Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Nationalbewußtsein und universale politische Ethik | APuZ 10/1995 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 10/1995 Nationalbewußtsein und universale politische Ethik Nichts richtig, nichts übrig? Ein Stimmungsbild der ideellen Gesamtlinken Die „What’s right?“ -Debatte. Das zaghafte Herantasten an eine zivile Rechte What’s liberal? Der Liberalismus zwischen Triumph und Erschöpfung

Nationalbewußtsein und universale politische Ethik

Bernhard Sutor

/ 30 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Streit zwischen „rechts“ und „links“ über Notwendigkeit oder Gefahr eines erneuerten deutschen Nationalbewußtseins wird erkennbar nicht um die Klärung von Sachverhalten, sondern um die Hegemonie im Meinungskampf geführt. Dagegen soll er hier in vier Schritten unter Aspekten politischer Ethik betrachtet werden: -Das Konzept des Verfassungspatriotismus gibt eine verantwortbare Antwort auf die Frage nach der Begründung von Bürgerloyalität zum freiheitlich verfaßten Nationalstaat. -Ein der freiheitlichen Verfassung verpflichtetes Nationalbewußtsein ist offen für eine auch international verantwortbare Definition nationaler Interessen, die sich an universalen ethischen Prinzipien orientieren. -Die Diskussion zwischen „Universalisten" und „Kommunitaristen“ in den USA macht deutlich, daß theoretisch unvereinbar scheinende Konzepte politischer Ethik zu unterscheiden sind von der praktischen Aufgabe, in der unaufhebbaren Polarisierung von Person und Gesellschaft, von universalen Prinzipien und kulturellem Kontext zu vermitteln. -Die Ethik personaler Menschenrechte stammt aus dem, europäischen geschichtlichen Kontext und hat eben daraus einen unaufgebbaren universalen Anspruch entwickelt. Dessen Realisierung schließt das Recht der Menschen auf kulturelle Identität und das der Nationen auf Selbstbestimmung ein, aber ebenso die Fähigkeit und Bereitschaft der nationalen Regierungen zu rechtlich geordneter internationaler Kooperation und zunehmender Integration. Eine ethisch verantwortbare Politik der „Mitte“ ist im Unterschied zu den Extrempositionen der schwierigere Weg.

I. Einleitung

Seit einiger Zeit wird ein geradezu homerischer Streit zwischen „Linken“ und „Rechten“ ausgetragen über Sinn oder Unsinn, Notwendigkeit oder Gefahr eines erneuerten nationalen Denkens in Deutschland. Es handelt sich um eine politisch-ideologische Auseinandersetzung mit relativ beliebiger Verwendung historischer Versatzstücke. Viele der an diesem Streit Beteiligten führen ihn derart polarisierend, als gäbe es nicht eine breite „Mitte“, in der sich Motive, Mentalitäten und Wertorientierungen der Bürger meistens in einer nur schwer durchschaubaren Gemengelage befinden. Die wichtigsten Argumente der „Rechten“ lauten in summarischer Zusammenfassung Zur Bewältigung unserer Einigungsprobleme in Deutschland brauchen wir mehr Nationalbewußtsein. Demokratie setzt generell ein gewisses Maß an Homogenität voraus, die es bislang nur in den Nationen gibt. Der Staat braucht emotional und traditional gegründete Bindungen seiner Bürger; Interessen und Spielregeln genügen für seinen Zusammenhalt nicht. Die notwendige Solidarität der Bürger muß in einem Wir-Bewußtsein gründen, auf dessen Grundlage ein starker Staat die schwierigen inneren Probleme heutiger Gesellschaft lösen kann. Der individualistisch geprägte Rationalismus löst dagegen die Wertbindungen auf, denunziert Autoritäten und Institutionen und zerstört damit die Grundlagen der Gesellschaft.

Manche auf der Seite der „Rechten“ führen ausdrücklich wieder ältere Kategorien der sozialphilosophischen Auseinandersetzung ein, indem sie sagen, der Staat brauche eine „organische“ statt einer „gemachten“ Basis. Andere argumentieren vor zeitgeschichtlichem Hintergrund stärker historisch-politisch, wenn sie sagen, wir Deutsche müßten wieder den Mut haben, unsere deutschen Interessen zu definieren, unsere kulturelle Eigenart gegen „Amerikanisierung“ zu pflegen und zu verteidigen. Westbindung und Europapolitik seien in der Nachkriegszeit Ersatzelemente der mißbrauchten und dann der geteilten Nation gewesen. Heute dagegen sei eine Rückbesinnung auf unsere europäische „Mittellage“ geboten, was immer damit über das Geographische hinaus gemeint sein mag

Schließlich wird von der Notwendigkeit gesprochen, die deutsche „Schuldmethaphysik“ und die „schwarze Legende“ deutscher Geschichte zu überwinden (Karlheinz Weißmann). Die „Verdrängung der NS-Vergangenheit“ sei in linkes Märchen, das heute dazu diene, von der DDR-Vergangenheit abzulenken und immer neue „Bewältigungsexzesse“ zu rechtfertigen. Eine vergleichbare Funktion habe die Kampagne gegen angebliche Ausländerfeindlichkeit (Rainer Zitelmann).

Die Gegenargumente der anderen Seite sind keineswegs alle als typisch „links“ zu bezeichnen, obwohl sie von manchen Autoren gern auf diesen Nenner gebracht werden. Auch hier sei zunächst summarisch resümiert: Wir können und dürfen uns in Deutschland kein naives Nationalgefühl mehr leisten. Nationale Würde entsteht nicht dadurch, daß wir an unserer Vergangenheit „herumretuschieren“ (Christian Meier). Der Staat habe seinen Bürgern keine Sinnprojekte zu verordnen. Die liberale Gesellschaft, so ein Argument besonders von wirtschaftsliberaler Seite, sei dem normativen und methodologischen Individualismus verpflichtet. Sie sei zu begreifen als Zivilgesellschaft, die auf der Basis universaler Menschenrechte und nach entsprechenden Regeln ihre Konflikte aus-trägt und ihre Probleme zu lösen versucht, nicht dagegen als nationale Gemeinschaft. Die Bundes-republik Deutschland sei mit diesem Konzept ökonomisch und politisch gut gefahren. Westbindung und Europapolitik dieses Staates folgten danach der Einsicht in unsere reale Lage, und sie entsprächen auch weiterhin unseren Interessen. Die sogenannte Amerikanisierung sei nicht Import, sondern Lebensweise in der modernen Massen-demokratie einer industrialisierten Gesellschaft.

Dem könnte ich, mit gewissen Einschränkungen hinsichtlich eines allzu optimistischen Wirtschaftsliberalismus, durchaus zustimmen, obwohl ich mich nicht zu den „Linken“ zähle. Aber es gibt unter diesen auch schrillere Stimmen. Sie verwerfen jede Rede von der Nation als verderbliche Reaktion oder als Ausdruck neuer deutscher Großmachtsträume und wittern in jeder historisierenden Anschauung der NS-Vergangenheit eine „Schlußstrichmentalität“. Verwunderlich ist auch, wie heute manche auf der Linken eine besondere Liebe zur alten Bundesrepublik mit ihrem bescheideneren Zuschnitt und ihrer strikten Westbindung entdecken. Man kann es fast amüsant finden, wie heute beide Seiten Adenauer und seine Politik für sich reklamieren. Während die „Rechten“ Adenauer als realpolitischen Verfechter nationaler deutscher Interessen neben Bismarck stellen, machen manche „Linke“ aus ihm einen progressiven Liberalen, während er doch aus dieser Perspektive zu seinen Lebzeiten als konservativ und autoritär verschrien war.

