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Was bedeutet „Aufarbeitung der Vergangenheit“? Kann man aus der „Vergangenheitsbewältigung“ nach 1945 für die „Aufarbeitung“ nach 1989 Lehren ziehen? | APuZ 1-2/1995 | bpb.de

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APuZ 1-2/1995 1945: Die Befreiung von der NS-Gewaltherrschaft 1945: Ein Fragment namens Deutschland. Prägekräfte im Grenzraum zwischen Katastrophe und Neubeginn Historische Orte sichtbar machen Gedenkstätten für NS-Opfer in Deutschland Was bedeutet „Aufarbeitung der Vergangenheit“? Kann man aus der „Vergangenheitsbewältigung“ nach 1945 für die „Aufarbeitung“ nach 1989 Lehren ziehen?

Was bedeutet „Aufarbeitung der Vergangenheit“? Kann man aus der „Vergangenheitsbewältigung“ nach 1945 für die „Aufarbeitung“ nach 1989 Lehren ziehen?

Bert Pampel

/ 31 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Bei dem Streit darüber, wie das Erbe der SED-Diktatur „aufzuarbeiten“ sei, wird immer wieder gefordert, auf die Erfahrungen mit der „Vergangenheitsbewältigung“ des Nationalsozialismus zurückzugreifen. Aber wie sinvoll kann dieser Rekurs sein? Und was bedeutet überhaupt „Aufarbeitung“? Der Beitrag beleuchtet schlaglichtartig die Diskussion um die „Vergangenheitsbewältigung“ des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik und benennt resümierend die wesentlichen Aspekte von „Aufarbeitung“. Abschließend wird versucht, einige konkrete Lehren für die „Aufarbeitung“ nach 1989 zu ziehen, insbesondere in den Bereichen Unrechtsbewältigung, Elitenaustausch und Mentalitätswandel.

Die erste Frage, die im Titel formuliert wird, ist so zeitgemäß wie vor gut 35 Jahren, als Theodor W. Adorno sich bemühte, eine Antwort auf sie zu geben Diese Aktualität erklärt sich aus dem Zusammenbruch der SED-Diktatur und dem Streit darüber, wie mit ihrem Erbe umzugehen ist. Dabei ist der Rekurs auf „die Erfahrungen“ aus der Bewältigung der NS-Vergangenheit seit 1989 integraler Bestandteil aller Kontroversen. Aber welche Erfahrungen sind damit gemeint? Und wie sinnvoll ist dieser Rückgriff überhaupt?

Um die gegenwärtig noch immer „verworrene Diskussion“ überschaubarer zu machen, sollen zunächst schlaglichtartig einige wesentliche Ergebnisse der nun fünfzigjährigen wissenschaftlichen und publizistischen Auseinandersetzung zum Thema „Vergangenheitsbewältigung“ ins Gedächtnis gerufen werden. Gleichsam als Resümee dieser Betrachtungen wird anschließend der Versuch einer Definition des Begriffs „Aufarbeitung der Vergangenheit“ unternommen. Im dritten Teil wird die Frage erörtert, ob -und wenn ja was -aus der „Bewältigung“ der nationalsozialistischen für die „Aufarbeitung“ der realsozialistischen Vergangenheit gelernt werden kann.

I. Die Diskussion über die Bewältigung der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik

Aus grundsätzlichen Erwägungen wähle ich die westdeutsche „Vergangenheitsbewältigung“ als Ausgangspunkt meiner Betrachtungen und schließe die Auseinandersetzung in der SBZ/DDR aus diesem Rückblick aus. Dort spielten die Begriffe „Vergangenheitsbewältigung“ und „Aufarbeitung“ nicht zufällig im öffentlichen Sprachgebrauch keine Rolle, denn der „Faschismus“ galt bereits seit Februar 1948 -mit Abschluß der strukturellen und personellen Entnazifizierung in der SBZ -als mit der „Wurzel ausgerottet“ Wichtigstes Ziel der kommunistischen „Aufarbeitung“ der NS-Vergangenheit war zwar -wie in den Westzonen -die Verhinderung des Wiederaufstieges der Nationalsozialisten, doch diente die politische Auseinandersetzung gleichzeitig dazu, die SED-Herrschaft als stalinistische Gegendiktatur im antifaschistischen Gewände etablieren und legitimieren zu können, während die westlichen Alliierten mit ihrer Entnazifizierungs-und „Reeducation“ -Politik den Grundstein für eine Demokratisierung Deutschlands nach westlichem Muster legen wollten.

Der Schock über die Verbrechen in den Vernichtungs-, Konzentrations-, Kriegsgefangenen-und Zwangsarbeiterlagern markierte 1945 den Beginn der Auseinandersetzung. Er war geprägt von den Kollektivschuldvorwürfen der Alliierten und deren Abwehr durch die Deutschen. So stand nicht zufällig die Klärung der Schuldfrage zuoberst auf der Tagesordnung, und Karl Jaspers war einer der ersten, der sich dieser Aufgabe stellte Er unterschied kriminelle, politische, moralische und metaphysische Schuld und benannte die spezifischen Folgen, die sich aus der Anerkennung dieser Arten von Schuld ergäben: Bestrafung der Täter, Wiedergutmachung und Einsicht. Wesentliche Bestandteile von „Vergangenheitsbewältigung“ waren damit bereits 1946 genannt.

Jaspers insistierte eindringlich auf der individuellen, niemanden ausnehmenden Klärung der Schuldfrage, weil die Deutschen sich nur so aus dem Zustand der „politischen Diktatur“ befreien und „politische Freiheit“ erringen könnten: „Denn erst aus dem Schuldbewußtsein entsteht das Bewußtsein der Solidarität und Mitverantwortung, ohne die Freiheit nicht möglich ist. Politische Freiheit beginnt damit, daß in der Mehrheit des Volkes der einzelne sich für die Politik seines Gemein-wesens mit haftbar fühlt -daß er nicht nur begehrt und schilt.. ." Durch Schuldabwehr verblieben die Deutschen weiterhin im Zustand der „politischen Diktatur“, in der „ein Zustand der Fremdheit der meisten zum Politischen“ herrsche.

Der Wert von Jaspers Überlegungen, die in seiner existenzphilosophischen Annahme gründeten, daß alle Menschen aus einem Ursprung lebten und somit zusammengehörten, liegt -die Fragestellung dieser Arbeit betreffend -vor allem in der Betonung der notwendigen, alle Gesellschaftsmitglieder umfassenden, differenzierten Klärung der Schuldfrage für den Wandel von einer unpolitischen zu einer durch freiheitliche Übernahme von Verantwortung für das Gemeinwesen geprägten politischen Kultur.

Ein Jahr nach dem Erscheinen von Jaspers Thesen klagte der Publizist Eugen Kogon, daß den Deutschen unter dem Druck der massiven Schuld-anklagen eben dieses Bewußtsein ihrer eigenen Verantwortung abhanden gekommen sei. In seinem Aufsatz „Das Recht auf den politischen Irrtum“ stellte er sich den Problemen des Umgangs mit der schuldbelasteten NS-Vergangenheit nicht wie Jaspers auf der individuell-moralischen, sondern stärker auf der praktisch-politischen Ebene

Eine Kollektivschuld lehnte er vehement ab und forderte statt dessen eine differenzierte Entnazifizierung, die den unterschiedlichen individuellen Rollen im Dritten Reich gerecht werde. Die Täter müßten bestraft und Wiedergutmachung geleistet werden. Nationalsozialisten sollten erst nach gründlicher Bewährung wieder Führungsfunktionen in der Gesellschaft übernehmen dürfen, doch reiche ihre Entfernung von wichtigen gesellschaftlichen Positionen nicht aus. In der zweiten Etappe der „Aufarbeitung“ ginge es deshalb um ihre Gewinnung für die Demokratie durch Aufklärung mittels „Leben und Gesinnung ändernden Tatsachen“. Man müsse ihnen „beweisen, daß Demokratie besser ist“

Mit seiner unklaren Unterscheidung zwischen politischem Irrtum und schuldhaftem Handeln beförderte Kogon jedoch ungewollt die Abwehrhaltung der Deutschen, die „von nichts gewußt hatten“. So mußte er bereits wenig später erleben, wie nun diejenigen ausgegrenzt wurden, die Widerstand geleistet hatten, während ihre ehemaligen Denunzianten und Peiniger ihre früheren Positionen wieder einnahmen In beiden Aufsätzen Kogons spiegelt sich beispielhaft das Problem der Integration einer großen Tätergruppe in die demokratische Gesellschaft, und an der Art und Weise, wie mit diesem Problem umgegangen wurde, entzündeten sich in der Folgezeit die heftigsten Kontroversen.

