskussion. Gorinowitsch ordnete sogar an, alle Exemplare meines Vortrags zu sammeln und zu vernichten.

Obwohl die Sitzung mit einem negativen Resultat endete, spielte sie zweifellos eine Rolle bei der Neubesinnung in der Deutschen Frage. Denn viele Dogmen der alten sowjetischen Deutschlandpolitik wurden nach und nach in Zweifel gezogen. Das konnte auch bei Schewardnadse als dem Neuankömmling im Außenministerium, der nach neuen Wegen in der Außenpolitik suchte, nicht unbeachtet bleiben. Nichtsdestoweniger schien es, als ob sich in den Grundfragen der sowjetischen Deutschlandpolitik in der Folgezeit nichts bewegen würde. Diese Politik wurde wie früher von den eifrigen Verfechtern des Status quo -wie etwa vom langjährigen Chef des Amtes für Zentraleuropa, Bondarenko, und anderen Repräsentanten der konservativen Linie -maßgebend beeinflußt. Im Oktober 1988 wurden sie durch die Ernennung von Valentin Falin zum Leiter der Abteilung Internationale Beziehungen im ZK wesentlich verstärkt. Diese Ernennung diente eher den Interessen des Chefideologen Jegor Ligatschow als denen von Gorbatschow und Schewardnadse. Mir fiel es auf, daß selbst viele außenpolitische Experten des ZK von dieser Ernennung nicht begeistert waren. Die neuen Ideen und die neue Linie in der Außen-und Deutschlandpolitik mußten sich also in einem harten Widerstreit mit dem dogmatisch-konservativen Flügel des Partei-, Staats-und Militärapparats ihren Weg bahnen.Im folgenden dokumentieren wir das von Professor Daschitschew am 27. November 1987 auf der Sitzung des wissenschaftlich-konsultativen Beirates beim Amt für sozialistische Länder Europas des Außenministeriums gehaltene Referat.

Die „deutsche Frage“ läuft nicht nur auf das Problem der Wiedervereinigung oder auf die Beziehungen zwischen zwei deutschen Staaten hinaus. Sie stellt auch einen verwickelten Knoten der politischen, strategischen, wirtschaftlichen, ideologischen und nationalen Aspekte der Verhältnisse sowohl zwischen den Staaten beider Systeme als auch innerhalb der beiden Systeme dar.

Die wichtigste Dimension der „deutschen Frage“ in der Vergangenheit und in der Gegenwart war und bleibt ihr Einfluß auf das Kräftegleichgewicht und die Kräftekonstellation auf dem europäischen Kontinent und nicht nur dort. Während Deutschland vor dem Zweiten Weltkrieg eine Schlüsselrolle bei der Herausbildung der balance of power hauptsächlich in Europa spielte, wurde die „deutsche Frage“ in der Nachkriegszeit nicht nur mit dem europäischen, sondern auch mit dem globalen Gleichgewicht aufs engste verbunden. Daher muß jeder Wandel in der „deutschen Frage“ -sei er nun tatsächlicher oder konzeptioneller Art -vor allem unter dem Blickwinkel seiner Auswirkung auf das Kräftegleichgewicht, besonders in Europa, betrachtet werden. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, die Entwicklung der balance of power in Europa, die Vor-und Nachteile ihrer verschiedene#Varianten für die Interessen der Sowjetunion zu analysieren. Die klassische Kräftekonstellation in Europa, die sich am Ende des XIX. Jahrhunderts herausgebildet und bis Mitte des XX. Jahrhunderts funktioniert hatte, bestand aus einer von Deutschland geführten mitteleuropäischen Staatengruppierung und dem dieser widerstehenden Dreieck „Rußland (UdSSR) -Frankreich -England“, an das sich während des Krieges die USA und andere Staaten anschlossen. Zwei Versuche Deutschlands, das europäische Gleichgewicht zu seinen Güsten entscheidend zu ändern und seine Herrschaft in Europa herzustellen, endeten mit seiner totalen Niederlage. Diese klassische Kräftekonstellation in Europa gewährleistete (oder: sicherte) die nationalen Sicherheitsinteressen Rußlands (der UdSSR), Frankreichs und Englands angesichts der Gefahr eines expansionistischen Deutschlands. Die Erkenntnis dieses Umstandes fand ihren Niederschlag schon im Anfangsstadium der Formierung der konzeptionellen Grundlagen der sowjetischen Außenpolitik. Lenin erkannte die Wichtigkeit der geostrategischen Lage Frankreichs und Englands für Sowjetrußland als Gegengewicht gegen Deutschland. Während der Brest-Litowsker Verhandlungen forderte er entschieden, in das Waffenstillstandsabkommen mit Deutschland eine Klausel aufzunehmen, welche die Verschiebung der deutschen Truppen von der Ost-an die Westfront verbot. So bekundete die sowjetische Regierung Rücksichtnahme auf die Interessen der westlichen Alliierten, denen das deutsche Oberkommando nach dem Ausscheiden Rußlands aus dem Krieg den entscheidenden Schlag zu versetzen plante.

Die Vorteile der Vorkriegskräftekonstellation in Europa für die sowjetischen Interessen lagen nicht nur darin, ein Gegengewicht gegen die deutsche Aggression sichergestellt zu haben. Ihre weitere Besonderheit bestand darin, daß sie das Entstehen einer gemeinsamen Front der Westmächte gegen die Sowjetunion ausschloß. Denn Frankreich und England brauchten nicht weniger als Rußland ein wirksames Gegengewicht gegen Deutschland. Diese nationalen und staatlichen Interessen Englands und Frankreichs hatten letzten Endes Vorrang vor den ideologischen Gegensätzen zur Sowjetunion.

In der Nachkriegszeit vollzog sich eine schroffe Störung des europäischen Gleichgewichts zugunsten der Sowjetunion als Folge der Niederlage Deutschlands und der Ausweitung der sowjetischen Vormachtstellung auf Ost-und Zentral-europa. Die neue Kräftekonstellation in Europa brachte für die Sowjetunion neben einer Reihe von großen Vorteilen auch sehr unerwünschte Folgen. Das Machtvakuum, das sich nach dem Zusammenbruch Deutschlands herausgebildet hatte, wurde durch die USA ausgefüllt. Deren politische und militärische Präsenz auf dem europäischen Kontinent verwandelte sich in einen dauerhaften Faktor der antisowjetischen Politik. Alle Westmächte vereinigten sich in der NATO gegen die Sowjetunion, Westdeutschland mit seinem mächtigen militärischen und wirtschaftlichen Potential wurde in diesen Block einbezogen. Offensichtlich erkannte Stalin, wie verderblich solch eine Kräftekonstellation in Europa für die Interessen der Sowjetunion war. Er unternahm Versuche, ihre endgültige Etablierung nicht zuzulassen. Im März 1952 wurde in der bekannten sowjetischen Note an die Westmächte vorgeschlagen, Deutschland auf der Grundlage seiner Neutralisierung zu vereinigen. Falls dieses Angebot angenommen worden wäre, hätte Europa zu einer Art Vorkriegsordnung mit deren traditioneller Kräftekonstellation zurückkehren können. Dadurch wäre der amerikanischen Präsenz in Europa der Boden entzogen worden; die Existenz der NATO wäre ohne den deutschen militärischen Beitrag irreal geworden. Die außenpolitischen Akzente Frankreichs und Englands hätten nach der Logik der Dinge eine deutlichere antideutsche Ausrichtung angenommen.

