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1945: Die Befreiung von der NS-Gewaltherrschaft | APuZ 1-2/1995 | bpb.de

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APuZ 1-2/1995 1945: Die Befreiung von der NS-Gewaltherrschaft 1945: Ein Fragment namens Deutschland. Prägekräfte im Grenzraum zwischen Katastrophe und Neubeginn Historische Orte sichtbar machen Gedenkstätten für NS-Opfer in Deutschland Was bedeutet „Aufarbeitung der Vergangenheit“? Kann man aus der „Vergangenheitsbewältigung“ nach 1945 für die „Aufarbeitung“ nach 1989 Lehren ziehen?

1945: Die Befreiung von der NS-Gewaltherrschaft

Hermann Glaser

/ 24 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Nach fünfzig Jahren sich die Geschehnisse von 1945 zu vergegenwärtigen, sich an dieses wohl dramatischste Schicksalsjahr der deutschen Geschichte zu erinnern, der Opfer des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges zu gedenken und Dankbarkeit für den gelungenen Neubeginn zu empfinden -all das müßte 1995 eine wichtige politische, moralische und kulturelle Herausforderung sein. Die „letzten Tage“ des Dritten Reiches zeigten noch einmal die Verblendung und die Pervertierung eines totalitären Systems, das bar jeder Verantwortung Volk und Land in die völlige Vernichtung treiben wollte. Die „Stunde Null“ ließ dann erste Hoffnungen wachsen, daß den Noch-einmal-Davongekommenen eine Chance für ein besseres und menschlicheres Leben geboten würde -trotz anhaltender vielfacher Not und Entbehrung. Der Aufbau, der unmittelbar nach der bedingungslosen Kapitulation einsetzte, bestätigte die Erwartungen auf Wandel und neuen Anfang. Der Beitrag berichtet vom Untergang des Dritten Reiches und macht durch eine solche Bestandsaufnahme deutlich, warum wir von 1945 -trotz millionenfacher Flucht und Vertreibung, des Verlusts der Ostgebiete, der Spaltung Deutschlands und des Beginns einer neuen Diktatur auf deutschem Boden -letztlich doch als einem Jahr der Befreiung sprechen sollten.

Am Januar 1945 schrieb eine nach Endorf im Chiemgau evakuierte Münchnerin in ihr Tagebuch: „Ein neues Jahr hat angefangen. Ein schweres, entscheidungsbringendes Jahr.“ Von den zehn Jahren seit ihrer Heirat seien sechs Jahre Krieg gewesen. Glücklich wäre sie, wenn ihr Mann am Samstagnachmittag aus der Stadt kommen könne: „oft mit sehr müden Schritten, den unentbehrlichen Rucksack auf dem Rücken ... unruhevoll, gehetzt und vertrieben sind die Menschen. Und jeder hat heute zum Neuen Jahr nur den einen Wunsch: Frieden, Frieden.“ 1

Das war wahrlich ein frommer Wunsch; nur wenige haben ihn damals offen ausgesprochen, denn er lag völlig konträr zu dem fanatischen Kampfeswillen, den die Nationalsozialisten, allen voran Adolf Hitler, lauthals verkündeten. In seinem Aufruf zum Jahreswechsel an das deutsche Volk -„Deutsches Volk, Nationalsozialisten, National-sozialistinnen, meine Volksgenossen“ (auf die sonst übliche Anrede „Parteigenossen“ verzichtete der , Führer') -, in dieser letzten Neujahrsrede Hitlers wird weiterhin mit monomaner Geschwätzigkeit ein erfolgreiches Kriegsende suggeriert: nicht durch die deutsche Kapitulation, denn diese wird nie kommen, sondern durch den deutschen Sieg!“ Im Reichspropagandaministerium konstatierte man mit Zufriedenheit eine positive Resonanz der Rede, vor allem in den Westgauen; diese habe hundertprozentig’ die Menschen auf-gerüttelt und deren Herzen für die deutsche Sache begeistert. In der Ansprache des Führers sei besonders aufgefallen, daß er mit sehr siegessicherer Zuversicht das Volk ermutigt habe

Wenn das neue Jahr wirklich Frieden bringen würde, wie es sich die evakuierte Münchnerin ersehnte: Wer würde zu den Überlebenden gehören? Die vom Großdeutschen Rundfunk inszenierte Silvestersendung konnte das Gefühl nicht übertönen, daß das Inferno bevorstehe. Die Untergangsstimmung war besonders stark in den Städten ausgeprägt, über die gleich zu Jahresbeginn neue, von Bombenangriffen entfachte Feuerstürme hinwegrasten. Die vom Reichspropagandaminister Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast am 18. Februar 1943 ausgegebene Losung: „Ich frage euch: Wollt ihr den totalen Krieg? Wollt ihr ihn, wenn nötig, totaler und radikaler, als wir ihn uns heute überhaupt noch vorstellen können?“ -diese die letzte propagandistische Schamgrenze aufhebende, aber aufgrund ihrer Rhetorik von der Masse der Bevölkerung begeistert begrüßte Aufforderung zu rücksichtsloser Vernichtung sollte sich im Jahr 1945 voll, freilich gegenteilig, erfüllen: Für Deutschland und die Deutschen waren , letzte Tage angebrochen.