Vor dem Hintergrund des grassierenden „Gnadenfiebers“ und der verbreiteten „Schlußstrich“ -Mentalität der fünfziger Jahre beklagte Theodor W. Adorno 1959 eine verbreitete Tendenz der Schuld-abwehr. Er behauptete: „Daß der Faschismus nachlebt, daß die vielzitierte Aufarbeitung der Vergangenheit bis heute nicht gelang und zu ihrem Zerrbild, dem leeren und kalten Vergessen, ausartete, rührt daher, daß die objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen fortbestehen, die den Faschismus zeitigten.“ „Aufarbeitung“ bedeute deshalb in erster Linie die „Beseitigung“ dieser Voraussetzungen, die bei Adorno mit den Begriffen „ökonomische Ordnung bzw. Organisation“ allerdings weitgehend unklar blieben.

Adorno konnte mit diesem politökonomischen Ansatz zwar nicht erklären, warum der Faschismus gerade in Deutschland -nicht aber in Frankreich oder den USA, in denen ja ähnliche Produktionsverhältnisse herrschten -an die Macht gekommen war, aber es gelang ihm, die Möglichkeiten und Grenzen öffentlicher Aufklärung totalitärer Vergangenheit klar zu benennen. Er blieb pessimistisch ob ihrer Möglichkeiten, wobei seine Zweifel letztendlich aus der Beobachtung erwuchsen, wie sich das kollektive Gedächtnis der Deutschen gegen rationale Argumentation sträubte. Diese „Zähigkeit“ erklärte Adorno damit, daß „keine noch so einleuchtende Analyse“ die Hybris der Erfüllung kollektiver deutschen Machtphantasien und die Erfahrung der „Volksgemeinschaft“ aus der Welt schaffen könne.

Auch in den sechziger und siebziger Jahren überwogen weithin die Defizitdiagnosen bei der „Vergangenheitsbewältigung“ Selbst die Diskussion in den achtziger Jahren blieb zu großen Teilen von ihnen geprägt Trotz aller Kritik wurde aber kaum mehr bestritten, daß die Zeit des Nationalsozialismus und die Bewältigung seiner Folgen einen Bewertungswandel im Geschichtsbewußtsein erfahren hatte, der sich auch in der Demoskopie widerspiegelte Ausgehend von einer Kritik am inflationären und undifferenzierten Gebrauch des Begriffs „Vergangenheitsbewältigung“ und der Einsicht, daß eine konsensfähige Klärung seines Inhalts kaum möglich war, traten Autoren in den Mittelpunkt, die nicht nur fragten, wie „Vergangenheitsbewältigung“ auszusehen habe und warum sie so schwer zu realisieren sei, sondern die auch aufzeigten, auf welchen Gebieten und mit welchem Erfolg die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit geführt worden war.

So vertrat 1981 Peter Steinbach in einer Studie über die Ahndung der NS-Gewaltverbrechen die These, es habe in der Bundesrepublik eine „in der Menschheitsgeschichte wohl einmalige radikale Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gegeben“

Eckhard Jesse resümierte 1987, die „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland weise „Licht und Schatten auf“ wobei er die Schatten beim Elitenaustausch nach 1945 und bei der frühzeitigen strafrechtlichen Ahndung der Verbrechen konstatierte, die Wiedergutmachung und den Einstellungswandel der Bevölkerung aber als Positiva verbuchte.

Hermann Lübbe hatte bereits 1983 die sozialpsychologische Verdrängungstheorie zur „Pseudotheorie“ erklärt, weil sie der Tatsache widerspreche, daß der Nationalsozialismus nicht etwa in Vergessenheit geraten sei, sondern im Gegenteil mit größerem zeitlichen Abstand zu ihm ständig an öffentlicher Präsenz gewonnen habe Daß dies in den frühen Jahren der Bundesrepublik nicht möglich gewesen war, begründete er mit der Notwendigkeit einer „gewissen Stille“, eines „kommunikativen Beschweigens“ als „sozialpsychologisch und politisch nötiges Medium der Verwandlung unserer Nachkriegsbevölkerung in die Bürgerschaft der Bundesrepublik Deutschland“ Politisch notwendig deshalb, weil durch allzu heftige öffentliche Thematisierung individueller und institutioneller NS-Vergangenheiten eine Zustimmung der nationalsozialistisch indoktrinierten Mehrheit des deutschen Volkes zur neuen Republik nicht hätte erreicht werden können. Sozialpsychologisch notwendig deshalb, weil man nur bei wiedergewonnenem Selbstbewußtsein in der Lage gewesen sei, eine diskreditierende Vergangenheit zu „bewältigen“, wobei natürlich immer die Möglichkeit bestanden habe, von dieser Vergangenheit wieder eingeholt zu werden.

Lübbes Einwände gegen die „Verdrängungstheorie“ greifen jedoch zu kurz. Unstrittig bleibt zunächst, daß eine breit angelegte Auseinandersetzung mit der NS-Zeit auf wissenschaftlicher Ebene stattgefunden hat; doch bedeutet dies nicht, daß historisches Wissen gleichzeitig im politischen Bewußtsein breitenwirksam verankert worden wäre. So fragten sich im selben Jahr 1983, in dem Lübbes Aufsatz erschien, drei renommierte Historiker: „Warum prallte Wissenschaft mit ihrer retrospektiven Klugheit so häufig an der persönlichen Erfahrungswelt der vielen Zeitgenossen ab, die noch immer für ihre einstige Bejahung Hitlers „gute Gründe reklamieren?“ In ihrer Antwort verwiesen sie neben Unzulänglichkeiten ihrer eigenen Zunft auf einen psychologischen Aspekt: „Man will sich nicht bekennen als Opfer von Betrug und Selbstbetrug.“ Verdrängt wurden also nicht die begangenen Verbrechen -die man nicht leugnen konnte -, sondern die eigene Mitverantwortung dafür.

Schließlich aber interessierte sich Lübbe auch nicht für die Binnenbefindlichkeiten der Individuen, ihr politisches Bewußtsein. Entscheidend waren für ihn die „maßgebenden moralischen und politischen Grundsätze..., denen man öffentlich nicht widersprechen kann, ohne sich moralisch und politisch zu isolieren“ „Vergangenheitsbewältigung“ beschränkte sich deshalb für ihn darauf, die richtigen „verfassungspolitisch-institutionellen Konsequenzen“ zu ziehen. Daß dem in der Tat eine große Bedeutung zukommt, soll hier nicht bestritten werden. Empirische Befunde in der Erforschung des Geschichtsbewußtseins sprechen aber dagegen, dies allein auf längere Sicht für ausreichend zu halten. In dem bis heute wohl umfangreichsten Projekt zur Erforschung des westdeut-sehen Geschichtsbewußtseins am Institut für Politikwissenschaft der Universität Mainz kam man mit qualitativen und quantitativen Methoden 1991 zu Ergebnissen, die eher auf „Verdrängung“ denn „Bewältigung“ schließen lassen: Ein gutes Drittel der Untersuchungspersonen tendierte zu einer Verklärung des Nationalsozialismus, die sich in erheblicher Zustimmung zu Aussagen wie: „Ich glaube, nicht alles am NS war schlecht“, oder: „Unter Hitler waren die Menschen zufriedener als heute, weil sie damals ein klares Ziel vor Augen hatten“, äußerte

Wer heute diese nachwirkenden Elemente des Geschichtsbewußtseins bei Betonung der Erfolge auf den Gebieten der strafrechtlichen oder wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus aus seiner Bewertung der „Vergangenheitsbewältigung“ ausblendet, erweckt den Eindruck, er wolle auf sublimierte Art und Weise einen „Schlußstrich“ unter die Vergangenheit in der Form ziehen, daß man deren „Bewältigung“ den dafür „zuständigen“ Juristen und Historikern überlasse.