Der ganze Streit ist auch Ausdruck eines Mangels an Fähigkeit oder einer Weigerung, so etwas wie „Mitte“ überhaupt zu denken, nämlich die Verbindung von Gegensätzen, das Leben in und mit Spannungen und unaufhebbaren Polaritäten. Karl-heinz Weißmann sieht in der „Mitte“ nur einen diffusen Liberalismus, „ein Gemisch aus hedonistischen, individualistischen und reduktionistischen Vorstellungen“, den Bedingungen der Wohlstandsgesellschaft Westdeutschlands entsprechend Hier wie in vielen anderen Beiträgen wird manifest, wie sehr polemischer Eifer die Feder führt. Es geht nicht um begrifflich und theoretisch saubere Analyse faßbarer Sachverhalte, sondern um die höhere Weihe der eigenen Mentalität, um Hegemonie im Meinungskampf. Dieser bedient sich wie die Politik selbst einer schwebenden und emotionalisierenden Begrifflichkeit Deshalb sucht man auch vergeblich nach einer Definition oder interpretieren-den Erklärung der Begriffe „links“ und „rechts“. Auf der Linken gibt es die Neigung, die „Mitte“ zu vereinnahmen, so etwa bei Peter Glotz. Konservative wie Wolfgang Schäuble grenzen sich gegen die Rechten ab und suchen den „Platz in der Mitte“ Eine „demokratische Rechte“ will nicht rechtsextrem sein (Rainer Zitelmann); es wird aber nicht recht einsichtig, weshalb man auf dem Etikett „rechts“ besteht, statt sich konservativ zu nennen

Uns interessiert diese Auseinandersetzung hier unter den Aspekten politischer Ethik. Es verwundert, daß die ethische Frage, zumindest ausdrücklich, gar nicht gestellt wird von Autoren, die wortreich von Umdenken, von Erneuerung und Neuorientierung reden. Gerade wer nach Erneuerung oder Stärkung nationalen Bewußtseins ruft, muß aber auch ethisch fragen; denn Nation ist ein „voluntaristischer Begriff“ Die ethische Dimension der Diskussion wird sichtbar, wenn man etwa folgende Fragen stellt; -Worauf sollte sich die Loyalität der Bürger zu ihrem Staat gründen und in welchem Verhältnis soll sie zu anderen Nationen stehen?

-Nach welchen Kriterien müssen wir heute, angesichts der politischen Gesamtlage, unsere eigenstaatlichen Interessen definieren und wahrnehmen?

-Welche Möglichkeiten der Begründung entsprechender politisch-ethischer Prinzipien und Normen gibt es? Wie können sie in einer gelebten politischen Moral wirksam werden?

II. Das Konzept des Verfassungspatriotismus

Im folgenden will ich die These begründen, daß im Konzept des Verfassungspatriotismus eine Antwort zu finden ist sowohl auf die Frage nach der Begründung der Loyalität der Bürger als auch auf die Frage nach einer verantwortbaren Definition unserer nationalen Interessen. Dazu sei einleitend ein Beispiel dafür zitiert, wie sehr das Konzept des Verfassungspatriotismus selbst in dem eingangs skizzierten Streit mißverstanden, ja geradezu deformiert wird. Eine Abgeordnete des Deutschen Bundestages schreibt: „Deutschland, einig Vaterland und nicht Deutschland, einig Grundgesetz artikulierten sich die Menschen aus den neuen Bundesländern in ihrem unblutigen Freiheitskampf in der DDR. Wir hier im Westen, insbesondere aber die, die dem »Verfassungspatriotismus anhängen, waren dabei in erheblichem Maße distanzierte Zuschauer im sicheren und warmen Wohlstandshort der alten Bundesrepublik Deutschland. Durchleuchtet man Politik und Methodik der engagierten Benutzer-klientel dieser in sich widersprüchlichen Vokabel, so ist unschwer festzustellen, daß überwiegend DDR-Freunde, Sympathisanten der Zwei-Staaten-Theorie und multikulturelle Melting-Pot-Verfechter zu den Aposteln dieser Geisteshaltung gehören.“

Das ist für jeden, der die Herkunft des Konzepts und die Diskussion darüber einigermaßen kennt, eine horrende Mißdeutung. Die „Linken“ jedenfalls der siebziger und auch noch der achtziger Jahre wollten von Verfassungspatriotismus nichts wissen. Erst spät wurde er, so von Jürgen Habermas, in einer gewissen Umdeutung auf die „Zivilgesellschaft“ hin übernommen, wobei das patriotische Element und der Bezug auf den Staat ausgeblendet wurden

Unbestritten gilt Dolf Sternberger als derjenige, der das Konzept des Verfassungspatriotismus für die politische Kultur und die politische Bildung in der Bundesrepublik Deutschland entwickelt hat Im ausdrücklichen Anschluß an die europäische Denktradition republikanischer Staatstheorie verstand er unter Verfassungspatriotismus den vernünftig begründeten Willen, für das eigene Land und Volk eine freiheitliche Ordnung zu gestalten. Bei Montesquieu ist die Vaterlandsliebe die republikanische Tugend, im Unterschied zur Ehre, die er der Monarchie, und im Unterschied zur Furcht, die er der Despotie zuordnet. Darauf griff Sternberger zurück und charakterisierte Patriotismus als Verbindung eines Gefühls-und eines Rechtsverhältnisses. Weiter beklagte er die Trennung beider Momente in der deutschen Tradition nach der Aufklärung, die Trennung nämlich von Patriotismus und freiheitlichen Institutionen, die dazu führte, daß „vaterländisch“ zum Synonym für „rechts“ wurde.

Verfassungspatriotismus meint demnach, wie ich an anderer Stelle breiter ausgeführt habe eine wertrational geklärte und fundierte Zuneigung zum eigenen Land; den Willen zu einer guten, einer freiheitlichen Ordnung für das Volk, dem man angehört. Es geht um einen ethisch und historisch-politisch aufgeklärten Sinn für das Wohlergehen dieses Volkes, also um Gemeinsinn, der die Bedingungen zur Kenntnis nimmt, unter denen das eigene Land und Volk in der gegebenen politischen Konstellation zu leben hat. Verfassungspatriotismus ist Absage an jeden blinden Nationalismus, aber keineswegs an jedes Nationalbewußtsein. Das Nationalbewußtsein, welches der Verfassungspatriotismus meint, wäre vielleicht treffender als Nationbewußtsein zu bezeichnen, wenn dieser Begriff geläufig wäre: nämlich als Einsicht in die „Lage der Nation“, als historisch und politisch aufgeklärte Einsicht in diese Lage, verbunden mit dem Willen, eine gute Ordnung für sie zu gestalten nach Kriterien, die in der Ethik personaler Menschenwürde gründen und deshalb einen universalen Kern haben Wie Sternberger den Begriff des Verfassungspatriotismus verstand, fehlt ihm die emotionale Komponente keineswegs. Sie soll aber von einer wertorientierten politischen Rationalität beherrscht sein Angesichts des Mißverständnisses, dem das Konzept des Verfassungspatriotismus seltsamerweise gerade bei Liberalen und Konservativen ausgesetzt ist, scheinen mir einige Hinweise wichtig auf die Mentalität der Politikergeneration, die die Anfänge der Bundesrepublik Deutschland geprägt hat. Diese Generation war, ohne den Begriff zu kennen, ausgesprochen verfassungspatriotisch. Als der Parlamentarische Rat das Grundgesetz im Mai 1949 verabschiedete, erhoben sich seine Mitglieder am Schluß der abschließenden Sitzung und sangen das Lied, welches mit den Worten beginnt: „Ich hab’ mich ergeben mit Herz und mit Hand dir Land voll Lieb’ und Leben, mein deutsches Vaterland .. Bekanntlich war die Nationalhymne noch nicht wieder in ihren Rang eingesetzt, und so gab die Versammlung mit diesem Lied ihrem verfassungspatriotischen Wollen beredten Ausdruck: „Wir haben versucht, unserem Land gerade jetzt, gerade angesichts seiner zuletzt schrecklichen Vergangenheit und seiner gegenwärtigen mißlichen Lage, eine freiheitliche, eine auf universale Werte gegründete Verfassung zu geben.“ Die Präambel dieser Verfassung war in ihrem „Wiedervereinigungsgebot“ ebenfalls Ausdruck dieses Patriotismus. Sie drückte den Willen des deutschen Volkes aus, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren, aber in Frieden mit den anderen Völkern, und sie verstand die Gründung der Bundesrepublik Deutschland als Beginn der Wiedergewinnung von Einheit und Freiheit ganz Deutschlands. Später widmete der unbestreitbar große Europäer Konrad Adenauer seine Erinnerungen wie ganz selbstverständlich „Meinem Vaterland“. Schon Ende 1948 hatte Theodor Heuss geäußert: „Wir brauchen ein neues Nationalgefühl in dem Sinne einer freien bekenntnishaften Haltung.“ Sven Papcke, der dieses Wort kürzlich zitierte, meinte dazu, Patriotismus treffe das hier gemeinte Bedürfnis besser

