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Sind die Grenzen des Sozialstaates überschritten? Zur Diskussion über die Reformperspektiven der Sozialpolitik | APuZ 25-26/1995 | bpb.de

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APuZ 25-26/1995 Ausstieg aus dem Sozialstaat? Gefährdungen der Gesellschaft durch weltweite Umbrüche Sind die Grenzen des Sozialstaates überschritten? Zur Diskussion über die Reformperspektiven der Sozialpolitik Umbau des Sozialstaates unter Sparzwang. Eine Herausforderung für Politik und Gesellschaft Mehr Markt in die Freie Wohlfahrt? Zum Problem marktwirtschaftlicher Bedingungen in der Freien Wohlfahrtspflege

Sind die Grenzen des Sozialstaates überschritten? Zur Diskussion über die Reformperspektiven der Sozialpolitik

Gerhard Bäcker

/ 32 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die aktuelle Diskussion über den Umbau des Sozialstaates wird durch die These bestimmt, das gegenwärtige Sozialleistungssystem sei nicht mehr finanzierbar, gefährde die Leistungs-und Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft und müsse insofern einer grundlegenden Revision unterzogen werden. Der Beitrag überprüft diese These und kommt zu dem Ergebnis, daß sich unter dem Einfluß der deutschen Einigung, der andauernden Arbeitsmarktkrise, der Globalisierung des Wettbewerbs und des demographischen Umbruchs zwar die ökonomischen, finanziellen und politischen Rahmenbedingungen für sozialstaatliches Handeln verschlechtert haben, daß aber die Auffassung, der Sozialstaat selber sei der Auslöser dieser Schwierigkeiten, nicht zu halten ist. Modelle einer radikalen Umstellung des bestehenden Sozialleistungssystems und einer Privatisierung sozialer Risiken gefährden nicht nur den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft und beinhalten damit unübersehbare politische Gefahren, sie sind auch untaugliche Mittel zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und zur Sicherung der wirtschaftlichen Leistungskraft einer entwickelten Gesellschaft. Das Plädoyer für ein Festhalten am Sozialstaatsprinzip und seinen bewährten Strukturelementen kann gleichwohl nicht heißen, auf Reformen zu verzichten. Die Bewahrung des Sozialstaates setzt seine Anpassung an die neuen Herausforderungen vielmehr voraus. Angesichts strukturell knapper Kassen bedeutet dies, sich über Prioritäten und Nachrangigkeiten im Sozialbudget zu verständigen, um über Umschichtungen Finanzierungsspielraum für notwendige Reformen zu gewinnen.

I. Einführung: Umbau oder Abbau des Sozialstaates?

Wer sich heutzutage in der Debatte über die Zukunft des Sozialstaates Gehör verschaffen will, redet von einem notwendigen „Umbau“ der Sozialpolitik. Auffällig ist dabei, daß diese nach allen Seiten offene, inhaltlich nicht näher bestimmte Forderung ihre Begründung in aller Regel nicht aus den wachsenden sozialen Problemen in unserer Gesellschaft und dem Bemühen um eine Ausarbeitung angemessener sozialpolitischer Strategien zur Problembewältigung oder -linderung bezieht, sondern aus sozialpolitikexternen Motiven. Nicht die Sorge um die Bewältigung von sozialer Ausgrenzung und Spaltung, von Armut, (Langzeit-) Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder Frühinvalidität beherrscht die Diskussion, sondern der finanz-und wirtschaftspolitische Argumentationszusammenhang: Der Sozialstaat soll umgebaut werden, weil er -so die gängige These -nicht mehr finanzierbar sei, Staat und Wirtschaft überfordere, zum eigentlichen Verursacher für die Wettbewerbsschwäche des Standorts Deutschland geworden sei und (mit) verantwortlich sei für die wachsende Arbeitslosigkeit. Die Grenzen des Sozialstaates seien nunmehr endgültig erreicht, ja sogar überschritten, notwendig sei eine radikale Abkehr von der „Anspruchsinflation“, dem „massenhaften Mißbrauch“, der „Verteilung von Wohltaten nach dem Gießkannenprinzip“, der „Vollkaskoabsicherung“ -oder wie auch immer die Schlagwörter lauten, die in den Medien tagtäglich Resonanz finden.

Schaut man sich die Vorschläge und Forderungen zum Umbau der Sozialpolitik im einzelnen an, wird schnell deutlich, daß die Chiffre „Umbau“ im wesentlichen auf Abbau zielt: Das soziale Netz soll mehr oder minder radikal ausgedünnt und auf eine Basisversorgung reduziert werden, um die öffentlichen Ausgaben und Abgaben herunterzudrücken und privater wie privatwirtschaftlicher Vorsorge und Absicherung bei sozialen Risiken und Leistungen Vorrang zu gewähren Die Diskussionen über die Einführung einer „Grundrente“, die die lohn-und beitragsorientierte Rentenversicherung ersetzen soll, eines „Bürgergeldes“, das das Steuersystem und alle Sozialtransfers einschließlich der sozialen Ausgleichsleistungen in der Sozialversicherung zusammenfaßt, einer weitgehenden Reduzierung der gesetzlichen Krankenversicherung, die nur noch für die Grundversorgung zuständig ist und den sozialen Ausgleich ausklammert, sowie einer forcierten Deregulierung des Arbeits-und Tarifrechts zeigen, daß es hierbei nicht um einzelne Einschnitte und Leistungskürzungen geht, sondern bereits um eine Total-revision des historisch gewachsenen und erstrittenen, nunmehr aber für „unmodern“ erklärten Sozialstaatsmodells.

Nun könnte man darauf verweisen, daß die Grundsatzkritik an der Sozialpolitik so alt ist wie die Sozialpolitik selber, die Ausgestaltung des Sozialstaates konstant begleitet und in wirtschaftlichen Krisenphasen einen jeweiligen Aufschwung erfahren hat und daß dennoch „die Karawane weitergezogen ist“. Wird also nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird? Kommt die Sozialpolitik in ein ruhigeres Fahrwasser, wenn die Konjunktur wieder anzieht? Wird es dann möglich sein, eine sachorientierte Reformpolitik zu betreiben, um die sozialen Sicherungssysteme auf die neuen Herausforderungen und Probleme einzustellen?

II. „Die Grenzen der Sozialpolitik sind überschritten“ Ein Überblick über die Agumente

Die Vehemenz, Breite und Dauerhaftigkeit der Grundsatzkritik am Sozialstaat, die zudem nicht nur auf die Bundesrepublik beschränkt ist, sondern gleichlautend in allen westeuropäischen Ländern geführt wird, weist darauf hin, daß die Debatte eine neue Qualität erreicht hat. Unter dem Eindruck des Endes der Systemkonkurrenz, der Öffnung Mittel-und Osteuropas sowie der Globalisierung der Waren-, Dienstleistungs-und der Geld-und Kapitalmärkte haben sich nicht nur die ökonomischen Rahmenbedingungen, sondern auch die politische Konstellation und das gesellschaftliche Klima verändert. Die Auffassung, daß es mit der Sozialpolitik „nicht mehr so weitergehe“, ist zur meinungsbestimmenden ideologischen Position geworden, der kaum noch widersprochen wird. Die für die Geschichte der Bundesrepublik charakteristische breite Akzeptanz des Sozialstaates -des Modells der „sozialen Marktwirtschaft“ -schwindet. So scheint heute schon Mut dazu zu gehören, das soziale Sicherungssystem in seinen Grundprinzipien und seiner Reformfähigkeit zu verteidigen und darauf zu verweisen, daß nicht all das, was sich als neu und modern ausgibt, wirklich als Fortschritt zu werten ist.

Wer dieser Grundstimmung entgegentritt und trotz schwieriger ökonomischer und fiskalpolitischer Verhältnisse das gegenwärtige soziale Sicherungssystem in seinen Grundstrukturen für bewahrenswert und zugleich reformfähig erklärt, darf nicht nur politisch-moralisch argumentieren und auf die unverzichtbaren gesellschaftlichen Grundentscheidungen und Voraussetzungen für eine soziale Demokratie verweisen *sondern muß sich ernsthaft mit den vorgenannten Argumenten auseinandersetzen. Denn wenn es stimmen sollte, daß lediglich durch eine Rückführung und einen grundlegenden Umbau der Sozialpolitik die Finanzkrise der öffentlichen Haushalte zu beseitigen sei, die internationale Wettbewerbsfähigkeit und die Wachstumskräfte der Wirtschaft gestärkt werden und in der Folge auch die Arbeitslosigkeit abgebaut werden könnte, sähe es in der Tat schlecht aus mit der Zukunft des Sozialstaates.

Meine folgenden Ausführungen werden sich deshalb auf die Frage konzentrieren, ob die viel beschworenen Grenzen des Sozialstaates nunmehr endgültig überschritten sind. Diese Schwerpunkt-setzung erlaubt es nicht, eine Detaildiskussion über notwendige Reformen in den einzelnen sozialpolitischen Leistungsbereichen zu führen. Angesichts des knappen Raums können hier nur grundsätzliche Positionen aufgezeigt werden.