II. Was bedeutet „Aufarbeitung der Vergangenheit“?

Bei der „Aufarbeitung der Vergangenheit“ geht es nicht in erster Linie, wie der Begriff „Vergangenheitsbewältigung“ suggerieren mag, um die Auseinandersetzung mit Vergangenem, sondern um den Umgang mit dessen Nachwirkungen in der Gegenwart. Trotz des gemeinsamen Gegenstandes unterscheiden sich die beiden Worte „bewältigen“ und „aufarbeiten“ hinsichtlich ihrer emotionalen Wirksamkeit. Benutzt man „bewältigen“, so fühlt man geradezu die Last des Problems, mit der man fertig werden muß. „Bewältigung“ wirkt sprachlich persönlicher und belastender als das nüchterne und distanzierte „Aufarbeiten“. Aus dieser Perspektive heraus erscheint es keineswegs mehr zufällig, daß die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit das Prädikat „bewältigen“ verlangte, während man die DDR-Geschichte mehrheitlich „nur“ „aufarbeiten“ will 1. Einflußfaktoren auf die Begriffsbestimmung „Aufarbeitung von Vergangenheit“ ist ein Begriff, der inhaltlich auf sehr unterschiedliche Weise ausgefüllt werden kann. Das unterschiedliche Verständnis, was es „aufzuarbeiten“ gibt, erwächst erstens aus der unterschiedlichen Erklärung der Vergangenheit. Ist man der Ansicht, vor allem strukturelle Probleme im politischen System der Weimarer Republik -Art. 48 Weimarer Reichsverfassung, plebiszitäre Elemente etc. -seien für die Machtergreifung der Nationalsozialisten verantwortlich gewesen, so wird man sein Hauptaugenmerk auf die Veränderung verfassungsrechtlicher Grundlagen legen. Glaubt man dagegen, Hitler sei als Agent des Finanzkapitals an die Macht gekommen, so wird man auf eine tiefgreifende Veränderung der ökonomischen Verhältnisse drängen. Offensichtlich ist, daß die Intensität und Richtung der „Aufarbeitung“ variieren, je nachdem, ob man den Nationalsozialismus als „feindliche Nachahmung“ des Bolschewismus und seinen Aufstieg aus der berechtigten Angst vor ihm (Ernst Nolte) oder aus spezifisch deutschen Traditionen, Erfahrungen, ideologischen Grundlagen, einer politischen Kultur des deutschen Sonderweges erklärt.

Ein unterschiedliches Verständnis von „Aufarbeitung“ erwächst zweitens aus unterschiedlicher Bewertung von Vergangenheit. Wer etwa meint, der Nationalsozialismus sei eine „gute Idee gewesen, die nur schlecht verwirklicht worden ist“, oder betont, neben der Judenverfolgung und dem Krieg hätte das Hitler-Regime auch seine „guten Seiten“ gehabt, der wird andere Maßstäbe an die „Aufarbeitung“ anlegen als der, der die NS-Gewaltherrschaft einschließlich ihrer ideologischen Grundlagen als durch und durch unmenschlich und verbrecherisch qualifiziert.

Drittens sind die Vorstellungen davon, wer überhaupt als Akteur der Aufarbeitung in Frage kommt, geprägt von der Frage nach der Verantwortung für das Vergangene. War der „Dämon“ Hitler der Alleinschuldige am Holocaust, oder hatte sich eine große Mehrheit des deutschen Volkes aufgrund seiner Verstrickung in das NS-System der Schuldfrage zu stellen? War Hitler auch nicht durch Wahlen an die Macht gekommen, so hatten ihn die deutschen Wähler immerhin zum Führer der stärksten Partei gemacht und ihm in ihrer Mehrzahl bis zum bitteren Ende die Treue gehalten. .

Alle Aspekte der „Aufarbeitung“ werden viertens von einem komplexen Bündel aktueller politischer Zielvorstellungen, Gegenwartserfahrungen und Zukunftsperspektiven beeinflußt. So war bereits die Internierungs-und Entnazifizierungspraxis derAlliierten in den Westzonen von miteinander konkurrierenden Interessen geprägt: Sicherheit der Besatzung, Umerziehung, Elitenaustausch, Aufbau und Funktionieren von Verwaltung und Wirtschaft, „Containment“ des Kommunismus. Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges und der sowjetischen Expansionsdrohung vollzog sich die Integration der belasteten Nationalsozialisten, der Aufbau der Bundeswehr durch ehemalige Wehrmachtsgenerale und die Freilassung von Kriegsverbrechern. Während aber schließlich die 68er-Generation öffentlich eine Erklärung des Verhaltens ihrer Eltern einklagen konnte, ließen die Machthaber in der SBZ/DDR aus herrschaftstaktischen Gründen eine öffentlichkeitswirksame Konfrontation der Bevölkerung über ihr Verhalten in der vorangegangenen Diktatur, ihr Schweigen und Wegschauen sowie die Resultate ihres Privatismus, nicht zu.

Fünftens prägen anthropologische Grundannahmen den Begriffsinhalt: Ist der Mensch überhaupt in der Lage, verantwortungsethisch zu handeln, d. h. die langfristigen Folgen seines Verhaltens zu bedenken und aus der Geschichte zu lernen? Wer die Fähigkeit der Menschen zur „Selbstdurchhellung“ (Jaspers) gering einschätzt, der wird strukturellen Veränderungen im politischen System eine größere Bedeutung beimessen als der Stimulierung individueller Gewissenshinterfragung. 2. Inhaltliche Aspekte der Aufarbeitung Der Begriff „Aufarbeitung der Vergangenheit“ bezeichnet einen gesellschaftlichen Prozeß, der all diejenigen Maßnahmen in einem Gemeinwesen im Gefolge des Übergangs zu einer neuen Regierungsform umfaßt, die darauf gerichtet sind, die Neuorientierung der Gesellschaft politisch-kulturell und politisch-institutionell abzusichern, die Stabilisierung der neuen Ordnung zu gewährleisten und eine Restauration der alten Verhältnisse zu verhindern.

Verständlicherweise sträubt man sich zunächst, denselben Begriff zu verwenden für so verschiedene politische Zäsuren wie etwa die Restauration in Frankreich nach 1815, den Bürgerkrieg in Ruß-land nach 1917 oder die „Vergangenheitsbewältigung“ nach 1945 in Ost und West. Rechtfertigt auch eine ähnliche Zielstellung -die Stabilisierung der jeweiligen neuen Ordnung -die Subsumtion unter einen Begriff, so standen doch verschiedene Ergebnisse am Ende der Auseinandersetzungs-Prozesse: autoritäre, totalitäre oder demokratische Regime. Unterscheiden kann man aber in der Form zwischen „terroristischer“ und „demokratischer Aufarbeitung“. Bei ersterer werden die Anhänger der alten Ordnung physisch vernichtet. Die neue Ordnung legitimiert sich durch den radikalen Bruch mit der Vergangenheit und stabilisiert sich durch Terror. Einige wenige bestimmen über Ziele und Methoden der „Aufarbeitung“. Bei der „demokratischen“ Variante dagegen werden die Feinde von gestern nicht mehr getötet, sondern integriert. Die Auseinandersetzung ist pluralistisch, d. h., es gibt kein Monopol der Vergangenheitsdeutung für eine bestimmte Gruppe von Menschen, etwa eine Partei. Historisch gesehen lief „Aufarbeitung“ in der Regel dann „terroristisch“ ab, wenn etwas völlig Neues an die Stelle des Alten treten sollte -wie nach 1789, 1917 und 1933. Ging es schwerpunktmäßig um die Wiederherstellung einer älteren Ordnung, das „Kitten“ eines Kontinuitätsbruches -wie nach 1815 in Frankreich oder 1945 in Westdeutschland -, so verlief sie in „demokratischeren“ Bahnen.