Feuerstürme

Der Journalist Fritz Nadler, der sah, „wie Nürnberg unterging“ (bei einem englischen Brandbomben-Angriff am 2. Januar 1945), berichtet, daß man mit dunklen Vorahnungen in der noch fast völlig intakten Stadt ins neue Jahr gegangen sei -335 Alarme und 430 öffentliche Luftwarnungen hatte man schon erlebt. Als dann am ersten Werktag im neuen Jahr mächtige Bomberverbände von zwei Richtungen her ins Reichsgebiet eingeflogen seien und sich immer mehr dem Stadtgebiet näherten, gab es keine Zweifel mehr: Der konzentrierte Angriff auf Nürnberg stand unmittelbar bevor, das Unheil war unterwegs: „Um 18. 33 heulen die Sirenen: , Alarm.. -Die Straßenpassanten erstarren vor Furcht. Eine wilde, tolle Flucht beginnt. Die Geschäfte, die Lokale, die Theater leeren sich. Zehn Minuten später, um 18. 43 Uhr, gellt das Stichwort , Toni - Berta* durch den Äther. Nun zweifelt keiner mehr, jetzt weiß jeder, was es geschlagen hat: Nürnberg ist an der Reihe. Nun gibt es für die Passanten keine Hemmung mehr. Alles rennt, flüchtet...! Die Ordnung hat aufgehört, Männer und Frauen, Kinder und Greise, Soldaten aller Rangstufen und uniformierte Parteileute stapfen, stürzen, stolpern, rasen ... durch die Straßen. Es herrscht tiefe Finsternis ... Vor den Bunkern... hier, wo sich die Menschen in Massen stauen, hat alle menschliche Rücksichtnahme aufgehört. Es findet sich kaum jemand, der Frauen mit Kindern, Greisen und Hilfsbedürftigen beisteht. Jeder ist sich in diesen schreckhaften, für das eigene Leben entscheidenden Schreckminuten selbst der Nächste. Man hört schon das Gebrumm der Bomber, man glaubt sogar zu fühlen, daß die Luft zittert.“

521 Bomber der britischen Royal Air Force warfen 1825 Tonnen Sprengbomben und 479 Tonnen Brandbomben. Die Stadt wurde zu einer Brandfackel. 29500 Wohnungen wurden allein bei diesem Angriff zerstört; 100000 Menschen waren obdachlos geworden. Mindestens 1790 Frauen, Männer und Kinder überlebten den Angriff nicht. Die Zahl der Opfer war angesichts der Schwere des Angriffes relativ gering, da genug Schutzräume vorhanden waren (vor allem die tiefen Felsenkeller unter dem Burgberg boten 20000 Menschen Schutz); außerdem hatten von den 260000 Einwohnern bereits 140000 die Stadt verlassen.

Erschreckend hoch war die Zahl der Opfer beim Bombenangriff auf Dresden am 13. Februar 1945; mindestens 35 000 Menschen sind in der mit Flüchtlingen überfüllten Stadt umgekommen, als sie durch zwei Nachtangriffe (773 Bomber) und einen Tagesangriff (311 Bomber) völlig zerstört wurde. Andere Schätzungen sprechen von 40000 bis 60000 Todesopfern. Es handelte sich um den furchtbarsten Schlag des ganzen Krieges gegen die Zivilbevölkerung.

Nach dem Angriff notierte Ursula von Kardorff in ihr Tagebuch (Berlin, 15. Februar 1945): „Die Nachrichten aus Dresden sind so schauerlich, daß man sie einfach nicht glauben kann. Die Stadt war vollgestopft mit Flüchtlingen, erst als sie brannte, begannen die Sprengbomben zu fallen.“ Ihr Eintrag vom 12. März lautet: „Man hört grausige Schilderungen aus Dresden. Zehntausende von Toten, da die Stadt mit Flüchtlingen aus dem Osten überfüllt war. Die Lebenden nur noch damit beschäftigt, aus den Trümmern Leichen zu bergen. Die Engländer rühmten sich speziell, so viele Flüchtlinge getroffen zu haben. Eine Barbarei, die sich nicht mehr sonderlich von der unseren unterscheidet. Flüchtlinge, Alte, Mütter und Kinder mit Sprengbomben und Phosphorregen zu überschütten, sie zu verbrennen, zu verstümmeln und zu ersticken -das ist unmenschlich.“

Militärischer Zusammenbruch

Wunderwaffen hatte die nationalsozialistische Führung auch noch für das Jahr 1945 angekündigt; sie würden das , Blatt des Krieges 4 wenden. Aber die seit Mitte Juni 1944 zum Einsatz gekommenen sogenannten „Vergeltungswaffen“ (die modernen Fernraketen VI und V 2, vorwiegend zum Bombardement von London verwendet) -sie lösten laut Goebbels einen Freudentaumel in der deutschen Bevölkerung aus -waren nicht mehr als Nadel-Stiche 4 und wurden von den Engländern mit Gelassenheit hingenommen. Bis zum 31. Dezember 1944 wurden 13714 Flugbomben abgeschossen, denen im Frühjahr 1945 nochmals 9000 Flugbomben und 1913 Raketen folgten; die letzte V 2 detonierte am 27. März 1945 in London

Im Januar 1945 war die deutsche Ardennen-Offensive gescheitert. Hitler hatte im Westen größere Truppenverbände -unter Schwächung der Ostfront -mobilisieren können; er wollte nach Antwerpen, dem wichtigsten Nachschubhafen der Alliierten, vorstoßen und damit seinen Erfolg gegen Belgien-Frankreich vom Mai 1940 wiederholen. Zudem glaubte er, daß er dadurch die westöstliche Allianz . werde spalten können. Nach Anfangserfolgen blieb die deutsche Offensive innerhalb weniger Tage stecken. Am 12. Januar 1945, als sie endgültig festgefahren war, begann die neue sowjetische Offensive: „Eine gewaltige Kriegsmaschinerie überrollte das ausgeblutete deutsche Ostheer zwischen der Memel und den Karpaten und drang in drei Wochen bis an die Oder vor. Eine riesige Menschenlawine schob die Rote Armee vor sich her, endlose Trecks von Flüchtlingen, voller Entsetzen angesichts des Zusammenbruchs der deutschen Ostfront, in panischer Angst vor den Racheakten der sowjetrussischen Truppen, vor Vergewaltigungen in kaum vorstellbarem Ausmaß, vor tausendfachem Mord und Deportationen. Das war die Vergeltung für die von Deutschen auf sowjetischem Boden 1941 bis 1944 begangenen Verbrechen, eine Reaktion auf den nationalsozialistischen Rassenwahn. Aber solche Exzesse begleiteten auch den Einmarsch der Roten Armee in Rumänien, Ungarn und den anderen, doch , befreiten 4 Ländern. Der Weltbürgerkrieg hatte, von der sowjetischen Kriegspropaganda verstärkt, alle Dämme brechen lassen.“ Die letzten Tage der deutschen Wehrmacht waren angebrochen. Die Rote Armee begann ihren Marsch nach Berlin, wohin Hitler sein Führer-hauptquartier am 16. Januar verlegt hatte; am 19. Januar erreichte sie die schlesische Grenze, nicht viel später fiel den Russen das Industriegebiet Oberschlesiens unzerstört in die Hände.