Man kann über die wahren Absichten Stalins streiten, die er mit dieser Note verfolgte. Aber es kann kaum bezweifelt werden, daß die Beseitigung der einheitlichen antisowjetischen Front der Westmächte den Lebensinteressen der Sowjetunion entsprach. Wahrscheinlich war sich Stalin dessen bewußt.

Daß die sowjetische Note zurückgewiesen wurde, läßt sich durch eine Reihe von Gründen erklären. Die Westmächte hatten ein tiefes Mißtrauen gegen die Politik Stalins. Sie waren davon überzeugt, er werde die sowjetische Einflußsphäre weiter nach Westen vorschieben und dabei alle Mittel -und zwar nicht so sehr militärische als vielmehr propagandistisch-ideologische -ausnutzen, um die Bevölkerung Deutschlands zu beeinflussen. Für den Westen war diesowjetische Vorherrschaft in Osteuropa unannehmbar. Diese hätte in Verbindung mit der Neutralisierung Deutschlands günstige strategische Positionen für die Sowjetunion sicherstellen und Druck auf den Westen ermöglichen können. Erwähnt werden muß auch der psychologische Schock, der in den politischen Kreisen des Westens hervorgerufen worden war durch das 1950 begonnene Unternehmen zur Wiedervereinigung des gespaltenen Korea mittels Anwendung militärischer Gewalt. Eine nicht unbedeutende Rolle spielten auch die Hoffnungen des Westens, insbesondere der rechten Kreise der Bundesrepublik, das in Europa entstandene Kräfteverhältnis im Laufe der Zeit zu ihren Gunsten zu ändern, d. h. vor allem Deutschland nach den Bedingungen zu einigen, indem es in der westlichen Allianz bleiben sollte. Statt der vom Westen erwarteten Erosion des entstandenen Status quo vollzog sich in den folgenden Jahrzehnten dessen immer stärkere Festigung, bis dies schließlich relativ erstarrte Formen annahm. Zu seinem markantesten Wesenszug wurden die Spaltung Deutschlands und die Konsolidierung, von zwei Staaten unterschiedlicher sozio-politischer Ordnung auf deutschem Boden. Zum Hauptgaranten der Unverbrüchlichkeit der entstandenen europäischen Ordnung wurde das Gleichgewicht der militärischen Kräfte und des „nuklearen Schireckens“. Es stellt sich die Frage: Wie stabil ist diese Ordnung, welche Kräfte sind interessiert, sie zu ändern, und welche setzen sich dafür ein, sie zu erhalten? Aus meiner Sicht wäre es fehlerhaft, sich darauf zu verlassen, daß das Gleichgewicht der Abschreckungsfaktoren den bestehenden Status quo auf lange Sicht aufrechterhalten kann. Unter dem Schleier solch eines Gleichgewichts setzen in der inneren Entwicklung der Staaten der beiden Blöcke soziopolitische und wirtschaftliche Prozesse ein, die von niemandem kontrolliert werden können. Unter bestimmten Umständen sind sie dazu imstande, einen ernstlichen Wandel der Kräftekonstellation in Europa herbeizuführen, den keine militärische Abschreckung verhindern könnte.

Die gegenwärtige europäische Ordnung, die auf der Spaltung der deutschen Nation und auf der nuklearen Abschrekkung beruht, ist an und für sich anomal. Sie birgt in sich unvergleichlich größere Gefahren für die internationale Gemeinschaft als das nach dem Ersten Weltkrieg geschaffene Versailler System. Dieser Sachverhalt kann den Interessen aller europäischen Länder sowie der Vereinigten Staaten nur zuwiderlaufen. Andererseits aber ist es für alle klar, daß der geschichtlich entstandene Status quo eine Realität ist, mit der man leben muß, und daß jeder Versuch, ihn zu ändern, eine abrupte Störung der Stabilität und der Sicherheit in Europa und außerhalb desselben bedeuten würde.

Die Einstellung der Westmächte zum bestehenden Status quo und zur „deutschen Frage“ ist nicht eindeutig und durch Widersprüche gekennzeichnet. Einerseits können sie sich alle mit der europäischen Nachkriegsordnung nicht abfinden und würden gern den sowjetischen Einfluß aus Zentral-und Südosteuropa verdrängen. Andererseits zieht jeder von ihnen bestimmte Vorteile aus der bestehenden Kräftekonstellation, die es ihnen ermöglicht, die politische und militärische Präsenz in Zentraleuropa zu sichern, die Entwicklung der Ereignisse in dieser Region unter ihrer Kontrolle zu halten und Rechte in bezug auf die Lösung der „deutschen Frage“ und auf den Status von Berlin auszuüben. Im Bonner Generalvertrag von 1952 und später im Deutschlandvertrag, der zum Bestandteil der Pariser Verträge von 1954 wurde, erklärten die Westmächte ihre Verpflichtung, mit der Bundesregierung im Interesse der Wiedervereinigung Deutschlands im Rahmen der westlichen Allianz zusammenzuarbeiten. In der Folgezeit bestätigten sie periodisch diese Verpflichtungen. Im bekannten Harmel-Bericht von 1967, welcher der NATO-Strategie für die siebziger Jahre zugrunde gelegt wurde, ist die Lösung der „deutschen Frage“ in den Kontext der Sicherheit des Westens eingebettet worden.

Die erwähnten Absichten der Westmächte blieben jedoch leere Deklaration und fanden keinen Niederschlag in der „operativen Politik“ der NATO. Für Frankreich wurde die Teilung Deutschlands zu einer wichtigen Voraussetzung für die Gewährleistung seiner Sicherheit und für die Realisierung der französischen Ambitionen im Rahmen der westlichen Allianz, obwohl alle französischen Präsidenten, von de Gaulle bis Mitterrand, die „natürlichen Rechte“ der deutschen Nation auf Wiedervereinigung mit Worten anerkannten. Die derzeitige französische Politik der Annäherung an die Bundesrepublik in der politischen und militärischen Sphäre einschließlich der Proklamierung des westdeutschen Territoriums zum Vorfeld der Verteidigung Frankreichs setzt sich nach meiner Meinung unter anderem das Ziel, den bestehenden Status der „deutschen Frage“ zu verankern. Die gegenwärtige balance of power, bei der die gewachsene Stärke der Sowjetunion und deren vorgeschobenen Stellungen in Zentraleuropa durch die außereuropäische Macht USA und die westeuropäischen Staaten, die sich in der NATO vereinigt haben, ausgeglichen werden, entspricht durchaus den traditionellen Interessen der englischen Politik. Für sie wären jegliche Änderungen an dieser balance of power eine Abkehr vom Zustand der Berechenbarkeit hin zu Ungewißheit und Unbestimmtheit. Außerdem mag das in einem Zusammenhang stehen mit der eventuellen Notwendigkeit, den britischen Beitrag zur europäischen Verteidigung zu vergrößern, falls es beispielsweise zu einer Reduzierung der militärischen Präsenz der USA in Europa käme.