Im folgenden beschränke ich mich auf die „demokratische Aufarbeitung“. Hierbei kann man fünf verschiedene „aufzuarbeitende“ Hypotheken unterscheiden: a) „Aufarbeitung“ von staatlichem Unrecht Staatliches Unrecht, insbesondere Verbrechen an Leib und Leben, verschwindet nicht mit dem Untergang der Ordnung, in der es begangen wurde. Die Legitimität des neuen Systems bemißt sich daher entscheidend an seinem Umgang mit diesem überkommenen Unrecht. Die Bestrafung der Täter und die Entschädigung der Opfer können zu mehr Stabilität durch Herstellung politischer Gerechtigkeit führen, denn sie reduzieren die Wahrscheinlichkeit der Restauration, stärken das Rechtsbewußtsein und fördern die Akzeptanz der neuen Normen. Öffentlichkeitswirksame Verfahren tragen zur Delegitimierung der überwundenen Ordnung bei und dienen der Verbreitung historischen Wissens über die Vergangenheit. Es besteht jedoch die große Gefahr, daß eine „Dienstbarmachung gerichtsförmiger Verfahren für politische Zwecke“ (Otto Kirchheimer), eine Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien, z. B.des Gleichheitsprinzips, die „Aufarbeitung“ diskreditiert. b) „Aufarbeitung“ von Legenden und überkommenen Wertvorstellungen Notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für eine Verhinderung der Restauration der alten Verhältnisse ist die Erkenntnis ihrer Strukturen, ihrer Funktionsweise und Voraussetzungen, ihrer Wirkungen und der sie befördernden Bedingungen sowie die Verbreitung dieser Erkenntnisse. Ihr Gewinnen fällt vor allem der Wissenschaft als Aufgabe zu, ihre Verbreitung den Medien. Nicht„Aufarbeitung“ begünstigt dagegen die Legenden- bildung: Die Mythen der Vergangenheit wirken dann als aktuelle politische Kraft fort, wie man an der „Dolchstoß“ -Legende in der Weimarer Republik erfahren mußte Wenn man von der Prämisse ausgeht, daß die Stabilität von demokratischen Regimen langfristig nur dann gewährleistet ist, sofern zwischen deren Strukturen und den Meinungen, Einstellungen und Werten der Menschen, der politischen Kultur insgesamt, eine ungefähre Übereinstimmung besteht, dann gefährden autoritaristische, rassistische, nationalistische und militaristische Einstellungen und damit verbundene Verhaltensweisen die Demokratie. Zu Recht bezeichnete Jürgen Habermas deshalb 1992 die kollektive, öffentlich ausgetragene ethisch-politische Selbstverständigung als die zentrale Dimension des Aufarbeitungsprozesses c) „Aufarbeitung“ desfrüheren politischen Systems und seiner Institutionen Bleiben die politische Verfassung der alten Ordnung oder sie tragende Institutionen in wesentlichen Teilen unangetastet, so besteht die Gefahr der Restauration. So verdeutlichten der Kapp-Putsch 1920 und der spanische Putschversuch 1981 die Gefährdung der Demokratie durch antidemokratisch eingestellte Streitkräfte. Bei der Formulierung des Grundgesetzes wurden die weitestgehend möglichen verfassungsrechtlichen Lehren aus der legalen Aushebelung der Weimarer Demokratie durch die Nationalsozialisten gezogen: Festschreibung unabänderlicher, d. h. durch keine Mehrheit aufhebbarer Verfassungsprinzipien sowie die Anerkennung der verfassungspolitischen Funktion der Parteien. Daneben trat ein Arsenal rechtlich-administrativer Handhaben, die Mittel der „wehrhaften Demokratie“ umfassend d) Elitenaustausch Auch das politische Überleben alter Führungsschichten ist eine potentielle Gefahr für die neue Ordnung. Die Weimarer Republik ist hier wohl das eindrucksvollste Beispiel, auch wenn man sicher in Rechnung stellen muß, daß der vollständige Austausch des Staatsapparates nach der Novemberrevolution zum politischen, wirtschaftlichen und sozialen Chaos geführt hätte. Entscheidend ist jedoch die Entfernung der alten Kräfte zumindest aus den Führungspositionen in Politik, Verwaltung, Militär und Justiz. e) Individuelle Selbstbefragung und „Bewältigung“ seelischer „Altlasten “

Erst über ein kritisches Erinnern und Durcharbeiten des eigenen Verhaltens unter den konkreten Bedingungen der Diktatur wird man bereit zu Mit-verantwortung und Mitarbeit in der neuen Ordnung. Nicht verarbeitete Schuldgefühle dagegen erlangen politische Relevanz für die Stabilität der Demokratie, weil sie zum Verlust des Selbstwertgefühls und der Selbstachtung, zu Angst, Aggression, Sündenbocksuche und Strafbedürfnis, blinder Identifikation und mangelnder Empathiefähigkeit führen können

Aus diesen inhaltlichen Aspekten der „aufzuarbeitenden Erblasten“ ergeben sich die Kriterien für die Bewertung der Auseinandersetzung. Ist es geglückt, eine Restauration zu verhindern, die neue Ordnung politisch-kulturell und politisch-institutionell zu stabilisieren, dann kann die „Aufarbeitung“ nicht vollständig mißlungen sein. Kontinuitäten im Verhalten, der politischen Praxis, Institutionen, Ideologien, Personen und Normen, kurz: das Überleben wesentlicher Elemente des Alten im Neuen, sprechen andererseits gegen eine reine Erfolgsgeschichte der „Aufarbeitung“.

III. Was kann man aus der „Vergangenheitsbewältigung“ nach 1945 für die „Aufarbeitung“ der SED-Diktatur lernen?

In vielfältigen Variationen wird die gegenwärtige „Aufarbeitung“ mit der „Vergangenheitsbewältigung“ nach 1945 zusammengebracht Doch ist man trotz aller Vergleiche beim „Lehrenziehen“ merkwürdig unkonkret. Für die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zur „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ „sind die Erfahrungen, die bei der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit gesammelt wurden, auch insoweit relevant, als sie einen schwierigen, langwierigen Prozeß der Bewußtseinsbildung erwarten lassen, der keineswegs nur auf der Grundlage von Akten und Archivalien entwickelt werden kann. Aufarbeitung so verstanden bedarf eines Klimas persönlicher Identifikation und kritischer Distanzierung.“ Ist es aber nicht nach bald fünfjähriger Diskussion zu wenig, festzustellen, daß es lange dauern wird und daß man nicht nur auf die Akten schauen darf? Muß man nicht vielmehr auch fragen, warum die Auseinandersetzung mit der DDR ständig an der „Vergangenheitsbewältigung“ der NS-Diktatur gemessen wird? Ähnelt die heutige Ausgangslage nicht eher der Situation in Frankreich 1944/45, als die Kollaboration mit einer ausländischen Besatzungsmacht zu „bewältigen“ war?

Auf der Hand liegt, daß bei der „Bewältigung“ von Systembrüchen zuerst nationale Erfahrungen herangezogen werden. Zudem gewann die SED-Diktatur ihre wirkungsvollste Legitimation aus der Abgrenzung vom Dritten Reich und von der Art und Weise, wie man im „Paradies der Nazi-und Kriegsverbrecher“ der Bundesrepublik der fünfziger Jahre, damit umging. So wird nicht zufällig vor dem Hintergrund des gegenwärtigen radikalen Personalaustausches immer wieder auf die starke personalpolitische Kontinuität in der Ära Adenauer hingewiesen. Schließlich wird mit der Benutzung ähnlichen Vokabulars versucht, die DDR als ebenso verbrecherisch wie das NS-Regime zu qualifizieren. So meinten Christa Hoffmann und Eckhard Jesse: „Der eigentliche Tatort für das , Groß-verbrechen ‘ DDR war das Politbüro. Was stünde also einem zweiten Nürnberger Gerichtshof entgegen?“ Ihr Fazit des Vergleichs der beiden Diktaturen: Es läge eine Fülle von Parallelen vor, „weniger bei den Ausgangsbedingungen von 1945 und 1989, mehr bei der Art der Verbrechen“

Ihren entscheidenden Grund hat die „doppelte Vergangenheitsbewältigung“ letztlich im kollektiven Selbstverständnis der Bundesrepublik vor und nach 1989. Sie bezog ihre Legitimation immer aus der „doppelten Absetzung vom nationalsozialistischen Erbe einerseits, vom kleinen, häßlichen Bruder östlich der Elbe andererseits“ wofür der Begriff vom „antitotalitären Konsens“ geprägt wurde.

Wenn man den Topos vom „Lehrenziehen aus der Geschichte“ mit Peter Steinbach in dem Sinne auffaßt, daß die Vergangenheit als ein Bereich von Konstellationen, Herausforderungen und Problemlösungen erscheint, „die prinzipiell jenen Situationen ähneln mögen, vor denen wir selbst in unserer Gegenwart stehen und die zu durchdenken Vorteile für die Gegenwartsbewältigung verspricht“ dann muß nun die Frage beantwortet werden, inwiefern sich die Ausgangstagen 1945 und 1989 ähneln, worin sie sich aber auch unterscheiden. 1. Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den Ausgangsbedingungen für „V ergangenheitsbewältigung" 1945 brach ein deutsches System zusammen, welches infolge nationaler Entwicklungen entstanden war, auch wenn die internationale Konstellation („Versailler Diktat“) natürlich zu berücksichtigen ist. Die DDR war dagegen aus sowjetischer Besatzungshoheit gegründet worden, und die Macht der SED beruhte immer, wenn auch in unterschiedlichem Maße, auf der Supervision des „großen Bruders“. Diese unterschiedliche Gewichtung der „endogenen“ (nationalen) und „exogenen“ (äußeren) Faktoren für die Erklärung beider Systeme verführt heute zur Unterbelichtung der spezifisch deutschen Anteile am „Sozialismus in den Farben der DDR“ nach dem Motto: „Die Russen waren schuld.“ So verneinten im Prozeß gegen die Verantwortlichen für die Schüsse an der Mauer die Angeklagten ihre juristische Verantwortung und verwiesen auf Beschlüsse des Warschauer Vertrages.