Die westlichen Alliierten setzten knapp vier Wochen nach den Sowjets zum Sturm auf das Deutsche Reich an; nach wenigen Tagen schon mußten sich die deutschen Truppen hinter den Rhein zurückziehen. Köln wurde am 6. März 1945 erobert; einen Tag später fiel den Amerikanern die unzerstörte Eisenbahnbrücke bei Remagen in die Hand. „Sagt den Boys“, meinte der General der 3. US-Armee, George Smith Patton, „sie sollen einfach immer weiter vormarschieren. Ich glaube, dieser Krieg ist jetzt zu Ende. Ich möchte, daß meine Männer vorn sind und der Ruhm mit auf sie fällt.“ Doch die deutschen Truppen leisteten in allen Teilen des bald in einzelne „Kessel“ aufgespalteten Deutschland immer noch Widerstand, so daß das sinnlose Blutvergießen weiterging. Kassel wurde am 3. April, Nürnberg am 19. April, München am 29. April besetzt.

Am 25. April 1945 waren bei Torgau an der Elbe Truppen der 69. US-Infanterie-Division und der 58. Sowjetischen Gardedivision zusammengetroffen; am selben Tag wurde der Belagerungsring um Berlin geschlossen. Der Wehrmachtsbericht vom l. Mai beschrieb die Frontlage: Im Stadtkern von Berlin verteidige sich die um den Führer Adolf Hitler gescharte , tapfere Besatzung auf verengtem Raum gegen die bolschewistische Übermacht; südlich der Reichshauptstadt stünde man in harter Abwehr gegen die pausenlos anrennenden Sowjets. In Nordwestdeutschland läge der Schwerpunkt der Kampfhandlungen zwischen Weser und Elbe. Aus dem Bayerischen Wald seien amerikanische Panzerverbände an Passau vorbei bis zur Donau vorgestoßen. In Oberbayern dringe der Feind von Regensburg weiter nach Süden vor. In Ober-italien würden sich die deutschen Divisionen nach Norden zurückkämpfen. Die heldenhaften Verteidiger von Breslau hätten wiederum alle Angriffe der Bolschewisten abgeschlagen

Allmählich begriffen die deutschen Generäle und Oberbefehlshaber, deren verantwortungslose Treue zu Hitler ein absurdes Ausmaß angenommen hatte, daß sie doch kapitulieren mußten -wenn sie sich selbst retten wollten (und das wollten sie natürlich; lediglich die Landser sollten weiterhin , verheizt werden). So meldete zum Beispiel die von der amerikanischen 12. Heerestruppe für die deutsche Zivilbevölkerung herausgegebene „Frankfurter Presse“ am 3. Mai 1945, daß Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt, der frühere deutsche Oberbefehslhaber an der Westfront, sich ergeben habe. Generalfeldmarschall Wilhelm List war in seinem Haus in Garmisch gefangengenommen worden, Feldmarschall Wilhelm Ritter von Leb in seinem Haus bei Füssen Während überall im Lande die Massengräber für die letzten Opfer der letzten Tage des Dritten Reiches ausgehoben wurden, setzten die meisten militärischen Repräsentanten des nationalsozialistischen Regimes auf ehrenvolle Behandlung durch den Feind. Wie es mit dem Ehrenkodex wirklich bestellt war, zeigte sich nicht nur darin, daß ungezählte Soldaten wegen sinnloser Durchhaltestrategien noch fallen mußten oder verwundet wurden, sondern der Tapfere Widerstand gegen den Feind bis zuletzt ermöglichte es auch den SS-Schergen, nachdem sie schon Millionen von Menschen in den Konzentrations-und Vernichtungslagern umgebracht hatten, weitere Verbrechen zu begehen.

Terror

Heinrich Himmler, Reichsführer SS und Ober-befehlshaber des Ersatzheeres, hatte den Befehl gegeben, die Konzentrationslager bei Feindannäherung zu räumen und die Häftlinge in rückwärtige Lager zu überführen. Eine Aufstellung vom 15. Januar 1945 besagt, daß es damals im Reichsgebiet noch 714211 Konzentrationslagerhäftlinge (511537 Männer und 202 674 Frauen) gab; die Stärke der SS-Wachmannschaften betrug rund 40000. „Wohl mindestens ein Drittel der über 700000 im Januar 1945 registrierten Häftlinge kamen auf den strapaziösen Evakuierungsmärschen, in den wochenlang umherirrenden Transportzügen und (vor allem) in den völlig überfüllten Auffanglagern in den Monaten und Wochen unmittelbar vor Kriegsende ums Leben.“ In Auschwitz hatte die Gestapo in der ersten Januarwoche 1945 angesichts der näherrückenden Roten Armee Vorkehrungen für die Evakuierung von über 65 000 Häftlingen getroffen, nachdem schon vorher zahlreiche Häftlinge in andere KZs , überstellt worden waren. Am 18. Januar -das Geräusch fernen Artilleriefeuers war bereits zu hören -ordnete die SS die Gesamtevakuierung des Lagers an. „Den ganzen 18. und 19. Januar hindurch brachen riesige Menschenkolonnen... bei eisigem Wetter zu Fuß gen Westen auf, in Rich-tung auf die oberschlesischen Städte. Jeder, der nicht mehr weitergehen konnte, der hinfiel und nicht wieder aufzustehen vermochte, wurde erschossen. Das geringste Aufmucken wurde von den bewaffneten Posten auf brutalste Weise bestraft. Die Todesmärsche hatten begonnen. Von einer ursprünglich 800 Mann zählenden Kolonne lebten nach 18 Tagen des Marschierens und des weiteren Transports und des Wütens der Posten nur noch 200. In einer anderen, 2500 Köpfe zählenden Kolonne wurden im Laufe des ersten Marschtages 71 Männer erschossen.“