Den Vereinigten Staaten ermöglicht es der europäische Status quo, in Westeuropa die dominierenden politischen und militärischen Positionen zu wahren und das ganze System der internationalen Beziehungen auf dem europäischen Kontinent zu beeinflussen. Seitdem Staatssekretär Byrnes 1946 das Konzept „Amerika -das ist Deutschland“ verkündet hat, d. h. die Absicht Washingtons, das deutsche Territorium wie das eigene zu verteidigen, hat sich die Situation in Europa grundlegend verändert. Eines der Hauptziele der Nachkriegspolitik der USA ist erreicht worden -nämlich das deutsche Wirtschafts-und Militärpotential wiederherzustellen, es in das Gesamtpotential Westeuropas einzugliedern und Westeuropa zum Widerstand gegen die Sowjetunion zu befähigen. Das gab Washington die Möglichkeit, seinen Beitrag zur NATO zu kürzen, der lange 70 Prozent und in den letzten Jahren etwa 50 Prozent der Militärausgaben dieses Bündnisses ausgemacht hatte. Die Notwendigkeit, eine Überhitzung der amerikanischen Wirtschaft infolgeübermäßig hoher Militärausgaben zu verhindern und die riesigen Staatsschulden der USA zu reduzieren, die das internationale Finanzsystem fiebrig werden läßt, kann die amerikanische Administration dazu anregen, entschlossene Schritte in Richtung auf eine Reduzierung der militärischen Präsenz der USA in Europa zu unternehmen. In dieselbe Richtung könnten die amerikanische Politik auch andere Gründe drängen.

1. Nach Herstellung einer annähernden strategischen Parität zwischen den USA und der Sowjetunion wurde es für Washington gefährlich, die „nukleare Geisel“ der Westeuropäer zu bleiben und das Schicksal des eigenen Landes selbst von Zufällen und Zwischenfällen abhängig zu machen, die zum Auslöser eines Nuklearkrieges werden könnten.

2. In den letzten Jahren verstärkte sich zusehends der Antiamerikanismus im Zusammenhang mit der militärischen Präsenz und den militärischen Aktivitäten der USA auf dem Territorium der westeuropäischen Staaten.

3. In den gesellschaftlichen und politischen Kreisen der Bundesrepublik nimmt das Streben nach Überwindung der Spaltung Deutschlands oder zumindest nach Verringerung der negativen Folgen dieser Spaltung für die Kontakte zwischen den Bürgern der Bundesrepublik und der DDR zu. Das schafft eine bestimmte Spannung in den Beziehungen zwischen den USA und der Bundesrepublik in den Fragen der „Ostpolitik“.

4. Der Wandel in der sowjetischen Außenpolitik, der sich in den letzten zwei Jahren vollzogen hat und der zur Verbesserung der Beziehungen zum Westen führte, zerstreute wesentlich die im Westen über die Sowjetunion als einer expansiven Macht entstandenen Vorstellungen, die beständig als Rechtfertigung für die Unterhaltung und das Anwachsen der Militärmacht der USA in Europa gedient hatten.

Man muß auch Rücksicht nehmen auf die in amerikanischen Regierungskreisen weit verbreitete Meinung, daß keine Rede von einer Liquidierung der amerikanischen militärischen Verpflichtungen gegenüber Westeuropa sein könne, solange es keine klaren Beweise für den Verzicht der sowjetischen Führung auf außenpolitische Zielsetzungen einer Ausweitung der Sphäre der „sowjetischen Herrschaft“ gebe. Nichtsdestoweniger wird in den USA immer häufiger die Frage aufgeworfen, ob die westliche Welt nicht beginnen müsse, über eine Transformation von der Nachkriegsordnung zu einem System nach den Blöcken nachzudenken, das sich auf die Vereinigung Deutschlands und den Abzug der amerikanischen Truppen aus Europa gründen werden.

Der mögliche Abbau der amerikanischen militärischen Präsenz in Europa und die Perspektive einer Verringerung der nuklearen Garantien der USA für die Verbündeten stößt in den westeuropäischen Ländern nicht auf Begeisterung. Als Hauptmotiv der Unzufriedenheit dient wohl nicht so sehr die Aussicht, die abzuziehenden amerikanischen Trup'pen ersetzen zu müssen, als die Besorgnis, Deutschland könne im Ergebnis eine dominierende Stellung einnehmen.

Im Zusammenhang damit zeichnen sich für die amerikanische Politik perspektivisch zwei Handlungsvarianten ab. Entweder unterstützt sie die Etablierung eines selbständigen militärpolitischen und wirtschaftlichen Bündnisses Westeuropas, in das die Bundesrepublik integriert wird. Oder sie wird unter bestimmten Verhältnissen der Wiederherstellung der Einheit Deutschlands -als der Hauptmacht, die fähig ist, den Abzug der amerikanischen Truppen zu kompensieren -bzw.der Realisierung einer anderen Variante der Lösung der „deutschen Frage“ zustimmen müssen.

Im ersten Fall hätten es die USA mit einem mächtigen politischen und wirtschaftlichen Konkurrenten zu tun; die fortdauernde Spaltung Deutschlands wäre auch weiterhin ein Faktor, der die Lage in Europa destabilisiert und die Sicherheitsinteressen der USA und der Sowjetunion miteinander konfrontiert; die „deutsche Frage“ bliebe so wie früher störend für die europäische Sicherheit.

Im zweiten Fall handelte es sich um eine Rückkehr zur europäischen balance of power, die es der amerikanischen Politik erlauben würde, die Ereignisse in Europa von jenseits des Ozeans zu beobachten und zu beeinflussen, ohne in sie unmittelbar verwickelt zu werden, was ein unvergleichbar hohes Niveau der Sicherheit und des außenpolitischen Spielraumes der USA bei niedrigen wirtschaftlichen Kosten versprechen würde. Selbstverständlich muß Washington davon ausgehen, daß die Realisierung der Vorhaben im Sinne der erwähnten Varianten vom allgemeinen Zustand der Ost-West-Beziehungen, vor allem zwischen den USA und der Sowjetunion, von der Haltung Frankreichs und Englands, der Bundesrepublik und der DDR sowie von einem bestimmten Ausgleich der Sicherheitsinteressen der europäischen Länder abhängt. Dabei müßten die USA Stellung nehmen zu möglichen Varianten der Lösung der „deutschen Frage“ (die fortdauernde Existenz von zwei antagonistischen Staaten, ein geeintes neutrales Deutschland, Neutralisierung der bestehenden deutschen Staaten usw.).