Richtig ist auch, die unterschiedliche Zustimmung, die beide Systeme in der Bevölkerung genossen haben, und ihr unterschiedliches Ende in Rechnung zu stellen. Doch sollte man nicht vergessen, daß zu jeder 1. -Mai-Demonstration zu Zeiten Honeckers mehr Menschen auf den Straßen waren als im Herbst 1989 und daß das SED-Regime auch die Ergebnisse der Kommunalwahlen 1989 eigentlich nicht hätte fälschen müssen, um sie als „Bekenntnis der Einheit von Partei und Volk“ werten zu können. Trotzdem erhebt heute niemand die Forderung, die Ostdeutschen müßten „umerzogen“ werden, was seinen Grund nicht zuletzt in den unterschiedlichen ideologischen Zielsetzungen der beiden Systeme hat. Waren die Ziele des Nationalsozialismus nationalistisch, rassistisch und imperialistisch und die Praxis daran ausgerichtet, so zielte die SED-Herrschaft zumindest dem Bekunden nach auf eine Zukunft von internationaler Solidarität und Gleichheit. Rassistische, antisemitische oder extrem nationalistische Einstellungen sind deshalb in den neuen Bundesländern im Gegensatz zum Deutschland von 1945 kaum verbreitet „Positivere“ Systemziele ändern aber andererseits nichts daran, daß auch nach 1989 eine unmenschliche Praxis der Herrschaft „bewältigt“ werden muß. Außerdem müssen sich die Motive der Zustimmung vieler Menschen zu den Diktaturen nicht notwendig so fundamental unterscheiden, wie es auf den ersten Blick aussieht.

Im Unterschied zu 1945 wird die „Aufarbeitung“ heute nur in einem Teil Deutschlands betrieben; die Reaktionen der Betroffenen aber ähneln denen der Deutschen in der Nachkriegszeit: Der Vorwurf der Siegermentalität trifft nicht die ausländischen Besatzungsmächte, sondern die „Wessis“. So äußert sich die geteilte „Aufarbeitung“ heute vor allem darin, daß im Gegensatz zu 1945 eine „Importelite“ zur Verfügung steht, um die von belasteten Personen gesäuberten Positionen einzunehmen.

Am größten freilich sind die Unterschiede in der Verbrechensbilanz und den daraus erwachsenen Folgen: „Gerade das, was die nationalsozialistische Diktatur auch nach 50 Jahren noch zu einer riesengroßen Last für die nachfolgenden Generationen macht..., nämlich die beispiellosen, staatlich initiierten und gelenkten Massenermordungen und der von Deutschland begonnene Krieg mit seinen vielen Millionen Opfern vor allem außerhalb Deutschlands -gerade das gab es in der DDR nicht.“ Verhandelt werden heute nicht Straftatbestände wie Kriegsverbrechen oder Völkermord. SED-Funktionäre müssen nicht aus Sicherheitsgründen interniert, die PDS muß nicht verboten werden. Die Bevölkerung spaziert über den Mauerstreifen, wird aber nicht durch KZs geführt. Was also rechtfertigt vor diesem Hintergrund den Vergleich von 1989 mit 1945?

Gemeinsamkeiten in der Ausgangslage ergeben sich vor allem aus der totalitären Herrschaftspraxis und Ideologie beider Diktaturen. Welche von beiden dabei die totalitärere gewesen sei -eine Frage der Definition des Totalitarismusbegriffs -, ist dabei zunächst zweitrangig Beider Politik gründete in Ideologien, die, obwohl unterschiedlich in ihren Intentionen, doch beide antidemokratisch, antiwestlich und autoritär waren. Totalitär waren sie in ihrem Anspruch auf das Wahrheitsmonopol und der damit verbundenen Absage an jeden Pluralismus. Sich ähnlich waren sie in ihrem Versprechen von Sicherheit statt Freiheit, von Harmonie statt Konflikt, von Erlösung statt politischer Alltags-pragmatik. Die so begründete Herrschaftspraxis stützte sich auf Verführung, Repression und Terror, abgesichert durch eine gleichgeschaltete Presse und eine alles durchdringende Geheimpolizei. Beide Diktaturen waren Unrechtsstaaten in dem Sinne, daß sie Nicht-Rechtsstaaten waren und allgemein anerkannte Menschenrechte verachteten. Beide Diktaturen verdankten ihre Stabilität in hohem Maße einer traditionellen deutschen „unpolitischen politischen Kultur“, charakterisiert durch Anpassung, Privatismus, politische Passivität, Autoritätsgläubigkeit.

Diese Parallelen im politischen System bedingen die Ähnlichkeiten, die heute jeder wahrnehmen kann. Die Justiz steht, wie nach 1945, vor dem Problem, mit rechtsstaatlichen Mitteln Unrecht aus nicht-rechtsstaatlicher Vergangenheit aufzuarbeiten Wieder geht es um Befehlsnotstand, Schuld-und Einsichtsfähigkeit, um die Trennung zwischen strafrechtlicher und politischer Schuld, um die Behauptung: „Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein“, um das Problem der Gerechtigkeit, wenn die Hauptverantwortlichen straffrei bleiben, während die unteren Chargen verurteilt werden. Wieder geht es auch um finanzielle Wiedergutmachung, die nicht angemessen sein kann. Wieder geht es um die Frage, wie man mit den ehemaligen belasteten Eliten aus Justiz, Partei-und Staatsapparat, Verwaltung und Wissenschaft den politischen und moralischen Neuanfang dokumentieren kann, ohne sie auszugrenzen. Am deutlichsten scheint mir die Parallelität von 1945 und 1989 bei den mentalen Folgen des Systemumbruchs zu sein. Weit verbreitet ist -wie 1945 -das Gefühl, ein ehrenwerter Versuch, ein Experiment sei gescheitert, Hitler/Honecker hätten den Nationalsozialismus/Sozialismus verraten. 1948meinten 57 Prozent der Befragten, der Nationalsozialismus sei eine gute Idee und nur schlecht verwirklicht worden. Im Mai 1990 erklärten dies 65 Prozent der Ostdeutschen für den Sozialismus Letztere Haltung mag aus dessen aufklärerischen Intentionen heraus nachvollziehbarer sein, doch könnte es auch sein, daß beide Ideologien in ihrer fundamentalen Ähnlichkeit -dem Versprechen von geistiger, materieller, sozialer Sicherheit in der Volksgemeinschaft bzw. im Kollektiv bei Verzicht auf die Freiheit -bejaht wurden. Aus diesem Grunde steht die demokratische Gesellschaft, die diese Sicherheiten nicht mehr bieten kann und will, heute vor ähnlichen Herausforderungen wie 1945 -der Stabilisierung der neuen Ordnung durch ökonomischen Wiederaufbau und Demokratisierung einer Gesellschaft, die der Demokratie zumindest skeptisch gegenübersteht. Immerhin 50 Prozent der Ostdeutschen hatten im Februar 1993 Zweifel, ob die Gesellschaftsordnung, so wie sie jetzt ist, es wert sei, verteidigt zu werden

