Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Erneuerung der Gesellschaft | APuZ 15/1994 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 15/1994 Erneuerung aus der Mitte Zukunft gestalten, Bewährtes erhalten, Stabilität sichern Wahl 94. Was tun? F. D. P.: 1994 -Die zweite historische Chance Politik der Reformen und Reform der Politik Erneuerung der Gesellschaft

Erneuerung der Gesellschaft

Dagmar Enkelmann

/ 13 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Politikverdrossenheit erfaßt immer mehr Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik. Die Ursachen sind in der momentanen Produktions-und Konsumtionsweise begründet. Diese gefährden die Zukunft unserer Gesellschaft und der Menschheit. Die politischen Antworten der Bonner Regierungskoalition auf neue Herausforderungen in Deutschland, in Europa und in der Welt sind überholt. Die Strukturen des politischen Systems in der Bundesrepublik sind festgefahren. Politisches Engagement der Menschen zu wecken, das verlangt eine Politik, die den Alltags-und Zukunftsinteressen der Bürgerinnen und Bürger verpflichtet ist und den kommenden Generationen Lebensgrundlagen erhält. Einschränkung der Macht der Parteien und der hinter ihnen stehenden Lobby der Industrie und des Kapitals, mehr direkte politische Mitentscheidungs-und Mitgestaltungsrechte für Bürgerinnen und Bürger sowie ihrer sozialen Interessenverbände, nicht zuletzt die Dezentralisierung der politischen Entscheidungsgewalt sind erforderlich, um Menschen für politisches Engagement zu gewinnen.

Das Volk auflösen und ein neues wählen?

Es ist nicht zufällig, daß gegenwärtig über Ursachen und Möglichkeiten zur Überwindung der Politikverdrossenheit in den Parteien, unter Politikerinnen und Politikern, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, in den Medien und in der Bevölkerung diskutiert wird. 1994 steht ein Wahlmarathon bevor. Es ist daher eine Chance für alle politischen Kräfte, das Thema der Politikverdrossenheit konkret zu benennen und in der Öffentlichkeit Schlußfolgerungen darzulegen -aber auch eine Verführung, im Interesse macht-und parteipolitischer Ziele die eigentlichen Ursachen zu verschweigen und Scheinlösungen zu propagieren. Wie groß diese Verführung ist, zeigt die Reaktion von Vertreterinnen und Vertretern der CDU/CSU, der F. D. P., der SPD und teilweise auch von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auf das Ergebnis der kürzlichen Kommunalwahl im Land Brandenburg. Sie erinnert an das Verhalten der SED-Führung im Zusammenhang mit den Ereignissen des 17. Juni 1953, das Bertholt Brecht mit den Worten geißelte: . daß das Volk das Vertrauen der Regierung verscherzt habe und es nur durch verdoppelte Arbeit zurückerobern könne. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“

Da zum Thema Politikverdrossenheit viele wissenschaftliche Untersuchungen vorliegen und ihre Resultate breit erörtert werden, möchte ich mich aus der Sicht meiner persönlichen Erfahrungen aus der Wende 1989/90, der Tätigkeit als Abgeordnete der PDS/Linke Liste im Bundestag und in meinem Wahlkreis dazu äußern. Damit beschränke ich mich von vornherein auf bestimmte Aspekte und erhebe keinen Anspruch auf eine umfassende Darstellung der Ursachen und der daraus duch die PDS abzuleitenden Schlußfolgerungen für die Pro-grammatik, die praktische Politik inner-und außerhalb des Parlaments sowie für die Entwicklung der Partei selbst.