Ungeachtet dessen, daß die Schärfe der „deutschen Frage“ im Ergebnis der Normalisierung der Beziehungen zwischen den osteuropäischen Staaten und der Bundesrepublik wesentlich abgenommen hat, regt sie unterschwellig mit steigender Kraft die Bevölkerung der Bundesrepublik und der DDR auf. Das ist offenkundig dadurch zu erklären, daß eine neue Generation der Deutschen in das gesellschaftliche Leben eingetreten ist. Diese ist nicht gewillt, sich mit der Lage der geteilten Nation und mit dem Verbot der freien Kontakte zwischen den Bürgern der Bundesrepublik und der DDR abzufinden. Einen anderen Grund für das Anwachsen des nationalen Bewußtseins und der nationalen Unzufriedenheit der Deutschen liegt in der Verstärkung der militärischen Gefahr im Zusammenhang mit der Verschärfung der Ost-West-Beziehungen Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre und mit der gefährlichen Konfrontation der Hauptkräfte der NATO und des Warschauer Pakts (WP), die auf dem deutschen Territorium stationiert sind, aber durch die deutsche Öffentlichkeit nicht kontrolliert werden können. Von der Entwicklung dieser Tendenz in derbundesdeutschen Bevölkerung zeugen z. B. die Ergebnisse der Umfragen, die durch das Allensbacher Institut für Demoskopie von 1978 bis 1984 in der Bundesrepublik durchgeführt wurden. Auf die Frage: „Wollen Sie die Wiedervereinigung Deutschlands unter der Bedingung, daß die DDR aus dem Warschauer Pakt und die Bundesrepublik aus der NATO austreten, das vereinigte Deutschland neutral und bündnisfrei wird und seine Staatsordnung durch freie und geheime Wahlen bestimmt wird?“ wurden folgende Antworten gegeben (in Prozent):

Daraus ist ein stabiles Wachstum der Stimmung in der Bundesrepublik zugunsten der Wiedervereinigung Deutschlands auf der Grundlage der Neutralität ersichtlich. Im politischen und gesellschaftlichen Denken der Bundesrepublik zur

„deutschen Frage“ zeichneten sich einige Strömungen ab:

1. Die offizielle CDU/CSU-Linie, die gegenwärtig ihren Niederschlag in der Politik der Bundesregierung findet, fordert die Wiedervereinigung Deutschlands und eine Integration des wiedervereinigten Landes in das Nordatlantische Bündnis und in die Europäischen Gemeinschaften. Die Idee einer Neutralisierung Deutschlands wird völlig abgelehnt. Obwohl die Regierung Kohl die Verträge der Bundesrepublik mit der Sowjetunion und mit anderen sozialistischen Ländern unterzeichnet hat, die ihre Beziehungen auf der Grundlage der sozio-politischen und territorialen Nachkriegsrealitäten regeln, betont sie ständig die Offenheit der „deutschen Frage“. Dabei verweist sie auf den Artikel des Grundgesetzes der Bundesrepublik, in dem das Ziel der deutschen Politik definiert wird: nämlich auf einen solchen Zustand des Friedens in Europa hinzuarbeiten, bei dem das deutsche Volk seine Einheit in freier Selbstbestimmung wiedererlangt. Das gegenwärtige Konzept der Ostpolitik der CDU/CSU sieht eine Lösung der „deutschen Frage“ vor, welche die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion und anderer osteuropäischer Länder nicht berücksichtigt. Es hat zum Ziel, internationale Bedingungen zu schaffen, die es ermöglichten, so weit wie möglich die Türen für die Kontakte der Bevölkerung beider deutscher Staaten auf allen Ebenen und in allen Bereichen zu öffnen, um die „gesamtdeutsche Identität“, das Gefühl der Zusammengehörigkeit zu der einen deutschen Nation und Kultur aufrechtzuerhalten und zu stärken und damit den Boden vorzubereiten für eine grundlegende Einbeziehung der DDR in das politische, wirtschaftliche und kulturelle Magnetfeld der Bundesrepublik mit anschließender Wiedervereinigung in einem günstigen Augenblick. Die Neutralität des geeinten Deutschland wird darum für unannehmbar gehalten, weil es in diesem Fall keine unabhängige Politik treiben könnte; es würde dann Opfer des Druckes von seiten der Sowjetunion werden, die, Osteuropa unter ihrer Kontrolle haltend, ohne Mühe ihre Herrschaft auch auf Zentraleuropa ausdehnen könnte. Einer großen Militärmacht wie der Sowjetunion könne Deutschland nur gemeinsam mit anderen westlichen Ländern widerstehen. Daraus ergibt sich die Schlußfolgerung: Eckpfeiler der bundesdeutschen Politik müsse die Westintegration sein. In diesem Punkt sehen die Kritiker des CDU/CSU-Konzepts dessen Hauptgegensatz zu den langfristigen nationalen Zielen der Wiedervereinigung Deutschlands. Aus ihrer Sicht ist die Integration der Bundesrepublik im Rahmen der westlichen Allianz, wie die Ereignisse seit 1949 zeigten, mit der Erreichung der nationalen Ziele unvereinbar und rückt die Erlangung dieser Ziele in die Ferne. Unter dem Druck der realen Entwicklung korrigiert die CDU-Führung ihr außenpolitisches Konzept, indem sie -im Unterschied zu früheren Zeiten, als sie eine harte Westorientierung eingeschlagen hatte -ihre West-und Ostpolitik flexibler und ausgewogener abzustimmen sucht. Die Regierung Kohl ist jetzt einem starken Druck der radikalen Kreise von rechts und links ausgesetzt und wird von ihnen aufgefordert, eine klarere und zielstrebigere Position in der Frage der Wiedervereinigung Deutschlands einzunehmen. Man hört schon Stimmen: Nicht staatsrechtliche Modelle der Annäherung der beiden Teile Deutschlands seien erforderlich, sondern ein allumfassendes, auf die Änderung der existierenden Lage gerichtetes strategisches Denken, das sich besonders auf die Sowjetunion konzentriert, weil die Einheit Deutschlands deren natürlichen Interessen nicht zuwiderlaufe. Die Frage wird sogar so gestellt: Die Einstellung zum Problem der Wiederherstellung eines geeinten Deutschlands müsse ein Kriterium für die Wahl der Verbündeten oder der Gegner unter den Ländern sowohl des Westens als auch des Ostens sein.

Selbstverständlich kann man von der CDU/CSU-Führung irgendeine Form der Rückkehr zur traditionellen deutschen Politik des Lavierens zwischen den europäischen Mächten nicht erwarten. Man darf jedoch nicht außer acht lassen, daß sie unter bestimmten Verhältnissen zu diesen Methoden für die Erreichung ihrer Ziele greifen und die Interessen der Sowjetunion mit einem größeren Verständnis berücksichtigen wird.