Für das eigene Verhalten werden die gleichen Entschuldigungsmuster wie nach 1945 benutzt: Man sei zu jung gewesen, um Verantwortung zu tragen, sei Idealist gewesen und/oder habe nur seine Pflicht getan, man habe von allem nichts gewußt, man habe sich um Politik nicht gekümmert usw. Wie nach 1945 kommt es zu eindrucksvollen Ursache-Wirkung-Verkehrungen: Wurde damals die Vertreibung nicht als Folge des eigenen Weltanschauungskrieges betrachtet, so sieht man in den heutigen Wirtschaftsproblemen nicht Transformationsprobleme der früheren ineffizienten Planwirtschaft, sondern die Folge demokratischer Politik. Kann man also aufgrund dieser Ähnlichkeiten in den Ausgangsbedingungen konkrete Lehren aus den Jahren seit 1945 ziehen? 2. Lehren aus der Vergangenheitsbewältigung nach 1945 für 1989 Überragende Bedeutung bei der Unrechtsbewältigung, wie der „Aufarbeitung der Vergangenheit“ insgesamt, kommt öffentlich geführten Prozessen zu. Das hängt einerseits damit zusammen, daß in solchen gerichtsförmigen Verfahren gegen die Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen politische Gerechtigkeit wiederhergestellt wird, vor allem aber damit, daß Ungerechtigkeiten in diesem Bereich die gesamte „Aufarbeitung“ wesentlich diskreditieren können. Außerdem können solche Verfahren öffentlichkeitswirksam wichtige Erkenntnisse über das vergangene Regime vermitteln und damit den Mentalitätswandel befördern. Die Nürnberger Prozesse und später die Prozesse gegen das Wachpersonal von Auschwitz und Maidanek machten für alle das ganze Ausmaß der Verbrechen deutlich Wie nach 1945, so muß aber auch heute die anfängliche Zustimmung der Bevölkerung zu Prozessen gegen die Hauptverantwortlichen nicht nur als Bereitschaft zur „Vergangenheitsbewältigung“ sondern vor allem als Versuch der eigenen Schuldentlastung gewertet werden Ähnlich ambivalent wird man den gängigen Ausspruch: „Die Kleinen hängt man, die Großen läßt man laufen“ bewerten müssen. Einerseits wird „Aufarbeitung“ ad absurdum geführt, wenn Hauptverantwortliche -Gauleiter bzw. Politbüro-mitglieder -straffrei ausgehen, während niedere Chargen -Ortsgruppenleiter bzw. Mauerschützen und IM -zur Verantwortung gezogen werden. Andererseits ist der öffentliche Prozeß um eine Denunziation geplanter „Republikflucht“ vielleicht genauso wichtig wie der gegen einen Hauptschuldigen. Verbreitet es nicht letztlich auch entschieden mehr Unbehagen, wenn freigesprochene Mauer-schützen in ihren Heimatorten mit Jubel empfangen werden, als wenn der kranke Honecker den Gerichtssaal als freier Mann verläßt?

Ungerechtigkeiten durch Rechtsungleichheit können jede Aufarbeitung nachhaltig negativ beeinflussen. So wurden nach 1945 die Prozesse durch eine ungleiche Praxis in den vier Besatzungszonen generell in Verruf gebracht. Während z. B.deutsche Spruchgerichte in der britischen Zone die Angehörigen von in Nürnberg als verbrecherisch klassifizierten Organisationen verurteilten, gab es ähnliche Verfahren in den anderen Zonen nicht Heute beklagen die Mitarbeiter der MfS-Auslandsspionage die Ungerechtigkeit der Rechtspre-chung, die sie verurteile, gegen Mitarbeiter des BND aber nicht ermittele.

Was den Umgang mit den ehemaligen Eliten angeht, so ist zunächst zu registrieren, daß heute Hermann Lübbe mit seinem Votum für die stille Integration der Belasteten unter der Prämisse öffentlicher normativer Abwendung von der Vergangenheit nicht mehr allein steht. So meinte Jürgen Kocka 1991: „Es mag sein, daß unter individualmoralischen Gesichtspunkten eine Handlung problematisch und zu verurteilen ist. Es mag jedoch auch sein, daß deren Nichtaufrechnung langfristig zur Entstehung einer gesellschaftlich demokratischen Kultur beiträgt. Die Gesinnungsethik des Moralisten mag in einer bestimmten Situation nicht das beste Rezept für die Regelung der öffentlichen Angelegenheiten sein.“ Schließlich habe der Friede mit den Tätern von 1933 bis 1945 „nicht verhindert, daß aus der Bundesrepublik das demokratischste Staats-und Gemeinwesen der deutschen Geschichte geworden ist und daß inzwischen eigentlich auch ein großer, breiter Konsens in der Zurkenntnisnahme und in der Ablehnung dieses Stücks der deutschen Vergangenheit entstanden ist“

Kann man also die Lehre ziehen, die Integration der Täter sei zumindest für eine Übergangsphase für die politische Konsolidierung des neuen Gemeinwesens wichtiger als eine moralische Erneuerung, die sich auch in einem radikalen Personal-schnitt äußern müßte? Ohne eine Kontinuität der Eliten hätte es vermutlich keine so rasche Über-windung der Not der Nachkriegszeit, kein deutsches Wirtschaftswunder gegeben. Zwar begründeten die ökonomischen Erfolge allein zunächst das Anfangsvertrauen in die neue Ordnung ohne sie aber wäre eine Zustimmung zur Demokratie noch unwahrscheinlicher gewesen. Doch sollte man nicht vergessen, die Folgekosten einer derartigen Politik in die Bilanz miteinzubeziehen: das Mißtrauen der nachfolgenden Generation gegenüber einem Staat, dessen Institutionen auch von ehemaligen Tätern und Mitläufern repräsentiert wurden, nicht zu leugnende NS-Ideologiefragmente wie Antisemitismus und Nationalismus im kollektiven Geschichtsbewußtsein

Was man deshalb aus der Geschichte der „Vergangenheitsbewältigung“ des Nationalsozialismus hinsichtlich des Elitenaustausches entnehmen kann, ist vor allem das Wissen um die Unmöglichkeit befriedigender Lösungen. Adenauers Politik der Nicht-Ausgrenzung führte selbst auf längere Sicht kaum zu einer glaubwürdigen geistigen Umkehr, doch wurde die Stabilität der neuen Ordnung dadurch immerhin mittelfristig gesichert. Heute wird durch die Nicht-Integration der entlassenen bzw.dequalifizierten Juristen, Lehrer, Offiziere, der ehemaligen Mitarbeiter in Staats-und Parteiapparat sowie den Massenorganisationen deren Stimmen der PDS zugute kommen, weder Umkehr noch politische Stabilität erreicht, wie die Schwierigkeiten bei der-Regierungsbildung in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern zeigten. Wissen kann man nach den Erfahrungen mit der „Bewältigung“ nach 1945, wie sehr Pauschalurteile den Prozeß in Mißkredit bringen, aber auch, wie schwierig das Postulat der Differenzierung umzusetzen ist.

Das Nürnberger Urteil, ausgewählte Organisationen für verbrecherisch zu erklären und andere nicht, ohne Schuld individuell zu bestimmen, führte einerseits zu vielerlei Ungerechtigkeiten. So konnte es vorkommen, daß Ortsgruppenleiter der NSDAP, die zur „Verhütung von Schlimmerem“ in diese Funktionen gedrängt worden waren, den Leidensweg durch die Internierungslager antreten mußten, während höhere Dienstgrade aus HJ, SA und Polizei nach dem Urteilsspruch aus ihnen zu entlassen waren Andererseits erscheinen jene Urteile im Sinne von „objektiver Kompromittierung“ gerechtfertigt: Kompromittiert ist man eben nicht erst dadurch, daß man „anderen geschadet hat“, sondern bereits durch eine bestimmte Position im Unrechtssystem.

Das führt zu der Frage, nach welchen Kriterien zwischen objektiver Kompromittierung und innerer Wende abgewogen wird? Bereits in den fünfziger Jahren war offenkundig, wie sehr diese Frage im politischen Kampf nach parteipolitischen Opportunitätsgesichtspunkten entschieden wurde. Kann man heute Globkes Anstellung mit seiner „inneren Wende“ rechtfertigen und Modrows Abgeordnetenstatus im Bundestag beklagen? So ist immerhin zu lernen, daß die gesellschaftlich akzeptierten Grenzen der Integration erst in personalisierten Skandalen abgesteckt werden. Von entscheidender Bedeutung bleibt letztlich, inwieweit die betreffenden Personen glaubwürdig in ihrer Abkehr von früheren Auffassungen wirken und wie sie zur neuen Ordnung stehen. Globke konnte auch deshalb bleiben, weil nicht nur der frühereAnkläger aus den Nürnberger Prozessen, Robert Kempner, sondern auch Überlebende des Widerstandes sich für ihn einsetzten. Der niedersächsische FDP-Kultusminister Schlüter dagegen mußte 1955 zurücktreten, weil er noch 1951 den Nationalsozialismus als gesündeste Bewegung in Deutschland seit der Jahrhundertwende bezeichnet hatte Nach 1991 bündelten sich die Kontroversen um die Grenzen der Integration und die Grade der Belastung im Fall Stolpe, der zudem der aktuelle Beweis für die Berechtigung von Adornos Furcht war, daß das Insistieren auf der öffentlichen Aufklärung „trotzigen Widerstand und das Gegenteil dessen bewirke, was sie bewirken soll“