Als die hysterischen Endsieg-und Durchhalteparolen bei der bisher straff disziplinierten und von , hoher Kampfmoral’ bestimmten Wehrmacht nicht mehr genügend Resonanz fanden, verstärkten die Nationalsozialisten den Terror auch gegen die eigenen Soldaten. Heinrich Himmler erließ Mitte Janaur 1945 einen Aufruf gegen diejenigen, denen der Krieg vollends sinnlos geworden war: „Ich bitte die deutschen Volksgenossen, insbesondere die Frauen, Drückebergern, die sich Evakuierungstrecks anhängen oder sonst von Osten nach Westen ziehen, kein Mitleid am unrechten Platz entgegenzubringen. Männer, die sich von der Front entfernen, verdienen von der Heimat kein Stück Brot.“

Am 15. Februar 1945 erließ der Reichsminister der Justiz eine Verordnung über die Errichtung von Standgerichten, die in „feindbedrohten Reichsverteidigungsbezirken“ gebildet wurden. Die Härte des Ringens um den Bestand des Reiches erfordere von jedem Deutschen Kampfentschlossenheit und Hingabe bis zum äußersten. Wer versuche, sich seinen Pflichten gegenüber der Allgemeinheit zu entziehen, insbesondere, wer dies aus Feigheit oder Eigennutz tue, müsse sofort mit der notwendigen Härte zur Rechenschaft gezogen werden, damit nicht aus dem Versagen eines einzelnen dem Reich Schaden erwachse Durch die Wehrmachts-„Justiz“ sind während des Zweiten Weltkrieges insgesamt etwa 10000 Todesurteile gefällt worden; innerhalb der US-Armee fand demgegenüber lediglich eine Hinrichtung statt.

Als Hartmut von Hentig, soeben zum Leutnant befördert und dem Oberkommando des Heeres als Führerreserve unterstellt, nach Berlin kam, sah er, daß in der Frankfurter Allee an jedem zweiten Laternenmast ein desertierter deutscher Soldat hing. Die Abschreckung wirkte aber nicht besonders, denn als die Truppe wieder nach Süddeutschland verlegt wurde, dem ausgewichenen Oberkommando des Heeres (OKH) folgend, gingen vom Transportzug „einige Kameraden im Dunkeln ab, wenn wir in der Nähe ihres Heimatortes waren“ Ebenfalls in Berlin notierte Ruth Andreas-Friedrich in ihrem Tagebuch (23. 4. 1945): „Lang und hager, die Arme auf dem Rücken zusammengebunden, baumelt es vor uns am Pfahl. Baumelt hin ... baumelt her. Zwei schlotternde Soldaten-stiefel schlagen mit gespenstischem Klappern gegen den Laternenmast. Aus bläulichem Totenantlitz glotzen blutunterlaufene Augen blicklos auf das Straßenpflaster ... Die ihn aufknüpften, haben ihm ein Schild um den Hals gehängt. Aus grauer Pappe mit Bindfaden verknotet. Darauf steht in windschiefen Druckbuchstaben: , Ich, Unteroffizier Heinrich Lehmann, war zu feige, Frauen und Kinder zu verteidigen. Darum hänge ich hier/“

Fallstudien zeigen, wie selbst noch unmittelbar vor dem Einmarsch alliierter Truppen Denunziantentum und Blutjustiz hemmungslos weiter wüteten. Als in der Osterwoche bei Heidelberg, so berichtet Alexander Mitscherlich, Hunderte von jungen Soldaten vorbeizogen -sie hatten, willentlich oder nicht, den Anschluß an ihre Truppenteile verloren bzw. aufgegeben -, versuchten SS-Einheiten, die nicht begreifen wollten, daß das Ende des Dritten Reiches gekommen war, durch Standgerichte die sinnlos gewordene militärische Ordnung aufrechtzuerhalten: „An der nördlichen Ausgangsstraße von Heidelberg, dort wo in wenigen Wochen die berühmte Obstblüte einsetzen würde, konnte man jetzt zwei junge Soldaten, die derartig stand-gerichtlich abgeurteilt und erschossen worden waren, an Apfelbäumen aufgehängt sehen als Beispiel, das abschrecken sollte. Kaum war das Feld-gericht weitergezogen, da kamen die Bauern der Bergstraße und fällten die Bäume, an denen sich die sinnlose Exekution vollzogen hatte, als seien sie , unrein'geworden.“

Der Schrecken aus dem Osten

Von der nationalsozialistischen Propaganda geschürt, aber auch durch die Berichte von schrecklichen Grausamkeiten bestätigt, verbreitete sich in den Ostgebieten eine panische Angst vor den Russen. Riesige Trecks von Flüchtlingen, die sich vonder auf dem Rückzug befindlichen deutschen Armee noch einigermaßen abgeschirmt fühlten, versuchten, in den Westen Deutschlands zu gelangen. Das Ende des nationalsozialistischen Wahns vom Ostimperium -mit den Reichskommissariaten Moskau, Kaukasus, Ukraine, Ostland, Polen, Böhmen und Mähren -war gekommen. Was Hitler in den Tagen des Überfalls auf die Sowjetunion seinem Propagandaminister Joseph Goebbels erklärt hatte -„Und haben wir gesiegt, wer fragt uns nach der Methode. Wir haben soviel auf dem Kerbholz, daß wir siegen müssen, weil sonst unser ganzes Volk, wir an der Spitze, mit allem, was uns lieb ist, ausradiert würde“ -, diese düstere Vision begann sich nun zu bewahrheiten. Nach drei Jahren mit äußerster Brutalität geführter Kämpfe ließen die geschlagenen Verbände der Wehrmacht Rußland als ein verbranntes, ausgeplündertes Land zurück. Fast Millionen Sowjetbürger waren ums Leben gekommen, mehrere Millionen nach Deutschland verschleppt worden.

Für die Russen war mit Erreichen der deutschen Grenze die Stunde der Rache gekommen. In der sowjetischen Armeezeitung schrieb der Schriftsteller Ilja Ehrenburg: „Wir vergessen nichts. Wir marschieren durch Pommern, vor unseren Augen aber liegt das zerstörte, blutende Weißrußland. Den penetranten Brandgeruch, der in unsere Soldaten-mäntel in Smolensk und in Orel drang, wollen wir jetzt nach Berlin tragen. Vor Königsberg, vor Breslau und vor Schneidemühl denken wir an die Ruinen von Woronesch und von Stalingrad. Rotarmisten, die zur Zeit deutsche Städte stürmen, vergessen nicht, wie in Leningrad Mütter ihre toten Kinder auf kleinen Handschlitten fortschafften. Für die Qualen Leningrads hat Berlin uns noch nichts bezahlt.. .“ 20 Die entsetzlichen Ausschreitungen, gegen die sich besonnene Offiziere der sowjetischen Armee ergebnislos zur Wehr setzten'(so die Frontoffiziere Alexander Solschenizyn und Lew Kopelew), ließen den Flüchtlingsstrom -eine »Umdrehung des von Hitler propagierten Germanenzugs -immer mehr anschwellen.