Nun kann man aber die Mentalität, die solchen Ausdrucksweisen von Vaterlandsliebe oder Nationalgefühl zugrunde liegt, nicht „machen“. Sie wurzeit in geschichtlicher Erfahrung von Individuen und Gruppen und ist Ergebnis der Verarbeitung solcher Erfahrungen in der sozial bedingten Biographie. Darüber hinaus stellt sich die ganz andere und schwer zu beantwortende Frage, unter welchen Wertaspekten der moderne Staat der Daseinsvorsorge von seinen Bürgern heute überhaupt erlebt wird oder erlebt werden kann. Hier mögen erhebliche Defizite an Gemeinsinn liegen, aber die gemeinsame Sorge von Verfassungspatrioten und Nationalgesinnten um den Mangel an Wertbindungen oder an prinzipiell begründeter Loyalität zum Gemeinwesen kann nicht behoben werden durch die Mobilisierung und Steigerung von möglicherweise latent noch vorhandenen nationalen und patriotischen Gefühlen. Alles Künstliche führt auf diesem Feld nur zu Peinlichkeiten und zu Verlegenheiten oder zu der Illusion, die Formen und Fassaden mit substantiellem Gehalt verwechselt.

Zudem sollte, wer speziell das Nationalgefühl mobilisieren will, die möglichen Konsequenzen bedenken, die durch eine verstärkte Abgrenzung gegen andere, durch Belebung von Vorurteilen und von Irrationalem entstehen. Das Nationale ist von „trotziger Selbstbehauptung“ (Heinz Bude) gegen andere, wenn es nicht rational kontrolliert wird durch Unterordnung unter höhere Werte und durch Einbindung in das Gefüge von Prinzipien und Institutionen einer freiheitlichen Ordnung. Rudolf Stichweh vermerkt als eine der Funktionen der Nation, sie garantiere eine relative kulturelle Homogenität nach innen, verstärke damit aber zugleich die Differenz nach außen; eine Nation sei immer prononciert eine kulturelle Entität Im freiheitlichen Verfassungsstaat ist deshalb nicht die kulturelle Homogenität, sondern der Wille zur gemeinsamen demokratischen Ordnung das zentrale Moment politischer Integration. Kulturnationale Übereinstimmung kann und mag stützend hinzutreten und tut es auch in der Regel, aber es wird gefährlich, wenn diese politisch „gemacht“ werden soll und instrumentalisiert wird. Ich stimme deshalb Ralf Dahrendorf zu, wenn er für einen liberalen Begriff des Nationalen eintritt und meint, dieser habe im heterogenen Nationalstaat eine größere Chance als im homogenen. Prinzipiell steht das nicht in Widerspruch zu Wolfgang Schäubles These, eine tolerante, weltoffene und interessenpluralistische Gesellschaft brauche einen Bestand an Gemeinsamkeit und an Grundüberzeugung. Es ist gewiß erfreulich, wenn diese auch aus Traditionen der Kulturnation gespeist werden. Aber wenn Schäuble meint, das Band, das ein solches Gemeinwesen zusammenhält, sei die Nation, so muß man nachdrücklich hinzufügen: die freiheitlich verfaßte Nation, die ihre politisch integrative Kraft aus dem Bekenntnis zu ihrer Verfassung bezieht Nationalgefühl bleibt nur als Verfassungspatriotismus erträglich und kontrollierbar. Und nur so -dies ist der zweite Teil meiner These -bleibt es offen für die verantwortbare Interpretation unserer eigenstaatlichen und wohlverstandenen Interessen.

III. Nationbezug und universale Ethik

Unbestreitbar ist der heutige Einzelstaat angesichts weltweiter Probleme und zunehmender Interdependenz der Staaten funktional überfordert, wenngleich er völkerrechtlich noch fast uneingeschränkt souveräner Akteur ist. Auch auf absehbare Zeit werden die Staaten die Hauptakteure internationaler Politik bleiben, zumal die staatlich gestützte oder auf den eigenen Staat zielende Nationbildung in der sogenannten Zweiten und Dritten Welt offenbar, auch in Analogie zu früheren europäischen Entwicklungen, einen Prozeß darstellt, der nicht übersprungen werden kann, so sehr er mit inneren und äußeren Konflikten belastet ist. Die Einigkeit einer Gesellschaft als Staats-volk sowie die Einigkeit einer Gesellschaft von Staaten ist nur als ständiger Prozeß der Einigung bei bleibender Vielfalt vorstellbar. Deshalb sollte man übrigens in diesem Zusammenhang den Begriff der Identität nicht zu sehr strapazieren. Er kommt aus der Psychologie und bezieht sich auf das Individuum. Auf Gesellschaft kann er allenfalls analog angewendet werden, und in pluralistischen Gesellschaften konkurrieren immer mehrere „Identitäten“ miteinander. Eben deshalb brauchen wir Prinzipien und Regeln, nach denen sich gesellschaftliche Gruppen und Staaten jeweils einigen können angesichts gemeinsamer Probleme und tiefgehender Interessenkonflikte. Nation, Nation-bildung, Nationalbewußtsein der Bürger und nationale Interessenwahrnehmung bedürfen also übergeordneter ethischer Orientierung, die in Rechtsregeln und Institutionen umsetzbar ist und so in und zwischen den Nationen wirksam werden kann.

Ethisch vertretbar können das nur Regeln der Gegenseitigkeit sein, nach denen die Akteure als prinzipiell Gleiche ihre eigenen Interessen als wohlverstandene definieren und wahrnehmen; nämlich aus der Einsicht, daß Rücksichtnahme und Eingehen auf die Interessen anderer längerfristig auch für das eigene Interesse besser ist, besser als Zwang oder gar gewaltsame Durchsetzung. Da Verfassungspatrioten im Inneren so miteinander umzugehen gelernt haben, wollen und können sie das prinzipiell auch im Umgang mit anderen „Vaterländern“ und Nationen, eben gerade auch im eigenen nationalen Interesse

Freilich darf man diesen politischen Umgang angesichts oft tiefgreifender Interessengegensätze nicht als harmlosen „small talk“ zwischen „Freunden“ erscheinen lassen und ihn auch nicht mit dem „herrschaftsfreien Diskurs“ verwechseln. Im harten Geschäft des Aushandelns von Kompromissen stoßen Machtpotentiale aufeinander und werden gezielt eingesetzt. Der Übergang von der Geltendmachung eigener Macht zu Formen von Zwang ist fließend; der zur Gewalt stellt allerdings einen qualitativen Sprung dar, er hebt politische Kommunikation auf. Die Kategorie des wohlverstandenen Interesses jedoch führt über den nationalen Bezugsrahmen hinaus, und zwar heute mehr denn je. Sie führt zu der Frage, welche allgemeinen, für die heutige Staatengesellschaft möglicherweise universalen Prinzipien und Regeln wir beachten müssen in der Wahrnehmung unserer eigenen Interessen.