Mein aktives politisches Engagement begann, als der berechtigte Versuch, nach der Periode des Faschismus im Osten Deutschlands eine zunächst antifaschistisch-demokratische und später sozialistische Gesellschaft zu gestalten, vor dem Scheitern stand. Eine Zeit, in der die politische Führung der DDR weder bereit noch fähig war, die dem realen Sozialismus immanenten Mängel an Selbstverwirklichungsmöglichkeiten des Menschen, an Demokratie, Produktivität und Umgang mit der Natur grundlegend zu reformieren. Es waren Monate, in denen Hunderttausende Bürgerinnen und Bürger das Gefühl überwanden, den Machtverhältnissen ohnmächtig gegenüberzustehen. Sie traten heraus aus ihren privaten Nischen und riefen unüberhörbar „Wir sind das Volk“. Ihr Selbstbewußtsein erwachte. Es wuchs der Drang, die eigenen Geschicke selbst in die Hand zu nehmen. Runde Tische und andere Formen direkter Demokratie boten bislang nicht erfahrene Möglichkeiten, in die politische Auseinandersetzung einzugreifen. Politik konnte mitbestimmt und mitgestaltet werden. Sie wurde durchschaubar, forderte und förderte Kreativität. Visionen wurden entworfen, reale Schritte zur Veränderung des politischen Systems, der Wirtschaft, der Bildung und Kultur, des Umweltschutzes wurden in parteiübergreifenden Diskussionen erstritten.

Heute, nur vier Jahre später, begegnen mir wieder Resignation und Ohmacht -und dies nicht nur in den neuen Bundesländern. Vieles von dem, was Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, was Politikerinnen und Politiker verschiedener Parteien, was Bürgerinitiativen, Verbände und Interessengruppen an Vorstellungen für ein neues Deutschland und seine Rolle in Europa und in der Welt in leidenschaftlicher Auseinandersetzung hervorbrachten, blieb Illusion. Es entstand kein neues Deutschland mit mehr Demokratie und sozialer Gerechtigkeit; kein Deutschland mit dem Willen, die gewachsenen politischen und ökonomischen Potenzen für die Abwendung der nahenden ökologischen Katastrophe, für die gewaltlose Beilegung von Konflikten, für die Errichtung einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung und für ein friedliches europäisches Haus einzusetzen. Schon der Vollzug der Einheit als Anschluß und nicht als Vereinigung gleichberechtigter Partner auf der Grundlage einer neuen Verfassung zeigt, daß die politische Klasse der alten BRD alles tat, um jegliche Veränderungen in der herkömmlichen Produktions-und Konsumtionsweise sowie in den politischen Herrschaftsverhältnissen abzublocken. Die Folgen für die neuen Bundesländer -und zunehmend auch für die alten -sind bekannt.

Nach meiner Erfahrung hängt Politikverdrossenheit vorrangig mit dem Inhalt der offiziellen Politik, mit der Transparenz politischer Entscheidungen, mit den Möglichkeiten für die Mitentscheidung und Mitgestaltung der Politik durch Bürgerinnen und Bürger und ihrer sozialen Interessengruppen zusammen. Politik weckt Interesse und Engagement, wenn sie darauf gerichtet ist, die Alltags-und Zukunftsinteressen der heutigen Generationen zu sichern und kommenden Generationen Lebensgrundlagen zu erhalten.

Welchen Beitrag leistet die offizielle Politik aber, um die globalen ökologischen Gefahren für die weitere Existenz der Menschheit zu beseitigen, um die neuen europäischen Herausforderungen zu bewältigen, um die vor und nach der Vereinigung aufgestauten inneren Probleme in Deutschland im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung zu lösen?