Versucht man die Kritik am Sozialstaat zu systematisieren, so lassen sich folgende Argumente benennen: Das „ausgeuferte“ soziale System -überlaste die öffentlichen Finanzen und habe zur Verschuldenskrise und dem Höchststand in der Abgabenbelastung beigetragen; -kollabiere, wenn -wie bereits jetzt absehbar -in den nächsten Jahren infolge des demographischen Wandels eine wachsende Alterslast zu finanzieren sei; -belaste die Leistungsträger durch immer höhere Steuern und Beiträge und lähme deren unverzichtbare Innovations-und Leistungsbereitschaft; -führe durch sein „generöses“ Absicherungsniveau dazu, daß kein ausreichender Anreiz mehr bestehe, Arbeitskraft anzubieten und Arbeit aufzunehmen -ohne Arbeit lasse es sich besser als mit Arbeit leben; der Sozialstaat schaffe damit das Problem selbst, das er zu lösen vorgebe, indem er die Betroffenen in eine Art „Armutsfalle“ stecke; -belaste durch die „unerträglich“ hohe Abgabenlast die Unternehmen, verteure die Arbeitskraft (Lohnnebenkosten) und gefährde damit die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft; -zwinge die Bürger in ein kollektives System, bevormunde und entmündige sie. Dieser „Kollektivismus“ entspreche angesichts des forcierten ökonomischen und sozialen Wandels (Wohlstands-, Einkommens-und Vermögens-zuwachs in breiten sozialen Schichten; wachsende Fähigkeit und Bereitschaft von Bürgern zur Selbsthilfe und Eigenversorge; Trend zur Individualisierung und Pluralisierung von Lebensformen) aber schon längst nicht mehr der gesellschaftlichen Realität und den Bedürfnis­sen einer selbstbewußten und eigenverantwortlich handelnden Bevölkerung.

III. Finanzkrise, Arbeitslosigkeit und deutsche Einheit

Was ist dran an der These, der expansive Sozialstaat sei verantwortlich für die Finanzkrise der öffentlichen und Sozialversicherungshaushalte sowie für die historische Höchstbelastung durch öffentliche Abgaben? Ein Blick auf die sozialpolitische Materie läßt schnell erkennen, daß von einem Trend zu einer exzessiven Leistungsausweitung der Sozialpolitik („Verteilung von Wohltaten nach dem Gießkannenprinzip“) in der Realität keine Rede sein kann. Bereits seit Anfang der achtziger Jahre bestimmen Restriktionsmaßnahmen in nahezu allen Funktions-und Leistungsfeldern die Situation der Sozialpolitik. Von einer allumfassenden Versorgung, die jedes Lebensrisiko absichert und jeden Schaden ausgleicht („Vollversorgung von der Wiege bis zur Bahre“), ist der Sozialstaat weiter denn je entfernt (was partielle Verbesserungen vor allem im Bereich der Pflege und bestimmter Leistungen in der Familienpolitik nicht ausschließt). So liegt denn auch die Sozialleistungsquote in den alten Bundesländern mit 0, 3 Prozent (1993) deutlich unter dem Durchschnittswert der achtziger Jahre 3. Daraus folgt, daß die aktuellen Finanzierungsprobleme des Staates insgesamt und des Sozialstaats im besonderen eine Folge externer Faktoren sind, nämlich der Finanzierung der deutschen Einheit sowie der Arbeitsmarktkrise: -Der für die Überwindung der Transformationskrise Ostdeutschlands und zur Herstellung der sozialen Einheit Deutschlands unumgängliche Transferbedarf von West nach Ost hat eine Größenordnung von etwa 6 Prozent des westdeutschen Bruttoinlandsprodukts (BIP) erreicht und belastet die Haushalte aller Gebietskörperschaften mit der Folge wachsender Finanzierungsdefizite und steigender direkter wie indirekter Steuern. Verantwortlich für den Finanzierungsbedarf in den neuen Ländern ist in erster Linie die massive Arbeitsplatzlücke sowie das Mißverhältnis zwischen ökonomischer Leistungsfähigkeit und der politisch unvermeidbaren Notwendigkeit, mit der Vereinigung das Lebens-und Einkommensniveau der ostdeut-sehen Bevölkerung möglichst rasch dem Westniveau anzunähern. Unter diesen Konstellationen errechnet sich für Ostdeutschland eine historisch unvergleichlich hohe Sozialleistungsquote von etwa 70 Prozent (!). Da aber weder ein rascher Abbau der Massenarbeitslosigkeit zu erwarten ist, noch eine schnelle Anpassung des Produktionsund Produktivitätsniveaus des Ostens an das Westniveau möglich ist, werden sowohl die hohe Sozialleistungsquote Ost als auch der Transferbedarf (mit einem nur langsam sinkenden Verlauf) über einen mittleren Zeitraum hinaus anhalten.

Belastet werden durch die West-Ost-Transfers vor allem die Sozialversicherungsträger und beitrags-zahlenden Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Allein in den Jahren 1992 und 1993 beliefen sich die beitragsfinanzierten Überweisungen der Bundesanstalt für Arbeit und der Rentenversicherungsträger in die neuen Bundesländer auf rd. 52 Mrd. DM Das Problem ist dabei, daß eine Beitragsfinanzierung mit ihrer lediglich auf einen Teil der Erwerbstätigen begrenzten Belastungswirkung bei allgemeinen gesellschaftspolitischen Aufgaben verteilungspolitisch unvertretbar ist. Eine sachlich gerechtfertigte Steuerfinanzierung dieser Ausgaben unterstellt, hätte der zusammengefaßte Beitragssatz zur Sozialversicherung um etwa zwei Punkte reduziert werden können! Unter dem Einfluß dieser spezifischen Situation in Ostdeutschland erreicht die Sozialleistungsquote in Gesamtdeutschland einen Wert von rund 34 Prozent (1993). Aber selbst damit wird lediglich ein Niveau erreicht, das 1975 (zu Zeiten der Vollbeschäftigung und einer erheblich geringeren Zahl von Rentenempfängern sowie Sozialhilfebeziehern!) in der alten Bundesrepublik schon einmal erreicht und finanziert wurde. -Die angespannte Arbeitsmarktlage ist gleichermaßen die maßgebende Erklärungsvariable zum Verständnis der „internen“ Finanzierungsprobleme der Sozialpolitik in Westdeutschland. Der Einfluß der Arbeitslosigkeit auf die Finanzlage des Sozialstaats ist deswegen so gravierend, weil ein niedriger Beschäftigungsstand Ausgaben-und Einnahmenseite gleichermaßen negativ berührt. Nach Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt-und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit (BfA) betrugen 1993 die gesamtfiskalischen direkten und indirekten Kosten der Arbeitslosigkeit mehr als 116 Mrd. DM. Die BfA trägt daran mit einem Anteil von knapp 45 Prozent die höchste Last, aber auch der Bund trägt rd. 24 Prozent und die Rentenversicherung immerhin über 13 Pro­zent. Länder, Gemeinden und Krankenversicherung werden mit Anteilen von 8, 5 Prozent, 5, 7 Prozent und 3, 7 Prozent belastet

Ein erstes Resümee: Die Rede von der Finanzierungskrise des Sozialstaates verdeckt, daß der Kern des fiskalischen Problems im Zusammentreffen von Arbeitsmarktkrise und Transformationskrise Ostdeutschlands steckt. Es ist unredlich, den „Sozialstaat“ für die hohen Steuer-und Beitrags-abzüge verantwortlich zu machen, über die vorgelagerten Probleme aber nicht zu reden. In der politischen Diskussion müssen sich -gleichsam in einer Umkehrung von Ursache und Wirkung -Sozialstaat und Sozialausgaben rechtfertigen, nicht aber die leistungsverursachenden Probleme von Arbeitsplatzvernichtung, Arbeitslosigkeit, Frühverrentung und Frühinvalidität, die die Sozialausgaben erst erforderlich machen. Begründungsbedürftig erscheint die Finanzierung der Arbeitslosigkeit, die Sicherung des Lebensunterhalts der Arbeitslosen, nicht aber der Tatbestand der Arbeitslosigkeit.

Daraus folgt für die Zukunfts-und Finanzierungsfähigkeit des Sozialstaates: Zum Dreh-und Angelpunkt wird die Frage, ob die Politik insgesamt bereit und in der Lage ist, dem Abbau der Arbeitslosigkeit einen Vorrang in der wirtschafts-, arbeitsmarkt-und arbeitszeitpolitischen Prioritätenliste zu geben. Wenn dies nicht geschieht und die Möglichkeiten zur Schaffung und Sicherung von Arbeitsplätzen -nämlich durch eine aktive Arbeitsmarktpolitik, durch öffentlich geförderte Beschäftigung, durch vielfältige Formen tarifvertraglicher und individueller Arbeitszeitverkürzung in großen Schritten auch ohne Lohnausgleich, durch eine Wachstums-und beschäftigungsfördernde Haushalts-, Struktur-und Industriepolitik -unausgeschöpft bleiben und Politik wie Gesellschaft sich auf ein Arrangement mit der Arbeitslosigkeit einlassen, wird der Sozialstaat strukturell überfordert. Der Druck auf den Abbau sozialer Standards wird sich dann weiter verstärken.