Die damit aufbrechende Grundfrage politischer Ethik lautet: Reicht für die Lösung der weltweiten gemeinsamen Probleme das Prinzip des wohlverstandenen Eigeninteresses aus, etwa im Sinne der neuzeitlichen utilitaristischen Vertragstheorien? Braucht die Staatengemeinschaft darüber hinaus eine Orientierung an substantiellen Werten, etwa an universal geltenden Menschenrechten, aus denen eine auch universal verpflichtende Solidarität folgt? Diese Frage ist theoretisch, angesichts der Begründungsnöte heutiger Ethik, nicht leicht zu beantworten. Sie ist erst recht nicht einvernehm-lieh zu beantworten, sobald es um die Anwendung allgemein akzeptierter Formeln wie universale Menschenrechte oder Solidarität auf konkrete Konflikte geht.

Da diese Frage aber keineswegs nur eine theoretische ist, müssen in der politischen Praxis jeweilige Antworten gefunden werden. Dort stellt sie sich nämlich durchaus sehr konkret: Was gehen uns denn die hungernden Somalis an, wenn wir sie für die Wahrnehmung unserer eigenen Interessen gar nicht brauchen? Ist Entwicklungshilfe eine Pflicht der Gerechtigkeit, oder ist sie Hilfe aus Mitleid, oder reicht zur Begründung unser Interessenkalkül? Kümmern uns die Kurden oder die bosnischen Muslime nur, weil deren Konflikte und die Art ihrer Austragung auch für uns gefährlich werden können, oder sind wir verpflichtet, und in welchem Maße, für ihre Menschenrechte einzutreten? Allgemein gefragt: Gibt es Gerechtigkeitspflichten zwischen den Staaten und Völkern über das vertraglich Vereinbarte hinaus?

Unsere europäische Menschenrechtspolitik spricht für letzteres, aber sie wurde schon im 19. Jahrhundert imperialistisch mißbraucht, und sie wird heute von manchen Repräsentanten anderer Kulturkreise und Völker als „Kulturimperialismus“ verdächtigt. Sie muß sich deshalb einerseits ihrer geschichtlich-kulturellen Herkunftsbedingungen vergewissern und andererseits nach ihrer Begründbarkeit fragen.

Aber welche Begründung soll gelten, welche ist letztlich tragfähig, welche ist universal einsichtig zu machen? Die biblisch-christliche Begründung ist die eines partikular gewordenen Glaubens, obschon sie den geistigen Nährboden für die Idee personaler Würde und mittelbar auch individueller Menschenrechte darstellt. Seit Kant bezweifelt die europäisch geprägte Philosophie die Möglichkeit substantieller Metaphysik und zieht deshalb für die Ethik den Rekurs auf formale universale Regeln vor. Es bleibt aber strittig, nach welchem Denkmodell man solche Regeln letztlich begründen kann. Vertragstheorien gibt es schon seit der politischen Philosophie der Aufklärung in unterschiedlicher Version, und auch in der zeitgenössischen Diskursethik konkurrieren unterschiedliche Begründungsversuche (z. B. von Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel) miteinander. Aber dieser Streit sei mit der skeptischen Anmerkung, daß er wohl an kein Ende kommen wird, den Normen-theoretikern überlassen.

Wichtiger für unseren weiteren Gedankengang scheint mir der Blick zurück in die Herkunft der europäischen universalen Ethik. Alle rationale Ethik, die die Geltung formaler universaler Regeln behauptet, kann hinterfragt werden nach einem inhaltlichen Grund ihres Geltungsanspruches: -Warum sollen denn egoistische Individuen einen streng verbindlichen Vertrag schließen.

Warum sollen sie sich nicht vorbehalten, ihn nach Nutzenkalkül auch zu brechen?

-Warum sollen wir denn, nach Kant, in den Maximen unseres Handelns die „Menschheit“ als Zweck an sich achten?

-Warum sollen wir, gemäß der Diskursethik, die Regeln der Kommunikation als verbindliche Normen akzeptieren, warum sie nicht als bloße Instrumente unserer Selbstbehauptung gebrauchen?

Der inhaltliche Geltungsgrund ist letztlich immer der gleiche, nämlich die Voraussetzung einer Gleichheit im Menschsein zwischen allen, die zu dieser Gattung gehören, sowie die Annahme und Anerkennung dieses Menschseins als des gemeinsamen obersten Wertes. Das ist das Apriori europäischer universaler Ethik. Sie ist im Kontext europäischer Glaubens-und Denktradition entstanden und ist insofern geschichtlich-kulturell relativ. Aber der Anspruch universaler Geltung gehört unabdingbar zu ihr, und insofern können wir nicht auf ihn verzichten, ohne zugleich unsere Tradition zu verraten. Diese Einsicht sollte eigentlich gerade Konservativen selbstverständlich sein. Exakt dies ist zentraler Gegenstand des Streites, der seit einigen Jahren in den USA und zunehmend auch bei uns zwischen „Universalisten" und „Kommunitaristen“ ausgetragen wird. Wir beziehen diesen Streit ausdrücklich in unsere Erörterung ein, weil wir glauben, damit einer Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Nationalbewußtsein und universaler Ethik ein Stück näher-kommen zu können.

IV. Das Anliegen der Kommunitaristen

Die Ethik der Menschenwürde und der Menschenrechte sowie die Institutionen der rechtsstaatlichen Demokratie stehen im kulturellen Kontext europäischer Tradition und sind in Philosophie und Politik europäisch geprägter Gemeinschaftsbildungen entwickelt worden. Diese Feststellung der Kommunitaristen ist unbestreitbar, auch wenn mit Blick auf die unterschiedlichen Ausprägungen politischer Philosophie und politischer Ordnungsformen unserer Geschichte zu differenzieren wäre. Die Kommunitaristen machen nun diesen Tatbestand zum zentralen Kritikpunkt am universalen Liberalismus, indem sie argumentieren, dieser habe als Individualismus zum Zerfall des sozialen Kontextes entscheidend beigetragen, auf dem die Ethik der Menschenwürde und der Menschenrechte beruhe. Individualistischer Liberalismus und in seiner Konsequenz der Hedonismus mache die Krise der westlichen Gesellschaften aus. Das Projekt der Aufklärung, alles auf Subjektivität und Autonomie des Individuums zu setzen, sei damit gescheitert. Die Krise könne nur überwunden werden durch Verlebendigung unserer eigenen Tradition; deshalb helfe heute nicht die Geltendmachung universaler Ansprüche, sondern die Verlebendigung eines gelebten Ethos in überschaubaren und erlebbaren Gemeinschaften

Die amerikanischen Communitarians sind aber in ihrer politischen Einstellung keineswegs Nationalisten. Man kann sie eher als konservative Pragmatiker bezeichnen, wobei die Bezeichnung „konservativ“ ein sehr breites Spektrum abdeckt, das durchaus über die linke Mitte hinausreicht Die konservativ-pragmatischen Momente ihres Denkens lassen sich so skizzieren: Ein ethisch-politischer Konsens ist immer nur der Konsens geschichtlich-kulturell abgrenzbarer Gruppen, bei denen spezifische Traditionen in einem gelebten Ethos wirksam sind. Das sittlich-praktisch Allgemeine ist nicht von kategorischer, sondern von pragmatischer Art; es geht in ihm um aus der Erfahrung gewonnene Gründe für Normen und Einstellungen, die nötig sind, um gegebene Probleme des Zusammenlebens zu lösen, nicht um universale Geltungsansprüche. Angesichts des „Scheiterns der Aufklärung“ in postmoderner Beliebigkeit braucht die amerikanische Demokratie die Erneuerung eines in dieser Weise verstandenen und begründeten gemeinschaftlichen Ethos.