Nach dem Einbruch der Sowjets in Ostpreußen konnten aus der Danziger Bucht bis Mai 1945 noch rund zwei bis drei Millionen Flüchtlinge und Soldaten evakuiert werden; 20000 bis 25 000 kamen dabei ums Leben. Eine besonders schlimme Katastrophe ereignete sich, als das ehemalige Kreuzfahrtschiff „Wilhelm Gustloff" der Partei-organisation „Kraft durch Freude“ mit rund 6600 Flüchtenden beladen, darunter fast 5 500 Frauen und Kindern, nach der Abfahrt aus dem Ostsee-hafenGotenhafen (Gdingen) von einem sowjetischen U-Boot torpediert wurde. Einer der wenigen Überlebenden meinte später: „Menschen in der Masse sind schlechte Menschen. Die werden zum Vieh.“ Mütter, Alte und Greise, die nicht schnell genug vorwärtskamen, seien einfach totgetrampelt worden. „Ich habe noch die Hand nach meinen Eltern ausgestreckt, aber ich hab sie nicht mehr erreicht. Da kamen die Menschenmassen, die quollen und quollen und schrien.“ Um die wenigen Plätze in den Booten sei gekämpft und geschossen worden

Der Weg über das Land war meist noch gefährlicher als der über die See; er wurde von vorstoßenden russischen Panzern immer wieder versperrt: „Über vereiste Straßen und durch heftige Schneestürme behindert, zogen die Trecks dahin. Pferde glitten immer wieder aus, Wagen brachen zusammen. Viele zogen nur einen Handwagen mit ihrer letzten Habe hinter sich her. Es war ein unvorstellbarer Kampf gegen die Verzweiflung. Nahrungsmittel, vor allem Milch für die Kleinkinder, gab es kaum. Dazu immer wieder Tiefflieger und die Angst, von feindlichen Panzern überrollt zu werden. Nicht wenige, insbesondere Alte und Kranke, gaben auf und fanden den Tod. Wem immer es gelang, ins Innere des Reiches zu entkommen, erfuhr auch dort oft einen schmerzlichen Mangel an Mitmenschlichkeit und Hilfsbereitschaft. Für 'viele war es zudem eine trügerische Sicherheit, so für die Flüchtlinge aus Schlesien, die in Dresden Zuflucht gesucht hatten und im Inferno des Bombenkrieges umkamen.“

Götterdämmerung

Als die allerletzten Tage des Dritten Reiches gekommen waren, kam die nationalsozialistische Bewegung erneut in Bewegung -nach dem Motto: Rette sich, wer da kann! Diejenigen, die als kleine oder große Parteigänger des Regimes, als dessen Funktionäre und Exekutoren den „heroischen Opfergang des Volkes“ weiter propagierten, die als Führer in Politik, Militär, Verwaltung schließlich die Strategien für die Selbstvernichtung des deutschen Volkes entwarfen -denn nur „verbrannte Erde“ sollte dem Feind überlassen werden -, bereiteten klammheimlich ihren Ausstieg aus der Apokalypse vor. Die Erbärmlichkeit, mit der die Staatsverbrecher und Massenmörder sich ihrer , Verantwortung (was immer das in einem Staat ohne ethische Prinzipien hieß) zu entziehen suchten, hat geschichtlich keine Parallele. Die emphatische Beschreibung des Dritten Reichs als eines „Reichs der niederen Dämonen“ durch Ernst Niekisch erwies ihre Richtigkeit auch im Hinblick auf diese letzte Phase der nationalsozialistischen Herrschaft. Die nationalsozialistische Personage lasse sich, so Niekisch, auf den Grundtyp des Gangsters zurückführen: „Der Gangster ist der Mann, der sein Schicksal nicht akzeptiert. Er ist kein Revolutionär; er will die bürgerliche Ordnung gar nicht umstürzen, er will nur sein persönliches Los verbessern ... Der Gangster ist das selbstherrliche Individuum, das ohne Ideologie mit zynischer Offenheit seine Interessen wahrt. "

Bei der , Interessenwahrung kam es auch zum Bruch zwischen Hitler und einigen seiner Paladine. So versuchte Himmler mit den Westmächten separate Kapitulationsverhandlungen einzuleiten. Seine absurde Absicht, nach Hitlers Tod die Führung Deutschlands zu übernehmen, ließ ihn in Verbindung mit dem Präsidenten des schwedischen Roten Kreuzes, Folke Bernadotte, treten; dieser überbrachte Himmlers Angebot an General Dwight D. Eisenhower. Himmler hatte als Vorgabe für die Verhandlungen Hunderttausende von KZ-Häftlingen , angeboten, die auf diese Weise gerettet wurde 24. Die Alliierten wiesen solche Versuche nationalsozialistischer Hauptkriegsverbrecher, Teilkapitulationen zu erreichen, von sich.

