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Die „success-story" des modernen Sports und seine Metamorphosen. Fitneß, Ästhetik und individuelle Selbstdarstellung | APuZ 24/1994 | bpb.de

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APuZ 24/1994 Von Bern bis Los Angeles. Die politische Geschichte der Fußball-Weltmeisterschaft Der Mythos von 1954 Warum ist der Ball nicht überall rund? Der Homo ludens in vergleichender Perspektive Die „success-story" des modernen Sports und seine Metamorphosen. Fitneß, Ästhetik und individuelle Selbstdarstellung

Die „success-story" des modernen Sports und seine Metamorphosen. Fitneß, Ästhetik und individuelle Selbstdarstellung

Volker Rittner

/ 20 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der moderne Sport hat in den fortgeschrittenen Industriegesellschaften den Rang einer schönen Nebensache weitgehend verloren. Zu den wichtigsten Metamorphosen des zeitgenössischen Sports gehören neben einer erstaunlichen Nachfragesteigerung („Sportboom“) zahlreiche Differenzierungsprozesse sowie Funktionswandlungen sowohl des Freizeit-als auch des Hochleistungssports. Darüber hinaus haben sich völlig neue Nachfrage-und Angebotsstrukturen entwickelt, innerhalb derer die klassischen Sportanbieter -die Sportvereine -ihr Deutungs-und Organisationsmonopol verloren haben. Die weitreichenden Veränderungen in den Sportartpräferenzen und im Sporterleben sowie die Ästhetisierung der Sportausübung und der Sportrequisiten haben ihre Ursachen in veränderten gesellschaftlichen Persönlichkeits-und Körperidealen. Insbesondere der Aufstieg des Fitneßsyndroms mit einem neuen Vokabular der attraktiven individuellen Selbstbeschreibung ist instruktiv. Fitneß, im weiteren der schlanke und sportliche Körper, erscheint als Voraussetzung für irdisches Glück. Die Ursachen für die Ausdifferenzierung neuer psycho-physischer Tugenden und Werte, die häufig zu Lebensstilmerkmalen werden, hat man in gesamtgesellschaftlichen Wandlungsprozessen zu suchen. Ein verändertes Gesundheitsmotiv, das im Sport zunehmend spürbar wird, geht auf die Notwendigkeiten individueller Präventionsmaßnahmen und Selbstmedikationspraktiken zurück, wie sie durch die Zivilisationskrankheiten bedingt sind. Der Wunsch nach mehr „Spaß“ und „Selbstverwirklichung“ korrespondiert mit den Normen einer „Freizeitgesellschaft“.

I. Metamorphosen des modernen Sports

Allein ein flüchtiger Blick auf empirische Daten zum Phänomen Sport zeigt, daß das journalistische Bonmot vom „Sport als der schönsten Nebensache der Welt“, so sympathisch und einladend es klingt, höchst irreführend ist. Schon quantitativ ist der Sport alles andere als nebensächlich.

Mittlerweile treiben -so das Ergebnis diverser repräsentativer Bevölkerungsbefragungen -zwischen 50 und 60 Prozent der Bevölkerung regelmäßig Sport (oder geben dies an). Weitere Befunde zeigen weitreichende Veränderungen gegenüber dem traditionellen Wettkampfsport auf. Die Mehrzahl der Aktivitäten wird unorganisiert ausgeübt; die sogenannten Freizeitsportarten, d. h. primär Schwimmen, Radfahren, Gymnastik, dann Joggen und Tennis, liegen mit weitem Abstand an der Spitze der Beliebtheitsskala. Auch die Veränderungen in der Sportmotivation geben Hinweise auf veränderte Prioritätensetzungen bei den Individuen. Die dominierenden Wünsche nach Gesunderhaltung, Fitneß und Spaß bzw. Wohlbefinden haben sich von den normativen Voraussetzungen des ehemals prägenden Wettkampfsports abgekoppelt Sportimmanent nicht erklärbar, korrespondieren sie offenkundig mit zwei neuen Taktgebern der Sportwahrnehmung und -nutzung in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Das Gesundheits-und Fitneßmotiv sowie die Entspannungswünsche empfangen ihre Prägnanz durch ein gewandeltes Krankheitspanorama. Angesichts des Sachverhalts, daß Morbidität und Mortalität in den Industriegesellschaften zunehmend von verhaltens-bzw. lebensstilbedingten Krankheiten abhängen, sichert man sich -präventiv -Gesundheit. Formen eines expliziten Gesundheitsverhaltens, die teilweise Aspekte der Selbstmedikation annehmen, bestimmen in diesem Sinne zunehmend das Sporterleben. Das Spaßmotiv korrespondiert hingegen mit Normen und Geboten einer „Freizeitgesellschaft“, in der man sich zunehmend in „sportlicher“ Weise zu bewähren hat.