Auf Fragen von heute und morgen geben die etablierten Parteien Antworten von gestern. Die politischen Institutionen in Deutschland scheinen nur noch darauf fixiert zu sein, Vorhandenes zu verwalten und zu bewahren. Die Politik ist erstarrt. Politikerinnen und Politiker der großen Parteien sind von überholten Denk-und Handlungsmustern gefesselt. Ihre Vorstellungen gehen immer nur in eine Richtung: Sicherung des eigenen Besitzstandes, Verteilung der Lasten auf die Schultern der Schwächeren und auf Kosten der Zukunft. Die Reichen dieser Gesellschaft werden immer reicher, die Schwachen und Armen immer schwächer und ärmer. Die Bundesrepublik benötigt eine demokratische, soziale, zivile, ökologische und antirassistische Erneuerung. Diese kann und wird nicht von den momentan die Politik bestimmenden Kräften ausgehen. Die Bundesrepublik braucht eine starke demokratische Opposition. Die PDS versteht sich als Teil dieser Opposition und wird sich inner-und außerhalb der Parlamente einsetzen -für eine aktive Beschäftigungspolitik, gegen Massenarbeitslosigkeit und die Zerstörungsstrategie der Bundesregierung und der Treuhandanstalt im Osten; -gegen die Strangulierung der ostdeutschen Landwirtschaft und der gemeinschaftlichen Wirtschaftsformen sowie für die Verteidigung der Bodenreform von 1946; -für bezahlbare Mieten in Ost-und Westdeutschland, für den Schutz der Eigentums-und Nutzungsrechte der DDR-Bürgerinnen und -Bürger; -für eine soziale Grundsicherung für alle, gegen Deregulierung und Sozialabbau, für ein sozial gerechtes Gesundheitssystem, gegen die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen; -für mehr gewerkschaftliche Mitbestimmung und gegen die Angriffe auf die Tarifautonomie; -gegen den internationalen Einsatz der Bundeswehr, gegen Rüstungsproduktion und Waffenhandel, für die Abschaffung der Wehrpflicht und aller Zwangsdienste; -für die Gleichstellung von Frauen und gegen den Paragraphen 218; -für ein selbstbestimmtes Leben von Kindern und Jugendlichen; -gegen Nationalismus, Großmachtpolitik, Rechtsextremismus und Rassismus sowie die Abschaffung des Asylrechts, für einen Volksentscheid über die weitere Entwicklung der Europäischen Union; -für eine umfassende ökologische Wende; -gegen die geistig und sozial reaktionäre Wende in der Kultur-, Bildungs-und Wissenschaftspolitik.

Was bietet die Bonner Politik für den ökologischen Umbau der Gesellschaft, um nur ein Gebiet herauszuheben? Expansive, die Natur und Kultur zerstörende Wirtschaftskonzepte werden umgesetzt. Die Schadstoffbelastungen, insbesondere aus dem motorisierten Individualverkehr und dem Güterverkehr, steigen dramatisch. Zersiedlung und Betonierung schreiten voran. Abfall-und Wegwerfproduktion gedeihen. Statt blühender Landschaften wachsen die Müllberge. Und all das geschieht mit nachhaltigen Folgen für die Klima-entwicklung der nächsten Jahrzehnte. Die Produktions-und Konsumtionsweise der Industrieländer, darunter der BRD, verschärfen die wirtschaftlichen, ökologischen, sozialen und kulturellen Krisen und Konflikte in den Ländern der soge-nannten Dritten Welt. Alternativen sind von der Wissenschaft, von Umweltgruppen und -Organisationen, von Gewerkschaften und Bürgerinitiativen längst formuliert. Die offizielle Politik aber verweigert sich einer ökologischen Wende. Die PDS tritt daher ein für-die drastische Senkung des Kohlendioxid-AusStoßes durch Verkehrsvermeidung und -Verlagerung, effizientere Vernetzung der verschiedenen Verkehrsträger sowie umfassend geförderte Energieeinsparung; -eine regionalisierte Wirtschaftsentwicklung und für Wirtschaftsbeziehungen, die gleichzeitig Verkehrsvermeidung, Förderung des regionalen Handwerks und Mittelstandes sowie die finanzielle Stärkung der Kommunen und Regionen begünstigen; -den Übergang zu einer ökologisch verträglichen Landnutzung und Stadtentwicklung sowie den Ausbau der Landschaftsschutzgebiete; -die Nutzung stillgelegter Industrieflächen für die Gewerbeansiedlung statt des Verbrauchs weiterer Landschaft, Ackerflächen und Natur; -die Einsparung von Energie als dem Kern einer ökologischen Wirtschaftspolitik, die stärkere Nutzung regenerativer Energiequellen und den Ausstieg aus der Kernenergie; -den Stopp von Müllexporten und Mülltourismus sowie dafür, daß die Abfallvermeidung konsequent Vorrang vor Recycling hat, die Müllverbrennung auf ein Minimum gesenkt wird und die Verpackungsindustrie nach dem Verursacherprinzip für die Kosten der Entsorgung aufkommen muß; -Öko-Steuern, die die spontane Marktregulierung eingrenzen und dafür, daß die Verursacher von Umweltschäden mit den ökologischen Folgekosten belastet werden; -demokratische Planungs-, Kontroll-und Einspruchsrechte.der Umweltorganisationen, Verbraucherverbände und Gewerkschaften beim sozialen und ökologischen Umbau.