2. Die zweite Tendenz, die in der Bundesrepublik immer mehr an Stärke gewinnt, spiegelt die Stimmung jener Kreise der westdeutschen Öffentlichkeit wider, die der Meinung sind, das alte außenpolitische Konzept der Rechten und des Zentrums sei fruchtlos, weil das Problem der Wiedervereinigung Deutschlands im Rahmen der westlichen Integration und gegen die Sicherheitsinteressen der Sowjetunion nicht gelöst werden könne. Aus der Sicht der Repräsentanten dieser Strömung haben die westlichen Länder kein Interesse an der Lösung der „deutschen Frage“; der Schlüssel dazu liege in Moskau, und die sowjetische Politik könne sogar einseitig die Wiedervereinigung Deutschlands betreiben, was eine breite Unterstützung der Bevölkerung der Bundesrepublik und der DDR finden und die Westmächte in eine schwierige Lage versetzen würde. Dabei wird die Frage nach den Interessen der DDR als eines sozialistischen Staates einfach übergangen, als ob sie keine wesentliche Bedeutung für die Sowjetunion hätte. Als Grund dafür wird dieMeinung geäußert, nur die CDU/CSU-Riege und eine dünne Schicht der Parteiführung in der DDR träten gegen die Idee der Wiedervereinigung Deutschlands und ihrer Neutralisierung auf, während die überwiegende Mehrheit des deutschen Volkes im Osten und im Westen diese Idee sehr stark unterstütze. Der Kreis der Befürworter der Wiedervereinigung Deutschlands nimmt ständig zu. Dazu gehören die Vertreter sowohl des rechten und nach der Mitte hin orientierten als auch des linksliberalen Flügels der westdeutschen Öffentlichkeit. Es fällt auf, daß viele Generäle und Offiziere der Bundeswehr, die pensioniert wurden -wie Kießling, Löser u. a. -aktive Verfechter dieser Idee werden. Nach vorhandenen Angaben wird diese Bewegung von einem Teil der Handels-, Industrie-und Finanzkreise der Bundesrepublik unterstützt. Die Idee der Wiedervereinigung Deutschlands gemäß den Prinzipien seiner Neutralisierung wird immer breiter in den Massenmedien und in den wissenschaftlichen und politischen Schriften der Bundesrepublik propagiert. Man kann mit einer Institutionalisierung dieser Bewegung mittels eigener Presseorgane rechnen.

3. Die Anhänger der dritten Strömung -hauptsächlich sind das die Linken, Sozialdemokraten, Liberale und die „Grünen“ -sehen die Lösung der „deutschen Frage“ nicht so sehr in der Wiedervereinigung, die ihnen für die absehbare Zukunft als nicht real scheint, als in der Beseitigung aller Barrieren des menschlichen Verkehrs, der geschäftlichen, wissenschaftlichen, kulturellen und anderer Kontakte zwischen den Bürgern beider deutscher Staaten im Zuge der Schaffung einer Lage des Friedens und der allumfassenden Sicherheit auf dem europäischen Kontinent. In diesem Fall könnte sich die „deutsche Frage“ in einer entfernten Zukunft in passender Form und zur Genugtuung des ganzen deutschen Volkes sowie der Nachbarstaaten von selbst lösen. Ihren Niederschlag fand diese Position in dem Plan des ersten Vertreters der Bundesrepublik in der DDR, Günter Gaus. Dieser Plan wurde von ihm in einem Vortrag dargelegt, den er am 6. April 1987 im Londoner Institut für internationale Beziehungen hielt. Sinngemäß sieht der Plan so aus:

Die vier Großmächte -die UdSSR, die USA, England und Frankreich -unterzeichnen einen Friedensvertrag mit der Bundesrepublik und der DDR. Die letzteren gestalten ihre Beziehungen miteinander als vollständig souveräne Staaten. Ost-Berlin wird als die Hauptstadt der DDR anerkannt, während West-Berlin den Status eines Landes der Bundesrepublik erhält. Aus dem Grundgesetz der Bundesrepublik wird der Artikel gestrichen, der als Ziel ihrer Politik die Wiedervereinigung Deutschlands verkündet. So wird die Schärfe der „deutschen Frage“ aufgehoben. Dadurch werden die Hauptquellen der politischen und der militärischen Spannung in Zentraleuropa weggeräumt und reale Voraussetzungen für eine wesentliche Erweiterung der gesamteuropäischen Zusammenarbeit geschaffen. Die Schranken für das Zusammenwirken zwischen der Bundesrepublik und der DDR werden bedeutend reduziert. Zu Garanten solch eines internationalen Systems müssen die Westmächte und die Sowjetunion werden. Die militärischen Bündnisse -die NATO und der Warschauer Pakt -werden aufrechterhalten, obwohl im Laufe der Zeit und als Folge der Streichung der „deutschen Frage“ von der Tagesordnung der europäischen Politik die Voraussetzungen für die Überwindung der Blockstruktur der internationalen Beziehungen entstehen können.

4. Im engen Anschluß an diese Strömung fungiert ein anderes -vor allem von den „Grünen“ vertretenes -Konzept, demzufolge beide deutsche Staaten neben der Erlangung der vollen Souveränität und der gegenseitigen Anerkennung de jure jeweils aus der NATO und dem Warschauer Pakt austreten und zu neutralen Staaten werden. In diesem Fall könnten sie eine Konföderation der beiden deutschen Staaten bilden.

Die Analyse der Entwicklung des politischen Denkens und der außenpolitischen Konzepte in der Bundesrepublik im letzten Jahrzehnt zeugt davon, daß sich die nationale Bewegung in der westdeutschen Gesellschaft zugunsten der Überwindung der gegenwärtigen Situation der Getrenntheit beider Teile Deutschlands und die Suche nach alternativen Wegen der Lösung der „deutschen Frage“, die sich wesentlich von dem eingeschlagenen politischen Kurs der Regierung Kohl unterscheiden, merklich verstärkt haben. Es wäre falsch, diese Bewegung als nationalistisch oder gar als revanchistisch zu definieren. Sie wirft nicht die Frage nach der Neuregelung der Nachkriegsgrenzen auf und stellt die Lösung der „deutschen Frage“ in einen engen Zusammenhang mit der gesamteuropäischen Sicherheit und mit den Interessen der Sowjetunion, indem sie sich darüber im klaren ist, daß Gewaltmethoden zur Erreichung der nationalen Ziele vollkommen unakzeptabel sind. Aber man darf auch nicht außer acht lassen, daß radikale und sogar extremistische Tendenzen im westdeutschen Herangehen an nationale Probleme zunehmende Stärke gewinnen könnten. Davon zeugen die Erfahrungen von Versailles.