Formelhaft kann man also gegenüberstellen eine konservativ-geschichtliche Gemeinschaftsethik und eine liberal-universalistische Vertrags-ethik. Aber nun sind ja beide in ihrer Weise Ausprägungen der europäisch-amerikanischen politischen Philosophie, und deshalb scheinen sie mir auch nicht völlig unvereinbar. Der mögliche Brückenschlag zwischen ihnen gibt zugleich auch eine Antwort auf unsere eigene Frage.

Ein solcher Brückenschlag scheint mir auch deshalb möglich, weil der Streit zwischen Universalisten und Kommunitaristen mir nicht in erster Linie begreifbar scheint als ein Streit zwischen Theorien, sondern als einer zwischen Theorie und Praxis. Theoretisch kann man die Auseinandersetzung endlos weiterführen, indem man Begründungsversuchen für formale universale Regeln immer wieder die Erinnerung an die Geschichtlichkeit und an die Kulturbedingtheit solcher Versuche gegenüberstellt. Im Kem geht es aber nicht um die universale oder relative Geltung von Normen, sondern um das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft und um das Verhältnis von reflexiver Kritik und gelebtem Ethos.

Gewiß argumentieren manche amerikanische Communitarians im Sinne eines kulturspezifischen, ethnologischen Relativismus. Aber das ist nicht der Punkt, auf den es ihnen eigentlich ankommt. Es geht nicht um die Relativierung von Geltungsgründen für Moral, sondern um ihre Wirksamkeit, die an einen sozialen Kontext gebunden ist; so etwa, wenn McIntyre sagt: „Es gibt keine moralische Rationalität, die nicht einer bestimmten Tradition innewohnt und auf sie bezogen ist.“ Auch Richard Rorty führt den Vorrang der Erfahrung, der Geschichte und des Common sense vor der Philosophie ins Feld Ähnlich argumentieren in Deutschland die aus der „RitterSchule“ hervorgegangenen Philosophen Hermann Lübbe und Odo Marquard sowie der Verfassungsrechtler Martin Kriele, der unsere politische Philosophie als Extrakt von Erfahrungen beschreibt und von ihrem narrativen Charakter spricht. Das Erkenntnisinteresse aller dieser Autoren zielt nicht auf die Letztbegründung von Ethik, sondern auf die Bedingungen ihrer sozialen Wirksamkeit. Es geht ihnen um die Möglichkeitsbedingungen sittlich geleiteter sozialer Praxis, nicht um Nachweis oder Bestreitung letzter Verbindlichkeit ihrer Normen.

Methodisch sind die Communitarians Aristoteliker oder Hegelianer. Sie wollen den Grundriß einer guten, einer gerechten Ordnung nicht von einem „Punkt außerhalb“ herleiten, sondern durch Interpretation gemeinsamer Überzeugungen partikularer Gemeinschaften gewinnen, also aus den Wertorientierungen und Institutionen einer politisch-moralischen Kultur. Universale Prinzipien scheinen ihnen demgegenüber abstrakt und leer, vor allem motivationsschwach.

Inhaltlich machen sie deshalb die Bedeutung gemeinschaftlicher Lebenswelt gerade auch für das Individuum deutlich und polemisieren von daher gegen den „atomisierenden“ Liberalismus für Gemeinsinn und Bürgertugenden, die nur in lebendiger Gemeinschaft wachsen können. So heißt es in einem Ende 1993 von amerikanischen Communitarians veröffentlichten Manifest: „Gemeinschaftsorientierte soziale Gerechtigkeit äußert sich sowohl in bezug auf die gleiche Würde aller Individuen als auch auf die Art, wie sie sich durch persönliche Entscheidungen voneinander unterscheiden ... Obwohl... das Gesetz eine wichtige Rolle spielt, nicht nur, um das menschliche Zusammenleben in der Gesellschaft zu regeln, sondern auch, indem es die von ihm geforderten Werte angibt, ist es unser erstes und vorrangiges Anliegen, die Wichtigkeit der Gemeinschaften zu betonen, in denen ein Engagement Gestalt annimmt und von einer Generation an die nächste weitergegeben wird. Dies ist primär keine rechtliche Angelegenheit... Auch wenn die Moral in ihrer letztgültigen Begründung Erkenntnis des individuellen Gewissens sein mag, so helfen die Gemeinschaften, diese Erkenntnisse umzusetzen und aufrechtzuerhalten. Hieraus ergibt sich für Gemeinschaften die dringende Notwendigkeit, die Verantwortung, deren Wahrnehmung sie von ihren Mitgliedern erwarten, zu artikulieren, besonders in Zeiten wie der unseren, in der das Verständnis dieser Verantwortung schwach und ihre Reichweite unklar geworden ist.“

Die Zitate belegen, daß es den Communitarians nicht um die Bestreitung oberster Werte wie Menschenwürde und Gerechtigkeit und nicht um die Infragestellung formaler Regeln geht, sondern um die Bedingungen ihrer Wirksamkeit, die sie in Gemeinschaften begründet sehen. Das kann man theoretisch auf die Formel bringen: Hegel oder Kant; das Gute einer substantiellen Gemeinschaft oder das Rechte einer freien Gesellschaft Aber solche theoretischen Zuspitzungen bis hin zur reinen Dichotomie tun dem praktischen Leben der Menschen in Geschichte und Gesellschaft Gewalt an. Die Dichotomie ist theoretisch unauflösbar, dagegen verlangt die Polarität von Person und Gesellschaft ständig eine praktische Bewältigung. In der Praxis einer freien Gesellschaft geht es um etwas, das man in Mischung der theoretisch unvereinbar scheinenden Elemente bezeichnen könnte als einen konkreten Universalismus oder einen liberalen Kommunitarismus. Im Streit um soge-nannte Grundwerte einer freien Gesellschaft, wie er in den siebziger Jahren bei uns ausgetragen wurde, ging es letztlich um das gleiche Problem. Ernst-Wolfgang Böckenförde formuliert die Frage so: „Wie weit können staatlich geeinte Völker allein aus der Gewährleistung der Freiheit der einzelnen leben ohne ein einigendes Band, das dieser Freiheit vorausliegt?“

V. Versuch einer praxisorientierten Antwort

Das isolierte, atomistische Individuum, das kontextlose Subjekt ist ein theoretisches Konstrukt. In der Wirklichkeit unseres Lebens entfalten wir uns als individuelle Personen in einer geschichtlich konkreten Gesellschaft; wir sind auf sie angewiesen und ihr deshalb auch verpflichtet. Aber die philosophisch-ethische Reflexion über Inhalte, Gründe und Grenzen dieser Verpflichtung führte in unserer europäischen Denktradition zur Entdeckung menschlicher Personalität, welche im Kern als sittliche Selbstbestimmungsfähigkeit auf den Begriff gebracht wurde und als unantastbare Menschenwürde zur Fundamentalnorm politischer Ordnung wurde. Hinter diese Entdeckung, daß die menschliche Person in ihrer Würde letztlich keinem gesellschaftlichen Zweck untergeordnet werden darf, können wir theoretisch und dürfen wir praktisch nicht zurückfallen. Das ist der materiale Kern unseres ethischen Universalismus. Er bezeichnet die Grenze aller tradierten Verbindlichkeit und eines jeden gemeinschaftlichen Ethos. Die Person kann kraft ihrer sittlichen Selbstbestimmungsfähigkeit und unter Berufung auf ihr Gewissen prinzipiell jede sozial vorgegebene Verbindlichkeit in Frage stellen, obwohl sie zu ihrer Entfaltung im Miteinander mit den anderen zugleich auf solche Verbindlichkeit angewiesen ist Unser individuelles und soziales Leben kann dieser Polarität prinzipiell nicht entgehen; sie ist unaufhebbar, und aus ihr ergibt sich letztlich auch die Aufgabe, Ordnungen der Freiheit zu gestalten. Alle Ebenen und Formen der Vergesellschaftung und alle normativ-institutionellen Regelungen des Zusammenlebens bleiben relativ, und zwar relativ nicht nur im historischen Sinn, sondern auch ethisch gegenüber der unabdingbaren Freiheit der Person und gegenüber den universalen Regeln der Gerechtigkeit zwischen Personen, wie sie in Vertragsmodellen formuliert werden. Polarität bedeutet aber auch, daß die Normen und Institutionen in ihrer kulturspezifischen Ausprägung sowie die Ebenen der Vergesellschaftung ihr relatives Recht haben. Das muß dann auch für die Nation gelten. Und zwar gilt dieses relative Recht gerade um der Menschen willen, die als Personen ein Recht haben auf ihre Heimat, auf ihre spezifische Kultur, auf Entfaltung in ihrer Region und in ihrer Nation. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist zwar ein dehnbares, nur schwer definierbares Prinzip, aber es verdankt seine Existenz als ein Recht homogener Gemeinschaften gerade dem universal verstandenen Prinzip der Selbstbestimmungsfähigkeit der Personen, auch in der Gestaltung der Formen und Normen ihres Zusammenlebens. Es bildet den ethischen Kern der freiheitlich gedachten Staatsnation im Sinne Ernest Renans