Mehr direkte Demokratie

Nicht nur auf diesem, sondern auf allen Politikfeldern müssen neue Inhalte und entschiedene Schritte zur Demokratisierung festgefahrener politischer Strukturen getan werden. Die Erweiterung der direkten Beteiligung-und Entscheidungsrechte von Bürgerinnen und Bürgern sowie ihrer Bewegungen und Initiativen ist überfällig. Deshalb setzt sich die PDS für die Diskussion einer neuen Verfassung ein, die wesentlich mehr plebiszitäre Elemente beinhalten und durch Volksentscheid in Kraft treten soll.

Breitere Mitentscheidung könnte beispielsweise auch durch eine dritte Stimme erreicht werden. Gegenwärtig können sich Wählerinnen und Wähler bei Landtags-und Bundestagswahlen nur zwischen den verschiedenen Parteien und den von diesen nominierten Personen entscheiden. Wieso nicht auch für bestimmte nichtstaatliche Organisationen und von ihnen angestrebte Projekte, z. B. auf dem Gebiet des Umweltschutzes und des Verkehrs? Je mehr Stimmen sie auf sich vereinigen, desto mehr Geld sollte ihnen für die Verwirklichung ihrer Projekte von den Ländern und vom Bund zur Verfügung gestellt Werden.

Um die direkte politische Mitbestimmung durch die verschiedensten sozialen Interessengruppen der Gesellschaft zu ermöglichen, ist es denkbar, neben dem Bundestag der Parteien eine Bundes-kammer der sozialen Bewegungen einzurichten. Sie müßte sowohl das Recht erhalten, eigene Gesetzentwürfe in den Bundestag einzureichen, als auch das Recht, Gesetze des Bundestages zurück-zuweisen, sofern darin gravierende Konsequenzen für Betroffene enthalten sind. Umwelt-und Mieterverbände, Gewerkschaften, Vertretungen von Menschen mit Behinderungen, von Ausländerinnen und Ausländern, Verbände von Frauen, Arbeitslosen, Jugendlichen u. a. bekämen damit eine Chance, sich Gehör zu verschaffen.

In die gleiche Richtung zielt der Vorschlag, eine eigene Kammer für Ostdeutsche einzurichten und zwar solange, wie die Lebensverhältnisse in Ost und West nicht ausgeglichen sind. Auch dieser Kammer sollten Einspruchs-und Initiativrechte eingeräumt werden, wenn es um tiefgehende Einschnitte in das Leben der ostdeutschen Bevölkerung geht, z. B. um Eigentums-, Miet-, Pacht-und Nutzungsrechte für Grundstücke, Wohnungen, Datschen und Kleingärten.

Runde Tische, Fachvertretungen und andere, den Parlamenten vor-und beigeschaltete Gremien könnten dazu beitragen, die Kompetenz der politischen Institutionen zu erhöhen, die Allmacht der Parteien und die Lobby der Industrie und des Kapitals zu begrenzen. Es bleibt unsere Forderung, ausländischen Bürgerinnen und Bürgern und Jugendlichen ab dem 16. Lebensjahr das Wahlrecht einzuräumen.

