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Frankreich und Europa | APuZ 42/1994 | bpb.de

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APuZ 42/1994 Nation im vereinigten Deutschland Nationalismus -ein Alptraum? Die ungeliebte Nation. Gedanken zu einer immer noch aktuellen Diskussion Europa beginnt in Sarajevo. Gegen den Skeptizismus in der europäischen Wiedervereinigung Frankreich und Europa

Frankreich und Europa

Andre Brigot

/ 13 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Veränderungen zu Beginn der neunziger Jahre scheinen Frankreichs Entscheidung der sechziger Jahre -Rückzug aus den Kolonien und langfristiges Engagement in Europa -wieder in Frage zu stellen. Der Rückzug auf nationale Interessen zum Nachteil Europas und die Beteiligung am globalen Kräftegleichgewicht unter völlig veränderten Bedingungen haben die früheren Entscheidungen Frankreichs ins Wanken gebracht. Da ein erweitertes Europa nicht im französischen Interesse liegt, gewinnen nationale und globale Überlegungen wieder stärker an Gewicht. Folgende Grundtendenzen scheinen sich in Europa herauszukristallisieren: eine Begrenzung des europäischen Raumes nach Osten, die mit den östlichen Grenzen Ungarns und Polens übereinstimmt; das Entstehen gewisser Subsysteme, weil es sich als schwierig bis unmöglich herausgestellt hat, globale politische Szenarien erfolgreich umzusetzen; sowie ein umfangreicher Anpassungsprozeß, zu dem die diversen Bündnisse und Systeme gezwungen worden sind.

Erste Anzeichen einer Neuorientierung französischer Politik im Jahre 1994 werden inmitten vager politischer Konzeptionen deutlich, wenn man die Situation vor 1990 zum Vergleich heranzieht. Anfang der neunziger Jahre scheint di#Wahl, die in den frühen sechziger Jahren getroffen wurde -Rückzug aus den Kolonien und langfristiges Engagement in Europa -wieder in Frage gestellt zu sein. 30 Jahre lang haben die französischen außen-politischen Leitlinien, die besonders deutlich an der Sicherheits-und Verteidigungspolitik abzulesen sind, die Zukunft des Nationalstaates Frankreich gekennzeichnet, zum einen durch die Übernahme einer Schlüsselrolle im regionalen Rahmen Westeuropas, zum anderen durch die Festigung einer neu definierten Stellung Frankreichs in der Welt.

Die neunziger Jahre bringen diese Einteilung durch zwei gleichzeitig ablaufende Entwicklungen ins Wanken: Rückzug auf nationale Interessen zum Nachteil Europas und Mitwirkung am globalen Kräfteverhältnis auf einer neuen Ebene und unter neuen Modalitäten. Handelt es sich um eine anhaltende Tendenz, die perspektivisch mit der Entscheidung der sechziger Jahre vergleichbar ist, oder nur um eine Übergangsphase, an deren Ende sich Gleichgewichte einstellen, die besser auf Frankreichs Potentiale zugeschnitten sind?

I. Ein geographischer Raum ohne politisches Gebiet?

Die mit der Auflösung des Sowjetimperiums verbundenen Veränderungen haben die politischen Konzepte Frankreichs von Grund auf erschüttert, denn sie eröffneten im Osten Europas Perspektiven, die sich nicht in ein gebietsbildendes politisches Integrationsschema einordnen ließen. Nach der anfänglichen Euphorie über die Ausbreitung von Demokratie und Frieden über den ganzen Kontinent erleben wir jetzt die Bewegung der ost­ europäischen Länder nach Westeuropa, wodurch sie sich politische und wirtschaftliche Vorteile erhoffen. Diese Bewegung ist allerdings viel deutlicher, als es die Absicht der westeuropäischen Staaten ist, die mühsame politische Strukturierung Europas auf die ehemaligen sowjetischen Satellitenstaaten auszuweiten. Deutschland war zu Beginn seiner Vereinigung bemüht, zunächst die ehemalige DDR in die Gemeinschaft einzubinden, bevor es aus Gründen der Stabilität die Ausweitung des Prozesses nach Osten anstrebte.