Eine Konsequenz dieser Entwicklung, daß der Sport zunehmend auf existentielle Probleme der Menschen bezogen wird, ist, daß Sport schon seit geraumer Zeit den Charakter einer exklusiven Männerdomäne verloren hat. Auch ist er nicht mehr eine typische Jugendaktivität, die im Erwachsenenalter gewöhnlich aufgegeben wird. In den Gesamtzusammenhang von Bedeutungsaufwertung und Veränderung des Sports paßt, daß bislang eher sportabstinente Personengruppen, vor allem Frauen, aber zunehmend auch ältere Menschen, aktiv geworden sind. Erlassen ist den Interessierten heute der Nachweis der Sportlichkeit. Auch wirtschaftlich gesehen ist der Sport aus dem Rang einer marginalen Freizeitaktivität herausgewachsen und beachtenswert. Durchschnittlich 540 DM gaben 1990 die über 14jährigen Personen in der Bundesrepublik für den Sport aus, so eine jüngste Studie (alte Bundesländer: 589 DM; neue Bundesländer: 347 DM). Noch bestehende Differenzierungen zwischen den alten und neuen Bundesländern werden dabei zunehmend nivelliert. Daß der Sport zu einem eigenen Wirtschaftssektor geworden ist, zeigen darüber hinaus auch die Kennziffern zur Wertschöpfung und die Beschäftigungszahlen. 1990 machte der Sport mit einem Volumen von rund 30 Milliarden DM zirka 1, 4 Prozent der Bruttowertschöpfung aus (alte Bundesrepublik). Zugleich waren rund 604000 Personen im Sportbereich beschäftigt

Die „success-story“ des Sports hat auch eine organisatorische Komponente. Im Unterschied beispielsweise zu Gesangs-und Brauchtumsvereinen oder zur freiwilligen Feuerwehr verzeichnen die Sportvereine, getragen von einem allgemeinen Nachfrage-Boom, kontinuierliche Zuwachsraten. Im Jahr 1950 waren im Deutschen Sportbund (DSB) gut drei Millionen Mitglieder (genauer Mitgliedschaften) organisiert; in den Jahren 1970 und 1980 wurden daraus über zehn Millionen bzw. knapp 17 Millionen. 1990 waren es schließlich weit über 21 Millionen Mitglieder (alte Bundesländer).

Entsprechend wuchs die Zahl der Sportvereine im gleichen Zeitraum von knapp 20000 auf weit über 67000 Vereine. Damit sind die Sportvereine die weitaus erfolgreichste Freiwilligenvereinigung in der Geschichte der Bundesrepublik. Für die Attraktivität der Sportvereine spricht, daß das Prinzip „Verein“ nach der deutschen Vereinigung 1989 auch in den neuen Bundesländern Erfolg hat. Jeden Tag werden -trotz einer teilweise miserablen oder maroden Sportinfrastruktur oder ihres völligen Fehlens -neue Vereine gegründet.

All dies sind Erfolge, von denen beispielsweise Gewerkschaften, Kirchen, politische Parteien und selbst der ADAC nur träumen können. Die Dynamik der Entwicklung zeigt sich aber auch darin, daß, trotz aller Erfolge, das traditionsreiche Deutungs-und Angebotsmonopol der Sportvereine im Bereich der Sportaktivitäten relativiert worden ist. Zwei wichtige Punkte der Organisationsentwicklung im Sport sind damit benannt: Die Vielzahl der unorganisierten Aktivitäten macht die Entbehrlichkeit von Organisationen in Teilbereichen des Sportengagements deutlich; und die kommerziellen Unternehmen, speziell die Fitneßstudios, demonstrieren den Erfolg eines völlig neuen Typus von Sportanbietern, die sich, marktorientiert, auf die veränderte Struktur der Sportnachfrage spezifisch eingestellt haben. Tatsächlich reguliert sich die Nachfrage nach Sport zunehmend unter Gesichtspunkten von personenbezogenen Dienstleistungen. Entsprechend spannungsreich ist das Geschehen in den traditionsreichen Sportvereinen, die ihr Profil und ihre Identität zwischen konfligierenden Ansprüchen ausbalancieren müssen. Zum einen müssen sie nach wie vor den Prinzipien der Gemeinnützigkeit und der Ehrenamtlichkeit genügen bzw. Tugenden der Selbsthilfe-Organisation aufrechterhalten; zum anderen kommen sie um die Berücksichtigung von Ansprüchen auf spezifizierte Dienstleistungen seitens der Mitglieder nicht herum. Das Problem, daß sie in unterschiedlichen Rationalitäten denken und operieren müssen, ist ein Managementproblem ganz spezifischer Art. Mit Praktiken der alten, zum Klischee geronnenen „Vereinsmeierei“ ist das nicht mehr zu bewerkstelligen.

Wo liegen die Ursachen für den Erfolg und die nachhaltige Veränderung des Sports? Was macht ihn erfolgreicher als das Singen, Briefmarkensammeln, Kaninchenzüchten, Basteln oder Bauen von Modellschiffen? Weshalb sind Sportvereine als Freiwilligenorganisationen, die elementar an die Nutzbarkeit der von ihnen vermittelten Funktionen und Leistungen gebunden sind, trotz vieler Schwierigkeiten so viel erfolgreicher als die anderen Freiwilligenorganisationen?

Die Motive, aus denen heraus Sport getrieben wird, liefern Hinweise. In überdeutlicher Weise geht es den Sporttreibenden -das zeigen die Gesundheits-, Fitneß-, Entspannungs-und Ausgleichsmotive -um eine erfolgreiche Arbeit am eigenen Körper und um individuelle Selbstvergewisserung. Unter diesem Gesichtspunkt ergeben sich unterschiedlichste Formen von Lebensstil und Sport. Dabei ist es kein Zufall, daß insbesondere gerade die Sportarten Tennis und Golf Konjunktur haben. Tatsächlich erschließen sich die Gründe für die „success-story" des Sports nur im Rahmen veränderter Persönlichkeits-und Körperideale in der pluralisierten Gesellschaft. Faßbar wird dabei ein doppelter Vorgang. Die Bedeutungssteigerung des Sports ist mit seiner tiefgreifenden Veränderung und einem modifizierten Verhältnis von Sport und Alltagskultur unmittelbar gekoppelt.