IV. Zusammenbruch der Sozialversicherung durch den demographischen Umbruch?

Die Diskussion um die längerfristige Finanzierbarkeit des Sozialstaates -und hier insbesondere der Rentenversicherung -bezieht sich auf die befürchteten Konsequenzen der nach den Modellrechnungen zu erwartenden Verschiebungen in der Alters-struktur der Bevölkerung: Immer mehr älteren Menschen stehen immer weniger Menschen im mittleren Lebensalter gegenüber, was zu einer Explosion der Beitragssätze oder einer radikalen Senkung des Rentenniveaus führen müsse und insofern eine private Absicherung, die durch eine Grundrente nach unten hin fundiert wird, notwendig mache.

Derartige Horrorszenarien vernachlässigen allerdings, daß für die Finanzierbarkeit der Rentenversicherung demographische Quoten weder die einzigen noch die wichtigsten Bestimmungsgrößen sind. Aus dem Blickfeld gerät, -daß die Verschiebungen in der Altersstruktur der Bevölkerung bei allen Altersversorgungssystemen gleichartige Probleme verursachen, auch und gerade bei der kapitalgedeckten Privatversicherung sowie der Vermögensbildung. Es ist ein Irrglaube, anzunehmen, eine über das Kapitaldekkungsverfahren finanzierte Altersvorsorge könne sich vom demographischen Prozeß abkoppeln und für die gesamte Bevölkerung reale Ansprüche von der Gegenwart in die Zukunft übertragen. Bei einer kapitalfundierten Altersvorsorge erfolgt die Belastung der mittleren Generation in der Phase des demographischen Umbruchs dann durch die Auflösung von Vermögensanlagen (Geld-wie Sachvermögen) zu Konsumzwecken mit entsprechenden negativen Rückwirkungen auf Zins, Real-wert von Kapitalanlagen, Preisniveau und Wachstumsrate -daß Renten, wie alle anderen privaten und öffentlichen Sozialleistungen auch, aus dem erwirtschafteten Volkseinkommen und nicht aus demographischen Quoten finanziert werden, die Bevölkerungsentwicklung also im gesamtwirtschaftlichen Zusammenhang gesehen werden muß und letztlich die ökonomischen Bedingungen, nämlich die Entwicklung von Wachstum, Produktivität, Beschäftigungsniveau, Arbeitslosigkeit sowie Einkommensniveau und -Verteilung für die Finanzierbarkeit des Sozialstaats ausschlaggebend sind; -daß für die Finanzlage der Rentenversicherung nicht die Altersstruktur der gesamten Bevölkerung maßgeblich ist, sondern das Verhältnis von Rentenbeziehern zu beitragszahlenden Versicherten. Die Zahl der tatsächlich erwerbstätigen, beitrags-zahlenden Versicherten wird sich anders entwikkeln als die rückläufige Zahl der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, wenn es in der Zeit des demographischen Umbruchs gelingt, die Arbeitslosen zu integrieren, die Frauenerwerbsquote auszudehnen und die Alterserwerbstätigkeit anzuheben. Die Bewältigung der demographischen Belastungen hängt also entscheidend davon ab, ob es der Politik gelingt, die Voraussetzungen für eine Anhebung der Erwerbsquoten und die Schaffung von Arbeitsplätzen herzustellen. Wird ein Abbau der Arbeitslosigkeit erreicht, dann zahlen die bislang Arbeitslosen nicht nur Beiträge, sondern es vermindern sich auch die Ausgaben vor allem der Arbeitslosenversicherung. Die dadurch möglichen Beitragssatzsenkungen müssen den Beitragssatzsteigerungen in der Rentenversicherung gegenübergestellt werden.

Unter Berücksichtigung dieser Zusammenhänge kommt die neue Modellberechnung des Prognos-Instituts zu den längerfristigen Finanzierungsperspektiven der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) zu dem Ergebnis, daß unter der Annahme moderater Wachstums-und Beschäftigungsperspektiven und bei gegebenenem Rentenrecht bis zum Ende des Beobachtungszeitraums (2040) die Beitragssätze zur GRV zwischen 26 und 29 Prozent liegen dürften Gleichzeitig reduziert sich der Beitragssatz zur Arbeitslosenversicherung auf 2, 8 Prozent bzw. 2, 6 Prozent. Da sich die Beitragssätze zur Krankenversicherung und Pflegeversicherung auf 15, 8 Prozent und 2, 3 Prozent bzw. 14, 1 Prozent und 2, 1 Prozent erhöhen, errechnet sich 2040 ein Gesamtsozialversicherungsbeitrag von 49, 6 Prozent bzw. 44, 9 Prozent. Entscheidend ist dabei, daß trotz dieses steigenden Gesamtsozialversicherungsbeitrags und der steigenden Steuerlast dennoch Nettorealeinkommenssteigerungen anfallen, und zwar zwischen zwei Drittel und 100 Prozent des gegenwärtigen Niveaus. Das heißt, daß die höheren Belastungen aus den Zuwächsen der Bruttoeinkommen, denen eine entsprechende Entwick-lung der Produktivität zugrunde liegt, getragen werden können und die erwerbstätige Generation die Finanzierung der Altersgeneration auch ohne Konsumverzicht bewältigen kann.

V. Lohnt es sich noch zu arbeiten? Bekommen die Leistungsträger zuwenig und die Arbeitslosen zuviel?

Die fatale Verkehrung von Ursache und Wirkung bei der Bestimmung der Finanzierungsprobleme des Sozialstaates zeigt sich im besonderen Maße bei der Argumentation, Arbeitslosigkeit bzw. Wettbewerbs-und Wachstumsschwäche seien ihrerseits eine direkte Folge einer „überbordenden“ Sozialpolitik. Die Begründung erfolgt gleich doppelt: Für die Leistungsträger „lohne“ es sich nicht mehr zu arbeiten und zu leisten, weil die Bestrafung durch konfiskatorische Abzüge auf dem Fuße folge und die verfügbaren Einkommen nivelliert würden, während die Leistungsschwachen nicht bereit seien zu arbeiten, weil es sich aufgrund der hohen Sozialleistungen ohne Arbeit besser und bequemer als mit (niedrig entlohnter) Arbeit leben ließe. Daraus wird dann die Empfehlung abgeleitet, durch den Abbau sozialer Leistungen und Standards sowie Senkung von Steuern und Beiträgen den Arbeits-und Leistungsanreiz zu erhöhen.

Hierzu bleibt festzuhalten, daß sich in der vorliegenden wissenschaftlichen Literatur keine empirisch fundierten Nachweise finden lassen, die die Verantwortlichkeit der Sozialpolitik für die ökonomischen Probleme bestätigen könnten. Die Argumentation lebt vielmehr von Alltagserfahrungen, Glaubenssätzen und ideologischen Vorverständnissen. International vergleichende Analysen zeigen, daß es zwischen dem Sozialleistungsniveau einerseits sowie der Wachstumsrate, dem Beschäftigungs-und dem Arbeitslosigkeitsniveau andererseits keine eindeutigen Zusammenhänge gibt Der populäre Schluß, ein möglichst niedriges öffentliches Absicherungsniveau, niedrige Staats-und Sozialausgaben, ein hohes Maß an Privatisierung sozialer Aufgaben und größere soziale (materielle) Ungleichheit seien eine Voraussetzung für hohe Wachstums-, Produktivitäts-und Beschäftigungs-raten sowie für eine bessere Position in der Standortkonkurrenz, läßt sich empirisch wie theoretisch nicht halten. Empirisch sprechen folgende Hinweise gegen die These der Unterminierung der Angebots-und Leistungskräfte durch den Sozialstaat: -Die These von der „leistungshemmenden Einkommensnivellierung“ durch den Sozialstaat verkennt, daß die Umverteilungseffekte durch die Sozial-und Steuerpolitik weniger deutlich ausfallen, als dies regelmäßig angenommen wird. So dominiert bei den Sozialversicherungsleistungen eindeutig die intertemporale, risikobezogene und familienpolitische Umverteilung, während die interpersonellen Einkommensumschichtungen von „oben nach unten“ im Rahmen der sozialen Ausgleichsleistungen der Sozialversicherung nur schwach ausgeprägt sind. Lediglich die reinen bedarfs-bzw. bedürftigkeitsorientierten Steuer-Transfer-Leistungen wie Wohngeld, BAFöG, Sozialhilfe usw. entfalten eindeutige Umverteilungswirkungen von „oben nach unten“; doch ihr Anteil am gesamten Sozialbudget ist gering. -Bei den Abzügen durch Beiträge und Steuern entsteht insgesamt eher ein regressiver als ein progressiver Verlauf, d. h., Bezieher höherer Arbeitseinkommen werden (vor allem infolge des proportionalen Tarifs und der Bemessungs-sowie Versicherungspflichtgrenzen bei der Beitragsfinanzierung) relativ schwächer belastet als die Bezieher mittlerer Arbeitseinkommen Von einer konfiskatorischen Belastung höherer Einkommen kann also in der Bundesrepublik keine Rede sein. Hinzu kommt, daß die tatsächliche Grenz-und Durchschnittssteuerbelastung deutlich unter den theoretisch vorgegebenen Sätzen liegt, weil sich gerade im Bereich der Besserverdienenden und Selbständigen eine Fülle von legalen (wie erst recht illegalen) Möglichkeiten zur Verminderung des steuerpflichtigen Einkommens anbieten und diese auch ausgenützt werden Die Berechnungen des Berliner Wirtschaftsforschungsinstituts (DIW) zur Entwicklung der Haushaltseinkommen zeigen denn auch, daß sich seit Beginn der achtziger Jahre eine kontinuierliche Besserstellung der Einkommens-position von Selbständigenhaushalten gegenüber Arbeitnehmerhaushalten und vor allem Haushalten von Arbeitlosen und von Sozialhilfeempfän-gern ergibt Natürlich läßt sich argumentieren, die Belastung der Besserverdienenden sei noch immer zu hoch, das Maß der Ungleichverteilung noch zu gering, um den erhofften Wachstumsschub auszulösen. Eine solche Argumentation immunisiert sich aber selbst, wenn die Wachstumsschwäche jeweils als „Beweis“ für eine nicht ausreichende Einkommensdifferenzierung herangezogen wird. Interessant ist demgegenüber die aktuelle politische und wissenschaftliche Diskussen in den USA. Dort wird die in den achtziger Jahren forcierte Einkommensungleichverteilung zunehmend als eine der wichtigsten Ursachen für Produktivitätsrückstände angesehen