Der Gegensatz Erweiterung vs. Vertiefung der europäischen Institutionen ist aber zu einer spezifisch französischen Nagelprobe geworden. Dies bedeutet nicht, daß Frankreich selbst den Gedanken einer räumlichen Erweiterung ablehnen würde, aber es bereitet dem Land Schwierigkeiten, ein von anderen konzipiertes Integrationsmodell in Erwägung zu ziehen, ohne ein eigenes Modell vorlegen zu können. Es steht also vielmehr die Form als der Grundsatz der Erweiterung zur Debatte.

Die politisch Verantwortlichen in Frankreich sind davon überzeugt, daß sich eine vorschnelle Öffnung nach Osten nach der Erweiterung um die EFTA-Länder verheerend auf die europäischen Institutionen auswirken würde. Dennoch sind sie nicht imstande, einer offensichtlich unaufhaltsamen Entwicklung ein glaubwürdiges politisches Konzept entgegenzusetzen. Hier wird die Versuchung, den Rückzug anzutreten, übermächtig.

Die semantische Verschiebung des Ausdrucks „Das andere Europa“ (für Osteuropa) zu „Ein anderes Europa“ (alle denkbaren Europa-Modelle zusammengefaßt) ist für diese Entwicklung charakterisierend. Der unbestimmte Artikel mag eine vielleicht erstrebenswerte politische Formel kennzeichnen, doch niemand, der sich dieser Formel bedient, wäre heute in der Lage, sie umzusetzen.

Diese Situation ist nicht spezifisch französisch, doch berührt sie die geopolitische Vorstellung in Frankreich gravierend, weil diese eher politisch als geographisch begründet ist. Für Frankreich geht es nicht um die Integration von Minderheiten anderer Nationalitäten (Deutschland), nicht um die Klärung von Grenzfragen, die als längst geregelt galten (Italien und Istrien) und auch nicht um die Ausdehnung des liberalen Marktes (Großbritannien). Frankreich geht es vielmehr darum, zur Schaffung eines politischen Gefüges beizutragen und dabei Vorrechte und Kompetenzen, Beitritts-und Ausschlußmöglichkeiten zu definieren. Das wird allerdings praktisch unmöglich sein.

Für die beitrittswilligen EFTA-Länder (deren Beitrittsbedingungen aus politischen Gründen nicht mit aller Härte ausgehandelt wurden, denn es galt, „die Akte zu schließen“) wäre dieser Weg noch vorstellbar, im Hinblick auf die osteuropäischen Staaten erscheint er absurd. Dennoch stand es für Paris nie zur Debatte, sich der Erweiterungsbereitschaft anderer Mitgliedsländer entgegenzustellen (auch wenn Deutschland und Großbritannien aus unterschiedlichen Motiven, und in deren Sog französische Politiker, diese Erweiterung zu nutzen suchen, um die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft zu bremsen), da die Interessenlage Frankreichs nicht das Risiko aufwog, sich aufgrund eines eingelegten Vetos das Etikett des nationalen Egoisten anheften lassen zu müssen. Aber das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der europäischen Institutionen ist nachhaltig erschüttert worden, allerdings in Frankreich nicht mehr als in anderen europäischen Ländern auch, falls man den letzten von der Kommission veröffentlichten Umfragen Glauben schenken darf.

Aber das Kraftzentrum des gemeinschaftlichen Europa hat sich nach Nordosten verlagert und mit ihm auch die kollektiven französischen Vorstellungen von diesem Raum. Fünf der elf anderen Mitgliedstaaten haben gemeinsame Grenzen mit Frankreich; keines der zukünftigen Beitrittsländer oder einer der Antragsteller grenzt an das französische Staatsgebiet, und es bestehen auch keine traditionellen Bindungen durch einen intensiven Kulturaustausch.