Bewohner, Abgeordnete, Bürgermeister und Landräte meines Wahlkreises machten mich wiederholt auf einen weiteren Grund für Politikverdrossenheit aufmerksam: das Streben der Regierungsparteien, immer mehr Entscheidungen zu zentralisieren. Dadurch, so ihre Auffassung, wird die Bürokratie aufgebläht, Zeit verloren und Geldverschwendet. Den Menschen vor Ort wird damit mehr und mehr die Motivation für politisches Engagement genommen. Politikmüdigkeit ist die Folge, denn der Einsatz für die Kommunen lohnt nur, wenn ihre Vertretungen etwas entscheiden können. Eine Gemeindevertretung oder Stadtverordnetenversammlung kann gegenwärtig aber kaum grundlegende Entscheidungen treffen. Die kommunale Selbstverwaltung ist rechtlich, vor allem aber finanziell drastisch eingeschränkt worden. Sie ist zu einer leeren Worthülse verkommen.

Und wie verhält es sich mit der Transparenz politischer Entscheidungen? Sind Entscheidungen der Regierung und des Bundestages für die Öffentlichkeit durchschaubar? Nein. Sie werden größtenteils in internen Koalitionsgesprächen getroffen und, wenn es denn gar nicht anders geht, dürfen Vertreterinnen und Vertreter der SPD daran teilnehmen. Das Kabinett nickt ab. Die Abgeordneten der Fraktionen dieser Parteien dürfen die Hand heben. Und sie tun es in der Regel mehrheitlich, selbst dann, wenn sie nicht wissen, was ihre Parteispitzen in die Gesetzesvorlagen geschrieben haben -Fraktionszwang. Wie oft konnte ich das in den letzten drei Jahren erleben.

Parteienherrschaft hat keine Zukunft

In Deutschland sind zwischen zwei und drei Prozent der Erwachsenen in Parteien organisiert. Ein Bruchteil von ihnen nominiert die Kandidatinnen und Kandidaten für die Kommunal-, Landtags-und Bundestagswahlen. Sie legen auch die Reihenfolge auf den jeweiligen Parteilisten fest. Bürgerinnen und Bürger haben darauf keinen Einfluß. Ihnen wird lediglich zugestanden, alle vier Jahre an die Wahlurne zu gehen und sich für eine Partei und für vorgegebene Personen zu entscheiden. Und'wenn die Wählerinnen und Wähler dann -wie in Brandenburg -der PDS viele Stimmen geben, bekommen sie Schelte. Wahrlich, alle Macht geht vom Volke aus!

Die PDS ist eine sozialistische Partei. Ihr Ziel ist eine humane, zivilisierte Gesellschaft, in deren Zentrum die politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Rechte des Menschen stehen; eine Gesellschaft, in der die freie Entwicklung jedes einzelnen zur Bedingung der freien Entwicklung aller geworden ist. Die PDS kann nur glaubhaft für solch eine Gesellschaft wirken, wenn sie diese Vorstellungen in der Partei durchsetzt, sie vorlebt. Das Programm, das Statut und das Leben in der PDS sind deshalb darauf orientiert, nur soviel Partei wie nötig und soviel Bewegung wie möglich zu sein. Fast alle Veranstaltungen der PDS und ihrer Abgeordneten sind zugänglich für interessierte Bürgerinnen und Bürger. Wer Mitglied der PDS werden möchte, durchläuft keine Prüfungszeit oder sonstige Prozeduren. Die Listen der PDS für Kommunal-, Landtags-und Bundestagswahlen sind für Nichtmitglieder offen. Bewußtes Hinaustreten in die kritische Öffentlichkeit, Hinwendung zu und Unterstützung von sozialen Bewegungen, Förderung der Selbstorganisation und -hilfe der Betroffenen sind für die PDS wirksame Mittel gegen machtpolitische Verführungen und für ihren Beitrag zur Zivilgesellschaft.