Was „lehrt“ uns die Geschichte bezüglich der Voraussetzungen und Probleme von politisch erwünschtem Werte-und Mentalitätswandel? Historische Wahrheit und Zerstörung aller Mythen sind die Grundvoraussetzungen eines geistigen Wandels. Nach 1945 wurde die deutsche Bevölkerung vor allem in Filmtheatern über die Konzentrations- und Vernichtungslager aufgeklärt. Die begrenzte Reichweite dieser Art Aufklärung zeigte sich frühzeitig in der Beobachtung, daß die Filme das Publikum wohl schockierten, es aber nicht von seiner individuellen oder kollektiven Schuld an diesen Verbrechen überzeugten Und auch die spätere intensive zeitgeschichtliche Forschung sowie öffentliches Gedenken konnten nicht verhindern, daß bis heute fast die Hälfte der Deutschen meint, der Nationalsozialismus habe „gute und schlechte Seiten“ gehabt

Angesichts dieser Befunde ist zur Kenntnis zu nehmen, daß das Postulat der umfassenden Aufklärung über die Verbrechen totalitärer Gesellschaften mit deren spezifischem Charakteristikum kollidiert, „die Wahrnehmung auf den eigenen Lebenshorizont egoistisch zu reduzieren“ Eine Aufklärung, die ausschließlich auf den Terror und die Verbrechen beschränkt bleibt, prallt an der subjektiven Volksgemeinschafts-, Aufstiegs-oder Lebenszufriedenheits-Erfahrung der Menschen ab. Wird diese Alltagserfahrung nicht wahr-und ernstgenommen, so besteht die Gefahr, daß die Aufklärung über Verbrechen als einseitig und propagandistisch zurückgewiesen wird, weil ein Bild von der Vergangenheit erzeugt wird, in dem sich die Mehrheit der Menschen mit ihren eigenen Lebenserfahrungen nicht wiederfindet.

So stößt auch die aktuelle „Aufarbeitung“ auf wenig Gegenliebe, weil das Leben der DDR-Bürger weit mehr von Kindergarten, Kinderferienlager, stabilen Mieten und festem Arbeitsplatz als von sowjetischen Speziallagern, Bautzen oder Stasi geprägt war, ganz gewiß jedenfalls nicht als „lebenslänglich Knast“ (Rainer Eppelmann) erfahren wurde. Gleichzeitig zeigen Erfahrungen aus der Geschichte, daß bestimmte Grundtatsachen individueller Verarbeitung von Systemumbrüchen zur Kenntnis genommen werden müssen. Dies betrifft zum einen die „elementare Pragmatik menschlicher Vergangenheitsbezogenheit“ (Hermann Lübbe), die sich nicht nur darin äußert, daß Menschen sich eher an das Gute erinnern und das Schlechte vergessen, sondern daß sie um ihrer psychischen Selbsterhaltung willen eine bestimmte Kontinuität im Denken und Verhalten aufrechtzuerhalten versuchen. Lernen muß man, die vielleicht dem Menschen innewohnende totalitäre Versuchung, seine individuelle Freiheit der kollektiven Sicherheit in einer geordneten und kontrollierten Welt ohne Widersprüche und Zufälligkeiten zu opfern, im Blickfeld zu behalten.

Der Mentalitätswandel hängt schließlich auch von der demokratischen Qualität der unverzichtbaren Integrationsideologien ab. Der antikommunistische Grundkonsens der früheren Bundesrepublik speiste sich nicht nur aus liberalen Motiven, sondern vorrangig aus dem Antibolschewismus der NS-Zeit, was die Kontinuität nationalistischer und rassistischer Einstellungen zweifellos begünstigte. Welche Integrationsangebote an die Ostdeutschen kommen unter diesem Blickwinkel in Frage? Der Mythos von der im Kern „anständig“ gebliebenen DDR-Bevölkerung, die in erster Linie unterdrückt, ja eingesperrt worden ist, scheint mir als eine gefährliche Selbsttäuschung unbrauchbar. Auch nationales Pathos oder der in der DDR wenn auch verordnete, so doch nicht ohne Wirkung gebliebene Antifaschismus eignen sich aufgrund spezifischer undemokratischer Implikationen -Intoleranz, Instrumentalisierung zur Sicherung undemokratischer Herrschaft -nicht. Ob der von der Enquete-Kommission beschworene „antitotalitäre Konsens“ schließlich die Menschen innerlich erreicht, will ich bezweifeln. Das Angebot, das mir am wirkungsvollsten erscheint, weil es am deutlichsten jeder Ausgrenzung widerspricht und die Menschen in ihrer Selbstachtung bestärkt, faßte der Bundespräsident Herzog in der Rede nach seiner Wahl an die Ostdeutschen gewandt wie folgt zusammen: „Sie müssen begreifen, daß sie für uns keine Last, sondern daß sie für uns ein Gewinn sind. Sie bringen unendlichviel an Erfahrungen ein, die wir im Westen nicht hatten, aus einer ganz anderen Welt, in der vieles auch humaner als bei uns gewesen ist, in der vieles ganz anders war.“

Wie die Geschichte der Bundesrepublik gezeigt hat, erfordert die Verankerung demokratischer Einstellungen im politischen Bewußtsein der Bevölkerung den offen ausgetragenen, oft skandal-förmigen Streit über das Vergangene Erst die konflikthafte Auseinandersetzung führt zur Verwandlung des vor allem ökonomisch und sozial begründeten Systemvertrauens in Loyalität gegenüber den Prinzipien einer demokratischen politischen Kultur 58. Diese mehrdimensional zu führende Auseinandersetzung ist ein Balanceakt: Urteilen über das Vergangene aber nicht Moralisieren; Gerechtigkeit wiederherstellen ohne neues Unrecht zu begehen; einen Neuanfang wagen, aber die Belasteten nicht ausgrenzen; über das Vergangene Klarheit schaffen, aber nicht die Geschichte umschreiben und an der alltäglichen Lebenswirklichkeit vorbeigehen; vergeben, aber nicht vergessen; Versöhnung anstreben, aber nicht die Schuldabwehr befördern.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Theodor W. Adorno, Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, in: Eingriffe. Neun kritische Modelle, Frankfurt/M. 1963, S. 125-146.

  2. Jürgen Habermas, Bemerkungen zu einer verworrenen Diskussion. Was bedeutet „Aufarbeitung der Vergangenheit“ heute?, in: Die Zeit vom 3. April 1992.

  3. So auf dem III. Parteitag der SED im Juli 1950. Die gegenwärtige Lage und die Aufgaben der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, in: Dokumente der SED, Bd. 3, Berlin (Ost) 1952, S. 97.

  4. Vgl. Karl Jaspers, Die Schuldfrage. Für Völkermord gibt es keine Verjährung, München 1979, zuerst 1946.

  5. Ebd., S. 86.

  6. Vgl. Eugen Kogon, Das Recht auf den politischen Irrtum, in: Frankfurter Hefte, (1947) 7.

  7. Ebd., S. 655.

  8. Vgl.ders., Die Wiederkehr des Nationalsozialismus, in: Frankfurter Hefte, (1951) 6.

  9. Manfred Kittel, Die Legende von der „Zweiten Schuld“. Vergangenheitsbewältigung in der Ära Adenauer, Berlin-Frankfurt/M. 1993, verneint jedoch den pauschalen Vorwurf der „Verdrängung“, weil es -vorrangig im Gefolge erheblicher personalpolitischer Signale -eine intensive öffentliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gegeben habe. S. 174f. und S. 385.

  10. Th. W. Adorno (Anm. 1), S. 139.

  11. So wurde auch bei Alexander und Margarete Mitscherlich die Beobachtung kollektiver Schuldabwehr Ausgangspunkt von Betrachtungen zur Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit. Sie stellten die These auf, daß „zwischen dem in der Bundesrepublik herrschenden politischen und sozialen Immobilismus und Provinzialismus einerseits und der hartnäckig aufrechterhaltenen Abwehr von Erinnerungen, insbesondere der Sperrung gegen eine Gefühlsbeteiligung an den jetzt verleugneten Vorgängen der Vergangenheit, andererseits ein determinierender Zusammenhang besteht.“ In: Die Unfähigkeit zu trauern, Leipzig 1990, S. 10, zuerst München 1967.