Da das Ziel Europa weniger erstrebenswert erscheint, ist ein erweitertes Europa für Paris nicht mehr die Plattform der vorrangigen politischen Konzepte und Vorstellungen. Infolgedessen gewinnen die nationale und die globale Ebene an Bedeutung. Das Mittel zur Aufwertung des nationalen Gedankens ist die Frage der Subsidiarität. Doch die Subsidiarität wird gerade in Frankreich weitgehend dazu verwendet, Kritik an der Brüsseler Kommission und der Vergemeinschaftlichung der wirtschaftlichen und sozialen Probleme zu üben. Dabei wird die Zusammenarbeit zwischen den Regierungen befürwortet, die jedem Staat seinen Handlungsspielraum wieder zugesteht.

Wenn allerdings die französischen Kritiker des europäischen Prozesses den Begriff Subsidiarität verwenden, verkennen sie, daß die Subsidiarität einem Denkschema entspricht, das versucht, ein Höchstmaß an Kompetenzen an jene politischen Ebenen zu geben bzw. zurückzugeben, die dem Individuum am nächsten stehen (die lokale Ebene, die regionale Ebene im engeren Sinne), und somit nur in den Bereichen eine Übertragung von Kompetenzen vorsieht, in denen es nicht anders sein kann (Sicherheits-und Verteidigungsbereich). In dieser Logik der Subsidiarität erfährt das Individuum zudem eine Aufwertung auf Kosten des Staatsbürgers; die lokale Ebene, oder eher der Föderalismus, gewinnt im Gegensatz zum allgemeinen Zusammenhalt an Bedeutung.

Gleichzeitig hat aber der Status Frankreichs als neuer Nettobeitragszahler zum Gemeinschaftshaushalt nicht zu einer Festigung seiner Protagonistenrolle innerhalb der europäischen Instanzen geführt, wodurch es Frankreich möglich geworden wäre, zum Beispiel für eine territoriale oder soziale Homogenität einzutreten. Es drängt Frankreich eher in die Reihen der eifrigen Befürworter von „I want my money back“.

Die Verschiebung des europäischen Kraftzentrums nach Nordosten hat Frankreich keine besonderen Vorteile bei der Verteidigung seiner Interessen im Süden eingebracht. Daneben hat Deutschland an Einfluß gewonnen und macht sich zum Sprachrohr der mitteleuropäischen Länder.

Parallel dazu erfolgt eine Rückbesinnung auf Werte, die weniger europäisch sind als vielmehr um den Nationalgedanken kreisen. Darüber hinaus ist festzustellen, daß Frankreich seine globale Rolle mit Nachdruck und in leicht abgewandelter Form wieder besetzt. Nichts ist in dieser Hinsicht aussagekräftiger als der Vergleich der beiden Weißbücher von 1972 zur Nationalen Verteidigung und von 1994 zur Verteidigung.