II. Fitneß als Kondition für Glück

Die Trias Gesundheit, Fitneß und Spaß, wie sie sich in allen empirischen Erhebungen zur Sport-motivation immer wieder reproduziert, demonstriert in exemplarischer Weise die radikale Abkehr von Normen des klassischen Sports. In allen Fällen geht es den Sporttreibenden verstärkt um selbstbezügliche Nutzenorientierungen. Die Gesundheitsorientierung hat mit dem pauschalen Gesundheitsversprechen des Sports nur noch wenig gemeinsam; die Spaßorientierung steht im denkbar schärfsten Kontrast zu den klassischen Formen der Sportartbindung und Vereinsloyalität der klassischen Sportler bzw. zum Typus einer heroischen Bindung an die Gesinnungsgemeinschaft Sportverein; das Fitneßmotiv bezieht sich auf die Nutzbarkeit von durch Sport und Bewegung bewirkten Effekten physischer Leistungsfähigkeit in außer-sportlichen Kontexten.

In verschiedener Hinsicht findet die These, daß die Selbstbehauptung der Individuen neue psychophysische Tugenden erforderlich macht und daß diese in sportverändernder Weise aus dem Sport importiert werden, ihre prägnanteste Stütze in den Fitneßvorstellungen, die zu einem modernen Begriffsinventar moderner Selbstbeschreibung geworden sind. Personenbezogene Dienstleistungen im Sport wurden erst unter der Kategorie von Fitneß konsumfähig. Entsprechend erfolgte die sprunghafte Gründung und Namensgebung der Fitneßstudios Ende der siebziger Jahre mit schnellen Steigerungsraten in den achtziger Jahren. Um Fitneß bemühen sich Manager und Politiker, Hausfrauen wie widerspenstige Jugendliche. Sie alle werden in Trab gebracht durch einen Begriff, der eine triumphale semantische Karriere hinter sich hat. Wie groß die Beschwörungskraft von Fitneß ist, mag man auch daran ersehen, daß er zum Synonym für Glück, Jugendlichkeit, Gesundheit, Erfolg und Soziabilität geworden ist. Wichtiger aber noch ist ein systematischer Befund. Eine organismusbezogene Eigenschaft, d. h. ein primär physiologisches Merkmal -nichts anderes meinte Fitneß als Bezeichnung zunächst -, wurde zur sozialen Tugend. An dem Vorgang sind drei Momente instruktiv: 1. Er zeigt den Aufstieg einer sport-und körper-bezogenen Begrifflichkeit und Ästhetik in die Alltagswelt, damit zugleich auch die Ausdifferenzierung eines neuen Vokabulars der Selbst-beschreibung. 2. Zugleich wird ein Vorgang der Entkräftung der traditionellen Sportästhetik und Sportmoral deutlich. Fitneß ist nunmehr eine allgemeine Tugend, nicht mehr eine bereichsspezifische Fähigkeit zur Erzielunrg sportlicher Leistungen. Tatsächlich ist Fitneß -auf dem Boden eines veränderten Begriffes des Körpers -zur Kondition von Glück geworden. Zu konstatieren ist eine tiefgreifende Veränderung der Körper-und Persönlichkeitsideale. Die Säkularisierung von Glücksversprechen und Sinn hat ihr anthropologisches Komplement gefunden. Das Glück schreibt sich in den Körper ein. Der Körper wird zum Beweis von Glück. Der präparierte Körper wird zum glücklichen Körper. Entsprechend verschlingt er Energien wie zuvor die Seele: Exerzitien, Übungen, Aufmerksamkeit, Andacht, Diätvorschriften und Buße. Es existieren Sündenregister, daneben Heilsversprechungen, Dialoge mit dem Körper werden zur Gewißheitssuche. Die Anstrengungen haben ihre Balance in den vielerlei Sorten von Glück, die sich erwerben lassen: das Glück der Selbstfindung, das erotische und berufliche Glück. Es ist eine Pointe der abendländischen Geistesgeschichte mit ihren Traditionen der Körperunterdrückung, daß nunmehr dem gestrafften und geformten Körper Leistungen psychischer Inspiration und Stärkung zugetraut werden, die vorher mit dem Konzept Seele verbunden waren. Das individuelle Heil kommt direkt aus den Leistungen des ertüchtigten Körpers, während die Bemühungen um die Seele, erfolgen sie ohne körperliche Anstrengungen und Schweiß, zunehmend blaß werden und dmod sind 3.

III. Die Vielfalt der Sportlandschaft

Spaziergänger oder Radfahrer nehmen für ihre sonntägliche Aktivität gern die Attribute des Sports in Anspruch; sie treiben, so ihr Verständnis, Sport; gleiches gilt für die Schwimmer, die eigentlich nur hin und wieder baden. Viele „weiche“ Sportarten, so wie sie sich im Rahmen der neueren Sportgeschichte entwickelt haben, bilden keine Sportrollen und Organisationen mehr aus; die Motive Gesundheit, Spaß und Fitneß haben überkommene Formen des Sporterlebens und der Sportgestaltung wie der Sportsozialisation diffus und konturenlos werden lassen. Der Terminus Freizeitsport, der, strenggenommen, höchst redundant ist -Sport wurde immer schon primär in der Freizeit ausgeübt -, gewinnt seine Prägnanz dadurch, daß er die Befreiung von den symbolischen Auflagen und Zwängen der traditionellen Sportrollen signalisiert. Häufig sind die Grenzen zwischen Sport und „bloßer Bewegung“ unscharf.

Veränderungen und semantische Verschiebungen finden sich aber auch in klar konturierten Bereichen des Sports. Der Hochleistungssport hat mit dem traditionellen Sport nur noch wenig gemein; die Selbstdarstellung der Athleten hat Momente der Showbranche aufgegriffen. Überdies hat sich der Sportartenkanon immens erweitert, und es findet sich eine Multiplizierung von Inszenierungen individueller Sportlichkeit.

Entsprechend gilt, daß Bunjeespringer, Wildwasserkajakfahrer und Freeclimber oder Drachenflieger mit ihren Thrill-Bedürfnissen wenig Gemeinsamkeiten mit den keuchenden, vom Gesundheitsmotiv getriebenen Gelegenheitsjoggern in den Stadtparks haben. Beide Gruppen würden sich aber auch den Vergleich mit traditionellen Sportlern verbitten. Die an expliziter Körperformung interessierten Aerobic-und Callanetics-Anhängerinnen in den Fitneßstudios und Volkshochschulenwiederum unterscheiden sich beispielsweise höchst markant in Körper-, Selbst-und Leistungsverständnis von leistungsorientierten Leichtathletinnen. Bei den Aktiven in den vielerorts entstehenden Seniorengruppen sind die sportbezogenen Leistungsansprüche gesenkt; gleiches gilt für die Teilnehmer in den Herzsportgruppen, von denen es in der Bundesrepublik mittlerweile mehr als dreitausend gibt. Dennoch betreiben beide Gruppen in ihrem Selbstverständnis Sport. Daß Bodybuilder einen völlig anderen Dialog mit ihrem Körper als laufsüchtige Langstreckenläufer führen, sieht man. Ein differenziertes Sport-und Selbstverständnis sowie Vokabular kommt wiederum bei den Behindertensportlern zum Zuge, die ihre eigenen Weltmeisterschaften und Olympiaden haben.

Völlig verwirrend sind, gemessen an den Bildern und Vorstellungen der Tradition, schließlich all jene Sportimporte aus Asien, anhand derer man zum Atmen wie zu den einzelnen Körperteilen wie dem Körperinneren eine meditative Beziehung unterhält. Selbst der Bewegungsstillstand kann zum Ereignis werden. Der philosophische Aufwand von Tai Chi, Taijiquan, Yoga, Shiatsu, Budo, Hapkido beschämt dabei jedes unkomplizierte, naiv-ursprüngliche „Frisch-fromm-fröhlich-frei" -Denken. Die Selbstvergewisserung geht ihre eigenen Wege, so auch, wie in vielen anderen Sportarten, den Pfad ins Innere.

Die skizzierten Momente haben ihre Gemeinsamkeit in drei Punkten. Die Differenzierung des Sports ist mit einer Entwertung bzw. Entleerung der Normen und Praxisformen des traditionellen Sports ursächlich verbunden. Charakteristisch ist im weiteren, daß die traditionellen Formen der individuellen Selbstbegrenzung aufgehoben werden, die für den klassischen Sport konstitutiv waren. Das Medium Sport wird zum Instrument attraktiver Selbsterfahrung und -darstellung. Für den Kenner der Sportgeschichte ist es ein Vorgang ganz eigener Art, daß in einem Bereich, in dem das Wort Disziplin einen spezifischen Rang hatte -man zeigte Disziplin und übte eine (Sport) Disziplin aus -, nunmehr Maßstäbe der erfolgreichen Selbstverwirklichung regieren.

Dem entspricht die Logik der Genese neuer Sportarten. Sie sind Erfindungen zur Steigerung des Selbsterlebens. Aus dem Laufen wurde das Joggen, aus der Gymnastik die verschiedensten Varianten von Aerobic. Surfen, Triathlon, Drachenfliegen sind unter dieser Doktrin völlig neu erfunden worden. Entsprechend ist die Sportart-Entwicklung einer Steigerung der Ich-Erfahrung verpflichtet, die im scharfen Kontrast zu den Einheitsvorstellungen des traditionellen Sports steht, in dem die sozialen Rollen scharf umrissen und die Möglichkeiten der Individualisierung limitiert waren. Bedenkt man den Traditionsbezug des Sports, die Normen der emotionalen Integration und der Einheit, so bekommt man eine Ahnung vom grundsätzlichen Wandel des Sports und seiner Funktionen.

Tatsächlich lassen sich die höchst unterschiedlichen Motive, Erlebensformen, Selbstdarstellungsstile, Körperkonzepte, Inszenierungs-und Organisationsformen des Sports nicht mehr in ein Schema einordnen, das mit Unterscheidungen von Breiten-und Leistungssport arbeitet und im übrigen von der Einheit des Sports ausgeht. So vielfältig und widersprüchlich die Veränderungen auf den ersten Blick erscheinen, und so sehr sie sich sportimmanenten Erklärungen entziehen, sie lassen sich doch in den Grundzügen systematisieren, ordnen und deuten.