Die ethisch-politischen Fragen, die sich damit für das Verhältnis von Nation und Staatengemeinschaft stellen, sind etwa die folgenden: Wie kann der universale Anspruch unserer Menschenrechts-ethik in Recht und in Institutionen auch zwischen den Staaten transformiert werden? Auf welche Normen und Institutionen können sich die Staaten dabei einigen, wenn sie zugleich ihre Selbständigkeit im Sinne des Selbstbestimmungsrechts behalten sollen? Welche Politik der Einzelstaaten, welche national bestimmte Politik ist verantwortbar gemäß den allgemeineren Normen und im Blick auf die gegebene Weltlage mit ihren die Staatengemeinschaft insgesamt betreffenden Problemen? Dazu seien im folgenden noch ein paar skizzenhafte Hinweise formuliert, die auf der Linie der Grundaussage liegen, daß der nationale Staat und das Nationalbewußtsein relative Größen sind und sowohl nach außen als auch nach innen nach Maßgabe der Menschenrechtsethik relativiert werden müssen.

Die weltweiten Probleme und die zunehmende Interdependenz der Staaten erfordern unbestreitbar zunehmende Kooperation und auch Teilintegrationen, welche zwischen den Staaten rechtlich vereinbart und institutionell gesichert werden müssen. Das gilt für die Sicherheit zwischen den Staaten ebenso wie für die Fragen der ökonomisch-sozialen Entwicklung, für die Umweltprobleme wie für die Bevölkerungs-und die Flüchtlingsfragen Die Öffnungs-und Kooperationsbereitschaft ist prinzipiell von allen Staaten zu fordern, aber in geschichtlicher Begründung dürfte diesbezüglich von den europäischen Staaten und Völkern ein höheres Maß an Solidarität gefordert werden können, wenn man an ihren eigenen aggressiven und imperialistischen Nationalismus sowie an dessen Folgen für die Welt im 19. und 20. Jahrhundert denkt. Das ist nicht im Sinne rechtlich einklagbarer Verpflichtungen gemeint, sondern als politische Bereitschaft, die der Einsicht in geschichtliche Zusammenhänge entspringt.

Freilich muß nüchtern in Rechnung gestellt werden, daß auch auf längere Sicht die Staaten die Hauptakteure der internationalen Politik bleiben, mit ihrem Recht, ihre Interessen als wohlverstandene zu definieren und wirksam wahrzunehmen.

Eben deshalb ist es aber um so notwendiger, ein Minimum an internationaler Solidarität nicht nur vom jeweiligen Wohlwollen oder von der situationsbedingten Interessendefinition der Akteure zu erwarten, sondern sie auch rechtlich und institu-tionell dauerhaft zu sichern. Regional ist der Prozeß partieller, auch institutionell gesicherter Integration fast überall im Gang. Am weitesten ist er in Europa vorangekommen. Aber auch hier löst er keineswegs den Nationalstaat auf. Es scheint mir deshalb eine krasse Fehlinterpretation, wenn Sven Papcke der deutschen Europapolitik „von Konrad Adenauer über Willy Brandt bis zu Helmut Kohl“ die Utopie einer „kontinentalen Identität ohne die Zwischenstufe des Nationalstaates“ unterstellt Zwischen dem „Europa der Vaterländer“ und einem in weiter Zukunft vielleicht einmal möglichen „Vaterland Europa“ gibt es viele denkbare Zwischenstufen, aber keine ist vorstellbar ohne die europäischen Nationen.

Die Aufgabe des Nationalstaates, eine Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen zu vereinen muß analog noch einmal auf der zwischenstaatlichen Ebene geleistet werden, nämlich als Kooperation der Staaten nicht nur nach Gesetzen moralfreien Machtkalküls, sondern zunehmend in ethisch begründbaren rechtlich-institutionellen Formen. Freilich bleiben Güterabwägung in Ziel-konflikten, Verhandlungen in der Konkurrenz der Interessen und Kompromißsuche unabdingbar die politischen Formen, in denen auch bei enger institutionalisierter Kooperation der Staaten ethisch Wünschbares angestrebt werden muß. Internationale Politik ist um des Überlebens und der Sicherheit aller Nationen willen darauf angewiesen, die Nationalstaaten zu begreifen als prinzipiell gleichberechtigte und konstitutive Mitglieder einer Welt-Staatengemeinschaft

Besonders ist vor der Illusion zu warnen, der universale Anspruch der Menschenrechte könne in einer Welt von Staaten auch unmittelbar universal wirksam gemacht werden. Wo Menschenrechte heute wirksam geltend gemacht werden können, handelt es sich um abgegrenzte Rechtsräume freiheitlich geordneter Staaten Darüber hinaus gibt es nur die mühsame Kooperation zwischen Staaten bis hin zu vorsichtigen Versuchen der Vereinten Nationen, ein humanitäres Interventionsrecht zu entwickeln und zu praktizieren. Die damit verbundenen Probleme lassen noch auf längere Sicht diesbezüglich keine großen Erfolge erwarten.

Deshalb kann auch kein Staat zu totaler Öffnung seiner Grenzen zugunsten von Flüchtlingen und Verfolgten verpflichtet werden. Er wäre zur Erfüllung einer solchen Pflicht nicht in der Lage. Jeder Staat kann nur eine begrenzte und begrenzbare Verantwortung wahrnehmen. Deshalb muß er das Recht haben, über Maß und Formen von Zuwanderung, Einwanderung und Einbürgerung selbst zu bestimmen, nach Maßgabe seiner Möglichkeiten, die freilich nicht nationalistisch verengt definiert werden dürften, sondern mit Blick auf die Weltlage, auf Flüchtlingselend und auf die Not der politisch Verfolgten. Ebenso müssen die Menschenrechte der bei uns wohnenden und tätigen Bürger anderer Staaten geachtet und geschützt werden. Die Forderung allerdings, alle „Deutschenrechte“ unserer Verfassung in Rechte für jedermann, also auch für Ausländer, umzuwandeln, scheint mir nicht überzeugend. Der Weg zum Erwerb dieser Rechte ist der der Einbürgerung, den man selbstverständlich erleichtern kann, heute wohl auch erleichtern muß; aber wer ihn ersetzen will, stellt das Staatsvolk als abgrenzbare Rechtsgemeinschaft und als Träger der Souveränität in Frage.