Im ersten Weißbuch wurde der Akzent bewußt auf die nukleare Abschreckung als Instrument zur Bewahrung der lebenswichtigen (überwiegend nationalen) Interessen gesetzt. Das schloß nicht aus, in einem zweiten Aktionsradius, dem französischer Bündnissysteme, d. h. in erster Linie Europa, zu agieren. Hinzu kam ein dritter Aktionsradius, der der Vertretung französischer Interessen in der übrigen Welt. Innerhalb des zweiten Aktionsradius bestand 20 Jahre lang die Frage, inwieweit die französischen Alliierten und europäischen Nachbarn zumindest indirekt nuklearen Schutz von Frankreich genießen. Innerhalb des dritten Aktionsradius hatten die verfügbaren konventionel-len Streitkräfte nur eine begrenzte Interventionsfähigkeit, da ein Großteil der finanziellen Mittel für Mitteleuropa und die Atomstreitkräfte bestimmt war. Im Weißbuch von 1994 geht der Wegfall des „nationalen“ Verteidigungsauftrages einher mit dem Bedeutungsverlust der Rolle der schlagkräftigsten „nationalen“ Waffe, d. h.der schwer aufteilbaren Atomstreitkraft, die zugunsten der konventionellen Streitkräfte abgewertet wurde. Die Atomstreitkraft bleibt bestehen, aber ihre eindeutigste Funktion scheint von nun an darin zu bestehen, das konventionelle Potential in letzter Konsequenz zu decken. Die einsatzfähigen Streitkräfte müßten verdreifacht werden, d. h. von zirka 40000 Mann auf mehr als 120 000 Mann, alles Berufssoldaten, ansteigen, und könnten in einem Umkreis von 5 000 bis 7 000 km eingesetzt werden. 1972 war die Abschreckung nach allen Seiten hin ausgerichtet, aber nationale Interessenkreise bestimmten die Art des Auftrages. 1994 bedeutet die Streitkräfteentfaltung, daß jegliche Vorstellungen von Grenzen innerhalb eines gigantischen Kreises nicht mehr existieren. Sicher liegt es auf der Hand, daß ein Eingreifen eher im Süden oder im Osten stattfände als auf der anderen Seite des Atlantiks. Zudem ist damit zu rechnen, daß die finanziellen Ressourcen für die Entwicklung von Logistik, Satelliten und anderen Mitteln, die für die Verwirklichung solcher nationalen Ziele notwendig sind, auch im Jahre 2010 fehlen werden. Es ist nicht angebracht und wäre auch zu einfach, Kritik an den Ambitionen Frankreichs zu üben. Es sollte vielmehr darüber nachgedacht werden, was diese Ambitionen vor dem Hintergrund der gegenwärtigen geistigen Veränderungen und sich wandelnden Vorstellungen überhaupt bedeuten. in. geopolitischer Hinsicht wird durch das Weißbuch und das Rahmengesetz, das diese Leitlinien in einem 6jährigen Haushaltsplan umsetzt, -beides Instrumente einer kohärenten Einsatzstrategie der Mittel -Europa nicht mehr zum Schauplatz der Glorifizierung Frankreichs bestimmt. Darin wird Europa vielmehr zur Unterstützung Frankreichs in dem Bestreben, seine „Stellung“ als kleine Großmacht zu behaupten, aufgefordert

So sind es auch nicht mehr die verstreuten Über-reste des überseeischen Kolonialreiches, die der Legitimation von konventionell bewaffneten Ein-greiftruppen mit weitem Aktionsradius dienen; es ist Frankreichs Stellung unter den Nationen, die sich unter anderem durch einen Sitz als ständiges Mitglied des Sicherheitsrates der UNO definiert, die es zu verteidigen gilt. Dies ist eine nicht mehr kontinental oder europäisch, sondern „national-global“ oder vielleicht auch „national-maritim“ geprägte Vorstellung (Chef des Generalstabes der Streitkräfte ist Admiral Lanxade), bei der sich die Möglichkeiten der Entfaltung auf der glatten Oberfläche eines strategischen Ozeans ohne politische Grenzen weiterentwickeln lassen.

Es existieren keine Feinde, Gebiete oder langfristigen Ziele mehr, nur noch ein scheinbar entpolitisierter Raum, in dem sich Einsatzkräfte bewegen, die in besonderem Maße Abstraktheit verkörpern, da sie nur dem Frieden dienen. Hinter der Forderung nach entsprechenden Mitteln steht nicht mehr das Streben nach nationaler strategischer Autonomie (im Sinne von 1972), ebensowenig die Absicht, eine vorrangige Rolle in Europa zu spielen. Die alles rechtfertigende UNO wird zur Legitimation sämtlicher hypothetischer Einsatzmöglichkeiten oder Kampfaufträge bemüht. Geopolitik auf weltweiter Ebene: Das ist gleichbedeutend mit dem Verzicht auf die Vertretung territorial ausgerichteter Interessen zugunsten eines Interventionspotentials, dessen Einsatz durch eine aktuelle, direkte, kurzgesagt ereignisorientierte Darstellung in den Medien gerechtfertigt wird

Die Beschränkung der Haushaltsmittel blockiert eine Umsetzung der politischen Darstellung in militärische Mittel nach wie vor am stärksten. Obwohl Frankreich das europäische Land mit den geringsten Einsparungen bei den Verteidigüngsausgaben ist, kürzt der Finanzminister, trotz der hochgesteckten Ziele des Rahmengesetzes, die jeweiligen Jahreshaushalte. Der Umfang der praktischen Umsetzung wird daher bescheidener ausfallen als vorgesehen. Und die französischen Streitkräfte laufen Gefahr, sich auf eine Vielseitigkeit ihrer Einsatzmöglichkeiten zu konzentrieren, die nur bei einem Interventionsvorhaben von solchem Ausmaß zum Tragen käme, wie es für Frankreich undenkbar ist. Anders ausgedrückt: Sie könnten nur die Rolle von Hilfstruppen zugewiesen bekommen Denn nur die USA mit der realen Kapazität für eine weltweite politische und militärische Kräfteentfaltung sind in der Lage, der in den französischen Gesetzestexten beschriebenen Stellung gerecht zu werden. Die französischen Streitkräfte könnten also dazu aufgefordert werden, sich einer von den USA für bestimmte Gebiete definierten Politik anzupassen, die zufällig auch in dieser oder jener Hinsicht französischen Interessen entspricht.

Bei dem Versuch, sich eher auf dem globalen als auf dem europäischen Spielfeld zu behaupten, riskiert es Frankreich, beide Partien zu verlieren. Deutschland dagegen, das sich stärker der regionalen als der europäischen Politik zuwendet (gemeint ist das Streben nach politischer Vertiefung), wird zu einem unverzichtbaren Akteur auf dieser Bühne, weil es ein höheres Ziel vielleicht erst zu einem späteren Zeitpunkt erreichen will, d. h. die Übernahme einer weltweiten Rolle. Zwar ist Deutschland noch kein ständiges Mitglied des Sicherheitsrates, doch überrascht seine Teilnahme in der Kontaktgruppe zur Jugoslawienkrise, Seite an Seite mit Frankreich, Großbritannien, den USA und Rußland, wohl niemanden, auch wenn die deutsche Außenpolitik gerade in diesem speziellen Fall nicht immer von gemeinschaftlichem Charakter geprägt war. So hält Frankreich an seiner Stellung und Deutschland an seinem Plan fest.

II. Niedergang oder Wandel einer globalen französischen Politik?

Die Neuorientierung, von der die Politik in Frankreich gegenwärtig gekennzeichnet ist, reflektiert im wesentlichen jene Umwälzungen, die die Grundlagen der Strategie, so wie sie nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem in Europa definiert worden waren, erschüttert haben Dennoch kristallisieren sich nach dem Zerfall der Sowjetunion einige neue Strömungen heraus.

In Europa scheint sich eine gewisse Klärung der territorialen Verhältnisse abzuzeichnen, wodurch die französischen Vorstellungen wieder größere Kohärenz erhalten würden. Allmählich läßt sich eine Begrenzung des europäischen Raumes nach Osten ausmachen, die mit den östlichen Grenzen Ungarns und Polens übereinstimmt, wo zwei politische Systeme aneinanderstoßen, denen es gelun­ gen ist, im Rahmen ihrer Grenzen den größten Teil ihrer menschlichen, wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen zu organisieren, ohne daß dabei eine zwangsläufige Konfrontation erkennbar wäre, die aufgrund gegensätzlicher Interessen zum Konflikt führen könnte. Sobald man es vermeidet, den anderen Lehrstunden in Demokratie und Solidarität zu erteilen, entstehen solche Einflußbereiche, die Gebiete und politische Richtungen hervorbringen, in deren ureigenstem Interesse nur der Weg der Kooperation liegen kann. Unter den Bewohnern eines gemeinsamen Hauses herrscht eben weniger Gemeinschaftsgeist als unter Nachbarn, die Wand an Wand wohnen. Die schrankenlose Erweiterung stößt langsam an ihre Grenzen.