Das Plätschern des nationalen Selbstbewußtseins und die Aktivierung der Suche nach nationalen Lösungen in der Bundesrepublik könnten die Politik Bonns in der nationalen Frage beeinflussen. Diese Tendenz in dem politischen Leben der Bundesrepublik gibt auch der Politik der Nachbarländer über die Zukunft des „deutschen Problems“ zu denken und veranlaßt sie dazu, nach den Antworten auf diese Neuerscheinungen zu suchen. Alternativvarianten für eine Lösung der „deutschen Frage“ rufen in Frankreich, England und den USA sowie in den kleineren westeuropäischen Staaten insgesamt eine negative Resonanz hervor, obwohl man den neuen Realitäten Rechnung trägt, die im europäischen Leben entstehen könnten. Die englische Zeitschrift „The world today“ reagierte zum Beispiel auf den oben erwähnten Plan von G. Gaus wie folgt: „Gegenwärtig scheint der bestehende Status quo vorteilhaft zu sein. Er hält die vier Mächte in ihrer gemeinsamen Verantwortung für Berlin und in einem bestimmten Maß für Deutschland insgesamt zusammen... Aber in der Vorausschau läßt es sich unschwer vorstellen, daß die verworrenen Konturen des Projekts von Gaus an einem Tag in der Zukunft klarere Umrisse annehmen könnten. Die gegenwärtige Konfrontation in Europa kann nicht und soll nicht ewig dauern. Doch kein Mensch, der die Geschichte einigermaßen kennt, kann sich bei der Idee wohlfühlen, daß alles zu einem Nach-Habsburger Europa frei driftender Staaten zurückkehrt. Eine gewisse Karkasse (Gerippe) ist notwendig, und sie kann mittels Garantien der zusammenwirkenden Supermächte geschaffen werden. Diese Karkasse wird die innere Freiheit für deutsche Kontakte auf Kosten einer bestimmten Einschränkung der außenpolitischen Freiheiten sichern. Sie könnte die zwei Deutschlands durch ausländische Truppen eindämmen, die auf ihren Territorien stationiert sind. Das könnte jedoch nur das Ergebnis eines bedeutenden Wandels in den Ost-West-Beziehungen sein, der nicht unbedingt durch eine begrenzte deutsche Regelung beschleunigt werden würde. Während man die deutsche Frage offenhält, wäre es wahrscheinlich leichter, auch die europäische Frage offen-zuhalten. Diese Gedankengänge scheinen die Einstellung Englands, Frankreichs und anderer westeuropäischer Länder zu alternativen westdeutschen außenpolitischen Konzepten und zur „deutschen Frage“ überhaupt widerzuspiegeln, obwohl sie natürlich ihre eigenen, spezifisch englischen Züge haben. Ich möchte die in diesen Ländern ziemlich verbreitete Meinung hervorheben, gemäß der die deutsche Regelung abgeleitet werden müsse von einer gesamteuropäischen Regelung und von einer Überwindung der Spaltung Europas, von einer allmählichen Transformation der Politik der Konfrontation in eine Politik der gesamteuropäischen Zusammenarbeit und von einer darauf aufbauenden radikalen Reorganisierung der Ost-West-Beziehungen. Die Voraussetzungen dafür würden sich nach Maßgabe der Abkehr der Sowjetunion von ihren hegemonialen Zielsetzungen in Osteuropa und von einer Demokratisierung ihrer Beziehungen zu den osteuropäischen Ländern vergrößern.

Im Unterschied dazu gehen die Anhänger der westdeutschen alternativen Konzepte davon aus, daß die Lösung der „deutschen Frage“ unabhängig vom Ablauf der Prozesse der Annäherung beider Teile Europas und unabhängig von der Verbesserung der Ost-West-Beziehungen in Angriff genommen werden müsse. Vom Standpunkt ihrer Argumente aus würde sich die Überwindung der Spaltung Deutschlands oder mindestens die Beseitigung der Schärfe der „deutschen Frage“ wohltuend auf die Überwindung der Spaltung Europas und auf die Milderung der Konfrontation zwischen den Ländern der beiden Systeme auswirken. Ihr Motto lautet: „Europäischer Frieden durch deutsche Einheit.“

Unter dem Einfluß der wachsenden Unzufriedenheit breiter Gesellschaftskreise der Bundesrepublik mit dem gegenwärtigen Stand der nationalen Frage appellieren die USA, Frankreich und England an die nationalen Gefühle der Deutschen in beiden deutschen Staaten, indem sie ihre Solidarität mit den westdeutschen Losungen und Thesen „Vereinigung Deutschlands“, „Offenheit“, „Ungelöstheit der deutschen Frage“ demonstrieren. In den jüngsten Äußerungen von Reagan, Bush, französischer und englischer Politiker in Bonn und in West-Berlin wurde eine volle Aussöhnung der Amerikaner, Engländer und Franzosen mit dem deutschen Volk lautstark verkündet. Der aus diesem Anlaß in Bitburg durchgeführte üppige Festakt schmeichelte dem nationalen Selbstgefühl der Deutschen sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR sehr. Vor dem Hintergrund der offenen Lebensweise im Westen, die es zum Beispiel ermöglicht, eine französisch-westdeutsche Brigade zu formieren oder breite Kontakte der Armeeangehörigen mit der einheimischen deutschen Bevölkerung zur Norm zu machen, steht die strenge Isolierung der sowjetischen Militärs von der Bevölkerung der DDR in einem unansehnlichen Lichte da. Die extreme Einschränkung der menschlichen Alltags-kontakte mit sowjetischen Bürgern hat eine äußerst negative psychologische Einwirkung auf die Bevölkerung in beiden deutschen Staaten. Dieser Umstand ruft ein starkes Mißtrauen und einen Mißmut gegenüber der sowjetischen Politik hervor. In der DDR bewirkt dies eine Ausweitung der prowestlichen und nationalistischen Stimmungen. Die sowjetische Politik selbst stärkt diese Stimmungen, indem sie nichts unternimmt, um die im Krieg entstandene psychologische Hinterlassenschaft zu überwinden sowie „Feindbilder“ bezüglich unserer Auffassung über die Bundesrepublik, ihrer Politik und ihrer Bürger abzubauen. Beispielsweise konnte oder wollte unsere Politik Bitburg nichts entgegensetzen. Das war ein grober Fehler. Es sah so aus, als ob wir die Deutschen in die westliche Umarmung stießen, indem wir darüber schimpften, daß Reagan und Kohl über den Gräbern der gefallenen deutschen Soldaten einander die Hand reichten. Es ist schon lange an der Zeit, das bei uns steckengebliebene Syndrom des vergangenen Krieges loszuwerden. Im Laufe von 40 Jahren hat sich die internationale Situation grundlegend geändert. Unser Hauptrivale sind jetzt andere Mächte. Trotzdem neigen wir dazu, nach wie vor die Bundesrepublik für diesen Rivalen zu halten. In der Politik muß man sich nicht von Emotionen und von Erlebnissen der Vergangenheit, sondern von Interessen und nüchternen Kalkulationen leiten lassen.