Ebenso fehlen empirische Belege für die Behauptung, mit den Leistungen der Sozial-oder Arbeitslosenhilfe lebe es sich besser als mit dem Verdienst aus Arbeit. Im Gegenteil: Die Analysen zeigen, daß Arbeitslose nur niedrige Unterstützungsleistungen erhalten (zu einem wachsenden Teil völlig leer ausgehen -wobei die Dauer der Arbeitslosigkeit um so länger ist, je niedriger die öffentlichen Sozialleistungen ausfallen!) und bereit sein müssen und bereit sind, Zumutungen jeder Art hinzunehmen, um eine Arbeit zu erhalten Viele Sozialleistungen werden (aus Unkenntnis oder Scham) erst gar nicht in Anspruch genommen, obwohl ein Anspruch auf sie besteht -so vor allem bei der Sozialhilfe, beim Wohngeld und beim Kindergeldzuschlag.

Die Auswertung der Verdienststatistik zeigt, daß die Fälle, bei denen die verfügbaren Arbeitseinkommen noch unterhalb der Sozialhilfeschwelle liegen, in der Realität so gut wie nicht verkommen. Vergleicht man die verfügbaren durchschnittlichen Monatsverdienste in den unteren Entgeltgruppen (einschließlich Wohngeld und Kindergeld) mit dem Sozialhilfeniveau (einschließlich Wohnungskosten und Einmalleistungen), dann zeigt sich, daß selbst die Verdienste der Frauen durchweg höher liegen. Eine Überschneidung mit der Sozialhilfe tritt nur dann auf, wenn mehrere ältere Kinder zum Haushalt zählen, zugleich die Mieten außerordentlich hoch sind und nur ein Haushaltsmitglied Einkommen bezieht

Soweit also in der Realität Überschneidungen zwischen Löhnen und Sozialhilfe Vorkommen, liegen die Ursachen nicht in einem überhöhten Sozialhilfeniveau -verantwortlich sind vielmehr der unzureichende Kinderlastenausgleich und die verfehlte Wohnungspolitik. Da das Kindergeld nicht den notwendigen Lebensbedarf eines Kindes abdeckt, das vorgelagerte Sozialsystem also nicht armutsfest ist, muß bei unteren Einkommensgruppen die Sozialhilfe ersatzweise die Funktion des Kinderlastenausgleichs übernehmen.

Auf die soziale Wirklichkeit scheint es also bei der Argumentation weniger anzukommen. Durch die Nennung von (konstruierten oder auch tatsächlichen) Einzelbeispielen und Mißbrauchsfällen wird an Vorurteile bzw. an das Unwissen in der Bevölkerung angeknüpft, können Themen besetzt und Stimmungen erzeugt werden. Die Opfer der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung erscheinen als Verursacher der gegenwärtigen Probleme und Konflikte. Der Boden für die Akzeptanz von Sozialabbau ist bereitet. Wenn sich der Eindruck verhärtet, Sozialleistungsempfänger seien potentielle „Betrüger“ oder „Arbeitsscheue“, schwindet die Bereitschaft der wirtschaftlich Stärkeren, sich für die Verbesserung der Lebenschancen am Rande der Gesellschaft einzusetzen und dafür auch noch steigende Steuer-und Beitragsabzüge hinzunehmen.

Die Rede von jenen Arbeitslosen, die es sich in der „sozialen Hängematte“ bequem machen und damit die Arbeitslosenziffern aufblähen, vermittelt zudem das Bild, Arbeitslosigkeit sei eine Folge individuellen Fehlverhaltens, von Anspruchsdenken und mangelnder Bereitschaft, „sich die Hände schmutzig zu machen“. Seien nur die Löhne und Ansprüche niedrig genug, also die Arbeitnehmer billig und willig, dann finde sich auch Arbeit -denn „jeder, der arbeiten wolle, finde in der Bundesrepublik auch einen Arbeitsplatz“. Mit dieser These, die nicht nur an Stammtischen Verbreitung findet, sondern zum festen Glaubenssatz der tonangebenden Wirtschaftswissenschaft zählt, wird Arbeitslosigkeit nicht mehr als ein gesamtwirtschaftliches und gesamtgesellschaftliches Problem, nämlich als Folge fehlender Arbeitsplätze begriffen. Hier gilt es entschieden entgegenzuhalten. Eine Politik zur Etablierung eines Niedriglohnsegments und einer Verschärfung des finanziellen und administrativen Drucks, Arbeit unter allen Bedingungen annehmen zu müssen, setzt einen Abbau des gesamten Lohnniveaus und Lohngefüges in Gang, ohne daß dadurch die Arbeitslosigkeit insgesamt verringert würde. Der Preis wäre ein Arbeitsmarkt nach amerikanischem Muster -prekäre Beschäftigungsverhältnisse sowie „Armut in der Arbeit“ würden zu einem weiteren sozial-und gesellschaftspolitischen Problem.

Wer einen Abbau der Arbeitslosigkeit durch Kürzungen von Sozialleistungen, eine Absenkung des Existenzminimums sowie durch eine allgemeine Lohndifferenzierung und -Senkung erreichen will, verkennt, daß der Arbeitsmarkt eben kein Markt wie ein beliebiger Gütemarkt ist, sondern besonders reagiert, weil es hier ufn die Lebensbedingungen von Menschen geht und die Löhne Kosten-und Nachfragefaktor zugleich sind.

Ein weiteres ist zu bedenken: Wenn angesichts der ökonomischen und sozialen Probleme im vereinigten Deutschland die Spaltungen in der Gesellschaft und auf dem Arbeitsmarkt vorangetrieben sowie Ausgrenzung und Verarmung als (wirtschafts-) politisches Mittel eingesetzt werden, dann sind die politischen Folgen nicht mehr kalkulierbar. Autoritäres Ordnungsdenken, der Ruf nach „einfachen Lösungen“, Rechtsradikalismus und Ausländer-feindlichkeit drohen um sich zu greifen. Auf dem Spiel stehen die Grundlagen unserer Demokratie. Elementare Grundwerte wie Toleranz, Solidarität und Wahrung von Menschenrechten geraten in Gefahr, wenn Verarmung und Perspektivlosigkeit wachsen.

Notwendig und möglich ist dagegen die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit durch andere Maßnahmen, wobei hier ein besonderes Gewicht auf die Integration der bedrohlich wachsenden Zahl von Langzeitarbeitslosen zu legen ist. Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren, heißt die Aufgabe. Da es angesichts der Tiefe der Beschäftigungskrise nicht gelingen kann und wird, das Problem schnell zu bewältigen (und keiner wird hier Wunder versprechen oder ein Allheilmittel anbieten können), bleibt es eine unverzichtbare Aufgabe des Sozialstaates, die soziale und Existenzsicherung aller Arbeitslosen zu garantieren. Die Lücken im sozialen Netz sind hier schon groß genug, Armut; Sozialhilfeabhängigkeit und Arbeitslosigkeit liegeneng nebeneinander Dringend erforderlich ist deshalb die Einführung einer bedarfsorientierten sozialen Grundsicherung auf einem ausreichenden Leistungsniveau und unter nicht diskriminierenden Leistungsbedingungen, die als steuerfinanzierte Leistung des Bundes in die bestehenden Sicherungssysteme (Arbeitslosenversicherung, Rentenversicherung) integriert wird, die die kommunal finanzierte Sozialhilfe entlastet sowie die beitrags-und leistungsbezogenen Sozialversicherungsleistungen von unten her stützt und armutssicher macht

VI. Grenzen der Belastbarkeit?

Sicherlich kann es keinen Zweifel daran geben, daß die Steuer-und Abgabenquote in der Bundesrepublik mittlerweile ein außerordentlich hohes Niveau erreicht hat Für die Beurteilung der ökonomischen und verteilungspolitischen Folgen der Steuer-und Abgabenbelastung ist aber nicht die Quote entscheidend (so psychologisch wichtig dieser Wert ist), sondern die Frage, ob die Abgaben aus den Lohnzuwächsen oder nur aus dem Bestand heraus finanziert werden (können). Hier zeigt sich für die Arbeitnehmereinkommen, daß aufgrund der begrenzten Bruttolohnsteigerungen und der hohen Inflationsraten die verfügbaren Netto-Real-einkommen im Gesamtverlauf der achtziger Jahre nur schwach gestiegen sind (und seit 1993 sinken)