Im Umfeld der NATO, der EU, der WEU und angesichts der Zurückhaltung jener, die nur widerwillig bereit sind, über finanzielle Hilfen hinaus den erworbenen Besitzstand mit anderen zu teilen, reift in den beitrittswilligen Ländern die Erkenntnis, daß vielleicht doch nicht jene, die sich für einen stufenweisen Beitritt ausgesprochen haben, der Doppelzüngigkeit bezichtigt werden sollten. Unterdessen nimmt die Zahl der echten Konflikte und Sicherheitsprobleme im Süden, vom Mittelmeer bis zum Kaspischen Meer, wesentlich stärker zu als in Mitteleuropa oder an der Ostsee. Die Bemühungen Mittel-und Nordeuropas um die Stabilisierung einer Situation, die Deutschland vor kurzem noch mit großer Besorgnis erfüllte, scheinen immer weniger in Bezug zu den wirklichen Gefahrenherden zu stehen.

Abgesehen von den beiden großen politisch-strategischen Gebieten, die sich zunehmend in Europa formen, entstehen auch gewisse untergeordnete Systeme, die sich geographischen, aber auch großen politischen Bereichen zuordnen lassen: Währung, Wirtschaft, Sozialwesen, Sicherheit und Verteidigung. Die Unmöglichkeit, globale politische Szenarien für politisch erweiterte Räume zu entwickeln, hat zur Entstehung von kleineren Einheiten geführt, in denen sich gemeinsame politische Vorstellungen oder zumindest eine Zusammenarbeit aufbauen läßt. Für Frankreich stellt sich das Problem einer direkten Konfrontation mit der Stärke Deutschlands in fast allen solchen untergeordneten Systemen, denen es angehört. Einige glauben daher, einer direkten Gegenüberstellung auf diesem Niveau durch die Flucht auf eine höhere, globale, und/oder niedrigere, nämlich nationale Ebene ausweichen zu können. Dabei wurde hier bereits versucht, auf die Gefahren, die diese Ausweichmöglichkeiten für den Bereich der Sicherheits-und Verteidigungspolitik bergen, hinzuweisen. Eine dritte Grundtendenz stellt der umfangreiche Anpassungsprozeß dar, zu dem die sicherheits-und verteidigungspolitischen Bündnisse und Systeme gezwungen worden sind. Wenn es tatsächlich eine „Entscheidungsschlacht“ geben sollte, in der sich das wahre Kräfteverhältnis heraussteilen muß, dann sind die Verteidigungsbündnisse und Institutionen der gemeinsamen Sicherheitspolitik in Europa jetzt dabei, sie zu führen. Die UNO, NATO, WEU und EU oder sogar die KSZE stehen Schwierigkeiten gegenüber, die Grenzen und Möglichkeiten jeder einzelnen dieser Organisationen deutlich machen werden. Anhand der Institutionen, die aus dieser Umordnung hervorgehen, lassen sich dann die entscheidenden Leitlinien der neuen Politik ausmachen, zumindest auf dem europäischen Kontinent. Und dabei ist keineswegs sicher, daß sich die größten Zusammenschlüsse auch tatsächlich als die widerstandsfähigsten erweisen werden; ebensowenig bedeutet es, daß die europäischen Strukturen, um deren Konsolidierung und Stärkung Frankreich bemüht ist, am stärksten davon beeinträchtigt sind.