Der 1940 zum Reichsmarschall ernannte Hermann Göring, der am 21. Juli 1941 den Auftrag zur „Gesamtlösung der Judenfrage“ im deutschen Einflußgebiet Europas gegeben hatte (Europa sollte von „Westen nach Osten systematisch von Juden gesäubert werden“), ersuchte den »Führer um Enthebung von seinem Amt als Oberbefehlshaber der Luftwaffe, da er an einer jetzt akut gewordenen Herzkrankheit leide. Kurz vorher hatte er, der sich mit einer Lastwagen-Kolonne voller Wertgegenstände aus seinem feudalen Besitz „Karinhall" in Sicherheit zu bringen suchte, noch telegraphisch bei Hitler angefragt, ob er nicht als Stellvertreter des Führers sofort die Gesamtführung des Reiches übernehmen solle, da Hitler doch im Gefechts-stand in der Festung Berlin zu bleiben gedenke Göring habe sein Amt als Oberbefehlshaber wohl aufgegeben, so kommentierte die „Frankfurter Presse“, um nicht als Kriegsgefangener behandelt zu werden, wenn er in alliierte Hände gerate

Hitler hatte inzwischen Göring und Himmler verstoßen. In seinem „politischen Testament“ vom 29. April 1945 bekräftigte er diese Entscheidung: „Ich stoße vor meinem Tode den früheren Reichs-marschall Hermann Göring aus der Partei aus und entziehe ihm alle Rechte, die sich aus dem Erlaß vom 29. Juni 1941 sowie aus meiner Reichstagserklärung vom 1. September 1939 ergeben könnten ... Ich stoße vor meinem Tode den früheren Reichsführer SS und Reichsminister des Innern Heinrich Himmler aus der Partei sowie allen Staatsämtern aus... Göring und Himmler haben durch geheime Verhandlungen mit dem Feinde, die sie ohne mein Wissen und gegen meinen Willen abhielten, sowie durch den Versuch, entgegen dem Gesetz die Macht im Staate an sich zu reißen, dem Lande und dem gesamten Volk unabsehbaren Schaden zugefügt, gänzlich abgesehen von der Treulosigkeit gegenüber meiner Person.“

Wie vielen Spitzenfunktionären des NS-Regimes die Flucht wirklich gelang, ist ungeklärt. Von Martin Bormann hieß es, daß er nach Südamerika habe gelangen können; Reichsjugendführer Axmann behauptete später, er habe Bormanns Leiche in Berlin nach dessen Flucht aus der Reichskanzlei liegen gesehen. Der SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, 1939 Leiter des Judenreferats im Reichssicherheitshauptamt, der in Durchführung der „Endlösung 11 den Transport der jüdischen Menschen in die Vernichtungslager organisiert hatte, konnte in Argentinien Fuß fassen (1960 wurde er vom israelischen Geheimdienst nach Israel entführt und dort 1961 hingerichtet). Ferner waren -nachdem sie die Bevölkerung noch zum heldenhaften Weiterkämpfen aufgerufen hatten -plötzlich auch fast alle Gauleiter verschwunden.

Die meisten Hauptkriegsverbrecher konnten jedoch bald dingfest gemacht werden. Nach Göring faßte man den ehemaligen Leiter der NS-Organisation „Deutsche Arbeitsfront“, Robert Ley, bei Berchtesgaden; ebenfalls in den Alpen wurde der SS-Obergruppenführer Ernst Kaltenbrunner festgenommen. In Flensburg entdeckte man den Chefideologen Alfred Rosenberg. Seit dem 20. April hatte sich der frühere Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop unter falschem Namen verborgen gehalten; er wurde am 12. Juni verhaftet.

Der amerikanische Publizist William L. Shirer, dem ein monumentales Werk über den „Aufstieg und Fall des Dritten Reiches“ zu danken ist, been-det sein Buch mit einer knappen Schilderung dieser erbärmlichen Personage während des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher: „Ich sah sie in Nürnberg. In dieser Stadt hatte ich sie oft bei den alljährlichen Reichspartei-tagen auf der Höhe ihrer Glorie und Macht beobachtet. Auf der Anklagebank vor dem Internationalen Militärgerichtshof sahen sie anders aus. Sie hatten eine beträchtliche Verwandlung durchgemacht. Auf ihren Sitzen zusammengesunken, nervös hin-und herrutschend, erinnerten sie in ihren unscheinbaren Anzügen nicht mehr an die arroganten Führer von ehedem. Sie wirkten wie eine zusammengewürfelte Schar von Mediokritäten. Man konnte es kaum fassen, daß solche Leute wie sie eine so ungeheure Macht ausgeübt hatten, daß solche Menschen wie sie eine große Nation und den größten Teil Europas hatten erobern können.“

Hitler wollte, daß den eigenen Untergang möglichst viele Deutsche nicht überleben sollten. Am 19. März 1945 verkündete er seinem Rüstungsminister Albert Speer: Wenn der Krieg verloren-gehe, dann sei auch das Volk verloren. Man brauche daher nicht auf die Grundlagen, die das deutsche Volk zu seinem primitivsten Weiterleben benötige, Rücksicht zu nehmen. „Im Gegenteil ist es besser, selbst diese Dinge zu zerstören. Denn das Volk hat sich als das schwächere erwiesen, und dem stärkeren Ostvolk gehört ausschließlich die Zukunft. Was nach diesem Kampf übrigbleibt, sind ohnehin nur die Minderwertigen, denn die Guten sind gefallen.“

Noch am gleichen Tage wurde diese düstere Ankündigung in einen Führerbefehl umgesetzt. Schnellstens hätten alle Truppenführer die Verkehrs-, Industrie-und Versorgungsanlagen sowie Sachwerte innerhalb des Reichsgebietes, die sich der Feind für die Fortsetzung seines Kampfes nutzbar machen könne, zu zerstören Am 12. April wurde dann noch vom Oberkommando der Wehrmacht verfügt, daß Städte bis zum äußersten verteidigt und gehalten werden müßten, ohne jede Rücksicht auf Versprechungen oder Drohungen, die durch Parlamentäre oder feindliche Rundfunksendungen überbracht würden. „Für die Befolgung dieses Befehls sind die in jeder Stadt ernannten Kampfkommandanten persönlich verantwortlich. Handeln sie dieser soldatischen Pflicht zuwider, so werden sie wie alle zivilen Amtspersonen, die den Kampfkommandanten von dieser Pflicht abspenstig zu machen versuchen oder gar ihn bei der Erfüllung seiner Aufgaben behindern, zum Tode verurteilt.“