Nicht flexibel und politisch nachteilig ist die von der DDR-Führung vertretene These, „die deutsche Frage“ sei endgültig entschieden. An Plumpheit, übermäßiger Härte und Gradlinigkeit leidet der Leitsatz, die kapitalistische Bundesrepublik und die sozialistische DDR seien wie Feuer und Wasser nicht zu vereinigen. Die Nichtbeachtung der nationalen Gefühle der DDR-Bevölkerung kann unseren Interessen nur politischen Schaden zufügen. Nach vorhandenen Angaben gibt es in der DDR viel mehr Bürger als in der Bundesrepublik, die für die Vereinigung Deutschlands plädieren.

Die nationale Unzufriedenheit des überwiegenden Teils der Bevölkerung der DDR entwickelt sich vor dem Hintergrund des fortdauernden und sogar wachsenden wirtschaftlichen und technologischen Zurückbleibens gegenüber der Bundesrepublik. Während die Arbeitsproduktivität in der Wirtschaft der DDR 1963 um 25 Prozent unter dem Niveau der Bundesrepublik lag, beträgt diese Größenordnung zur Zeit 40 Prozent. Das Bruttosozialprodukt der Bundesrepublik ist pro Kopf der Bevölkerung um das zweifache und der Reallohn um 50 Prozent höher als in der DDR. (Nach westdeutschen Angaben überhöht die DDR-Statistik etwa um das l, 5fache die tatsächlichen Wachstumsraten der DDR). Dabei muß berücksichtigt werden, daß die Subventionen vom Haushalt der Bundesrepublik und aus privaten Quellen in Höhe von 2, 5 Milliarden DM, Kredite der westdeutschen Banken für den Einkauf der Investitionsgüter und anderer Waren, Swing-Finanzmittel im Wert von etwa 800 Millionen DM u. a. m. jährlich in die DDR fließen. Solide Vorteile hat die DDR auch im Zusammenhang mit ihrem uneingeschränkten Zugang zu dem deutschen und EG-Markt.Nichtsdestoweniger hat es das Modell des Sozialismus, das in der DDR entstand und sich entwickelte, nicht vermocht, seine Vorzüge in den Augen der einfachen Bürger beider deutscher Staaten zu erweisen. Für die Mehrheit von ihnen treten die Interessen des Sozialismus in den Hintergrund im Vergleich mit den nationalen Interessen. Dieser Prozeß einer Devaluation [oder besser: Diskreditierung] der sozialistischen Werte wird fortdauem, wenn die DDR-Führung nicht den Weg der grundlegenden Reformierung des wirtschaftlichen Systems und der Erneuerung des politischen Überbaus beschreitet. Sie muß der Bevölkerung des Landes neue Orientierungspunkte und Hoffnungen auf die sozialistische Entwicklung vermitteln und -was ausschlaggebend ist -für sie ein reales wirtschaftliches, politisches und humanitäres Wohl sichern, das die Schärfe des nationalen Problems mildem oder überhaupt beseitigen kann. Es ist von großer Bedeutung, mögliche Varianten der Entwicklung der „deutschen Frage“ unter dem Blickwinkel der Interessen der sowjetischen Politik nachzuvollziehen. Hier können vorwiegend folgende Linien Umrissen werden:

1. die fortdauernde Existenz von zwei deutschen Staaten;

2. die Wiedervereinigung Deutschlands gemäß den Prinzipien der Neutralität und der Bündnisfreiheit;

3. die Wiedervereinigung Deutschlands und seine Integration in das westliche Bündnis;

4. der Austritt der Bundesrepublik und der DDR aus NATO und Warschauer Pakt und deren selbständige Existenz gemäß den Prinzipien der Neutralität und der Bündnisfreiheit;

5. die Bildung einer Konföderation beider deutscher Staaten nach ihrem Austritt aus den Bündnissen; 6.der Beschluß eines Friedensvertrages mit beiden Staaten unter Beibehaltung ihrer Mitgliedschaft in NATO und Warschauer Pakt. Ost-Berlin wird als die Hauptstadt der DDR und West-Berlin als die Hauptstadt der Bundesrepublik anerkannt. Die erste Variante ist zweifellos eine reale Perspektive für Europa in der absehbaren Zukunft. Sie setzt die Erhaltung des bestehenden Status quo voraus. Man muß dabei einer Reihe der für die sowjetische Politik ungünstigen Faktoren berücksichtigen: '-eine weitere Konsolidierung des westeuropäischen Machtzentrums, in dem die Bundesrepublik eine führende politische und wirtschaftliche Rolle zu spielen vermag; -die Formierung eines westeuropäischen Militärbündnisses, das sich auf die Bundeswehr und die anglo-französischen Nuklearkräfte stützen wird; -die Vergrößerung des Abstandes zwischen der Bundesrepublik und der DDR im Niveau der wirtschaftlichen und der technologischen Entwicklung; -das Anwachsen der nationalistischen Stimmungen und der Bestrebungen nach der Lösung der „deutschen Frage“ in der Bundesrepublik und in der DDR. Bei dieser Variante wird die „deutsche Frage“ als latenter Gefahrenherd für Frieden und Stabilität in Europa weiterbestehen. Es ist kaum zu erwarten, daß sich die überwiegende Masse des deutschen Volkes im Westen und im Osten mit der Spaltung Deutschlands abfindet und die Idee der Vereinigung des Landes fallenläßt. Im Zusammenhang damit wird der konfrontative Blockcharakter der internationalen Beziehungen in Europa aufrechterhalten. Je stärker das westeuropäische Machtzentrum wird, desto mehr werden die Tendenzen zur Reduzierung der amerikanischen militärischen Präsenz in Westeuropa zunehmen. In diesem Fall wird das politische und militärische Gewicht der Bundesrepublik im Rahmen der westeuropäischen Allianz stärker zur Geltung kommen und ihr Ansehen unter den Deutschen wachsen. Um den Status quo zu erhalten und die Kräfte der USA, der Bundesrepublik, Englands und Frankreichs auszugleichen, wird die Sowjetunion auch weiterhin gezwungen sein, ihre Wirtschaft überzustrapazieren. Die Lösung dieser Aufgabe wird in einem großen Maße von der politischen und wirtschaftlichen Stabilität in den Ländern Osteuropas und vom Charakter von deren Wechselbeziehungen mit der Sowjetunion abhängen. Beim alten Wirtschaftsmechanismus wird es der Sowjetunion nicht gelingen, auf lange Sicht die Haltbarkeit des bestehenden Status quo effektiv zu sichern. Die sowjetische Politik ist aufgefordert, eine ganze Reihe von komplexen Problemen zu lösen, unter denen folgende hervorzuheben sind: -Wie kann die Anziehungskraft der Bundesrepublik für die Bevölkerung der DDR neutralisiert werden? -Wie kann die destabilisierende Auswirkung der „deutschen Frage“ auf die europäische Situation vermindert werden? -Wo sind die Grenzen der Annäherung und der Zusammenarbeit der beiden deutschen Staaten? -Wie wird sich die Reduzierung der amerikanischen militärischen Präsenz auf die Stabilität in Europa auswirken? -Welchen Einfluß wird die Konsolidierung des westeuropäischen Machtzentrums auf die Entwicklung der „deutschen Frage“ haben usw.?