Nichtsdestoweniger sind die Grundlagen der Politik, wie sie in der französischen Denkschule vertreten wurden, erschüttert worden; in erster Linie durch den Bedeutungswandel der Schlüsselfigur, des Kernpunktes allen Handelns, so wie Frankreich es für normal hält: des Nationalstaates. Damit eine solche Politik aber Bestand haben kann, müssen zunächst ein oder mehrere Protagonisten ein oder einige unabhängige Vorhaben formulieren oder tragen können. Im Bereich der Sicherheit waren es früher die Atomwaffen, die durch ihre Technik diese Autonomie der politisch Verantwortlichen festigten. Gegenwärtig werden jedoch nicht nur militärische Objekte innerhalb gemeinsamer Systeme neu überdacht (Abrüstung, illegale Waffengeschäfte), können nur noch wenige Akteure Gegner geschweige denn Feinde ausmachen, vielmehr haben die neuesten Konfrontationen auch gezeigt, daß kein Akteur der Politik willens oder in der Lage ist, im Alleingang zu handeln. Seit dem Golfkrieg scheint isoliertes Handeln für einen Nationalstaat, auch für den größten, unmöglich geworden zu sein. Was sonst steckt hinter dem amerikanischen Multilateralismus, wenn nicht der Gedanke, daß die USA nicht Vorhaben, im Alleingang zu handeln? Und das tief in die Balkankrise verstrickte Frankreich ist gezwungen, die NATO auf den Plan zu rufen und somit zunächst die USA und später Rußland erneut an einer diplomatischen Strategie mitwirken zu lassen, die im Rahmen der Europäischen Union bislang von den Franzosen gemeinsam mit den Briten beherrscht wurde. Als jüngstes Ereignis beweist das Eingreifen in Ruanda, in welchem Maße eine ausschließlich national orientierte Politik heutzutage unmöglich geworden ist, da Frankreich von der UNO ständig seine Ablösung forderte.

Gerade Frankreich, das mehr als jedes andere Land die Notwendigkeit einer strategischen Autonomie, einer jeder politischen Einheit zustehenden Entscheidungsfreiheit behauptet hat, wird heute besonders stark von den Umwälzungen betroffen, die auf geopolitischen Gebieten, bei Akteuren und Instrumentarien der Macht tiefgreifende Veränderungen bewirken. Der bevorzugte Raum seiner politischen Darstellung, Europa, hat sich seit 1990 ganz allmählich von dem Entwicklungsmodell nach französischen Vorstellungen entfernt. Dennoch könnten aus der jetzigen Übergangsphase Strömungen entstehen, die den Leitlinien des französischen Modells der Politik neue Relevanz verleihen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. übersetzt von Antje Müller-Schlömer und Sigrid Lange. Vgl. Ministöre de la Döfense, Livre blanc sur la Defense nationale, Paris 1972, insbes. Kap. 1.

  2. Vgl. Eurobaromdtre, Mai 1994.

  3. Vgl. Livre Blanc sur La Defense, La Documentation franfaise, Paris 1994.

  4. Zur zwanghaften Fixierung auf „Die Stellung“ vgl. Pierre M Gallois, Livre noir sur la Defense. Paris 1994.

  5. Solange die militärische Überlegenheit des Westens fortbesteht, stellt sich kaum die Frage, wie lange es noch gelingt, den Akteuren der Konflikte an den Randgebieten des Westens und im Süden über den UNO-Sicherheitsrat westliche Werte aufzuerlegen.

  6. Vgl. General G. Fricaud-Chagnaud/Jean-Jacques Patry, Mourir pour le roi de Prusse, Paris 1994

  7. Vgl. dazu Luden Poirier, La crise des fondements, Paris 1994.

Weitere Inhalte

Andr 6 Brigot, geb. 1950; Studium der Politikwissenschaft und der Politischen Soziologie; zur Zeit als Assistent an der Hochschule für Sozialwissenschaften in Paris. Veröffentlichungen zu Fragen der Verteidigung und der Strategie in Europa; zuletzt: Frankreich/Großbritannien. Fragen der Sicherheit und der Verteidigung, Paris 1994.