Das Anliegen der Kommunitaristen, daß nämlich die notwendige Solidarität des Sozialwesens Mensch ihre Motive und ihren Entfaltungsraum in erfahrbaren Sozialbezügen finde, darf keine Antwort in nationaler Engführung finden. Es muß vielmehr aufgefangen werden in einer Vielfalt kleiner und mittlerer Gemeinschaften eigenen Rechtes, das heißt aber in gestufter, kommunal, regional und föderalistisch geordneter Solidarität. Eine universal konzipierte Menschenrechtsethik impliziert gemäß der oben beschriebenen Polarität als ihren Gegenpol die kulturell-geschichtliche Eigenart der Menschengruppen, der Ethnien und der Völker sowie das Recht der einzelnen auf kulturelle Identität, auf Beheimatung in der eigenen Sprache, Kultur und Tradition. Die Nation ist darin eine wichtige Bezugsebene; sie hat als Ort der Verwirklichung demokratischer Freiheiten ihren Sinn nicht verloren Aber sie darf nicht verabsolutiert, muß vielmehr in der heutigen Welt zunehmend relativiert werden. Dazu sei Michael Walzer, ein anderer Wortführer der amerikanischen Communitarians, zitiert: „Die zivile Gesellschaft selbst wird von Gruppen aufrecht erhalten, die viel kleiner als der Demos, die Arbeiterklasse, die Masse der Konsumenten oder die Nation sind. Sie alle werden notwendigerweise pluralisiert, wenn sie in das Netzwerk eingeschlossen werden. Sie werden Teil jener Welt von Familien, Freunden, Genossen und Kollegen, in der Menschen miteinander verbunden und füreinander verant-wörtlich sind. Ohne daß Menschen miteinander verbunden und füreinander verantwortlich sind, sind , Freiheit und Gleichheit 1 weitaus weniger anziehend, als wir früher glaubten... (Die zivile Gesellschaft; d. Verf.) erfordert eine neue Empfänglichkeit für das, was lokal, spezifisch und kontingent ist, und vor allem ein neues Bewußtsein davon (um einen berühmten Satz zu variieren), daß das gute Leben irn Detail liegt.“

Universale Ethik ist ein spätes Gebilde europäischen Denkens („Die Eule der Minerva beginnt ihren Flug am Abend...“). Wir können und dürfen sie nicht aufgeben, wenn wir uns nicht selbst als Europäer aufgeben wollen. Aber sie braucht die konkrete Gestalt eines wirksamen Ethos in Kultur und Tradition umschreibbarer und erfahrbarer Gemeinschaften. Pluralistische Gesellschaft, nur noch verstanden und erfahren als Summe von miteinander konkurrierenden Individuen und Gruppen, erfüllt dieses Erfordernis in der Tat nicht. Damit legen die Kommunitaristen den Finger auf eine gefährliche Wunde. Pluralistische Gesellschaft, in Freiheit geordnet, enthält aber zugleich die Chance, ethisch tragfähige Gemeinschaften in Vielfalt hervorzubringen, in denen Gemeinsinn und Solidarität wachsen können. Gemeinsinn und Solidarität müssen sich auch auf den gemeinsamen Staat richten, aber dieser ist als freiheitliches Gemeinwesen zu begreifen und zu gestalten, und deshalb heißt die ihm entsprechende Bürgertugend nicht mehr Nationalismus, sondern Verfassungspatriotismus. Im Vergleich zu dem einleitend skizzierten Streit zwischen „Rechten“ und „Linken“ über die Nation wollen vorstehende Überlegungen auch verdeutlichen, daß eine ethisch verantwortbare Politik der „Mitte“ sich von den Extremen durch den Versuch unterscheidet, in strukturell gegebenen und prinzipiell unüberwindbaren Zielkonflikten die jeweils mögliche Balance und Optimierung der in Spannung zueinander stehenden Interessen und Werte zu suchen. Der mittlere Weg ist keineswegs der bequemere, sondern der schwierigere. Aber nur er führt weiter. Für politischen Streit bleibt dabei, auch ohne Extrempositionen, noch viel Raum; denn der Weg muß immer erst gefunden werden.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Ich verzichte-in dieser Einleitung weitgehend auf Einzel-belege. Die Zusammenstellung der Argumente stützt sich auf zahlreiche Aufsätze in Zeitungen und Zeitschriften des letzten Jahres sowie auf folgende Sammelbände: Michael Jeismann/Henning Ritter (Hrsg.), Grenzfälle. Über neuen und alten Nationalismus, Leipzig 1993; Bernd Estel/Tilman Mayer (Hrsg.), Das Prinzip Nation in modernen Gesellschaften, Opladen 1994; Heimo Schwilk/Ulrich Schacht (Hrsg.), Die selbstbewußte Nation, Frankfurt am Main-Berlin 1994.

  2. Karlheinz Weißmanns Hinweis auf die „Renaissance der Geopolitik", in: H. Schwilk/U. Schacht (Hrsg.) (Anm. 1), S. 319, läßt offen, ob geographische Faktoren als Bedingungen oder als Determinanten für Politik zu denken sind. Der Beitrag von Karl-Eckhard Hahn im gleichen Band, S. 327ff., unterwirft die geographischen Faktoren zwar einem politischen „Gestaltungswillen“ und findet in ihnen Argumente für die europäische Integration; aber das ist nicht gerade neu. Zur Frage der Westbindung und der Rolle Deutschlands vgl. auch Rainer Zitelmann/Karlheinz Weißmann/Michael »Grossheim (Hrsg.), West-Bindung. Chancen und Risiken für Deutschland, Frankfurt am Main-Berlin 1993.

  3. Karlheinz Weißmann, Herausforderung und Entscheidung über einen politischen Verismus für Deutschland, in: H. Schwilk/U. Schacht (Hrsg.) (Anm. 1), S. 324.

  4. Vgl. Frank Schirrmacher, Rad der Wiederkehr, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 10. 6. 1994; r spricht von „Rollenprosa“ und von „Politik als Roman“.

  5. Vgl. Peter Glotz, Mit härteren Bandagen, in: FAZ vom 20. 11. 1992; Wolfgang Schäuble, Der Platz in der Mitte, in: FAZ vom 6. 7. 1994.

  6. Vgl. Wolf Jobst Siedler, Unzeitgemäße Denker, in: FAZ vom 16. 8. 1994; er nennt den Rechts-Links-Streit „archäologisch“ und betont, konservativ sei nicht rechts. Diese fragwürdige Gleichsetzung scheint mir auch vorzuliegen, wenn Botho Strauß’ „Anschwellender Bocksgesang“ als Fanfare einer sich neu formierenden Rechten begrüßt oder beklagt wird. Die in diesem Essay mit dichterischer Wortgewalt und Übertreibung formulierte konservative Kulturkritik hat manches gemeinsam mit der früheren Kritik der „Kulturindustrie“ von links. Eine handlungsorientierende politische Prosa ist sie nicht.

  7. Rudolf Stichweh, Nation und Weltgesellschaft, in: B. Estel/T. Mayer (Hrsg.) (Anm. 1), S. 83. Karlheinz Weiß-mann plädiert für einen neuen „Verismus“ als die künftige politische Idee derer, die sich gegen die bisher in Deutschland herrschende Mentalität mit einem neuen Gestaltungswillen auflehnen sollen. Auch dieser Begriff bleibt bei ihm in einer fragwürdigen Schwebe. Sofern er Orientierung am Verum, also am Wahren meint, wäre er bei Weißmann jedenfalls ein halbierter Verismus, weil ihm die ethische Dimension fehlt. Sie scheint ersetzt durch eine tragisch-dezisionistische Einstellung. Auch das ist nicht neu.

  8. Erika Steinbach, Leserbrief in FAZ vom 5. 5. 1994.

  9. Wolfgang Lipp, in: B. Estel/T. Mayers (Hrsg.) (Anm. 1), S. 101, spricht vom „Prokrustesbett eines Verfassungspatriotismus“, in welches man die Nation gepreßt habe. Begründet wird diese Wertung dort nicht, genannt wird nur Habermas. In dem Diskussionsband zu dem Konzept, auf den Lipp nur hinweist, hätte er die Korrektur seiner Fehldeutung finden können: Günther C. Behrmann/Siegfried Schiele (Hrsg.), Verfassungspatriotismus als Ziel politischer Bildung?, Schwalbach/Ts. 1993.