Ein Vorteil der PDS ist ihre Herkunft aus der gescheiterten SED. Jene Erfahrungen bewahren die heutige PDS davor, Parteiinteressen vor Bürger-interessen zu stellen und von den existenziellen Problemen der Gesellschaft abzuheben. Wir kennen die Folgen durch eigenes Erleben. Vieles, wofür die etablierten Parteien und ihre Politikerinnen und Politiker heute zu Recht kritisiert werden, erinnert mich an die Partei, der ich früher angehörte. Ich gebe einer Demokratie, die sich vornehmlich auf Parteienherrschaft gründet, keine Zukunft.

Meine Erfahrungen laufen auf die folgende Erkenntnis hinaus: Politisches Engagement der Menschen ist nur zu wecken durch eine sozial gerechtere und transparentere Politik, durch Einschränkung der Macht der Parteien, durch mehr direkte politische Mitentscheidungs-und Mitgestaltungsrechte für Bürgerinnen und Bürger, durch Delegierung von politischen Entscheidungsbefugnissen an die Basis -dorthin, wo die Menschen leben, arbeiten und wohnen und folglich wissen, was für sie nötig ist.-die drastische Senkung des Kohlendioxid-Ausstoßes durch Verkehrsvermeidung und -Verlagerung, effizientere Vernetzung der verschiedenen Verkehrsträger sowie umfassend geförderte Energieeinsparung; -eine regionalisierte Wirtschaftsentwicklung und für Wirtschaftsbeziehungen, die gleichzeitig Verkehrsvermeidung, Förderung des regionalen Handwerks und Mittelstandes sowie die finanzielle Stärkung der Kommunen und Regionen begünstigen; -den Übergang zu einer ökologisch verträglichen Landnutzung und Stadtentwicklung sowie den Ausbau der Landschaftsschutzgebiete; -die Nutzung stillgelegter Industrieflächen für die Gewerbeansiedlung statt des Verbrauchs weiterer Landschaft, Ackerflächen und Natur; -die Einsparung von Energie als dem Kern einer ökologischen Wirtschaftspolitik, die stärkere Nutzung regenerativer Energiequellen und den Ausstieg aus der Kernenergie; -den Stopp von Müllexporten und Mülltourismus sowie dafür, daß die Abfallvermeidung konsequent Vorrang vor Recycling hat, die Müllverbrennung auf ein Minimum gesenkt wird und die Verpackungsindustrie nach dem Verursacherprinzip für die Kosten der Entsorgung aufkommen muß; -Öko-Steuern, die die spontane Marktregulierung eingrenzen und dafür, daß die Verursacher von Umweltschäden mit den ökologischen Folgekosten belastet werden; -demokratische Planungs-, Kontroll-und Einspruchsrechte.der Umweltorganisationen, Verbraucherverbände und Gewerkschaften beim sozialen und ökologischen Umbau.

Mehr direkte Demokratie

Nicht nur auf diesem, sondern auf allen Politikfeldern müssen neue Inhalte und entschiedene Schritte zur Demokratisierung festgefahrener politischer Strukturen getan werden. Die Erweiterung der direkten Beteiligung-und Entscheidungsrechte von Bürgerinnen und Bürgern sowie ihrer Bewegungen und Initiativen ist überfällig. Deshalb setzt sich die PDS für die Diskussion einer neuen Verfassung ein, die wesentlich mehr plebiszitäre Elemente beinhalten und durch Volksentscheid in Kraft treten soll.