Drei Ausdifferenzierungsprozesse, die sich gegenüber dem traditionellen Wettkampfsport mit seinen Normen und Werten verselbständigt haben, sind charakteristisch: 1. Im Hochleistungssport ist das Motiv Leistung auf Kosten anderer Motive ausdifferenziert worden. 2. Im Freizeit-und Breitensport steht das Motiv Spaß im Vordergrund. 3. Im Gesundheitssport findet sich die Steigerung des Motivs Gesundheit.

Ausdifferenzierung heißt in diesem Fall, daß Vorstellungskomplexe, die im traditionellen Sport in ihrem Zusammenhang gesehen wurden, nunmehr isoliert wahrgenommen und im Erleben bzw. in der Nachfrage gesteigert werden. Die jeweiligen Normen-und Wertkomplexe verselbständigen sich auf Kosten der jeweils anderen Sinnrichtungen des Sports. Entsprechend verliert der Spaß-und Freizeitsport die Orientierung an Leistung und Wettkampf. Im Gesundheitssport wiederum sind Gesichtspunkte von Spaß und Kommunikation zunächst sekundär; häufig entpuppt sich die Sport-motivation als Gesundheitsanstrengung und ist das Sporttreiben stärker vom Streben nach Gesundheit denn vom Sport her geprägt. Daß im Hochleistungssport Leistung und Gesundheit nicht mehr ohne weiteres kompatibel sind, ist mittlerweile hinreichend bekannt. Die Konzentration auf die Leistung hat in diesem Fall nicht nur die Relativierung, sondern die Beschädigung eines sonst selbstverständlich integrierten Wertepaares bewirkt.

IV. Die Triumphe der Sportästhetik im Alltag

Die These, daß der Sport für Zwecke der individuellen Selbstvergewisserung in den Dienst genommen wird und sich dabei verändert, läßt sich mit einem Blick auf die Praktiken alltäglicher Kommunikation und die Zyklen von Konsum und Selbsterleben erhärten. In allen Bereichen zeichnen sich drei Momente ab: die variantenreiche Nutzung des sportbezogenen Zeichensystems, seine Veränderung und Umdeutung, somit die Hebung bzw. Adelung der Tugenden von Fitneß und Sportlichkeit zu Merkmalen eines erfolgreichen Lebensstils bzw. einer ästhetischen Existenz.

Präzise Vorstellungen eines modellierbaren Körpers, beinahe chirurgische Ambitionen hinsichtlich ausgewählter, zu formender Körperteile sowie Ansprüche der ästhetischen Selbstverwirklichung sind beispielsweise charakteristisch für die Wünsche der Kunden von Fitneßstudios. Nur in der Topologie der zu verbessernden Körperzonen variieren noch die Wünsche von Männern und Frauen, aber nicht mehr in der generellen Absicht, Fitneß zu erwerben und ein attraktiveres Aussehen zu erreichen. Ebenfalls klare, allerdings ganz andere, buchstäblich gewichtigere Maßvorstellungen haben die Bodybuilder. Sie sind ohnehin vom Verdacht befreit, daß sie sich -bei Besichtigung ihres Körpers vor dem Spiegel oder gar beim öffentlichen „posing“ -an Bagatellen orientieren könnten. Der Dialog, den wiederum passionierte Jogger mit ihren Körper-symptomen führen, hat demgegenüber -nicht selten geht es um meditative Beziehungen -buchstäblich metaphysischen Charakter. Die spektakuläre Überwindung aller Alltäglichkeit und Nebensächlichkeit und der riskante Gewinn des eigenen Selbst sind explizites Ziel der zu diesem Zweck „erfundenen“ und kultivierten Sportarten. Das Bunjeespringen, Snowboardfahren, Skysurfen oder Extremklettern treiben den Körper zum Zweck der ekstatischen Selbstvergewisserung in extreme Situationen.

Charakteristisch ist, daß die skizzierten Formen körperlicher Selbstvergewisserung -ob in milder oder extremer Form -die Aufmerksamkeit dirigieren und nicht selten lebensstilprägend werden. Daß sich die individuellen Strategien der Selbstvergewisserung mit der Positionierung von Produkten der Wirtschaft trefflich arrangieren läßt, zeigen Erfolg und Verbreitung der sportbezogenen Werbung. Ob es um den Absatz für Joghurts, Margarine, Selterswasser oder um die Aufmerksamkeit für Butter und Schokolade geht, kaum eine Werbung verzichtet noch auf das Zeichensystem des Sports. Für Automobile gilt dies schon lange. Die Idee des „sportlichen Fahrens“ als automobile Version des Glücks und des „guten Lebens“ hat eine entsprechend lange Tradition. Der Triumph der Sportsymbolik zeigt sich aber insbesondere dort, wo sie symbolischen Mehrwert aus dem Nichts oder in problematischen Situationen schafft. Für die Imagewerbung von Chemieunternehmen, Computerherstellern oder Lebensversicherern -sie haben jeweils anders gelagerte Image-oder Bekanntheitsprobleme -nutzen die Unternehmen in ihrer Öffentlichkeitsarbeit bzw. Informationspolitik den Sport für Zwecke des Imagetransfers bzw. Sympathiegewinns. 1991 wurden in der Bundesrepublik zirka 1, 5 Milliarden DM für das Sportsponsoring ausgegeben.