  10. Vgl. Dolf Sternberger, Begriff des Vaterlandes (1974), in: Schriften, Bd. IV, Frankfurt am Main 1980, S. llff.; ders., Verfassungspatriotismus (1979), in: Schriften, Bd. X, Frankfurt am Main 1980, S. 17 ff.

  11. Vgl. Bernhard Sutor, Verfassungspatriotismus -Brücke zwischen Nationbewußtsein und universaler politischer Ethik?, in: G. C. Behrmann/S. Schiele (Anm. 9), S. 36ff.

  12. Vgl. Gesine Schwan, Brauchen wir wirklich eine neue Rechte?, in: Rheinischer Merkur vom 18. 11. 1994.

  13. Der Begriff mag eine „Kopfgeburt“ sein, wie Ralf Dahrendorf meint, obwohl er ihm einleuchtet (vgl. dazu Ralf Dahrendorf, Die Zukunft des Nationalstaates, in: Merkur, 48 [1994] 9/10, S. 757). Das haben Begriffe so an sich, sofern sie etwas rational begreifbar machen. Die Sache selbst ist hingegen keineswegs einleuchtend. Auch Dahrendorf beschreibt im weiteren die wünschenswerte „Tiefenbindung“ zum Nationalstaat als demokratisch-rechtsstaatlich beherrschte Form von Vaterlandsliebe.

  14. Vgl. Sven Papcke, Nationalismus -ein Alptraum?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 42/94, S. 16. Papckes Plädoyer für einen Patriotismus als Verantwortungsgefühl für das Gemeinwohl der eigenen Nation kann ich zustimmen. Allerdings spielt er in seinem Beitrag m. E. die nationale und die übernationale Orientierung gegeneinander aus, während es doch um eine Balance gehen muß.

  15. Vgl. Rudolf Stichweh, Nation und Weltgesellschaft, in: B. Estel/T. Mayer (Hrsg.) (Anm. 1), S. 87.

  16. Vgl. R. Dahrendorf (Anm. 13), S. 757 und 760; W. Schäuble (Anm. 5).

  17. Karlheinz Weißmann verfehlt diese Problematik und Aufgabe in seiner mit einem Carl-Schmitt-Zitat („Wer Menschheit sagt, will betrügen“) garnierten Polemik gegen die Redeweise von der „einen Welt“ und gegen das „Pathos des Universalen“. Vgl.ders. (Anm. 2), S. 314f. Richtig sagt er später, es sei ausgeschlossen, daß der Globus in einen konfliktfreien Zustand übergehe, und deshalb bedürfe es im Welt-Staatensystem der Sicherungsformen für die Hegung von Konflikten (S. 319). Das ist gewiß keine neue Erkenntnis, aber die dem folgende Beschwörung von Macht-und Geopolitik verfehlt das Problem ebenso wie die Berufung auf den „sozialdarwinistisch gestimmten“ Rudolf Augstein. Die auf Hans Morgenthau zurückgehende Theorie des Realismus internationaler Politik hat demgegenüber schon vor 30 Jahren die Aufgabe beschrieben, Macht, Interessen und Moral jeweils zum Ausgleich zu bringen.

  18. Vgl. Axel Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, Frankfurt am Main 1993.

  19. Vgl. Walter Reese-Schäfer, Kommunitärer Gemeinsinn und liberale Demokratie, in: Gegenwartskunde, (1993) 3, S. 305 ff.

  20. Alasdair McIntyre, Der Verlust der Tugend, Frankfurt am Main 1987, S. 336.

  21. Vgl. Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt am Main 1989.

  22. Die Stimme der Gemeinschaft hörbar machen, in: FAZ vom 8. 3. 1994.

  23. Vgl. die subtile Erörterung von Rainer Forst, Kommunitarismus und Liberalismus -Stationen einer Debatte, in: A. Honneth (Hrsg.) (Anm. 18), S. 181 ff.

  24. Emst-Wolfgang Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt am Main 1991, S. 111. Dort dann auch der viel-zitierte Satz zu der deutschen Grundwertediskussion: Die Demokratie lebe von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren könne.

  25. Tilman Mayer zitiert McIntyres These, Loyalität zur Gemeinschaft sei Bedingung der Moral. Deshalb seien Patriotismus und verwandte Loyalitäten zentrale Tugenden. Vgl.ders., Kommunitarismus, Patriotismus und das nationale Projekt, in: B. Estel/ders. (Hrsg.) (Anm. 1), S. 123. Es bleibt dort aber unklar, ob von individueller, letztlich im Gewissen zu verantwortender Moral die Rede ist oder von der Sozial-moral der geltenden Sitten und Konventionen. Auch wir plädieren für „republikanischen Patriotismus“, aber er kann, so unentbehrlich er für den Zusammenhalt des freien Gemeinwesens sein mag, nicht zur Instanz über dem personalen Gewissen gemacht werden.

  26. Vor dem Hintergrund europäischer Ethik-Traditionen möchte ich erhebliche Zweifel anmelden an Tilman Mayers These, die Nation sei die „größtmögliche Gemeinschaft, der der Mensch identitär angehören“ könne (ebd., S. 120). Zum analogen Gebrauch des Identitätsbegriffs haben wir oben schon Kritik angemeldet. Wenn Mayer seine These untermauert mit dem Hinweis, auch Zivilisationen und Religionen stifteten zwar Identität, seien aber keine die Nation ersetzenden politischen Einheiten, dann wäre demgegenüber erneut auf die Unterscheidung zwischen Staats-und Kulturnation hinzuweisen und nach dem Verhältnis von Nation und Politik zu fragen. Gegen die Versuchung, der Politik die Aufgabe sinnstiftender Vergemeinschaftung zuzuschreiben, sollten wir am Ende des 20. Jahrhunderts in Europa gefeit sein.

  27. Vgl. R. Dahrendorfs Hinweis auf Notwendigkeit und Vorteilhaftigkeit weltweiter Regelungen in der „Weltwirtschaft“ (Anm. 13, S. 756).

  28. S. Papcke (Anm. 14), S. 13.

  29. So der Idealfall des Nationalstaates nach Sven Papcke, der sich auf Kant beruft.

  30. Vgl. R. Stichweh (Anm. 15), S. 83ff. Demgegenüber überzieht Tilman Mayer m. E. das „Prinzip Nation“, wenn er sagt (Anm. 25, S. 125), es habe sich im Weltmaßstab durchgesetzt. Das ist zwar richtig, aber in dem Maße, wie es sich durchgesetzt hat, wird zugleich deutlich, daß es nicht das einzige Prinzip internationaler Politik sein kann.

  31. Vgl. R. Dahrendorf (Anm. 13), S. 755: Der Nationalstaat ist „nicht Menschheitsideal, wohl aber reale Freiheit durch Recht“.

  32. So Rudolf von Thadden, Die ungeliebte Nation, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 42/94, S. 22.

  33. Michael Walzer, Zivile Gesellschaft und amerikanische Demokratie, Berlin 1992, S. 96f.

Weitere Inhalte

Bernhard Sutor, Dr. phil., geb. 1930; o. Professor für Politikwissenschaft (Didaktik der Sozialkunde und Christliche Soziallehre) an der Katholischen Universität Eichstätt. Veröffentlichungen u. a.: Politik und Philosophie, Mainz 1966; Didaktik des politischen Unterrichts, Paderborn 19732; Grundgesetz und politische Bildung, Hannover-Mainz 1976; Neue Grundlegung politischer Bildung, 2 Bände, Paderborn 1984; (Hrsg.) Politik. Lehr-und Arbeitsbuch, Paderborn 19872; dazu ein Lehrerhandbuch Politik, Paderborn 1989; Politische Ethik, Paderborn 1991; Politik. Ein Studienbuch zur politischen Bildung, Paderborn 1994; Aufsätze und Beiträge zur politischen Didaktik, zur politischen Philosophie und Ethik.