Die nur sozialpathologisch zu verstehende Bindung an Hitler war immerhin noch so stark, daß dieser , Nero-Befehl‘ zur Zerstörung Deutschlands teilweise befolgt wurde. Doch wagte es Albert Speer, der noch vor der Aktion „Verbrannte Erde“ Hitler eine Denkschrift übergeben hatte („Wir in der Führung haben die Verpflichtung, dem Volk in den schweren Stunden, die es zu erwarten hat, zu helfen“ sich im Verbund mit anderen Dienststellen der Durchführung des Vernichtungsbefehls entgegenzustellen. „Aber es blieb bis zum Ende ein riskantes Spiel. Bis in den April 1945 hinein verfügte der Diktator nämlich über ein Mittel, das die Wirkung von Sprengstoff bei weitem übertraf: das ungeheure Arsenal von chemischen Kampfstoffen, deren Einsatz den Untergang Deutschlands wohl tatsächlich herbeigeführt hätte. Aber solange sich Hitler in seinem Bunker in Berlin an die Hoffnung einer eigenen letzten Überlebenschance klammerte, zögerte er. Als er dann schließlich in der eingeschlossenen Reichshauptstadt den Tod ins Auge fassen mußte, war diese letzte furchtbare Waffe nicht mehr einsatzbereit und das Leben der Bevölkerung sowie seine Existenzgrundlagen gerettet.“

Die Befreiung

Im Wehrmachtsbericht vom 9. Mai hieß es: „Seit Mitternacht schweigen nun an allen Fronten die Waffen. Auf Befehl des Großadmirals hat die Wehrmacht den aussichtslos gewordenen Kampf eingestellt. Damit ist das fast sechsjährige heldenhafte Ringen zu Ende. Es hat uns große Siege, aber auch schwere Niederlagen gebracht. Die deutsche Wehrmacht ist am Ende einer gewaltigen Übermacht ehrenvoll unterlegen. Der deutsche Soldat hat, getreu seinem Eid, im höchsten Einsatz für sein Volk für immer Unvergeßliches geleistet. Die Heimat hat ihn bis zuletzt mit allen Kräften unter schwersten Opfern unterstützt. Die einmalige Leistung von Front und Heimat wird in einem späteren gerechten Urteil der Geschichte ihre endgültige Würdigung finden.“

Die 50. Wiederkehr des 8. Mai 1945, als die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches erfolgte und der Zweite Weltkrieg in Europa beendet wurde, fällt in eine Zeit verstärkter Rechtstendenzen. Um so wichtiger ist es, mit allem Nachdruck deutlich zu machen, daß unsere individuelle, gesellschaftliche und staatliche Freiheit auf dieses Datum zurückgeht: Die Alliierten hatten mit großen Opfern endlich den Nationalsozialismus besiegt. „Im Grunde genommen“, so Theodor Heuss vor dem Parlamentarischen Rat, kurz vor seiner Wahl zum ersten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland, „bleibt dieser 8. Mai 1945 die tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte für jeden von uns. Warum denn? Weil wir erlöst und vernichtet in einem gewesen sind.“ In einem fiktiven öffentlichen „Brief an meine Söhne“ schrieb Heinrich Böll: „Ihr werdet die Deutschen immer wieder daran erkennen können, ob sie den 8. Mai als Tag der Niederlage oder der Befreiung bezeichnen.“

Will man im Sinne Heinrich Bölls im zeitgeschichtlichen Rückblick die deutschen Politiker daran erkennen, ob sie den 8. Mai als Tag der Niederlage oder der Befreiung empfanden, so wird man aus deren meist verdrängendem, unschlüssigem, der Bedeutung des Tages nicht gerecht werdendem Verhalten keine besondere Inspiration für Verfassungspatriotismus beziehen können. 1965 war der 8. Mai überhaupt nicht erinnerungswürdig gewesen. 1970, zum 25. Jahrestag, hielt immerhin Gustav Heinemann als erstes Staatsoberhaupt der Bundesrepublik eine Gedenkrede; im Bundestag gab als erster Bundeskanzler Willy Brandt eine Regierungserklärung ab. Ganz überwiegend wurde der 8. Mai als Ende des Weltkrieges und nur verhalten als Ende auch der nationalsozialistischen Diktatur gewürdigt. Schon der Name, den die Politiker dem Gedenktag gaben, war kennzeichnend für ihr Geschichtsbild.

So, als ob es vereinbart gewesen wäre, sprachen Scheel, Schmidt, Heinemann, Brandt, Erhard und Kohl übereinstimmend zum „Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkrieges“. In den Reden fanden sich daneben auch Bezeichnungen wie „deutsche Kapitulation“, „Zusammenbruch des Dritten Reiches“, und „Ende der Hitler-Diktatur“. „Tag der Befreiung“ sagte keiner der führenden Politiker; ihr Reden bestimmte Trauer über die Opfer des Krieges, den Verlust der Ost-gebiete und die Spaltung Deutschlands, mit der eine neue Unfreiheit begonnen habe, bestimmte aber auch Dank an die Nationen, die nach dem Krieg großzügig Hilfe geleistet hätten, und letztlich auch Stolz, nach der Katastrophe aus den Trümmern die freieste Demokratie, die es je auf deutschem Boden gegeben habe, errichtet zu haben.

In einem waren sich alle einig: Wir Deutschen hätten keinen Anlaß zu feiern. Wenn die Redner von einem Befreiungsakt überhaupt Kenntnis nahmen, dann wurden mit der Formel „Wir wurden befreit, aber ..." die Folgen des verlorenen Krieges in den Vordergrund geschoben. Der Preis, den das deut-sehe Volk für seine Befreiung hatte zahlen müssen, erschien den Politikern zu hoch. Im Hinblick auf den Tod, die Vertreibung und das Elend vieler Millionen, die Auflösung des Deutschen Reiches, verbunden mit dem Verlust der Ostgebiete, sowie hinsichtlich der Spaltung Deutschlands und des Beginns einer neuen Diktatur jenseits der Elbe, verliere die 1945 für den Westen Deutschlands gewonnene Freiheit an Ausstrahlung

Gegenüber den Manifestationen politischer Unsicherheit und Unentschiedenheit bewies 1985 Bundespräsident Richard von Weizsäcker seine herausragende Souveränität, als er in einer Ansprache bei der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages anläßlich des 40. Jahrestages der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft sowohl der Historisierung des Dritten Reiches als auch der damit verbundenen Schuldminderung, Schuldabwälzung oder gar Schuldverdrängung entgegentrat. In dieser Rede, die in einer breiten Öffentlichkeit eine außerordentlich große Zustimmung fand, hieß es: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen, welche schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach folgten. Aber wir dürfen nicht im Ende des Kriegs die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte. Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen. Wir haben wahrlich keinen Grund, uns am heutigen Tag an Siegesfesten zu beteiligen. Aber wir haben allen Grund, den 8. Mai 1945 als das Ende eines Irrweges deutscher Geschichte zu erkennen, das den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg.“