Vor diesem Hintergrund stellt sich also nicht das Problem der Belastung der Besserverdienenden und Selbständigen, sondern das der begrenzten Belastbarkeit der Arbeitnehmereinkommen im unteren wie mittleren Einkommensbereich. Dies setzt einer weiteren Anhebung der generellen Niveaus von Beiträgen und Einkommensteuer enge Grenzen. Es entsteht eine Entscheidungssituation, ob und in welchem Maße die Beschäftigten bereit (und in der Lage) sind, zugunsten der Finanzierung sozialpolitischer Leistungen auf verfügbares Einkommen und Konsummöglichkeiten zu verzichten. Bekannt ist, daß diese Entscheidung bei beitragsfinanzierten Sozialversicherungsleistungen leichter fällt als bei steuerfinanzierten Transfers, da das versicherungsförmige Entsprechungsverhältnis von Beiträgen und Leistungen den Abgabenwiderstand mindert. Gefährdet wird die Akzeptanz der beitragsfinanzierten Sozialversicherung aber dann, wenn bewußt wird, daß -wie derzeit -mit Beiträgen allgemeinpolitische Aufgaben finanziert werden müssen.

Auch wenn also das generelle Belastungsniveau kaum weiter angehoben werden kann, so schließt dies verteilungspolitisch motivierte Umschichtungen in der BelastungsjfrwAfwr im Bereich der Beitrags-und Steuerfinanzierung nicht aus. Geboten sind Veränderungen in der Abgabenstruktur durch eine stärkere Belastung Besserverdienender durch eine andere Steuerpolitik (zu erwähnen sind hier nur die Stichworte: Vermögensteuer, Erbschaft-steuer, Zinsbesteuerung, Bekämpfung von Steuerhinterziehung, Einheitswerte). Bei der Finanzierung der Sozialversicherung ist es überfällig, allgemeine, nicht sozialversicherungstypische Aufgaben durch höhere Steuermittel (so vof allem hinsichtlich der BfA und der GRV in Form höherer und regel-gebundener Bundeszuschüsse abzudecken, um damit die Beitragssätze senken zu können. Zu diskutieren sind ebenfalls eine Anhebung der Beitrags-und Versicherungspflichtgrenzen sowie -als Alternative zur Steuerfinanzierung der Arbeitsmarktpolitik -die Einführung einer Arbeitsmarktabgabe für alle Erwerbstätigen.

VII. Wettbewerbsschwäche durch überhöhte Lohnnebenkosten?

Es ist unbestritten, daß die steigenden Beitrags-sätze zur Sozialversicherung einen immer größeren Teil der Lohnnebenkosten ausmachen und daß zu-gleich der Anstieg der Lohnnebenkosten über dem der reinen Lohnsätze für geleistete Arbeit liegt. Aber das allein sagt über die Kostenbelastung der Unternehmen und ihre Wettbewerbsfähigkeit nichts aus. Denn für die Wettbewerbsfähigkeit sind nicht nur Teilkosten (wie die Lohnnebenkosten), sondern die Lohngesamtkosten relevant -und für deren Höhe ist es unerheblich, wie auch immer sie definiert und intern aufgeteilt werden Für die Kosten-und Ertragsentwicklung sind die Lohngesamtkosten zudem nicht in ihrer absoluten Höhe ausschlaggebend, sondern in ihrem Verhältnis zur Stundenproduktivität. Betrachtet man also die so berechneten Lohnstückkosten in ihrer Entwicklung, so stellt das DIW fest, daß diese (in Landeswährung berechnet) in der Bundesrepublik in den Jahren von 1981 bis 1993 mit jahresdurchschnittlich 2, 2 Prozent deutlich geringer gestiegen sind als im Durchschnitt der Handelspartner (EU-Staaten 4, 3 Prozent; OECD-Staaten 3, 9 Prozent) Eine für die internationale Wettbewerbsfähigkeit viel wesentlichere Bedeutung kommt hingegen der Entwicklung der Wechselkurse zu.

Nun läßt sich feststellen, daß sich die Finanzierung der Sozialleistungen in den letzten Jahren immer stärker auf die Beitragsseite verlagert hat (1980: 61, 8 Prozent des Sozialbudgets, 1993: 63, 9 Prozent des Sozialbudgets), während der Anteil der (steuerfinanzierten) Zuweisungen aus öffentlichen Mitteln von 36, 1 Prozent (1980) auf 33, 9 Prozent (1993) zurückgefallen ist Dies ist nicht zuletzt eine Folge der Politik des „Verschiebebahnhofs“, mit der versucht worden ist, die Finanzen des Bundes zu Lasten der Sozialversicherungen zu sanieren. Belastet mit Sozialkosten wird dadurch vor allem der Faktor „Arbeit“. Eine Umschichtung hin zur Steuerfinanzierung wird deshalb sehr häufig vor allem aus beschäftigungspolitischen Gründen gefordert, um Arbeit und (arbeitsintensive) Produktion wettbewerbsfähiger zu machen.

Allerdings ist bei einer solchen Umschichtungsstrategie vor überzogenen Erwartungen hinsichtlich einer dauerhaften Kostenentlastung und nachhaltiger Beschäftigungseffekte zu warnen. Vermindert würden zwar die beitragsinduzierten Lohnnebenkosten, aber auch ein stärker steuerfi­ nanziertes System (durch die Erhöhung von Einkommen-und/oder Verbrauchsteuern) würde sich letztlich auf die Produktionskosten auswirken. Da die Gewerkschaften in einer wachsenden Wirtschaft einer dauerhaften Netto-Real-Einkommens-minderung infolge höherer Einkommen-oder Verbrauchsteuern nicht zustimmen würden, wird sich eine verstärkte Steuerfinanzierung letztlich in der Höhe der direkten Löhnen niederschlagen. Das dänische Sozialsystem beispielsweise ist überwiegend steuerfinanziert, was aber nicht bedeutet, daß dadurch die internationale Wettbewerbsposition der dänischen Exportwirtschaft automatisch besser wäre als die der deutschen mit einem beitragsfinanzierten System. Dies ist im übrigen der Grund, warum die Arbeitgeber zwar auch für eine Umschichtung von der Beitrags-zur Steuerfinanzierung votieren -aber bei Konstanz der Steuerquote! Gesenkt werden sollen vor allem die Arbeitgeberbeiträge, finanziert durch Sozialleistungskürzungen an anderer Stelle.

Bei der Diskussion über den „Kostenfaktor“ Sozialstaat fällt im übrigen kaum noch auf, daß das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Sozialpolitik keine Einbahnstraße ist, sondern sich als Wechsel-verhältnis darstellt: Einerseits ist das System der sozialen Sicherung zweifelsohne von der Leistungsfähigkeit des privaten Sektors abhängig, da die Finanzmittel aus der Wertschöpfung gespeist werden -also nur das verteilt werden kann, was produziert wurde. Erst eine leistungsfähige Wirtschaft schafft die Voraussetzungen für die Verteilung und Finanzierung eines hohen Sozialleistungsniveaus. Zugleich aber wirkt das soziale System selbst als produktiver Faktor positiv auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft zurück. Sozialpolitik hat also nicht nur einen sozialen, sondern auch wirtschaftlichen „Wert“ -wie es früher in dieser keinesfalls neuen Debatte hieß

Diese positive Rückwirkung zu quantifizieren ist allerdings nur schwer möglich. So entsteht das Dilemma, daß zwar die „Kosten“ des Sozialstaates bekannt sind und laufend ausgewiesen werden, daß sich aber der „Nutzen“ nicht exakt beziffern läßt. Offensichtlich ist jedoch der produktive Beitrag der Sozialausgaben hinsichtlich ihrer investiven Wirkungen in das Humankapital. Sie sichern die Reproduktion, die Gesundheit und die Qualifikation der Arbeitskraft. Das gilt im besonderen Maße für die Arbeitsmarkt-, Qualifizierungs-und Bildungspolitik, aber auch ganz allgemein für die politisch-gesellschaftliche Stabilisierung-und Inte-grationsfunktion des sozialstaatlichen Systems. Eine breit angelegte Ausbildung der Erwerbsbevölkerung ist bei einer gespreizten Einkommensverteilung mit einem breiten Rand von „working poor“ nicht gewährleistet. Und ohne eine garantierte soziale Absicherung gegen die sozialen Risiken und Wechselfälle des Lebens wäre der Einsatz motivierter und qualifizierter Arbeitskräfte nicht möglich. Sozialpolitik federt den technischen Fortschritt und den Strukturwandel ab und vergrößert damit die Bereitschaft der Beschäftigten, diesen Wandel aktiv mit zu tragen

Sozialpolitik ist zugleich eine unverzichtbare Voraussetzung für die gesellschaftliche Akzeptanz des marktwirtschaftlichen Wettbewerbssystems als Gesellschaftssystem insgesamt; sie sichert den „sozialen Frieden“, ist Garant für eine stabile demokratische Gesellschaft. Sozialer Friede, demokratische Strukturen, Akzeptanz von Werten wie Toleranz, Achtung der Menschenwürde, Weltoffenheit sind wiederum wichtige außerökonomische Faktoren für die Standortentscheidungen von Unternehmen.