  12. Neben vielen anderen vgl. Ralph Giordano, Die zweite Schuld oder Von der Last ein Deutscher zu sein, Hamburg 1987; Gabriele von Arnim, Das große Schweigen. Von der Schwierigkeit, mit den Schatten der Vergangenheit zu leben, München 1989.

  13. Vgl. Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie, Bd. 8, 1978-1983, München 1984, S. 194f.

  14. Peter Steinbach, Nationalsozialistische Gewaltverbrechen. Die Diskussion in der deutschen Öffentlichkeit nach 1945, Berlin 1981, S. 8.

  15. Eckhard Jesse, „Vergangenheitsbewältigung“ in der Bundesrepublik Deutschland, in: Der Staat, (1987) 3, S. 557.

  16. Hermann Lübbe, Der Nationalsozialismus im politischen Bewußtsein der Gegenwart, in: Marin Broszat (Hrsg.), Deutschlands Weg in die Diktatur, Berlin 1983.

  17. Ebd., S. 334.

  18. Karl Dietrich Bracher/Manfred Funke/Hans-Adolf Jacobsen (Hrsg.), Nationalsozialistische Diktatur 1933-1945. Eine Bilanz, Bonn-Düsseldorf 1986, S. 13ff.

  19. H. Lübbe (Anm. 16), S. 333.

  20. Vgl. Felix Philipp Lutz, Verantwortungsbewußtsein und Wohlstandschauvinismus: Die Bedeutung historisch-politischer Einstellungen der Deutschen nach der Einheit, in: Werner Weidenfeld (Hrsg.), Deutschland. Eine Nation -doppelte Geschichte, Köln 1993, S. 157-173.

  21. So nannte sich die entsprechende Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“.

  22. Vgl. Ulrich Heinemann, Die Last der Vergangenheit. Zur politischen Bedeutung der Kriegsschuld-und Dolchstoß-diskussion, in: Karl Dietrich Bracher/Manfred Funke/Hans-Adolf Jacobsen (Hrsg.), Die Weimarer Republik 1918-1933. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Düsseldorf-Bonn 1987, S. 371-386.

  23. Vgl. J. Habermas (Anm. 2).

  24. Vgl. Wolfgang Rudzio, Das politische System der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 19913, S. 40f.

  25. Vgl. Gesine Schwan, Die politische Relevanz nicht-verarbeiteter Schuld, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, Berlin 1993, S. 281-297.

  26. Vgl. u. a. Christoph Kießmann, Zweierlei Vergangenheit -Über den Umgang der Deutschen mit ihrer jüngsten Geschichte nach 1945 und nach 1989, in: Deutsche Studien, (1992) 116, S. 390-396; Vergangenheitsbewältigung 1945 und 1989: Ein unmöglicher Vergleich?, hrsg. von Klaus Sühl im Auftrag der Brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung in Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft e. V. Berlin 1994; Christa Hoffmann/Eckhard Jesse, Die „doppelte Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland: Gemeinsamkeiten und Unterschiede, in: W. Weidenfeld (Anm. 20), S. 209-234.

  27. Bericht der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, Abs. E: „Erfahrungen, Erkenntnisse und Empfehlungen der Enquete-Kommission“, Deutscher Bundestag, Drs. 12/7820.

  28. Braunbuch. Kriegs-und Naziverbrecher in der Bundesrepublik, hrsg. vom Nationalrat der Nationalen Front des demokratischen Deutschland, Berlin (Ost) 1965, S. 7.

  29. Chr. Hoffmann/E. Jesse (Anm. 26), S. 232.

  30. Ebd., S. 233.

  31. Jürgen Kocka, Manuskript des Beitrages auf der öffentlichen Anhörung der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ am 4. Mai 1994, S. 2.

  32. Peter Steinbach, Vergangenheitsbewältigung in vergleichender Perspektive. Politische Säuberung, Wiedergutmachung, Integration, Vortrag vor der Historischen Kommission zu Berlin am 12. Februar 1993.

  33. Vgl. Henry Rousso, Säuberungen nvon gestern und heute, in: Transit, (1991) 2, S. 188.

  34. F. Ph. Lutz (Anm. 20), S. 161.

  35. Vgl. u. a.: Umfragen in: Spiegel Spezial, (1992) 2, „Juden und Deutsche“, S. 61-79; für nach 1945: Anna J. Merrit/Richard L. Merrit (Hrsg.), Public opinion in occupied Germany. The QMGUS-Surveys 1945-1949, Urban u. a. 1970, S. 31-36.

  36. J. Kocka (Anm. 31), S. 8.

  37. Vgl. Eckhard Jesse: War die DDR totalitär?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 40/94, S. 12-23.

  38. Vgl. Helmut Schulze-Fielitz, Der Rechtsstaat und die Aufarbeitung der vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit, in: Deutsches Verwaltungsblatt, (1991) 17, S. 893-906.

  39. Vgl. Elisabeth Noelle-Neumann, Aufarbeitung der Vergangenheit im Schatten der Stasi, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. August 1992.

  40. Dies., in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. Mai 1993.

  41. Vgl. Alexander von Plato, Eine zweite „Entnazifizierung“? Zur Verarbeitung politischer Umwälzungen in Deutschland 1945 und 1989, in: Rainer Eckert/Alexander von Plato/Jörn Schütrumpf (Hrsg.), Wendezeiten -Zeiten-wende: Zur „Entnazifizierung“ und „Entstalinisierung", Hamburg 1991, S. 7-31.

  42. Vgl. Jürgen Weber/Peter Steinbach (Hrsg.), Vergangenheitsbewältigung durch Strafverfahren? NS-Prozesse in der BRD, München 1984; Christa Hoffmann, Stunden Null? Vergangenheitsbewältigung in Deutschland 1945 und 1989, Bonn-Berlin 1992.

  43. Jeweils drei Viertel der Bevölkerung befürworteten 1945 und 1989 eine Bestrafung der Hauptschuldigen. Für 1945 vgl. A. J. und R. L. Merrit (Anm. 35), für nach 1989 Spiegel Spezial, (1991) 1, S. 33, und E. Noelle-Neumann (Anm. 39). Nur sechs Prozent der Westdeutschen fühlten sich aber zur Zeit des Eichmann-Prozesses (Juni 1961) „irgendwie mitschuldig an den Judenvernichtungen“. Vgl. Michael Wolffsohn, Deutsch-israelische Beziehungen, 1986 zitiert in: M. Kittel (Anm. 9), S. 348f.

  44. Vgl. Heiner Wember, Umerziehung im Lager: Internierung und Bestrafung von Nationalsozialisten in der britischen Besatzungszone Deutschlands, Essen 1-991, S. 276-354.

  45. Jürgen Kocka, in: Vergangenheitsbewältigung 1945 und 1989 (Anm. 26), S. 186.

  46. Ebd.; ähnlich C. Kleßmann (Anm. 26), S. 395.

  47. Vgl. Dirk Berg-Schlosser, Entwicklung der Politischen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 7/90, S. 33.

  48. Vgl. Spiegel Spezial (Anm. 35).

  49. Zur vorsichtig geschätzten quantitativen Dimension vgl. Olaf Groehler, Personalaustausch in der neuesten deutschen Geschichte, in: Vergangenheitsbewältigung 1945 und 1989 (Anm. 26), S. 175.

  50. Vgl. H. Wember (Anm. 44), S. 247.

  51. Vgl. M. Kittel (Anm. 9), S. 90ff.

  52. Th. W. Adorno (Anm. 1), S. 143.

  53. Vgl. M. Kittel (Anm. 9), S. 47.

  54. Vgl. Spiegel Spezial (Anm. 35), S. 64.

  55. Lutz Niethammer, Erinnerungsgebot und Erfahrungsgeschichte. Institutionalisierungen im kollektiven Gedächtnis, in: Hanno Loewy (Hrsg.), Holocaust: Die Grenzen des Verstehens. Eine Debatte über die Besetzung der Geschichte, Reinbek 1992, S. 26.

  56. Zit. nach: Bulletin des Presse-und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 48, vom 25. Mai 1994, S. 428. Daß auch Herzog mythologisiert, ist offensichtlich; vielleicht kann aber auf Mythen in der „Aufarbeitung“ nicht vollständig verzichtet werden.

  57. Vgl. Karl Otto Hondrich, „Das Leben ist ein langer ruhiger Fluß...“. Vergangenheitsbewältigung in Deutschland, in: Cora Stephan (Hrsg.), Wir Kollaborateure, Reinbek 1992, S. 34.

Weitere Inhalte

Bert Pampel, geb. 1967; Student der Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin.