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Europa beginnt in Sarajevo. Gegen den Skeptizismus in der europäischen Wiedervereinigung | APuZ 42/1994 | bpb.de

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APuZ 42/1994 Nation im vereinigten Deutschland Nationalismus -ein Alptraum? Die ungeliebte Nation. Gedanken zu einer immer noch aktuellen Diskussion Europa beginnt in Sarajevo. Gegen den Skeptizismus in der europäischen Wiedervereinigung Frankreich und Europa

Europa beginnt in Sarajevo. Gegen den Skeptizismus in der europäischen Wiedervereinigung

Claus Leggewie

/ 26 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Europäische Konföderation -das Ziel der föderalistischen Bewegungen im Widerstand gegen Hitler und der ökonomisch fundierten Integrationspolitik der fünfziger und sechziger Jahre -ist ins Stocken geraten. Nationale Alleingänge und nationalistische Aversionen, die auf eine grundsätzliche Revision des „Projekts Europa“ hinauslaufen, machen sich in der öffentlichen Meinung breit und gewinnen Einfluß auf die politischen Entscheidungsträger. Der Prozeß der Vertiefung wird ebenso verzögert, wie das Vorhaben der Erweiterung auf die lange Bank geschoben wird. Das Ziel der europäischen Wiedervereinigung ist gefährdet, auch in der Bundesrepublik Deutschland wird die Nation zur politischen Grundeinheit erklärt. In dem Aufsatz werden die (Schleich-) Wege beschrieben, auf denen sich eine Europäische Konföderation -jenseits der klassischen Alternative Staatenbund versus Bundesstaat -und damit ein neuartiges supranationales Regime herausbilden kann: lebensweltliche „Europäität“, ökonomischer Pragmatismus, institutionelle Aktivbürgerschaft, europäisches Recht und humanitäres Engagement. Die europäische Zivilgesellschaft kommt aber nicht ohne politisch-institutionelle Fortschritte aus.

I. Vom Europa der Vaterländer zum Vaterland Europa?

Ernest Renan schrieb 1882: „Die Nationen sind nichts Ewiges. Sie haben einmal angefangen, sie werden enden. Die europäische Konföderation wird sie wahrscheinlich ablösen. “

Ach, Europaexperten: Die einen verströmen berufsmäßigen Optimismus, üben sich im Integrationsjargon der „alten Hasen“ und nähren gerade damit Vorurteile gegen die Brüsseler Eurokratie und die mit ihr verfilzte Wissenschaft und Publizistik Die anderen warnen vor dem Brüsseler „Moloch“ und erheben den Nationalstaat zur politischen Grundeinheit schlechthin, die durch „Maastricht“ schwer bedroht sei Beide Parteien nehmen Realismus und Wirklichkeitssinn für sich in Anspruch. En passant wird dabei gerne auf „Sarajevo“ verwiesen -als Chiffre für supranationale Illusionen, die zwangsläufig in die ethnische Säuberung ausarten. Daß Europa in Sarajevo endet, hat den Charakter einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Nationalistische Resignation und Bürokratische Routine bestärken sich gegenseitig.

Mit dem realexistierenden Europa hat das wenig zu tun: Die Tummelplätze der Ferien-und Klassenreisenden, die Routen der Geschäftsleute, die Schauplätze von Musik, Fernsehen, Moden und Sport bilden längst eine europäische Szene, die nach und nach den Eisernen Vorhang in den Köpfen und Herzen überwindet. Zwischen Cabo Säo Vicente und Kap Arkona, Rhodos und der Isle of Man bewegen sich insbesondere junge Europäer mit geradezu unverschämter Selbstverständlichkeit. Was sie dabei als „Europäer“ ausweist, ist am ehesten die Wahrnehmung des Raums, den sie mit einiger Leichtigkeit durchmessen, und eine eher beiläufig konstatierte Differenz zu Amerikanern, Afrikanern und Asiaten. Dieses unausgesprochene Zugehörigkeitsgefühl wird bei Anlässen praktischer Völkerverständigung beeinträchtigt durch fehlende Sprachkenntnisse; aber wo man sich versteht, entsteht „Europäität“ um so besser. Explizite Nationalgefühle sind in der jüngeren Generation in der Regel schwach ausgeprägt. Wo sie stärker werden, können sie mit expliziten Aversionen gegen Europa einhergehen, schließen aber selbst dann die selbstverständliche Freizügigkeit im europäischen Raum nicht aus, wie der mobile Internationalismus nationalistischer Skins und Hooligans belegt.

Generell sind Fremdenfeindschaft und Nationalismus unter jungen Europäern ein Skandal und eine Rarität. Stärker verbreitet sind lokale und regionale Heimat-und Sympathiegefühle, auch ein diffus weltbürgerliches Solidaritätsgefühl. Nur ein Drittel der Jugendlichen fühlt sich laut einer Umfrage vom Sommer 1994 „in erster Linie“ als Deutsche; der Rest identifiziert sich vorrangig als Frankfurter, Hesse, Westdeutscher, Europäer oder Weltbürger *Solche Identitäten unterlaufen bzw. übergehen die nationale Ebene, ohne die nüchterne Anerkennung der aus nationaler Zugehörigkeit resultierenden Vorzüge und Verpflichtungen abzustreiten. „Nation“ bedeutet für die meisten „gar nichts“ oder ist „ein altmodischer Begriff“, für andere eine „Notwendigkeit“, ein anderes Wort für „Solidarität“ oder „ein schönes Gefühl“, für die wenigsten „Schutz vor Fremden“ oder eine „Gefahr für den Frieden“. Befragungen und Beobachtungen unter jungen Bewohnern Europas kann man so deuten, daß sich bei ihnen eine gestaffelte, schwer hierarchisierbare und insgesamt schwach besetzte Gemengelage von Wir-Gefühlen herausgebildet hat, ein differenziertes System kollektiver Identitäten, in dem sich Herkunft und Heimatgefühl, Geschlechtsidentität, Ost-West-Differenz, Generationszusammenhang, Nationalität, Europäität und Weltbürgertum vielfach überlappen und vermengen. Aus der Wahrnehmung der historischen und aktuellen Katastrophe des Nationalismus ist eine gesunde Skepsis gegenüber dem Nationalstaat, aber noch kein europäisches Vaterlandsgefühl erwachsen. Ralf Dahrendorfs Beobachtung, daß „Europa, dem scheinbaren Verschwinden von Grenzen und den burgunderroten Pässen zum Trotz, keinen Anlaß zu einem Aufschwung der Gefühle“ gibt, ist zutreffend. Aber seine Behauptung, daß Europa keinerlei Ligaturen (Tiefenbindungen) schafft, ist empirisch falsch

Lebensweltlich dürfte Europäität nicht mehr viel schwächer ausgeprägt sein als Nationalität, die in der öffentlichen Meinung und in der Umfrageforschung den Ton angibt. Das Wort Europa ist überwiegend positiv besetzt; es wird mit Kultur, Zukunft und Frieden assoziiert und als zweite Heimat empfunden, aber auch mit Bürokratie, deutscher Zahlmeisterrolle, Rinderwahnsinn, Butterberg und Mafia in Verbindung gebracht. Darin drückt sich die vierzigjährige Erfolgs-und Leidensgeschichte der westeuropäischen Integration aus, eine Mischung aus gelebter Freizügigkeit, genossenem Wohlstand und hingenommener Brüsseler Politik. Der bedeutende Unterschied zum Nationalbewußtsein besteht darin, daß Europäität kaum Symbole hat und ohne Pathos auskommt. Die symbolische Materialisierung Europas heißt bei jungen Leuten „Interrail“. „Europa“ provoziert weniger Identifikation und weniger Ablehnung als die offenbar unsterbliche „deutsche Frage“. In der Bewertung Europas gibt es auch wenige Unterschiede zwischen Ost-und Westdeutschen, weniger und besser Ausgebildeten, Linken und Rechten. Am wenigsten als Europäer fühlen sich bezeichnenderweise westdeutsche PDS-Anhänger, am meisten das Gros der Ostdeutschen, einschließlich der „national“ gesonnenen, worin sich die Freude über die gewonnene Freizügigkeit widerspiegeln dürfte. Wenn ältere Redner in europaseliger Erinnerung der Pioniertaten und gemeinsam beseitigten Grenzzäune gedenken, übertragen sie Wahrneh-mungsmuster der europäischen Selbstzerstörung auf den eingefleischten Postnationalismus der Nachgeborenen, der sich (aus guten Gründen) insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland, aber nicht nur dort, ausgebildet und tradiert hat. Diesem fehlen starke Symbole, zumal der erreichbare europäische Bereich noch einmal weit-und multikulturell von den Trivialmythen der Medien, Werbung und Mode durchdrungen ist „Europa“ ist selbstverständlich geworden, hat aber nur schwache politische Konturen. Der Generation der 89er, die den Fall der Mauer erlebt hat, ist eine allmähliche Wiedervereinigung Europas auf lebensweltlicher Ebene zuzutrauen. Aber fraglich ist, was sie anti-europäischen Bewegungen und Stimmungen entgegenzusetzen hat, die auf die Risiken der offenen Grenzen mit einer nationalistischen Panik des sauve qui peut reagieren.

II. Europa 2000: Kein Staatenbund mehr und noch kein Bundesstaat

Wie verhält sich diese lebensweltliche Europäität zur politischen Institutionalisierung der Europäischen Union? Wie europäisch bleiben Europäer, denen Europa gewissermaßen in den Schoß gefallen ist, wenn der Euro-Skeptizismus der geistigen Welt und der ökonomische Nationalismus auf die politische Entscheidungsebene übergehen und den Prozeß der Europäischen Konföderation verlangsamen, revidieren oder ganz stoppen? Diese Frage stellt sich besonders den Deutschen, da die Konstruktion der Bundesrepublik eng mit dem europäischen Supranationalismus verbunden war und ist. Und jede Revision der politisch-kulturellen Westbindung in Deutschland würde auch die europäische Zukunft verdüstern. Die glückliche Fügung, daß in den achtziger Jahren sowohl die deutsche wie die europäische Wiedervereinigung in Gang gekommen sind, darf nicht durch eine künstliche Opposition beider Ziele -Nation oder Europa -zunichte gemacht werden. Am Ende dieses Prozesses muß vielmehr ein europäischer Verfassungsstaat und eine europäische Unionsbürgerschaft stehen. Das ist mehr als ein lockerer Staatenbund, aber noch kein Bundesstaat im klassischen Sinne Die Europäische Gemeinschaft war von Beginn an „ein neues Organisationsmodell in der europäischen Geschichte. Ein supranationales Regime mit bindender Regulierungskompetenz überwölbt den Nationalstaat.“ Die im 17. und 18. Jahrhundert geprägte Standardform der Nationalstaatsbildung kam damit zu Ende; (West-) Europa wurde eine politische Gemeinschaft auf der Grundlage und zugleich jenseits des Nationalstaats. Die Nationen haben sich nicht aufgelöst, sondern eher aufgehoben in den Politikbereichen, die nach und nach vergemeinschaftet wurden. Im Lauf der Zeit gewannen Initiativen der Kommission und Entscheidungen des Ministerrates eine „funktionale Dominanz“. Längst ist der Zeitpunkt gekommen, an dem jedes Ausscheren aus der europäischen Politikverflechtung kostspieliger wird als seine föderative Ausgestaltung Einer, der es wissen muß, der verdiente Europapolitiker und Präsident der Europäischen Bewegung seines Landes, Jean Frangois-Poncet, hat die kritische Lage richtig beschrieben: „Man kann sich schwerlich eine kompliziertere Struktur vorstellen: Zu den nebeneinandergestellten Pfeilern kommen die wachsende Kompliziertheit der Verfahren und die ungeordnete Ausweitung der Kompetenzen. Das undurchdringliche Dickicht der Texte und die Verschränkung der Kompetenzen zwischen Staaten und Union bringen selbst Spezialisten auf Abwege, kein Wunder, daß die Öffentlichkeit sich völlig verirrt. Obwohl die Staaten zu dieser Entwicklung bei jeder Etappe ihre Zustimmung gegeben haben, jagt ihnen dieses Abdriften nun langsam Angst ein. Die Gemeinschaft wirkt nämlich inzwischen wie ein kompliziertes Räderwerk, das niemand mehr beherrscht, das jedoch, Stück für Stück, die nationalen Souveränitäten ihres Inhalts entleert.“ Dem Dilemma wachsender Verflechtung und Versäulung entkommt man aber nicht, indem man sich wieder unterkomplexe nationale Schlichtheit gestattet.

Vor allem vermißt man Gegengewichte zur Brüsseler Bürokratie. Es fehlt nicht nur dem Straßburger Parlament an Einfluß, der den Vorlagen der Kommission und den Beschlüssen des Ministerrats mehr Legitimation verschaffen könnte. Ebenso fehlen europäische Parteien, Gewerkschaften, Umwelt-und Berufsverbände und eine echte europäische Öffentlichkeit. Die Chancen der direkten demokratischen Mitwirkung der Bürger Europas steht in keinem Verhältnis zum Bedeutungszuwachs der Gemeinschaftspolitik. Diese Kluft ist mit dem Maastrichter Vertrag nicht verringert worden; durch eine selbst die Experten verwirrende Kodifizierung ist das Ansehen der Europäischen Union weiter gesunken Dieses Dilemma ist geradezu eine Einladung an Populisten aller Couleur, die jeden Verdruß auf „Brüssel“ schieben. Es kann weder gelöst werden, indem sich die EU nach den britischen Vorstellungen zu einer reinen Freihandelszone zurückentwickelt, noch mit einem Parforceritt in die Vereinigten Staaten von Europa. Neue supranationale Regimeformen müssen erdacht und erprobt werden, die den Prozeß der europäischen Wiedervereinigung stärken und die erwähnte Lebendigkeit Europas widerspiegeln und fördern.

Die Europäische Union wird ein Bundesstaat neuen Typs -oder sie ist nicht. Sie saugt gewissermaßen die Nationalitäten auf, ohne eigene Staats-qualität und originäre Herrschaftsgewalt zu entwickeln. Die EU ist ein Zwischenregime, das den Vertragspartnern wesentliche Souveränitätsrechte beläßt, zugleich aber über die Gesetzgebung und den Europäischen Gerichtshof Befugnisse erwirbt, die die nationale Souveränität beträchtlich einschränken. Die ohnehin gegebene Interdependenz von Wirtschaft, Technik, Kultur und Lebenswelt wird in eine politische Form gegossen. Das ursprüngliche Ordnungsprinzip war das einer Wirtschaftsgemeinschaft: Die „vier Grundfreiheiten“ von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital zur Angleichung der Wettbewerbsbedingungen in den Mitgliedsländern strahlten mehr und mehr auf andere Politikbereiche aus. Ökonomische Sachzwänge waren Triebfeder der politischen Integration. Tempo und Umfang dieser Dynamik waren immer umstritten. Der jüngste Widerstand verschiedener EG-Staaten vor und nach Abschluß des Maastrichter Vertrages entzündete sich am in der Tat riskanten Vorhaben der Währungsunion, die nicht nur die Wechselkurse, sondern die Finanz-und Haushaltspolitik, damit auch die Tarif-und Sozialpolitik der Staaten in Einklang (oder soll man sagen: zur Räson) bringen soll. Das war keine übermütige Attacke auf die Kernbereiche nationaler Souveränität, sondern zeigte nur, wie wenig autonom Nationalstaaten längst sind -ein Tabu, das die national verfaßten politischen Eliten nicht antasten wollten.

Das war der Grund, warum einige Regierungen „auf die Bremse getreten“ haben. Auch in der Bundesrepublik mobilisierten DM-Nationalisten den Affekt gegen das „Esperanto-Geld“ (Peter Gauweiler); darüber hinaus wollen sie den Selbst-läufer der europäischen Eigenstaatlichkeit aus dem Tritt bringen. Die Aussicht, daß sich nicht nur die skandinavischen Staaten und die beiden Alpen-republiken der EU anschließen (bzw. diesen Beitritt „autonom nachvollziehen“ wollen, wie die Schweiz), sondern daß mit den Gesuchen Polens, der Tschechischen Republik, Ungarns und Sloweniens die Konsequenzen der europäischen Wiedervereinigung zu ziehen sind, machte es den europäischen Föderalisten nicht gerade einfacher. Die Zustimmung zu einer bundesstaatlichen Eigendynamik wird schwieriger, wenn am Ende ein vierhundert Millionen und mehr Menschen umfassendes Gebilde mit einer einheitlichen Staatsbürgerschaft, parlamentarischen Mehrheitsbeschlüssen und übernationaler Identität entstehen soll.

Nach dem klassischen Muster der Nationalstaats-bildung kann das nicht gelingen. Die Europäer befinden sich jetzt in der Situation eines Autofahrers, der mit hoher Geschwindigkeit auf einen Engpaß zufährt: Er muß entweder eine Vollbremsung machen, um vor dem Hindernis zum Stehen zu kommen, oder aber durchstarten, um es noch rechtzeitig vor dem Gegenverkehr zu passieren. Dieses Manöver fällt in die Zeit der deutsch-französischen Präsidentschaft, die für 1996 angesetzte Revisionskonferenz („Maastricht 2“) muß die entscheidenden Weichen stellen. Dafür gibt es drei grundsätzliche Optionen: erstens die Verlangsamung der Integration, beginnend mit der Verschiebung oder Aussetzung der Währungsunion; zweitens die Fortentwicklung zum föderativen Bundesstaat mit entsprechender Stärkung des Parlaments, Festigung der Unionsbürgerschaft und Verbindlichkeit einer gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik; drittens ein „Nationalitäten­ staat“ der den Staaten Eigenrechte in der unbe-11 schränkten Kompetenz der nationalen Institutionen beläßt und für die EU auf eigenständige Völkerrechtsqualität verzichtet, die Politiken der Mitgliedstaaten ansonsten aber weiter harmonisiert und das supranationale Regime ausbaut. Die Europäische Union bliebe der „unvollendete Bundesstaat“ (Walter Hallstein), würde aber nicht der Torso, den die Bremser heute aus ihr machen wollen. Szenario I beschreibt den restriktiven Kurs der Euro-Skeptiker, Szenario II das bundesstaatliche Ideal, Szenario III das Ausmaß an „Vertiefung“, das angesichts der anstehenden Erweiterung der EU möglich erscheint, wenn der politische Wille dazu ausreicht.

III. Die Stunde des Parlaments

Das „Demokratiedefizit“ der Europäischen Union wird allgemein anerkannt. Seit der ersten Direktwahl 1979 und den 1986 in der Europäischen Akte erweiterten Befugnissen ist die Straßburger Versammlung keine bloß beratende mehr, aber auch noch kein „regierendes Parlament“, dem Kommission und Ministerrat verantwortlich sind. Die Bürger Europas fühlen sich machtlos und weit entfernt von der Brüsseler Zentrale. Europa-Wahlen gelten als Nebenschauplätze nationaler Auseinandersetzungen. So war die Wahl im Juni 1994 in Frankreich ein „Probelauf“ für bisher ungesetzte Präsidentschaftskandidaten, in Deutschland eine „Testwahl“ für die Bundestagswahlen vom Oktober, in Großbritannien Gelegenheit, dem Premierminister einen „Denkzettel“ zu verpassen, in Italien ein „zweiter Wind“ für den kurz zuvor an die Macht gekommenen Ministerpräsidenten Berlusconi usw. Nur bei den Beitrittsaspiranten waren die nationalen Wahlen umgekehrt auch indirekte Plebiszite für oder gegen Europa. In der Idealperspektive müßte sich das Parlament „entnationalisieren“, was auch ein europäisches Parteienwesen voraussetzt. Zum anderen müßte das Parlament die klassischen Haushalts-und Gesetzgebungsbefugnisse erhalten. Der Ministerrat müßte folglich in eine zweite Kammer umgewandelt werden, der Kommission ein vom Parla*m*ent gewählter „Regierungschef“ vorstehen. Die nationalen Parlamente verlören ihre Funktion: In kleinen Mitgliedsländern würden sie zu „Landesparlamenten“ herabgestuft, in größeren Ländern übernähmen , die Landtage die entsprechende Funktion, was sich in der Präsenz der deutschen Bundesländer in Brüssel bereits abzeichnet.

Die Alternative zur schrittweisen Entnationalisierung des Europaparlaments, von zwei Seiten unerwünscht, ist die Europäisierung der National-parlamente und der sie umrankenden Institutionen der Interessenvermittlung, was sich z. B. mit dem Bundestagsausschuß für Fragen der Europäischen Union abzeichnet. Daraus ergibt sich ein „System doppelter Repräsentanz, in dem sich europäische und nationale -und damit auch regionale -Legitimationsressourcen in einem Gesamtsystem sinnvoll ergänzen“ Nationale und europäische Legitimation wirken zusammen, wobei letztere vor allem die Gegenstände der Politik betrifft, die auf EU-Ebene transferiert worden sind. Das Europäische Parlament ist heute selbstbewußter bereit, sich zu einem derartigen Kontrollorgan zu mausern, und überschreitet dazu die nationalen wie die parteipolitischen Lagergrenzen, was im Kodezisionsverfahren qualifizierte Mehrheiten, also Absprachen zwischen den Christdemokraten aus „Kerneuropa“ und den Sozialdemokraten (zum größten Teil aus Großbritannien und der Bundesrepublik) erforderlich macht. Ob das bis fast zur Jahrtausendwende gewählte Parlament sich dazu tatsächlich durchringt, ist unsicher. Die Zahl der neuen Abgeordneten ist sehr hoch, die Bildung von Fraktionen gestaltete sich schwierig, im Parlament sitzen viele ausgewiesene Euroskeptiker. Straßburg erwies sich in der Bestimmung des Delors-Nachfolgers Jacques Sanier nicht sonderlich handlungsfähig, will aber einen eigenen Verfassungsentwurf vorlegen und zur Revisionskonferenz 1996 klar Position beziehen

IV. Ethnos oder Demos?

Das alte Parlament hat vor Ende seiner Amtsperiode einen Verfassungsentwurf für die Europäische Union vorgelegt, worin die Mitgliedstaaten „im Namen der europäischen Völker“ und nicht ein europäisches Staatsvolk als verfassungsgebende Gewalt bezeichnet werden. Auch das Bundesverfassungsgericht hat in seinem „Maas-tricht-Urteil“ die Staaten als eindeutige „Herren der Verträge“ tituliert. Das ändert nichts an der Doppelkonstruktion der EU: Die Gemeinschaft ist nicht nur ein „Staatenverbund“, sondern auch eine Gemeinschaft der Bürger. Neuerdings sind wir europäischen Marktbürger zu „Unionsbürgejn“ aufgestiegen. Bisher bezeichnet das eine rein symbolische Paßunion. Allerdings gibt es im Maastrichter Vertrag und im Verfassungsentwurf Ansätze zu einer politischen Aktivierung des Unionsbürgers: Das Petitions-und Beschwerderecht sowie die Ausübung des kommunalen Wahlrechts im jeweiligen Wohnsitzstaat können ausdrücklich weiterentwickelt werden. Damit wird ein europäisches ius domicilii an die Stelle des in den Staatsangehörigkeitsgesetzen vorherrschenden Bluts-und Territorialprinzips gesetzt Das „Volk der Europäischen Gemeinschaft“, das sich in der direkten Vertretung im Parlament ebenso herauszubilden beginnt wie in der Unterwerfung unter supranationale Rechtsnormen, ist weder Ethnos, also durch gemeinsame Herkunft und Abstammung verbunden, noch Demos im klassischen Sinne. Doch ist auch die europäische Ebene ein Ort zur Sicherung der Bürgerrechte. Die Wirkungen des Schengener Abkommens und die unumgängliche Regulierung von Wanderungsströmen wird einen ebenso unabweisbaren Bedarf danach schaffen. Damit übernimmt die Europäische Union Funktionen, die klassischer Weise der nationale Rechtsstaat monopolisiert hatte.

Die herrschende Meinung der Staatsrechtslehrer und Verfassungsrichter verneint ein europäisches Staatsvolk kategorisch; für sie ist deshalb „ein demokratischer Verfassungsstaat auf europäischer Ebene nicht zu verwirklichen“ -auch eine Wahl, an der Ausländer teilnehmen, ist für sie nicht demokratisch legitimiert. Diese Auffassung postuliert eine homogene Gruppe von Staatsbürgern, die es auch in den Mitgliedstaaten selbst nach der massenhaften Einwanderung nicht mehr gibt. Für welches Europa auch immer, diese Restriktion ist ganz unhaltbar. Man kann nicht warten, bis sich ein derart homogenes „europäisches Volk“ herausbildet, um in Europa Demokratie zu praktizieren -vielmehr muß man die (alte und neue) europäische Vielfalt als Grundlage der Demokratie ansehen. Demokratie ist definiert durch Zustimmung und Beteiligung ihrer Bürger, gleich, wo sie gerade wohnen, und egal, von wo und von wem sie abstammen und welche Sprache sie jeweils sprechen.

V. Sprache und Demokratie -die Verschweizerung Europas?

Vor allem Sprachbarrieren werden oft als das entscheidende Hindernis für das Entstehen einer europäischen Öffentlichkeit angesehen -keine gemeinsame Sprache, kein Staatsvolk, keine europäische Demokratie. Niemand verlangt ernsthaft, daß alle Europäer Esperanto sprechen und ihre Muttersprachen verlernen. In der Gemeinschaft der Zwölf werden (inkl. Katalanisch) bereits zehn offiziell anerkannte Sprachen gesprochen, und diese Sprachenvielfalt wird sich noch erweitern. Lediglich das Englische, das für 80 Prozent der EU-Bürger Fremdsprache ist, hat sich als Lingua franca für den wirtschaftlichen, technischen und wissenschaftlichen Verkehr ausgeprägt. Sie ist nicht das Band, das die amerikanische Nation von Einwanderern früher zusammenhielt. Aber linguistische Vielfalt muß nicht zur babylonischen Gefangenschaft der politischen Demokratie in Europa führen. Es gibt -in den multikulturellen Gesellschaften Nordamerikas und Ozeaniens sowie in der Schweiz -erfolgreiche republikanische Modelle, in denen nicht alle Bürger die gleiche Sprache sprechen und dennoch demokratisch Zu­ sammenwirken Die sprachliche Vereinheitlichung, die klassische Nationalstaaten (zum Teil mit gewaltsamen Mitteln) durchgesetzt haben, ist keine Voraussetzung für eine politische Gemeinschaft. Ebensowenig wie ethnische Homogenität dem Nationalstaat vorausgesetzt ist, muß es die sprachlich-kulturelle sein. „Überfremdungsängste“ sind überflüssig, wenn die Kulturhoheit in der Europäischen Union bei den Nationalstaaten bzw. bei deren regionalen Ländereinheiten verbleibt und der Schutz der Minderheiten weit über das bisher garantierte Minimum hinaus garantiert ist. Gerade auf der kulturellen Ebene ist das Subsidiaritätsprinzip anzuwenden

VI. Das Airbus-Modell

Europäität erweist sich weniger daran, wie Europa institutionell und rechtlich definiert wird, als vielmehr an der Weise, wie Europa als politische Einheit tätig wird, um die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Hauptprobleme der Europäer zu lösen: Massenarbeitslosigkeit, ökologische Modernisierung und Sicherheit. Was die ökonomische Zukunft Europas betrifft, besteht zu Dekadenz-phantasien kein Anlaß. Aber die Europäische Union ist mit Millionen Langzeitarbeitslosen und Armen ein sozialpolitischer Problemfall geworden, der nun weltwirtschaftlich den Anschluß zu verlieren droht. Mit konventionellen Mitteln der Nationalstaaten oder der Gemeinschaftspolitik (Subventionen für notleidende Branchen und Regionen) ist dem nicht mehr beizukommen; Konkurrenzfähigkeit und Standortqualität können nicht nach dem Muster der Agrarmarktverordnungen oder mit herkömmlicher Industriepolitik wiederhergestellt werden (ebensowenig mit radikaler Deregulierung). Kein noch so potenter EU-Staat kann im Alleingang die Herausforderung aus dem pazifischen Raum oder aus Ostmitteleuropa annehmen

Den unbestreitbaren Rückstand in den meisten High-Tech-Branchen können die EU-Staaten nur gemeinsam aufholen, wie etwa das Beispiel der europäischen Luftfahrtindustrie belegt. Das Airbus-Modell ist nur beschränkt übertragbar. Brachliegende Potentiale liegen in der sozialökologischen Modernisierung, d. h. in der Schaffung alternativer, umweltschonender und energiesparender Technologien und neuer Verkehrssysteme, die auch neue Exportmärkte eröffnen können und entsprechende sozialpolitische Initiativen nach sich ziehen (neue Arbeitszeit-und Sozialversicherungsregime). Hier geht es weniger um Fusionen und Zusammenschlüsse zu veritablen europäischen Unternehmen, sondern um die ganz normale Vergemeinschaftungswirkung ökonomischer und technischer Kooperation und Ausbildung. Europas Bürger sind nach dem „kulturellen Umbruch“ der sechziger und siebziger Jahre weit ökologischer orientiert, als es die schwache Präsenz grüner Umweltparteien in Straßburg vermuten läßt. Ebenso-wenig darf die Erweiterung nach Osten, die sich über allmähliche Assoziierungen und Anpassungen bereits vollzieht, Hoffnungen auf neue regio-apolitische Segnungen für untergehende Industrie-und Agrarstandorte auslösen. Vielmehr müssen die dortigen Standortvorteile für Zukunftsinvestitionen genutzt werden. Technologiepolitik ist also eine bedeutende Arena europäischer Wiedervereinigung, und sie ist nicht viel wert, wenn sie nicht auch von einer bildungspolitischen Offensive begleitet wird. Diese liegt zum großen Teil in den Händen der nationalen und der Landesregierungen, muß aber auch stärker als bisher „europäisches Profil“ gewinnen.

VII. Weltmacht Europa?

Die pazifische Wirtschaftszone, zu der auch die Vereinigten Staaten zählen, ist nur eine der Herausforderungen, auf die die Europäische Union eine gemeinsame Antwort finden muß und bisher nicht gefunden hat. Daß sie in der friedlichen Beilegung des Nahostkonfliktes ebenso am Rande steht wie bei der Eindämmung des Balkankrieges, deutet auf ein schweres Manko hin: Es gibt kein gemeinschaftliches Außen-und Sicherheitskonzept. In beiden Regionen spielen die europäischen Nationen Großmacht, verteidigen ihre (vermeintlichen) nationalen Interessen und Einflußzonen -und machen sich damit, einschließlich des deutschen Newcomers, lächerlich. Nicht „Europa“ hat in Palästina oder auf dem Balkan versagt, sondern die disparaten Reaktionen der Nationalstaaten haben es in Mißkredit gebracht und seine außenpolitische Handlungsfähigkeit generell in Frage gestellt. Gemeinsame Außenpolitik ist nicht nur aus sachlichen Gründen geboten, sondern kann den Europäern auch politische Identität verleihen. Europa ist so existent, wie es in politisch-militärischen Konflikten präventiv, mäßigend oder kriegsbeendend auftritt und dauerhaft Frieden stiftet.

Nahost-und Jugoslawienpolitik sind geradezu abschreckende Beispiele: Im ersten Fall sind gegebene Chancen fahrlässig vertan worden, im zweiten war Europas Zwietracht ein Faktor, der den hausgemachten Konflikt zwischen den Teilrepubliken noch eskalieren ließ. Diese beiden Regional-konflikte verweisen im übrigen auf zwei andere Konfliktszenarien mit weltpolitischer Dimension: den anti-westlichen, auch gegen das säkulare Europa gerichteten Anspruch des Islamismus und die Ungewißheit in der ehemaligen Sowjetunion bzw. Rußland. Zum Bürgerkrieg in Nordafrika und zur instabilen Lage der GUS-Staaten hat die Europäische Union keine gemeinsame Position. Man tut so, als könne Konfliktvermeidung und -bereinigung Frankreich und Deutschland bzw.den selbstlosen Beiträgen kleinerer EU-Staaten zu Blauhelmkontingenten überlassen bleiben. Europas Institutionen haben den fundamentalen Wandel der Weltordnung noch nicht nachvollzogen. Die EU verläßt sich „draußen in der Welt“ auf die Absprachen und Interventionen von Amerika und Rußland, und in ihrem Inneren vertraut sie weiter auf deren Fähigkeiten, mit Abschreckung für Ordnung zu sorgen.

Im Kontrast dazu hat Frangois-Poncet die Zukunft Europas als Weltmacht definiert: Den Rückzug der USA, den bedrohlichen Islamismus und die russische Ungewißheit könne Europa nur als eigenständige Großmacht bewältigen Eine solche Vision widerspricht allen Hoffnungen, die sich die westeuropäische Wirtschaftsgroßmacht unter dem Schirm der nuklearen Abschreckung und die Europäer über die nun fällige „Friedensdividende“ gemacht haben. Besonders die deutsche Außenpolitik steht nun nicht mehr im Zeichen der deutschen Frage. Auch wird von ihr keine Scheckbuch-diplomatie, sondern die Rationalität und Tatkraft einer „normalen Nation“ erwartet. Aber was ist „normal“? Es werden Empfehlungen gegeben, darunter die Lockerung der Westbindung zu verstehen, und es werden Zweifel laut, ob die Bundesrepublik in ihrer geographischen Mittellage noch ein zuverlässiger Partner sein könne. In Wahrheit muß die Westbindung zeitgemäß verstärkt werden, und an diesem von Wolfgang Schäuble bis Joschka Fischer reichenden Konsens kann kein Zweifel bestehen. Es geht einzig um die Modalitäten der Europäisierung der Außen-und Sicherheitspolitik, bei der die europäischen Nachbarn von Paris bis Warschau ebenso unsicher sind.

Sehr viel mehr als auf dem kulturellen Gebiet, mehr auch als in Wirtschafts-und Währungsfragen ist gerade hier, in dieser besonders gehüteten Domäne nationaler Eigenständigkeit, eine Souveräni­ tätsübertragung erforderlich: Die Vorstellung, innere und äußere Sicherheit, ökologische Risiken und transnationale Mobilität in „Alleingängen“ bewältigen zu können, ist anachronistischer denn je. Wirkliche Souveränität besteht in der Herausbildung gemeinsamer Interessen und Grundsätze sowie in der Verpflichtung, gemeinsam zu handeln. Das außenpolitische Instrumentarium der EU ist unterentwickelt und durch das Konsensprinzip blockiert; deswegen ist das Mittel der „positiven Enthaltung“ vorgeschlagen worden, wonach „gemeinsame Aktionen, die der Einstimmigkeit bedürfen, auch dann zustande kommen, wenn einzelne Mitgliedstaaten für sich zwar eine aktive Rolle im Rahmen dieser Aktion ausschließen, sich jedoch verpflichten, sie weder zu behindern noch zu unterlaufen“

Die europäische Sicherheitsarchitektur muß wiederum verschiedene internationale Regime miteinander verbinden: die Landesverteidigung im engeren Sinne mit weltweiten friedenssichernden UNO-Einsätzen; die in ihren Zielen radikal umdefinierte Nordatlantische Verteidigungsorganisation mit ihrem ebenfalls neu zu definierenden Europäischen Pfeiler, der Westeuropäischen Union, und die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die neue Mechanismen der Konfliktverhütung und -Regulierung entwickelt hat, auch im Bereich des Schutzes ethnischer, religiöser und kultureller Minderheiten vor Diskriminierung.

Wenn man sich auf solche gemeinsamen Zielsetzungen, Interessendefinitionen und Instrumente einigen kann, wirkt das in die Außen-und Sicherheitspolitiken der einzelnen EU-Staaten hinein. Zum Beispiel sollte nicht Deutschland einen Sitz im Sicherheitsrat der UNO anstreben, sondern die Europäische Union muß dort besser koordiniert auftreten. Die allfällige Neuorganisation der nationalen Streitkräfte sollte auf ein gemeinsames Euro-Korps und eine europäische Rüstungsagentur hinauslaufen; vor allem humanitäre Hilfseinsätze müssen besser abgestimmt werden. Außenämter und die Auslandsvertretungen der EU-Staaten müssen viel stärker als bisher miteinander kooperieren. Es gibt bisher noch nicht einmal wirksame Planungsstäbe der EU, die das Informationsmonopol, besser: die Geheimniskrämerei der Mitgliedstaaten durchbrechen. Nirgends ist das anachronistische Nationalstaatsprinzip so hinderlich, aber nirgend sonst auch ist es so schwer zu überwinden wie in diesem Bereich.

VIII. Kleineuropa-Mittel oder Ziel der Europäischen Union?

Kleineuropäisch 1995 wäre ebenso falsch wie kleindeutsch 1848, wenn damit die politische Finalität Europas und nicht bloß eine Technik gemeint ist, um die Wiedervereinigung Europas in der notwendigen Dosierung und Etappenbildung zu erreichen Ein wie auch immer begründeter Ausschluß Polens, der tschechischen und slowakischen Republiken, Ungarns und auch der Balkanländer aus dem Gemeinsamen Europäischen Haus ist undenkbar. Denkbar ist einzig, dem Endziel der Schaffung gleicher Lebens-und Sicherheitsverhältnisse durch Bildung eines harten, integrations-und entwicklungsfähigen Kerns näherzukommen. Abschottung, die einem neuen Eisernen Vorhang gleichkäme, wäre fatal. Auch wenn die genannten Staaten Ostmittel-und Südosteuropas aus Gründen, die dort sehr wohl nachvollzogen werden können, vorläufig nicht zur Europäischen Union gehören, darf nicht der mindeste Zweifel bestehen, daß sie ohne Einschränkung zu den europäischen Völkern und Kulturen zählen, daß es also weder zu einem Ausschluß der orthodoxen noch auch der in Europa historisch präsenten islamischen Tradition kommen darf.

Auch zu Rußland, der Türkei und Nordafrika, die definitiv nicht zu Europa zählen, müssen besondere Assoziationsverhältnisse in ökonomischer, kultureller und sicherheitspolitischer Hinsicht vorgesehen werden. Die Kleineuropa-Strategie, die sowohl in Paris wie in Bonn entwickelt wurde, richtet sich eher auf Integrationsblockaden innerhalb der jetzigen Zwölf ein, z. B. auf ein britisches Veto, das wohl nur mit einem Regierungswechsel in London zu mäßigen sein wird, oder auf die dänischen Absonderungsbestrebungen, die mit einer Neudefinition der Außenpolitik abzustellen sein dürften. Klein-europa ist der worst case, wenn „Maastricht 2“ ein völlig unbefriedigendes Ergebnis bringt; das ist um so besser zu verhindern, je stärker die Länder, die jetzt in wenig dezenter Weise als Kerngruppe auserkoren wurden, ein Reformkonzept der Europäischen Union vorlegen, das es allen europäischen Staaten ermöglicht, zum Kern hinzuzustoßen.

IX. Von Kreisau nach Sarajevo

Europa endet nicht in Sarajevo: Es muß dort von neuem beginnen. Der Krieg in Bosnien ist nicht der Beweis für das notwendige Scheitern supranationaler Regime, wie im jugoslawischen Fall, sondern Beleg der fatalen Wirkungen, die eine Renationalisierung für Europa hat, wenn sich der Wahn völkischer Homogenität als Grundlage politischer Identität durchsetzt. Die Europäische Union hat diesen mörderischen Konflikt vor ihrer Haustür nicht verhindern und nur wenig mildern können. Die europäische Diplomatie steckt tief in der Sackgasse, Kriegsverbrecher an der Macht bestimmen das Gesetz des Handelns. Doch sind nicht alle Chancen vertan, die ex-jugoslawischen Teil-republiken zu befrieden und ein Überspringen des Funkens auf andere Konflikte zu verhindern. Die Organisation des Friedens und Wiederaufbaus muß in europäischer Regie liegen. So, wie (bei weitem nicht alle) europäische Staaten sich der Flüchtlinge angenommen und humanitäre Hilfe organisiert haben, müssen sie endlich auch politische Initiativen starten. Ein gewichtiger Aspekt ist der kulturelle Wiederaufbau, der auch nur ein europäisches Gemeinschaftsprojekt sein kann. Sarajevo, das Symbol der multikulturellen Einheit Ex-Jugoslawiens, sollte möglichst bald zur Kultur-hauptstadt Europas erklärt werden Eine Mehrheit Jugendlicher identifiziert Europa mit Kultur und Zukunft Kein Symbol, aber auch keine praktische Aufgabe könnte Europäität politisch besser repräsentieren als diese Zielsetzung für die „auswärtige Kulturpolitik“, die immer noch viel zu stark der nationalen Selbstdarstellung oder der Förderung einer bestimmten nationalen Sprache und Kultur dient.

Als man in Deutschland den 50. Jahrestag des 20. Juli 1944 beging, machten die Geschichtspolitiker gleich zwei Fehler: Nicht nur leugneten sie die herausragende Beteiligung von Kommunisten und Sozialisten am deutschen Widerstand, auch verfehlten sie mit der Konzentration auf ihren nationalkonservativen Teil die europäische Dimension der antinationalsozialistischen Resistance. Die Treffen der Föderalisten aus allen Teilen Westund Osteuropas kann man als eine ideelle Präfiguration Nachkriegseuropas ansehen Während die Konservativen (auch in Deutschland) die ungebrochene Restauration nationaler Macht und die Kommunisten die Sowjetisierung Europas im Sinn hatten, waren einzig diese Föderalisten geistig auf der Höhe der Zeit, und es ist bedauerlich, daß ausgerechnet sie im politisch-publizistischen Streit um die „korrekte“ Repräsentation des Widerstands unter den Tisch fielen. Um aus den vielfältigen Initiativen in ganz Europa nur den Kreisauer Kreis hervorzuheben: Die von Yorck und Moltke in finsterster Zeit entworfenen Pläne für ein vereintes Europa waren eine eindeutige Absage nicht nur an den Nationalismus, sondern auch an das Nationalstaatsprinzip. Die in Kreisau erdachte Verbindung von personalem Sozialismus und ökonomischer Selbstverwaltung mit einem dezentralen Europa der Regionen ist jedenfalls sehr viel aktueller und zündender als die Vorschläge, die vermeintliche Realisten heute zur Zukunft Europas unterbreiten. Dasselbe gilt für die Arbeit, die junge Europäer heute in Kreisau leisten, wo ein deutsch-polnisches Verständigungswerk in den Gemäuern des alten Gutes Europäität in einem sehr konkreten Sinne einübt und verbreitet.

Wenn der Krieg ein „Lehrmeister“ ist, dann gilt es, vor allem diese Lektion zu lernen: daß nationaler Egoismus Konflikte schafft, Kreativität behindert, zur sozialen Stagnation führt. Ziel der Politik ist bekanntlich (nicht in einem naiv pazifistischen Sinn) Stiftung und Sicherung des Friedens *Vor allem diese Zielbestimmung kann europäische Identität stiften, die politische Gemeinschaft der Europäer begründen und sie aus ihrer lebensweltlichen Idylle herausholen. „L’Europe cömmence ä Sarajevo“ war der Name einer Liste, die im Juni 1994 in Frankreich zu den Europawahlen antrat und trotz ihrer amateurhaften Inszenierung zwei Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte. Man hat die Initiatoren dieser Liste als naive Träumer oder clevere Medienunternehmer kritisiert und dabei übersehen, daß in einem derartigen politischen Engagement für Bosnien der Keim einer neuen europäischen Bewegung und auch einer gesamteuropäischen Partei gepflanzt worden ist, wozu weder die Apparate der nationalen Großparteien, die Gewerkschaften noch die ökologischen Bewegungen fähig waren.

Europa wird kein Bundesstaat klassischer Art, sondern ein Bundesstaat neuen Typs sein. Insofern ist dem Skeptiker Hermann Lübbe zuzustimmen: Die künftige Europäische Union ist ein staatsrechtlich noch gar nicht identifiziertes, historisch niemals zuvor existent gewesenes Gebilde Auch sein Pragmatismus ist zu bejahen: Es ist die „Evidenz der Zweckmäßigkeit“, mit deren Einsicht der Fortgang der Integration steht und fällt. Dennoch kann die EU mehr werden als ein bloßer „Staatenverbund“ (Dahrendorf), eine bloße „institutionelle Kompensation faktischer Souveränitätsverluste“ (Lübbe) oder ein funktional ausgerichteter Zweckverband (Lepsius). Die Schaffung europäischen Rechts, die Wohlstandssicherung durch transnationalen Wirtschaftsverkehr, die Fundierung einer europäischen Regionalidentität sowie Gemeinde-kooperation und die lebensweltliche Europäität schaffen ausreichend „Tiefenbindungen“, um an der Seite (nicht an der Stelle) der Nationalstaaten eine „european civic nation“ wachsen zu lassen, die dem Modell des heterogenen Nationalstaates entspricht. Dessen Funktion war, machtgestützte Sicherheit unter gleichberechtigten Ungleichen zu schaffen.

Es gibt keinen systematischen Grund, diese Einheit in der Differenz auch auf europäischer Ebene auszuschließen und dem historischen Nationalstaat per se und auf alle Zeiten höhere Bindungskraft zuzusprechen Die Erosion nationaler Identität und der aufflammende Nationalismus sind ein Beweis dafür. Kollektive Identitäten haben keine ominösen Vorgaben aus den Tiefen der Geschichte oder gar durch Bluts-und Verwandtschaftsbande, sondern entstehen durch ein „tägliches Plebiszit“. Diese Feststellung Ernest Renans ist auf das heutige Europa zu übertragen.

Um so erfreulicher ist die Abfuhr, die die Euro-pessimisten und EU-Gegner sich in der Europa-wahl 1994 in Deutschland holten. Die Partei der „Republikaner“ und der „Bund Freier Bürger“ sind in der Versenkung verschwunden. Das bedeutet nicht, daß die von ihnen mobilisierten Aversionen gestorben sind; sie halten sich vielmehr in allen Parteien der Bundesrepublik. Die Ernüchterung der älteren Generation und die interessierte Skepsis der jüngeren Revisionisten kann aber nur durch eine neue europäische Bewegung eingedämmt und widerlegt werden. Von selbst kommt Europa nicht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ein Beispiel für die unterkühlt-technokratische Thematisierung Europas ist Werner Weidenfeld (Hrsg.), Europa '96. Reformprogramm für die Europäische Union, Gütersloh 1994.

  2. Das jüngste Beispiel dieser Geisteshaltung ist Heimo Schwilk/Ulrich Schacht (Hrsg.), Die selbstbewußte Nation. „Anschwellender Bocksgesang“ und weitere Beiträge zu einer deutschen Debatte, Berlin 1994. Die DM-nationalistische Variante findet man in Bruno Bandulet, Das Maastricht Dossier. Deutschland auf dem Weg in die dritte Währungsunion, München 1993. Die Kritik des „Westextremismus“ findet man bei Michael Grossheim/Karlheinz Weißmann/Rainer Zitelmann (Hrsg.), West-Bindung. Chancen und Risiken für Deutschland, Berlin 1993.

  3. Vgl. Emnid Umfrage Jugend '94, in: Der Spiegel, Nr. 38/1994, S. 65ff.; vgl. auch Hans-Joachim Veen u. a., Eine Jugend in Deutschland? Orientierungen und Verhaltensweisen der Jugend in Ost und West, Opladen 1994; Wolfgang Melzer, Jugend und Politik in Deutschland, Opladen 1992.

  4. Vgl. Ralf Dahrendorf, Die Zukunft des Nationalstaates, in: Merkur, 48 (1994) 9/10, S. 751-761, hier S. 760.

  5. Vgl. Richard Münch, Das Projekt Europa. Zwischen Nationalstaat, regionaler Autonomie und Weltgesellschaft, Frankfurt/Main 1993.

  6. Zu diesem klassischen Begriffspaar in europa-und integrationspolitischer Perspektive: Wichard Woyke, Europa modelte, in: ders. (Hrsg.), Europäische Gemeinschaft. Pipers Wörterbuch zur Politik 3, München 1984, S. 65-68, und zuletzt Ulrich Fastenrath, Nicht Staatenbund, nicht Bundesstaat, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 16. 9. 1994, S. 14.

  7. M. Rainer Lepsius, Die Europäische Gemeinschaft und die Zukunft des Nationalstaates, in: ders., Demokratie in Deutschland, Göttingen 1993, S. 249-264, hier S. 253.

  8. Vgl. Fritz W. Scharpf, Die Politikverflechtungsfalle: Europäische Integration und deutscher Föderalismus im Vergleich, in: Politische Vierteljahresschrift, 26 (1985) 3, S. 323-356; ders., Optionen des Föderalismus in Deutschland und Europa, Frankfurt/Main 1994.

  9. Jean Frangois-Poncet, Wirtschaftsraum oder Weltmacht, in: FAZ vom 17. 9. 1994, S. 8. Vgl. auch Werner Weidenfeld (Hrsg.), Maastricht in der Analyse, Gütersloh 1994.

  10. Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann, Die Bürger: Was wissen, befürchten oder erhoffen sie von einem gemeinsamen Europa?, in: Rupert Scholz (Hrsg.), Deutschland auf dem Weg in die Europäische Union: Wieviel Eurozentralismus -wieviel Solidarität?, Köln 1994, S. 35-43.

  11. Vgl. M. Rainer Lepsius, Nationalstaat oder Nationalitätenstaat als Modell für die Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft, in: ders., Demokratie in Deutschland, Göttingen 1993, S. 265-285.

  12. W. Weidenfeld u. a. (Anm. 1), S. 33.

  13. Vgl. Meinhard Hilf, Eine Verfassung für die Europäische Union: Zum Entwurf des Institutionellen Ausschusses des Europäischen Parlaments, in: Integration, 17 (1994) 2, S. 68-78.

  14. Vgl. dazu Günter Frankenberg, Vom Marktbürger zum politischen Aktivbürger -Die Staatsangehörigkeit europäischen definieren, in: Bündnis 90/Die Grünen (Hrsg.), Europa und seine Grenzen. Wege zu einer europäischen Flüchtlings-und Einwanderungspolitik, Bonn 1994, S. 107-119.

  15. So exemplarisch auch der liberale Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm, zit. in: Süddeutsche Zeitung vom 28. 1. 1994, S. 11, dagegen Brun-Otto Bryde, Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratie-theorie, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis, (1994) 3 (i. E.).

  16. Vgl. dazu Bruno Schoch, Die Schweiz und ihre Nationalitätenpolitik, Ms., Frankfurt/Main 1991.

  17. Vgl. dazu Robert Picht, Europa -aber was versteht man darunter?, in: Merkur, 48 (1994) 9/10, S. 850-866.

  18. Vgl. Konrad Seitz, Deutschland und Europa in der Weltwirtschaft von morgen, in: ebd., S. 827-849.

  19. Vgl. J. Frangois-Poncet (Anm. 9).

  20. Vgl. Wolfgang Schäuble, Und der Zukunft zugewandt, Berlin 1994; Joschka Fischer, Risiko Deutschland. Krise und Zukunft der deutschen Politik, Köln 1994; vgl. auch Günther Gillessen, Was Adenauers Westbindung bedeutet, in: FAZ vom 28. 4. 1994, S. 14; Michael Mertes/Hubertus von Morr, Linke, rechts drehend, in: ebd. vom 20. 4. 1994; Hans D. Barbier, Anschwellende Zumutung, in: ebd. vom 25. 4. 1994, sowie Dan Diner, Feinde des Westens. Zwischen Gesellschaft und Nation, in: ebd. vom 11. 5. 1994 gegen die in Anm. 2 genannten Autoren.

  21. W. Weidenfeld u. a. (Anm. 1), S. 47.

  22. Vg. dazu: „Überlegungen zur europäischen Politik“, das Positionspapier der CDU/CSU-Fraktion, das im Sommer für europaweite Aufregung gesorgt hat.

  23. Vgl. Claus Leggewie, Das kollektive Gedächtnis Bosniens, in: tageszeitung vom 23. /24. 4 1994, S. 3.

  24. Vgl. Emnid-Umfrage (Anm. 3).

  25. Vgl. dazu die kommentierte Quellensammlung von Walter Lipgens, Europa-Föderationspläne der Widerstandsbewegungen 1940-45, München 1968; Hans Mommsen, Der Kreisauer Kreis und die künftige Neuordnung Deutschlands, in: Viertelsjahrshefte für Zeitgeschichte, 42 (1994) 3, S. 361-377.

  26. So Dolf Sternberger, Die Politik und der Friede, Frankfurt/Main 1986.

  27. Vgl. Hermann Lübbe, Abschied vom Superstaat. Vereinigte Staaten von Europa wird es nicht geben, Berlin 1994.

  28. Vgl. Hagen Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 1994.

Weitere Inhalte

Claus Leggewie, Dr. disc. pol., geb. 1950; Studium der Sozialwissenschaften und Geschichte in Köln und Paris; Hochschulassistent und Professor für Politikwissenschaft in Göttingen; seit 1989 an der Universität Gießen. Veröffentlichungen u. a.: MultiKulti. Spielregeln für die Vielvölkerrepublik, Berlin 19932; Druck von rechts. Wohin treibt die Bundesrepublik?, München 1993; Alhambra -Der Islam im Westen, Reinbek 1993; (Mitverf.) Manifest der 60. Plädoyer für eine neue Einwanderungspolitik, München 1994; (Hrsg, zus. mit Zafer Senocak) Deutsche Türken -Türk Almanlar, Reinbek 1994; (Hrsg.) Wozu Politikwissenschaft. Über das Neue in der Politik, Darmstadt 1994; Über das Böse. Gespräch mit Andrew Vachss, Frankfurt am Main 1994.