In fortgeschrittenen, „individualisierten“ Gesellschaften, die unter einem erheblichen Modernisierungsdruck stehen, ist soziale Unsicherheit kein Leistungsanreiz, sondern ein Auslöser für gesellschaftliche Desintegration. Je mehr sich die traditionellen Lebensweisen und sozialen Bindungen auflösen -bzw. gerade durch die Ökonomisierung der Gesellschaft aufgelöst werden -desto mehr entstehen neue, erweiterte Bedürfnisse nach sozialer Sicherheit. Soziale Sicherheit ist in diesem Sinne institutioneile Voraussetzung für den fortlaufenden Prozeß ökonomischer, sozialer und kultureller Modernisierung Sozialausgaben stellen darüber hinaus einen bedeutenden Teil der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage dar, ohne deren Stabilisierung eine dauerhafte wirtschaftliche Entwicklung nicht möglich wäre („eingebauter Konjunkturstabilisator“). Und schließlich: Der Sozialstaat schafft und sichert auch direkt Arbeitsplätze, so insbesondere in den sozialen Berufen (stationäre und ambulante Pflege, Erzieherinnen usw.).

Diese Hinweise auf die Produktivkraft „Sozialstaat“ sollen nicht verdecken, daß viele Sozialleistungen und Angebote der sozialen Infrastruktur aus einzelwirtschaftlicher Sicht durchaus unpro­ duktiv sein können, beispielsweise Rehabilitationsund Qualifizierungsmaßnahmen für ältere Menschen, die nicht mehr im Produktionsprozeß eingesetzt werden können. Aber: Der Sozialstaat hat eigenständige politisch-moralische Ziele auch jenseits der Maßstäbe der engen ökonomischen Funktionalität. Der Umgang mit sozial Schwachen, mit Älteren, Behinderten, Familien und Kindern, das qualitative Niveau der gesundheitlichen Versorgung, die Schaffung von gleichberechtigten Lebenschancen für die gesamte Bevölkerung -all diese und weitere Elemente des „Lebensstandorts“ Deutschland haben einen eigenen Wert, der nicht durch den Hinweis auf ökonomische Effizienzverluste, verminderte Rentabilität oder entgangene Wachstumsraten außer Kraft gesetzt wird.

VIII. Kostenexplosion oder Wachstumsmarkt?

Die bisherige Argumentation ist ein Plädoyer für das Festhalten an grundlegenden sozialstaatlichen Prinzipien und gegen die Unterwerfung der Sozialpolitik unter vermeintliche ökonomische und finanzielle Sachzwänge. Nicht gemeint ist damit allerdings die blinde Verteidigung aller sozialpolitischen Regelungen nach der Devise eines trotzigen „Weiter so“. Die Lücken und Defizite, Unstimmigkeiten und Widersprüchlichkeiten, bürokratischen Wirrungen und Inflexibilitäten im sozialen Netz sind nicht zu übersehen Und zweifelsohne schlummern im Sozialleistungssystem erhebliche Rationalisierungs-und Effizienzreserven. Hier ist die Sozialpolitik zu ständigen Anpassungsleistungen gezwungen, um auf neue Anforderungen zu reagieren und das Steuerungspotential zu verbessern. Die Renten-und Gesundheitsreform sowie die Reform des Arbeitsförderungsgesetzes kennzeichnen derartige Ansätze einer Umbaustrategie, die nicht ein anderes Wort für Abbau ist, sondern auf die Weiterentwicklung abzielt.

Ständig neu zu entscheidendst die Frage, welches Leistungsspektrum anzubieten ist, was also öffentlich und was privat erbracht und finanziert werden soll. Gleichermaßen ist zu prüfen, ob durch die Einführung wettbewerblicher Elemente bei der Leistungserstellung die Kosten gesenkt und die Effizienz erhöht werden können. Dies gilt insbesondere für die Sachleistungen in den Bereichen Gesund-heitswesen, soziale Dienste und soziale Infrastruktur. Eine schlichte Privatisierungs-und Abbaustrategie ist jedoch kein Erfolgskonzept. „Markt und privat“ heißt nicht automatisch „billiger und besser“:

Ein gleiches Versorgungsniveau vorausgesetzt, müssen auch bei privaten Sicherungsformen Bestandteile aus dem verfügbaren Einkommen für sozialpolitische Zwecke abgezweigt werden. Dies gilt sowohl für Käufe nunmehr privater sozialer Dienste und Güter als auch für Prämien, die an die Privatversicherungen zu zahlen sind. Beim Über-gang zum privaten Versicherungssystem bleiben die monetären Kosten zunächst unverändert -sie können sogar steigen, wenn man an die hohen Overhead-Kosten (Werbung, Marketing) im privaten Sektor denkt. An die Stelle solidarischer Sozialversicherungsbeiträge treten nun aber risikobezogene Prämien, die nicht das Belastungsniveau, aber die personelle Belastungsstruktur verschieben. Da bei den Privatversicherungen ein Solidarausgleich fehlt, werden diejenigen am stärksten betroffen, die aufgrund von Geschlecht, Familienstand, Alter und Berufssituation die höchsten Risiken tragen, während die „guten Risiken“ mit einer Entlastung rechnen können.

Auch Selbstbeteiligungs-bzw. Zuzahlungsregelungen, die als Beitrag zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen verstanden werden, führen im wesentlichen nur zu einer Verschiebung der Belastungsstruktur, denn Zuzahlung bedeutet zunächst ja nur, daß die Gesundheitskosten -beispielsweise für Arzneimittel -anders finanziert werden: Während beim reinen Sachleistungsprinzip die Belastungen solidarisch von allen Versicherten getragen und die Unternehmen über Arbeitgeberbeiträge mit herangezogen werden, müssen bei der Selbstbeteiligung die Kranken zusätzlich zu ihren Beitragsleistungen einen Teil der Kosten übernehmen. Eine Steuerung der Inanspruchnahme und Kostendämpfung können dadurch kaum erreicht werden, da nicht die Patienten, sondern im wesentlichen die behandelnden und verschreibenden Ärzte über die Inanspruchnahme von Arzneimitteln entscheiden. So weisen denn Privatversicherungen, die in ihrem gesamten Leistungsspektrum mit Selbstbeteiligungs-und Wahltarifen operieren, keine geringere Ausgabendynamik auf als die gesetzlichen Kassen. Auch internationale Vergleiche bestätigen das Bild: So liegt in den USA mit ihrem dominierenden privaten Gesundheits-und Versicherungswesen der Anteil der Gesundheitsausgaben am Volkseinkommen mit 12, 6 Prozent (1993) deutlich höher als in der Bundesrepublik (9, 3 Prozent). Letztlich ist es offensichtlich allein der Blickwinkel und nicht der ökonomische Zusammenhang, der im Privatisierungsdiskurs zählt. Steigende Gesundheitsausgaben gelten, wenn sie öffentlich, d. h. über Beiträge und/oder Steuern finanziert werden, als Ausdruck einer gefährlichen Kostenexpansion. Steigende Gesundheitsausgaben gelten demgegenüber, wenn sie privat, d. h. über Versicherungsprämien und/oder Marktpreise finanziert werden, als Ausdruck eines zukunftsträchtigen Wachstums-marktes mit Beschäftigungs-und Gewinnchancen.

Gesamtwirtschaftliche Ausgabenminderungen entstehen dann, wenn die öffentlichen Leistungskürzungen nicht durch private Übertragungen oder Privatversicherungen ausgeglichen werden bzw. ausgeglichen werden können. Vermarktung und Verpreisung medizinisch-sozialer Leistungen und Güter bewirken dann Ausgaben-und Kostenreduzierungen, wenn das Ausschlußprinzip der kaufkräftigen Nachfrage greift, d. h. wenn die Preise insbesondere einkommensschwache Bevölkerungsschichten an der Inanspruchnahme hindern. Diese preisbestimmte Nachfragebegrenzung hat aber immer einen sozialen Selektionseffekt. Das Kernprinzip des Sozialstaates, finanzielle Beschränkungen bei der Inanspruchnahme notwendiger Leistungen und Dienste auszuschließen, wird zur Disposition gestellt. Alle Vorschläge zur Begrenzung des Leistungskatalogs der sozialen Krankenversicherung auf eine Basisversorgung laufen letztlich darauf hinaus. Nur wer über ein ausreichendes Einkommen verfügt, kann sich dann eine dem medizinischen Standard entsprechende Versorgung leisten.

IX. Die Zukunft des Sozialstaates erfordert die Gewinnung und Sicherung von Solidarität* *

Es läßt sich zusammenfassen: Die These, der Sozialstaat habe seine Grenzen überschritten und sei aufgrund seines Leistungsgebarens und seiner finanziellen Anforderungen die eigentliche Ursache der anhaltenden Unterbeschäftigung, findet keine Bestätigung. Sein Abbau ist keine Voraussetzung für die Freisetzung (unterdrückter) Wachstumsschübe in der Produktion und auf dem Arbeitsmarkt sowie für die Verbesserung der internationalen Wettbewerbsposition. Zweifelsohne haben sich in Zeiten knapper Kassen bei gleichzeitig hoher öffentlicher Verschuldung sowie hohenBeitrags-und Steuerquoten, ferner angesichts von Massen-und Langzeitarbeitslosigkeit, verschärfter Standortkonkurrenz und einer Globalisierung der Renditeansprüche die Rahmenbedingungen für eine aktive und reformorientierte Sozialpolitik verschlechtert. Die Anforderungen an den Sozialstaat wachsen, während der Verteilungs-und Gestaltungsspielraum schrumpft. Aber der bestehende Spielraum kann und muß genutzt werden. Entscheidend kommt es auf den politischen (Mehrheits-) Willen an, gerade in schwierigen Zeiten, wo das Sozialstaatspostulat des Grundgesetzes seine Bewährungsprobe zu bestehen hat, das Grundprinzip des sozialen Ausgleichs zur Geltung kommen zu lassen.

Die sozialen Sicherungssysteme in der Bundesrepublik haben sich im Grundsatz bewährt. Dies gilt auch und gerade für die Sozialversicherung, die mit ihren Elementen Lohn-und Beitragsorientierung, Lohnersatz und Leistungsdynamik, sozialer Ausgleich sowie paritätische Mittelaufbringung und Selbstverwaltung besser als andere Modelle geeignet ist, die großen Lebensrisiken wie Invalidität, Alter, Krankheit, Pflegebedürftigkeit, Arbeitslosigkeit, Unfall zuverlässig und solidarisch abzusichern Diese Lebensrisiken stellen für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung eine soziale Bedrohung dar, die nicht privat zu bewältigen ist. Für die Erwartung, daß der Wohlstandszuwachs und der Trend der Individualisierung den Boden für eine individuelle, privatisierte Risiko-vorsorge und für den Rückzug kollektiver Regelungen bereitet hätten, finden sich keine empirischen Hinweise: Analysiert man die vorliegenden einkommens-und vermögensstatistischen Daten, läßt sich die These nicht halten, der Großteil der Arbeitnehmerhaushalte könne sich wegen des hohen verfügbaren Haushaltseinkommens sowie der Verfügung über die gestiegenen Geld-und Grundvermögen besser privat absichern Auch Arbeitnehmerhaushalte im mittleren Einkommensbereich sind nicht in der Lage, größere Unterbrechungen im Erwerbseinkommensfluß zu überbrücken. Die Garantie eines auch in Notlagen kontinuierlich gesicherten Einkommensstroms ist für die Sicherung ihres Lebensunterhalts unverzichtbar. Die Vermögensbestände können aufgrund der Ungleichheiten ihrer Verteilung hier keinen Ausgleich leisten.

Kollektivität und Individualität stehen damit nicht gegeneinander, sondern bedingen sich. Die Souveränität der Menschen über ihre Lebensentwürfe und Lebensformen, Mündigkeit und Eigenverantwortung bleiben an die Voraussetzung der kollektiven, gesellschaftlichen Sicherung der materiellen und sozialen Basis gebunden. Je mehr sich die traditionellen Lebensweisen sowie sozialen Bindungen auflösen und ökonomische Maßstäbe von Leistung und Gegenleistung, Verwertung und Rentabilität, Kaufkraft und Preis alle Lebensbereiche durchdringen, um so mehr entstehen neue, erweiterte Bedürfnisse nach sozialer Sicherheit. Soziale Sicherheit ist in diesem Sinne institutioneile Voraussetzung und nicht Gefährdung von individueller Entfaltung und Freiheit

Der Sozialstaat ist kein reformunfähiges, statisches Gebilde. Soll er bewahrt werden, so ist seine Anpassung an die sich verändernden ökonomischen, sozialen und demographischen Verhältnisse eine ständige Aufgabe. Notwendig sind dabei aber keine Totalrevisionen oder ein Systemwechsel, sondern eine innovative Politik sozialpolitischer Reformen, die an den bewährten Strukturen ansetzt. Zu nennen sind hier nur die Punkte: Weiterführung der Gesundheitsreform, Neuordnung der eigenständigen sozialen Sicherung der Frau, Harmonisierung der Alterssicherungssysteme, aktive Arbeitsmarktpolitik, Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Kinderlastenausgleich, Einführung einer die Sozialhilfe ablösenden Mindestsicherung.

Nun ist offensichtlich, daß nicht alle Reformen kostenlos zu haben sind. Wenn trotz der begrenzten Finanzen nicht auf sozialpolitisch notwendige Leistungsverbesserungen verzichtet werden soll, so bedarf es einer offenen Diskussion über die Festlegung von Prioritäten und Nachrangigkeiten nicht nur bei den öffentlichen Ausgaben insgesamt, sondern auch innerhalb des Sozialbudgets Die Strategie, solche Reformen weiter zu vertagen, weil die Bereitschaft fehlt, innerhalb der bestehenden sozialpolitischen Leistungen neue Schwerpunkte zu setzen -also auch innerhalb der Sozialetats umzuverteilen -, zeugt von einem schlechten sozialpolitischen Konservatismus. Mit anderen Worten: Spätestens dann, wenn alle Einnahmenverbesserungen und Rationalisierungsreserven ausgeschöpft sind, beginnt die Suche nach den Prioritäten der Sozialpolitik, um Mittel freizubekommen, mit denen (beispielsweise) eine bedarfsorientierte Grundsicherung, der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz, ein angemessener Kinderlastenausgleich, eine verbesserte Absicherung Alleinerziehender oder eine eigenständige soziale Sicherung der Frau finanziert werden können. Dies bedeutet, über Einschränkungen solcher Leistungen nachzudenken, die in ihrer Verteilungswirkung fragwürdig sind; Beispiele dafür wären das Niveau der Beamtenversorgung, die steuerliche Begünstigung durch das Ehegattensplitting, die gegenwärtige Regelung der Hinterbliebenenversorgung, die Wohneigentumsförderung. Eine Diskussion über Prioritäten und Umschichtungen innerhalb des Sozialetats ist konfliktreich und ist auf die Solidarität der Stärkeren gegenüber den Schwächeren angewiesen, wenn sie nicht zu Lasten der Schwächeren ausfallen soll. Und es bedarf der Bereitschaft der Bevölkerung, die hohen Lasten, die ein ausgebautes Sozialsystem unweigerlich verursacht, mit den entsprechenden Einbußen im verfügbaren Einkommen auch zu tragen. Die Frage nach der Sicherheit der sozialen Sicherung wird damit zu der Frage nach ihrer politischen Akzeptanz. Es kommt entscheidend darauf an, daß nicht nur die Schwächeren, sondern auch die Stärkeren das System stützen.

Nun läßt sich solidarisches Verhalten nicht anordnen oder wie ein Rohstoff einfach abfordern. Solidarität ist keine anthropologische Konstante, sondern -ökonomisch formuliert -zu einem knappen Gut geworden und muß immer wieder neu erzeugt werden In einer sich polarisierenden, kulturell und ethnisch inhomogener werdenden Gesellschaft wird dies schwierig. Wachsende Teile der Bevölkerung glauben, auf sozialstaatliche Leistungen nicht mehr oder nur im begrenzten Umfang angewiesen zu sein und ihre Lebensverhältnisse und soziale Sicherheit besser privat gestalten zu können. Die Bereitschaft schwindet, höhere Steuer-und Beitragsbelastungen unbesehen zu akzeptieren.

Einfache Antworten auf dieses Problem gibt es nicht. Es geht um die Entscheidung, welches gesellschaftliche Leitbild Anerkennung und Mehrheiten findet. Im Grundsatz stellt sich die Alternative zwischen dem liberalen Konkurrenzmodell und seinem Prinzip der Durchökonomisierung aller Lebensbereiche und dem Modell einer Gesellschaft, die an der Idee von Chancengleichheit, sozialer Gerechtigkeit und sozialem Ausgleich festhält. Diese Alternativen im Hinblick auf die Zukunftsgestaltung in der politischen Argumentation zuzuspitzen und das Leitbild einer solidarischen Gesellschaft offensiv zu vertreten und inhaltlich für den Sozialstaat und seine Gestaltungsund Entwicklungsmöglichkeiten sowie seine positiven Rückwirkungen auf die ökonomischen und politischen Grundlagen der Gesellschaft zu überzeugen, bleibt die wichtigste, aber auch schwierigste Aufgabe einer auf die Gesellschaftsgestaltung orientierten Sozialpolitik.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Die entsprechenden Forderungen sind unüberhörbar geworden. Sie unterscheiden sich natürlich in vielen Punkten und variieren vor allem in der Radikalität der Infragestellung des gegenwärtigen sozialen Leistungssystems. Während die Arbeitgeberverbände eher moderat argumentieren (vgl. Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Sozialstaat vor dem Umbau, Köln 1994; Deutscher Industrie-und Handelstag, Soziale Sicherung und Wirtschaftsstandort Deutschland, Bonn 1995), plädieren andere Autoren bzw. Verbände für eine Totalrevision (vgl. z. B. Peter Oberender/Frank-Ulrich Fricke, Vom Wohlfahrtsstaat zum Sozialstaat, im Auftrag des Unternehmerinstituts der ASU, Bonn 1994, oder Eckhard Knappe, Umbau des Sozialstaates, Trier

  2. So überzeugend: Solidarität am Standort Deutschland. Eine Erklärung von Sozialwissenschaftlerinnen und -Wissenschaftlern, Frankfurt 1994. Diese Erklärung wurde vom Oswald von Nell-Breuning-Institut initiiert. Vgl. ebenfalls: Kirchenamt der Evangelischen Kirche/Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland. Diskussionsgrundlage für einen Konsultationsprozeß über ein gemeinsames Wort der Kirchen, wiedergegeben in: Frank von Auer/Franz Segbers (Hrsg.), Markt und Menschlichkeit, Reinbek 1995.