Die Allgegenwart der Sportsymbolik in der Werbung verdunkelt allerdings zunehmend den Sachverhalt, daß diese Entwicklung in vier entscheidenden Punkten von konstitutiven Merkmalen des klassischen Sports abrückt. Verschüttet werden die Traditionen der Selbsthilfe des Sports, wie sie in den Ideen der Ehrenamtlichkeit zum Ausdruck kamen; die Idee des Amateurs, der sich seine Leistung nicht bezahlen läßt; Ideenkomplexe der Askese und der Selbstbegrenzung, wonach die Bindung an den Sport als Zensur über andere Bedürfnisbefriedigungen wirkte, die Orientierung am Gebrauchs-wert der Sportbekleidung und Sportgeräte, die man, ohne jeglichen ästhetischen Ehrgeiz, bis zu deren völliger materieller Erschöpfung trug.

Die keineswegs auf den Hochleistungssport beschränkten Professionalisierungs-und Kommerzialisierungsprozesse untergraben die ehemals antimonetären Einstellungen. Der Sport, dies bezieht sich auf die Sportarten wie die Requisiten seiner Ausübung, ist in die Logik des allgemeinen Konsums einbezogen, also auf den erlebnisbezogenen Genuß des Kaufens und Verbrauchens ausgerichtet. Nicht mehr abgeschirmt durch emphatische Ideale der Askese und des Gebrauchswerts wie ehedem, sind Sportler heute Konsumenten wie andere auch -ohne Widerstandskraft gegenüber den Verlockungen der Warenwelt. Der ästhetische Genuß und Verschleiß, der für einen immer schnelleren Umschlag der Produkte sorgt und auch die Sportarten einbezieht, steht in größter Opposition zu den früher charakteristischen emotional-sentimentalen Bindungsformen an Sportart wie Sportrequisit. An derartigen Verschiebungen gibt sich die Gewalt der Veränderungen besonders prägnant zu erkennen.Eine Politik des Erwerbs symbolischen Mehrwerts und Strategien des Imagetransfers betreiben auch die Individuen selbst, wenn sie mit Sport-accessoires -zu denken ist an die Karriere der Sport-und Turnschuhe, an die Sportpullover und -taschen -im Alltag auftauchen. Nichts kann auch nur annähernd ähnlich ergiebig die Momente von Lässigkeit, Lockerheit, Modernität und individueller Souveränität vermitteln wie Turnschuhe. In einem Emanzipationsvorgang ohnegleichen stiegen die Sportrequisiten zu ästhetischen Instrumenten der attraktiven individuellen Selbstdarstellung auf. Bei den Jugendlichen der Turnschuh-generation hat dies, in Kombination beispielsweise mit Jeans und T-Shirts, möglicherweise auch einem Skatebord, einen anderen Stil als bei Jungunternehmer/innen, die ihre in der Boutique gekauften Markenpullover tragen. Noch wichtiger für die attraktivere Selbstdarstellung ist es, wenn der sportliche und schlanke Körper selbst Zeugnis gibt von Jugendlichkeit, Dynamik und Erfolgs-fähigkeit sowie Potenz seines Besitzers. Tatsächlich stellt die Nutzung des Zeichensystems des Sports eine Zäsur in der Geschichte der Persönlichkeits-und Körperideale dar. Pointiert ausgedrückt: Kaum ein Symbolsystem in der deutschen Nachkriegsgeschichte ist in der sozialen Lebens-welt auch nur annähernd so erfolgreich gewesen wie das des Sports.

V. Sport als Medienereignis

Die Entwicklung des modernen Sports wäre ohne den Einfluß der Massenmedien, insbesondere der elektronischen Medien, nicht denkbar gewesen. Andererseits sind die modernen Medien im Werben um Zuschaueranteile und Reichweiten zunehmend auf den Sport zur eigenen Profilierung angewiesen. Die Geschichte der Übertragungen von sportbezogenen Großereignissen -so z. B. Olympische Spiele und Eiskunstlauf-oder Fußballweltmeisterschaften -demonstriert die zunehmende Verquickung von Medien-und Sportentwicklung. In diesen Zusammenhang paßt, daß Fußball und Tennis Sendetermine des Fernsehens umwerfen. Nicht gerade häufig, aber immerhin auch nicht ganz selten unterwirft sich sogar die Tagesschau, das strukturgebende Prinzip des deutschen Fernsehalltags, dem Zeittakt spezieller Sportveranstaltungen -nichts könnte die gewachsene soziokulturelle Bedeutung des Sports besser ins Bild setzen.

Nach einer nur kurzen Zeit der Verkennung des Medienwerts des modernen Sports -der kurzen Phase, in der Sportwerbung noch „Schleichwerbung“ war -wurde der Kampf um die Sportarten Fußball und Tennis zu einem dramatischen Kapitel der jüngeren Mediengeschichte. Entsprechend läßt sich -in Erweiterung der Rekorde nach Sekunden oder Zentimetern -die Bedeutung des Sports auch in Medienrekorden, sprich Einschaltquoten, ausdrücken. Daß die Unterschätzung des Sports unliebsame Folgen haben kann, davon können die öffentlich-rechtlichen Anstalten nunmehr ein Lied singen. Die Eroberung von Senderechten -insbesondere beim Fußball und Tennis -spielte bei der Profilierung der Privatsender, speziell von RTL, eine zentrale Rolle; sie haben den Gewinn von Marktanteilen katalysatorisch begleitet.

Die Dinge berühren und stimulieren sich. Bei den Winterspielen in Lillehammer waren beispielsweise mehrere hundert Millionen Menschen weltweit an den Fernsehgeräten. Noch jede Olympiade oder Weltmeisterschaft (zumindest in den telegenen Sportarten) hat, sofern es die Bedingungen zuließen, für neue Publikumsrekorde gesorgt. Entsprechend ist selbst das Knie der Nancy Kerrigan nicht mehr nebensächlich geblieben; erst recht nicht die Eisenstange, mit der das Attentat verübt wurde, der böse Blick, die Verwandtschaft und das verkrampfte Verhalten von Tonya Harding, eingeschlossen ihr zerrissener Schnürsenkel am Tage der Kür. Auch wissen wir nunmehr um die Englischkenntnisse von Schorsch Hackl und die folkloristischen Präferenzen von „Rasi-Wasi“. Deutlich daran wird, wie sehr die komplexen Gesellschaften ihren Bedarf an Personen, Geschichten, an konkreten Ereignissen und nachvollziehbarem Sinn aus den semantischen und bildgebenden symbolischen „Kraftwerken“ der Großereignisse des Sports decken. Die Versorgung des Alltags mit Sinn und Stoff geschieht aus den Ressourcen des Sports.

VI. Die Exzentrik der Spitzensportler

Bei Boris Becker ist die Öffentlichkeit nicht nur an seinen Turniersiegen interessiert bzw. an der Frage, ob sie nun endgültig ausbleiben. Ob er einen Bart oder Hut trägt, welche Freunde/innen er hat, welche Journalisten er vergrätzt, welchen Trainer er entläßt, welche Meinung er zur Hamburger Hafen-straße hat, wie sein neugeborenes Kind heißt, alldas fasziniert die Öffentlichkeit. Auch daran ist manches tagesschaufähig. Entsprechend sind, so in einer kürzlich publizierten Fotosequenz, die Etappen einer stürmischen biographischen Entwicklung im Sinne eines extra-ordinären Bildungsromans bekannt und ikonographisch fixiert: Erst der Jugendliche mit den weichen Gesichtszügen, dann die Bilder der Mannwerdung, dann die aus dem Sportbereich heraus-drängenden Bilder mit dem Dreitagebart, die Bilder mit dem Hut. An diesen Momenten zeigt sich eine neue Entwicklung. Zwar waren hervorragende Sportler immer schon Gegenstand des öffentlichen Interesses. Aber dies geschah im bindenden Rahmen fester Konventionen und Klischees, speziell im Rahmen des Stereotyps des „nice guy“, des netten bescheiden gebliebenen jungen Mannes, der lediglich durch seine Leistung, nicht aber durch seine individuelle Persönlichkeit hervorsticht. Allenfalls, daß die Bescheidenheit einen besonderen Rang ausmachte. Entsprechend kann man die Selbstdarstellung eines Max Schmeling, eines Gottfried von Cramm oder Fritz Walter als sportartspezifische Varianten und Interpretationen des Bescheidenheits-Topos und der Begrenzung von Individualität auffassen. Das Beispiel Boris Beckers ließe sich, bleibt man beim Tennis, erweitern durch die Selbstdarstellung eines Agassi, McEnroe und vieler anderer. Die spektakulären Auftritte der Tennisstars machen auf einen folgenreichen Vorgang veränderter Selbstdarstellungsweisen sowie Rezeptionsstile der Öffentlichkeit aufmerksam. Er ist durch folgende Momente gekennzeichnet: 1. Die Selbstdarstellung der Athleten bricht aus dem Bannkreis traditioneller Sportmoral aus und verschmilzt mit anderen kulturellen Konventionen extrovertierter Präsentation. 2. Tatsächlich hat der Spitzensport zunehmend Elemente des Showbusineß angenommen und mit ihm die Zwänge einer interessanten individuellen Selbstdarstellung. Tennisschläger, die zu Bruch gehen, teilen zunehmend das Schicksal von Gitarren in der Popmusik. Der Konvergenz der Requisiten entspricht die Angleichung der Selbstdarstellungsstile von Sport-und Popstars. In der Geschichte des Sports ist dies ein neues Phänomen. Die ekstatische Darstellung von Individualität und Eigenwilligkeit, nunmehr vom Publikum außerordentlich geschätzt, teilweise provoziert, hat keine kulturelle Tradition im Sport.

Die Ursachen für diese sich beschleunigende Entwicklung sind vielfältig. Die Konkurrenz der Medien untereinander, neue Präferenzen und Sehbedürfnisse angesichts der Medienentwicklung, veränderte Einstellungen der Zuschauer, all das spielt eine nicht gering zu veranschlagende Rolle. Die wichtigsten Ursachen wird man allerdings in den veränderten Bedingungen der Produktion sportlicher Höchstleistungen zu suchen haben -in den veränderten Bedingungen der Sozialisation von Spitzenleistungen. Was für den Teufelsgeiger des 19. Jahrhunderts galt, gilt nunmehr auch für die Protagonisten des Sports. Nur auf der Basis immenser Trainingsleistungen und eines Lebens für den Sport sowie einer quälerischen Virtuosen-askese erreicht man das internationale Leistungsniveau. Die Exzentrizität der Selbstdarstellung zeigt die Bedingungen der Leistung -Asymmetrien in sozialer wie zeitlicher und sachlicher Hinsicht sind, verglichen mit einer Normalbiographie, unerläßlich.