Für 1995 ist zu hoffen, daß die Politik hinter diese klare Position nicht mehr zurückfällt; zu befürchten ist, daß sie es tut.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der Text beruht auf einigen gekürzten Auszügen aus dem Buch des Autors, das im April 1995 im S. Fischer Taschen-buchverlag, Frankfurt am Main, erscheint: „ 1945 -Ein Lesebuch “. Zit. nach Klaus-Jörg Ruhl (Hrsg.), Deutschland 1945. Alltag zwischen Krieg und Frieden in Berichten, Dokumenten und Bildern. Darmstadt-Neuwied 1984, S. 11.

  2. Zit. nach Max Domarus (Hrsg.), Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945. Bd. II: Untergang (1939-1945), Würzburg 1963, S. 2180.

  3. Vgl. K. -J. Ruhl(Anm. l), S. 15f.

  4. Zit. nach M. Domarus (Anm. 2), S. 2188.

  5. Fritz Nadler, „Ich sah wie Nürnberg unterging...!“ Tatsachenberichte und Stimmungsbilder aus bittersten Notzeiten, Nürnberg 1955, S. 12ff.

  6. Ursula von Kardorff, Berliner Aufzeichnungen 1942 bis 1945, München 19942, S. 293f.

  7. Vgl. Rolf-Dieter Müller/Gerd R. Ueberschär, Kriegsende 1945. Die Zerstörung des Deutschen Reiches, Frankfurt am Main 1994, S. 69.

  8. Hans-Ulrich Thamer, Verführung und Gewalt. Deutschland 1933-1945, Berlin 1986, S. 756?

  9. Zit. nach Margaret Bourke-White, Deutschland. April 1945, München 1979, S. 51.

  10. Vgl. Die Wehrmachtsberichte 1939-1945, Bd. 3: 1. Januar 1944 bis 9. Mai 1945. München 1985, S. 563.

  11. Vgl. Frankfurter Presse vom 3. 5. 1945.

  12. Martin Broszat/Hans-Adolf Jacobsen/Helmut Krausnick, Anatomie des SS-Staates, Band II: Konzentrationslager, Kommissarbefehl, Judenverfolgung, Olten-Freiburg i. Br. 1965, S. 159f.

  13. Martin Gilbert, Auschwitz und die Alliierten, München 1982, S. 393.

  14. Zit. nach Walther Hofer (Hrsg.), Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933-1945, Frankfurt am Main 1982, S. 254f.

  15. Vgl. ebd., S. 254.

  16. Hartmut von Hentig, Aufgeräumte Erfahrung. Texte zur eigenen Person, München-Wien 1983, S. 250.

  17. Ruth Andreas-Friedrich, Der Schattenmann. Tagebuch-aufzeichnungen 1938 bis 1945, Frankfurt am Main 1986, S. 271f.

  18. Alexander Mitscherlich, Ein Leben für die Psychoanalyse, Frankfurt am Main 1984, S. 129,

  19. Zit. nach R. -D. Müller/G. R. Ueberschär (Anm. 7), S. 112.

  20. Zit. nach ebd., S. 114.

  21. Zit. nach Thomas Schuler, Wenn Menschen zum Vieh werden, in: Süddeutsche Zeitung vom 29. 1. 1994.

  22. Zit. nach R. -D. Müller/G. R. Ueberschär (Anm. 7), S. 116f.

  23. Ernst Niekisch, Das Reich der niederen Dämonen, Hamburg 1953, S. 80.

  24. Vgl. William L. Shirer, Aufstieg und Fall des Dritten Reiches, Köln-Berlin 1961, S. 1020.

  25. Vgl. Frankfurter Presse vom 3. 5. 1945.

  26. Zit. nach Johannes Hohlfeld (Hrsg.), Dokumente der deutschen Politik und Geschichte von 1848 bis zur Gegenwart, V. Bd.: Die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur 1933-1945. Deutschland im zweiten Weltkrieg 1939-1945, Berlin-München o. J., S. 528.

  27. W. L. Shirer (Anm. 25), S. 1043f.

  28. Albert Speer, Erinnerungen, Berlin-Frankfurt am Main 1969, S. 446.

  29. Vgl. R. -D. Müller/G. R. Ueberschär (Anm. 7) S. 52.

  30. Zit. nach J. Hohlfeld (Anm. 27), S. 524.

  31. Zit. nach W. Hofer (Anm. 14), S. 258.

  32. R. -D. Müller/G. R. Ueberschär (Anm. 7), S. 56.

  33. Die Wehrmachtsberichte 1939-1945 (Anm. 10), S. 569.

  34. Zit. nach Jürgen Kocka, Zerstörung und Befreiung. Das Jahr 1945 als Wendepunkt deutscher Geschichte, in: Politik und Kultur, (1986) 5, S. 47.

  35. Vgl. Franz Neumann, Deutsche Politiker zum 8. Mai 1945, in: Frankfurer Hefte, (1975) 8, S. 6f.

  36. Richard von Weizsäcker, Zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, Bonn 1985, S. lff.

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Hermann Glaser, Dr. phil., geb. 1928; Honorarprofessor für Kulturvermittlung an der Technischen Universität Berlin; von 1956 bis 1990 Schul-und Kulturdezernent der Stadt Nürnberg. Mitglied des PEN; Vorsitzender des Deutschen Werkbundes. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit J. Lehmann und A. Lubos) Wege der deutschen Literatur (2 Bände); Spießer-Ideologie. Von der Zerstörung des deutschen Geistes im 19. und 20. Jahrhundert; Spurensuche. Deutsche Familienprosa; Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland (3 Bände); Behagen und Unbehagen in der Kulturpolitik; Bildungsbürgertum und Nationalismus. Politik und Kultur im Wilhelminischen Deutschland; Industriekultur und Alltagsleben. Vom Biedermeier zur Postmoderne.