  3. Vgl. Wolfgang Scholz, Sozialbudget 1993. Gebremste Dynamik, in: Bundesarbeitsblatt, 3/1994, S. 6.

  4. Vgl. Peter Rosenberg, Sozialpolitik bei leeren Kassen, in: Sozialer Fortschritt, (1994) 2, S. 58.

  5. Vgl. Hans-Ulrich Bach/Egon Spitznagel, Gesamtfiskalische Kosten der Arbeitslosigkeit im Jahr 1993 auf 116 Mrd. DM gestiegen, in: IAB-Kurzbericht, 6/1994.

  6. Vgl. zu den Ansatzpunkten einer konsequenten Politik zur Erhöhung des Beschäftigungsniveaus die Beiträge in: Hartmut Seifert (Hrsg.), Reform der Arbeitsmarktpolitik, Köln 1995; ferner Klaus Bartsch/Ame Heise/Hartmuth Tofaute, Grundzüge eines Modernisierungs-und Beschäftigungsprogramms für die Bundesrepublik Deutschland, in: WSI-Mitteilungen, (1994) 6; Berliner Erklärung zur Halbierung der Arbeitslosigkeit bis zum Jahr 2000, vorgestellt von der Senatorin für Arbeit und Frauen Dr. Christine Bergmann, Berlin 1994.

  7. Vgl. Bert Rürup, Bevölkerungsentwicklung und soziale Sicherungssysteme, in: Hans-Ulrich Klose (Hrsg.), Altern hat Zukunft, Opladen 1993, S. 258 ff.

  8. Vgl. Prognos-Gutachten 1995 für den Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, Perspektiven der gesetzlichen Rentenversicherung für Gesamtdeutschland vor dem Hintergrund veränderter politischer und ökonomischer Rahmenbedingungen, in: DRV-Schriften, Band 4, Frankfurt 1995.

  9. Vgl. u. a. Johannes Berger, Sündenbock Sozialstaat? Komplexe Zusammenhänge zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und Wohlfahrtsstaat, in: Blick durch die Wirtschaft vom 21. 9. 1993; Manfred Schmidt, Sozialpolitik -historische Einführung und internationaler Vergleich, Opladen 1988.

  10. Vgl. Dieter Eißel, Reichtum unter der Steuerschraube? Staatlicher Umgang mit hohem Einkommen und Vermögen, in: Ernst-Ulrich Muster (Hrsg.), Reichtum in Deutschland -der diskrete Charme der sozialen Distanz, Frankfurt-New York 1993, S. 84ff.

  11. Vgl. Oliver Lang, Steuervermeidung und -hinterziehung bei der Einkommensteuer, in: ZWE-Newsletter, (1993) 1.

  12. Vgl. Klaus-Dietrich Bedau, Relative Einkommenspositionen der westdeutschen Haushaltsgruppen in den achtziger und neunziger Jahren, in: DIW-Wochenbericht, 18/1995, S. 355 ff.

  13. Vgl. Claus Schäfer, Die „Gerechtigkeitslücken“ können auch ökonomische Effizienzlücken werden. Zur Entwicklung der Einkommensverteilung 1993 und in den Vorjahren, in: WSI-Mitteilungen, (1994) 10, S. 598-623.

  14. Mit einzelnen Nachweisen: Gerhard Bäcker, Soziale Sicherung bei Arbeitslosigkeit: Defizite und Reformkonzeptionen, in: H. Seifert (Hrsg.) (Anm. 6).

  15. Vgl. Gerhard Bäcker/Walter Hanesch, Sozialhilfe-niveau und untere Arbeitnehmereinkommen. Expertise für das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1994; Wilhelm Breuer/Dietrich Engels, Der Abstand zwischen dem Leistungsniveau der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem BSHG und den verfügbaren Arbeitnehmereinkommen unterer Lohn-und Gehaltsgruppen im Juli 1992. Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Familie und Senioren, in: Schriftenreihe des Bundesministeriums für Familie und Senioren, Band 29, Stuttgart 1994.

  16. Vgl. dazu den Armutsbericht des DGB und des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes: Armut in Deutschland, Reinbek 1994.

  17. Vgl. ausführlich zur Darstellung dieses Konzepts, das gewissermaßen eine Gegenposition zum Bürgergeld bzw. zur Negativsteuer einnimmt: Gerhard Bäcker/Thomas Ebert, Defizite und Reformbedarf in ausgewählten Bereichen der sozialen Sicherung, Expertise für das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1994.

  18. Der Gesamtsozialversicherungsbeitrag hat mittlerweile die Quote von 39 Prozent überschritten; unter Einschluß der Lohnsteuerbelastung verbleiben einem durchschnittlich verdienenden Arbeitnehmer nur noch knapp 60 Prozent seines Bruttoeinkommens.

  19. Vgl. C. Schäfer (Anm. 13).

  20. Vgl. zur Finanzierung der Rentenversicherung: Winfried Schmühl, Finanzierung sozialer Sicherung in Deutschland unter veränderten gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen, in: Deutsche Rentenversicherung, (1994) 6; zur Finanzierung der Arbeitsmarktpolitik bzw.der Leistungen nach dem Arbeitsförderungsgesetz (AFG): Bernd Reissert, Beitrags-oder Steuerfinanzierung der Arbeitsmarkt-politik, in: Gerhard Bosch (Hrsg.), Reform der Arbeitsmarktpolitik, Frankfurt-New York 1994, S. 43ff

  21. Es ist beispielsweise eine reine Definitionsfrage, ob Jahressonderzahlungen wie Weihnachts-und Urlaubsgeld als normaler Bestandteil des Entgelts für geleistete Arbeit bewertet werden oder aufgrund ihrer Zahlungsweise als Zusatz-kosten.

  22. Vgl. DIW-Wochenbericht, 40/1993; Thomas Zuleger, Lohnstückkosten als Faktor für den Standort Deutschland, in: Arbeit und Sozialpolitik, (1993) 9-10.

  23. Vgl. W. Scholz (Anm. 3), S. 15.

  24. Vgl. Georg Vobruba (Hrsg.), Der wirtschaftliche Wert der Sozialpolitik, Berlin 1969.

  25. Vgl. Jochen Struwe, Wachstum durch Sozialpolitik, Köln 1989, S. 135ff.

  26. Vgl. Georg Vobruba, Sozialpolitik macht Modernisierungspolitik möglich, in: Die Mitbestimmung, (1990) 2, S. 85 ff.

  27. Dazu im einzelnen: G. Bäcker/T. Ebert (Anm. 17).

  28. Vgl. Barbara Riedmüller/Thomas Olk (Hrsg.), Grenzen des Sozialversicherungsstaates?, in: Leviathan, Sonderheft 14/1994.

  29. Vgl. Hermann Schlomann, Die Entwicklung der Vermögensverteilung in Deutschland, in: E. -U. Hustet (Hrsg.) (Anm. 10), S. 54ff.

  30. Vgl. Wolfgang Zapf, Individualisierung und Sicherheit, in: Gabriele Rolf/Gerd Wagner (Hrsg.), Sozialvertrag und soziale Sicherung, Frankfurt-New York 1988, S. 235ff.

  31. Vgl. Richard Hauser, Reformperspektiven des Systems der sozialen Sicherung bei veränderten Rahmenbedingungen, in: Dieter Döring/Richard Hauser (Hrsg.), Soziale Sicherheit in Gefahr, Frankfurt 1995, S. 51 ff.

  32. Vgl. Gerhard Bäcker, Solidarität als knappes Gut. Der Wandel der Gesellschaft und die Zukunft der Sozialpolitik, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, (1993) 6, S. 315 ff.

Weitere Inhalte

Gerhard Bäcker, Dr. rer. pol., geb. 1947; Studium der Wirtschafts-und Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln; seit 1977 wissenschaftlicher Referent für Sozialpolitik am Wirtschafts-und Sozialwissenschaftlichen Institut des DGB (ab 1995 Wirtschafts-und Sozialwissenschaftliches Institut der Hans-Böckler-Stiftung) Düsseldorf; Lehrbeauftragter an der Fachhochschule Niederrhein, Mönchengladbach. Veröffentlichungen u. a.: (zus. mit Reinhard Bispinck/Klaus Hofemann/Gerhärd Naegele) Sozialpolitik und soziale Lage, 2 Bände, Köln 1989; (zus. mit Gerhard Naegele) Alternde Gesellschaft und Erwerbstätigkeit, Köln 1993; (Hrsg. zus. mit Brigitte Stolz) Kind, Beruf, Soziale Sicherung, Köln 1994; Vorstellungen für eine familienorientierte Arbeitswelt der Zukunft, Stuttgart 1994.