Entsprechend ist, wie im 19. Jahrhundert im Bereich der Kunst, die Virtuosendarstellung auch im Sport wahrscheinlich geworden. Die Exzentrizität der Leistungsbiographie erscheint als Wahrheit der Gesamtbiographie. Jedenfalls haben Spitzensportler keine große Veranlassung mehr, im Sinne der alten Bescheidenheitstopoi die exzentrischen Bedingungen und Voraussetzungen ihrer Spitzenleistungen zu unterdrücken. Natürlich kann man auch nett, sympathisch bleiben, jedermanns Darling -und die Sportsendungen beweisen die Weiterexistenz dieses Selbstdarstellungsstils -, aber es ist nur noch ein Stil unter anderen. Unverkennbar ist der Wunsch des Publikums nach interessanteren Selbstdarstellungen.

VII. Fußball und Tennis: der „alte“ und der „neue“ Sport

Wollte man die „erfolgreichsten“ Sportarten der jüngeren Sportgeschichte benennen, so kommen -bei Berücksichtigung der Kriterien Verbreitung, sportrollenprägende Kraft sowie öffentlichkeitswirksamer Charakter als Zuschauersport -nur zwei Sportarten in Frage: Fußball und Tennis. Sie sind in dieser Position weithin unangefochten.

Unterschiedlicher könnte ein Duo allerdings nicht sein. Geschichte, Stil und Rezeption wie auch die Bedingungen des Erfolgs weichen eklatant voneinander ab. Es ist die grundlegende Differenz zwisehen einem traditionell „elementaren“ und einem neuen lebensstilbezogenen Sportkonzept, die sich bemerkbar macht. Zur Geltung kommen zwei unterschiedliche Erfolgsmodelle des Sports. Trotz vieler Gemeinsamkeiten, wie sie jedem Kampfsport eigen sind -die Klarheit der Abläufe, die Eindeutigkeit der Gegnerschaft, die Konstruktion von Spannung durch Ungewißheit, die Personalisierung etc. -, zeigt sich die Unterschiedlichkeit allein schon in der Phänomenologie des Sichkonzentrierens. Im Tennis erregt die Art des Sichsammelns des Protagonisten vor dem Aufschlag Aufmerksamkeit und erreicht nicht selten den Rang einer Meditation, im Fußball wäre dies, etwa bei Einwurf, unverständlich -ein dummes Ärgernis. Der spektakuläre Hechtsprung an der Linie oder vor dem Netz, im Tennis bei einer konkreten Person zum Stilmerkmal geworden, ist im Fußball eine Bagatelle. Selbst die Art des Beschimpfens von Linienrichtern differenziert -im Tennis streift sie Momente einer Charakteräußerung, im Fußball bleibt sie -ein häufiges Moment im Gewirr von Aggressionen, Tätlichkeiten -rüpelhaft. Zweifellos bietet das Fußballspiel unendlich mehr Möglichkeiten des Hechtens, Fallens und Rempelns. Der Kosmos der Emotionen ist viel weiter gespannt. Aber all das bleibt äußerlich, wird nicht zum persönlichen Stil von Spielern. Auch das „Tor des Monats“ ändert daran nichts. Es ist wunderbar als Torschuß -weitgehend unabhängig vom Schützen.

Die Grenzziehung zwischen den beiden Sportarten ergibt sich durch ihre Eignung, Individualisierung zuzulassen bzw. individuellen Merkmalen und Ansprüchen der Aktiven (Zuschauer) Form zu geben. Die Feindosierungen, die Tennis ermöglicht -im Bereiche des Verhältnisses von Leistung und Lebensstil und beim Genuß der eigenen Selbstdarstellung bzw.des Einbaus des Lebensstils in die Sportausübung -, erklärt seine Doppelkarriere. Tennis ist als Zuschauersportart und als von Millionen aktiv ausgeübter Volkssport erfolgreich. Anders der Fußball. Als Zuschauersportart ist er erfolgreicher denn als betriebene Sportart. Was er an Hingabe, physischem Einsatz fordert, auch an Entdifferenzierung, sieht man gern am Fernsehapparat; die Ausübung überläßt man den Jüngeren. Im Unterschied zu den Darstellungsmöglichkeiten im Tennis ist die Fußballerrolle mit den Lebensstil-rollen im Erwachsenenalter nicht mehr vereinbar, außer man erlaubt sich den exotischen Spaß des Kickens in einer Theken-oder Altherrenmannschaft. Dem Gesagten ordnet sich die Skala von Getränken und Gerichten zu. Fußball ist, in der ausgeübten Form, gastronomisch beim Bier und dem Jägerschnitzel stehengeblieben. Tennis erlaubt unterschiedliche Kombinationen: Kaffee und Tee, natürlich auch das kühle Pils, weiterhin aber Sekt und Champagner, gegebenenfalls auch Kaviar.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Volker Rittner u. a., Sportinfrastruktur im Kreis Neuss. Forschungsbericht, 2 Bde,, Köln 1989.

  2. Vgl. Wolfgang Weber u. a., Die wissenschaftliche Bedeutung des Sports. Abschlußbericht, Paderborn 1994.

  3. Vgl. Volker Rittner, Psychosomatik und Zivilisierung, in: G. Jüttemann/M. Sonntag/Ch. Wulf (Hrsg.), Die Seele. Ihre Geschichte im Abendland, Weinheim 1991, S. 512-527.

Weitere Inhalte

Volker Rittner, Dr. phil., geb. 1946; Professor für Soziologie und Sportsoziologie; Leiter des Instituts für Sportsoziologie an der Deutschen Sporthochschule Köln. Zahlreiche Veröffentlichungen zu sportsoziologischen und medizinsoziologischen Themen.