Die zweite Variante kann der Sowjetunion eine Menge von Vorteilen und Vorzügen bringen. Unter ihnen sind zu nennen: -Ohne die Bundesrepublik kann die NATO praktisch nicht existieren. In Europa könnten Möglichkeiten für die Auflösung beider Blöcke entstehen. Die Etablierung einer militärisch-politischen Gruppierung der westeuropäischen Hauptmächte, die der Sowjetunion widerstehen, würde ausgeschlossen werden. Die „deutsche Frage“ würde aufhören, eine Quelle der Unruhe in Europa zu sein. Die amerikanische militärische und politische Präsenz auf dem europäischen Kontinent würde beendet werden. Polen und die Tschechoslowakei würden wegen ihrer Interessen an der Aufrechterhaltung des territorialen Nachkriegsstatus mehr als gegenwärtig eine Stütze für ihre Außenpolitik in Gestalt der Sowjetunion suchen. Frankreich und England sowie die kleineren europäischen Länder würden in der Sowjetunion ein Gegengewicht für den politischen und wirtschaftlichen Einfluß Deutschlands sehen.

Unter den Bedingungen eines pluralistischen blockfreien Charakters der internationalen Beziehungen entstünden unvergleichlich bessere Möglichkeiten für eine gesamteuropäische Zusammenarbeit im politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Bereich. Der RGW und die EG könnten im Laufe der Zeit sich selbst auflösen und durch Institutionen einer gesamteuropäischen Zusammenarbeit ersetzt werden. Das System der Beziehungen zwischen der Sowjetunion und den osteuropäischen Ländern würde einen harmonischeren Charakter annehmen. All das könnte im Endergebnis die Positionen des Sozialismus sowohl in einzelnen europäischen Ländern als auch in Europa insgesamt stärken. Es wäre falsch, die Wiedervereinigung und die Neutralisierung Deutschlands nur als Preisgabe von Positionen des Sozialismus in der DDR zu betrachten. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Wiederherstellung der deutschen Einheit soziale Ideen und Stimmungen zugunsten des Sozialismus stark in den westlichen Teil Deutschlands einströmen lassen, die Sympathien für die Sowjetunion dort steigern und den Boden für die antisowjetische Geistesverfassung untergraben würde. In der Bundesrepublik gibt es schon zur Zeit beträchtliche Voraussetzungen für die Bewegung hin auf eine Sozialisierung des gesellschaftlichen Lebens. Diese Entwicklung wird durch die Spaltung des Landes und die Konfrontation in Europa gebremst. Die Variante des geeinten neutralen Deutschlands kann vom Standpunkt der nationalen Interessen der Sowjetunion als insgesamt sehr vorteilhaft betrachtet werden, obwohl es gegebenenfalls auch erscheinen mag, daß diese Interessen in Widerspruch zu den Prinzipien des sozialistischen Internationalismus treten.

Die dritte Variante ist nicht real, obwohl sie der Ostpolitik der gegenwärtigen Regierung der Bundesrepublik zugrunde liegt. Ihre Realisierung würde eine abrupte Zerstörung des europäischen Kräftegleichgewichts, eine vollständige Destabilisierung der bestehenden Lage mit sehr gefährlichen Folgen für die Sicherheit in Europa bedeuten. Diese Variante scheint sogar vom Standpunkt der Interessen der Westmächte aus nicht unproblematisch zu sein. Sie würden mit einem wirtschaftlich und militärisch dominierenden Deutschland nichts zu tun haben wollen.

Die vierte Variante scheint auf der Etappe des Funktionierens eines entwickelten europäischen Sicherheitssystems möglich zu sein, das die Schaffung eines Kräftegleichgewichts zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt auf niedrigstem Niveau, die Nichtangriffs-und Nichtüberraschungsfähigkeit beider Blöcke, ihre Trennung durch einen Korridor ohne Truppen, nukleare und chemische Waffen u. a. voraussetzt. Eine wichtige Bedingung für die Realisierung dieser Variante ist die Stärkung der Positionen des Sozialismus in der DDR durch seine radikale Erneuerung, damit er sich nicht auf Gewalt und Zwang, wie das zur Zeit der Fall ist, sondern auf die bewußte Unterstützung der Mehrheit der Bevölkerung stützen könnte.

Die fünfte Variante kann man sich als eine weitere Entwicklung der vierten Variante in der einer fernen Perspektive vorstellen. Diese beiden Varianten trügen zur Entschärfung der „deutschen Frage“ und der Stabilisierung der Lage in Europa bei. Sie würden den Abzug der ausländischen Truppen vom Territorium der Bundesrepublik und der DDR, die Rückführung der amerikanischen Truppen in die USA voraussetzen. All das läge im Interesse der sowjetischen Politik.

Die sechste Variante wird, wie bereits früher erwähnt, nicht die Zustimmung der Westmächte und der Regierung der Bundesrepublik finden. Sie könnte auch für die sowjetische Politik nicht zu unterschätzende Schwierigkeiten schaffen, die im Zusammenhang mit der Berliner Frage stehen.

Das Herangehen der sowjetischen Politik an die „deutsche Frage“ in der gegenwärtigen Etappe muß meines Erachtens den langfristigen Zielen der Stärkung der europäischen Stabilität und Sicherheit entsprechen. Das ist eine wichtige Voraussetzung für die erfolgreiche Durchführung der tiefgreifenden sozio-politischen und wirtschaftlichen Reformen in den Ländern Osteuropas, für eine radikale Erneuerung des Sozialismus und die Stärkung von dessen Positionen. Die sowjetische Politik muß damit rechnen, daß die evolutionäre Entwicklung der „deutschen Frage“ von überraschenden Umbrüchen begleitet werden kann. Diese Umbrüche könnten als Folge der inneren Entwicklung in der Bundesrepublik und in der DDR sowie in anderen zentraleuropäischen Ländern oder als Ergebnis außenpolitischer Initiativen in Gang gesetzt werden. Übersetzung aus dem Russischen: Bernd Bentlin, Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Wjatscheslaw Daschitschew, Dr., geb. 1925; Studium der Geschichte, der Internationalen Beziehungen und Germanistik an der Moskauer Universität; neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit war er als deutschlandpolitischer Berater verschiedener sowjetischer Regierungen tätig; im April 1989 plädierte er in einem Memorandum für die sowjetische Führung für die Überwindung der deutschen Teilung. Zahlreiche Veröffentlichungen zu historischen und internationalen Fragen.