Breitere Mitentscheidung könnte beispielsweise auch durch eine dritte Stimme erreicht werden. Gegenwärtig können sich Wählerinnen und Wähler bei Landtags-und Bundestagswahlen nur zwischen den verschiedenen Parteien und den von diesen nominierten Personen entscheiden. Wieso nicht auch für bestimmte nichtstaatliche Organisationen und von ihnen angestrebte Projekte, z. B. auf dem Gebiet des Umweltschutzes und des Verkehrs? Je mehr Stimmen sie auf sich vereinigen, desto mehr Geld sollte ihnen für die Verwirklichung ihrer Projekte von den Ländern und vom Bund zur Verfügung gestellt Werden.

Um die direkte politische Mitbestimmung durch die verschiedensten sozialen Interessengruppen der Gesellschaft zu ermöglichen, ist es denkbar, neben dem Bundestag der Parteien eine Bundes-kammer der sozialen Bewegungen einzurichten. Sie müßte sowohl das Recht erhalten, eigene Gesetzentwürfe in den Bundestag einzureichen, als auch das Recht, Gesetze des Bundestages zurück-zuweisen, sofern darin gravierende Konsequenzen für Betroffene enthalten sind. Umwelt-und Mieterverbände, Gewerkschaften, Vertretungen von Menschen mit Behinderungen, von Ausländerinnen und Ausländern, Verbände von Frauen, Arbeitslosen, Jugendlichen u. a. bekämen damit eine Chance, sich Gehör zu verschaffen.

In die gleiche Richtung zielt der Vorschlag, eine eigene Kammer für Ostdeutsche einzurichten und zwar solange, wie die Lebensverhältnisse in Ost und West nicht ausgeglichen sind. Auch dieser Kammer sollten Einspruchs-und Initiativrechte eingeräumt werden, wenn es um tiefgehende Einschnitte in das Leben der ostdeutschen Bevölkerung geht, z. B. um Eigentums-, Miet-, Pacht-und Nutzungsrechte für Grundstücke, Wohnungen, Datschen und Kleingärten.

Runde Tische, Fachvertretungen und andere, den Parlamenten vor-und beigeschaltete Gremien könnten dazu beitragen, die Kompetenz der politischen Institutionen zu erhöhen, die Allmacht der Parteien und die Lobby der Industrie und des Kapitals zu begrenzen. Es bleibt unsere Forderung, ausländischen Bürgerinnen und Bürgern und Jugendlichen ab dem 16. Lebensjahr das Wahlrecht einzuräumen.

Bewohner, Abgeordnete, Bürgermeister und Landräte meines Wahlkreises machten mich wiederholt auf einen weiteren Grund für Politikverdrossenheit aufmerksam: das Streben der Regierungsparteien, immer mehr Entscheidungen zu zentralisieren. Dadurch, so ihre Auffassung, wird die Bürokratie aufgebläht, Zeit verloren und Geld

Fussnoten

Fußnoten

  1. Bertholt Brecht, „Die Lösung“, in: Gesammelte Werke, Bd. 10, Frankfurt am Main 1967, S. 1067.

Weitere Inhalte

Dagmar Enkelmann, Dr. rer. pol., geb. 1956; Mitglied des Deutschen Bundestages; Geschichtsstudium an der Universität Leipzig; Lehrerin für Geschichte am Bogensee (Bernau); Promotion an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften in Berlin. Stellvertretende Vorsitzende der Gruppe der PDS/Linke Liste im Deutschen Bundestag; Mitglied im Ausschuß für Verkehr, im Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, im Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung; Mitglied in der Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre“. Veröffentlichungen u. a.: Seit dem 9. November 1989 denke ich oft über Deutschland nach, in: Hans-Eduard Patega (Hrsg.), Damit ein gutes Deutschland blühe, 1992; Mit einer umweltfreundlichen, sozialverträglichen und ressourcen-schonenden Energieversorgung ohne Atomstrom ins 3. Jahrtausend, in: Bundestag Report, 3/93; Vorsorgender Umweltschutz rechnet sich allemal, in: Bundestag Report, 8/93.