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Toleranz im Umbruch. Über die Schwierigkeit, tolerant zu sein | APuZ 43/1995 | bpb.de

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APuZ 43/1995 Artikel 1 Die Kultur des Friedens Toleranz im Umbruch. Über die Schwierigkeit, tolerant zu sein Konfliktmanagement: Denken in Gegensätzen Das Ende des Liberalismus? Der philosophische Kommunitarismus in der politischen Theorie Kommentar und Replik

Toleranz im Umbruch. Über die Schwierigkeit, tolerant zu sein

K. Peter Fritzsche

/ 24 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Im Mittelpunkt der Ausführungen steht die Frage: Warum ist es so schwierig, tolerant zu sein -gerade in Zeiten beschleunigten Wandels, in denen die Nachfrage nach Toleranz rapide zunimmt? In sechs Schritten wird die Argumentation entfaltet: 1. Was versteht man darunter, wenn man von Toleranz spricht? 2. Es gibt zwei unverzichtbare Voraussetzungen der Toleranz, nämlich die Toleranz-Kompetenz und die Toleranz-Kultur. 3. Warum ist Toleranz gerade in der Zeit des Umbruchs wieder ein Thema, und welche neuen Bedingungen gibt es für die Entwicklung von Toleranz? 4. Es hilft uns, die Entwicklung von Intoleranz zu verstehen, wenn wir die „Toleranz-Schwellen“ der Bürger als Streß-Schwellen verstehen. 5. Die Diskussion der These vom vereinten Deutschland als Bewährungsfeld der Toleranz. 6. Was kann politische Bildung zur Entwicklung einer Kompetenz und einer Kultur der Toleranz beitragen?

I. Renaissance eines Themas

Toleranz ist wieder ein Thema! Vielfältig sind die Zusammenhänge, in denen der Toleranz neue Aufmerksamkeit zuwächst. Immer öfter wird auf die Unverzichtbarkeit von Toleranz im Zusammenleben von Mehrheit und Minderheiten oder zwischen Minderheiten verwiesen, immer häufiger wird Toleranz als unentbehrlich eingefordert, um Konflikte zivil regeln zu können. Im internationalen Kontext haben die Vereinten Nationen einen wichtigen Anstoß zu einer neuen Toleranz-debatte gegeben. Sie haben 1995 zum „Jahr der Toleranz“ erklärt; weltweit veranstalten die nationalen UNESCO-Kommissionen Projektwochen, Symposien, Schülerwettbewerbe, um dazu beizutragen, „Toleranzkultur“ zu entwickeln. Das Movens hinter diesen UNESCO-Aktivitäten ist die Herausforderung durch die Intoleranz, durch die bedrohliche Dynamik von Nationalismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Fundamentalismus weltweit. „Es ist eine Tatsache, daß die meisten Menschen sich für tolerant halten, bis ihre , Toleranzschwelle'herausgefordert wird: durch die Nationalität, Gruppe oder Verhaltensweise, die sie einfach nicht tolerieren können. Wir müssen mehr über Toleranz wissen, da die Intoleranz auf dem Vormarsch ist, und extreme Intoleranz tötet.“

In Deutschland ist vor allem die Diskussion um die multikulturelle Gesellschaft und um das Verhältnis von Deutschen und Ausländern mit dem Thema der Toleranz/Intoleranz verknüpft. Aber auch im Verhältnis zwischen West-und Ostdeutschen wird ein „Bewährungsfeld der Toleranz“ (H. J. Meier) gesehen. Ebenso ist die mittlerweile auch nach Deutschland übergeschwappte Debatte über political correctness untrennbar mit der Frage nach der Toleranz verknüpft. Schließlich haben die Auseinandersetzungen um das Kruzifix-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und um die Friedenspreisverleihung des Deut-sehen Buchhandels gezeigt, wie unterschiedlich die Vorstellungen davon sind, was eigentlich Toleranz sei.

Meine Überlegungen zur Toleranz werden von der Frage geleitet: Warum ist es so schwierig, tolerant zu sein -gerade in Zeiten beschleunigten Wandels, in denen die Nachfrage nach Toleranz rapide zunimmt.

II. Toleranz-Stufen

Was verstehen wir eigentlich darunter, wenn wir von Toleranz sprechen? Offenbar recht Unterschiedliches. Ein erster Blick auf die Toleranzdiskurse zeigt uns eine Vielfalt unterschiedlicher Toleranz-Konzeptionen Ein zweiter Blick auf diese Vielfalt läßt erkennen, daß sich dahinter eine Stufenfolge sich entwickelnder Toleranz verbirgt: von der pragmatisch-kalkulierenden über die duldend-passive zur aktiv-eingreifenden Toleranz.

Toleranz kommt aus dem Lateinischen tolerare und dessen vorherrschende Bedeutung war: dulden, zulassen. Diese Bedeutung der Duldung gehört auch heute noch zu der verbreitetsten Interpretation von Toleranz. Etwas moderner und allgemeiner könnte man auch eine im Rahmen der UNESCO erarbeitete Definition verwenden, die besagt, daß Toleranz die wesentliche, minimale Qualität sozialer Beziehungen ist, die auf Gewalt und Zwang verzichtet Aber wer duldet wen und aus welchen Motiven? Um die Gestaltung welcher sozialem Beziehungen handelt es sich jeweils, die gewaltfrei gestaltet werden sollen?

Hier hat es historisch und konzeptionell große Unterschiede gegeben. Ein Ausgangspunkt für die Entwicklung der Toleranz war eine asymme-irische Beziehung zwischen einem starken und einem schwachen Part, zwischen dem Toleranz gewährenden Herrscher und der Toleranz erbittenden meist religiösen Minderheit. Diese gewährte Toleranz war immer prekär und konnte auch . wieder verweigert werden. Ihr Motiv war pragmatische Klugheit, da der soziale und der wirtschaftliche Nutzen der Tolerierung größer schien als die Kosten der Unterdrückung. Dieses pragmatische Kalkül konnte allerdings auch am Ende von kriegerischen Konflikten nahezu gleichstarker Gegner stehen, die einsahen, daß es unumgänglich war, den Gegner mit bestimmten Rechten zu dulden, weil der Preis der Intoleranz, der „Verfolgungen und weiteren Blutvergießens“ zu hoch war

Es war die Aufklärung, in der sich dann eine neue Interpretation der Toleranz durchsetzte -ohne allerdings die der pragmatischen Klugheit äußer Kraft zu setzen: Menschen werden toleriert, weil sie ein Recht dazu haben. Sie haben das Menschenrecht der Freiheit zum Anderssein. Und es gehört zu den Pflichten und Tugenden, die Früchte dieser Freiheit des Anderen zu tolerieren.

In dieser Aufklärungstradition steht auch Iring Fetscher mit seiner Deutung: „Ich möchte allerdings zum vollen Begriff von Toleranz die Anerkennung der Legitimität des anderen in seiner Andersartigkeit hinzuzählen. Anerkennung verlangt ja nicht die Übernahme des Glaubens, der Lebensform, kulturellen Eigenart des anderen, sondern nur ihre Respektierung als gleichberechtigt.“ Diese Toleranz bezieht sich vor allem auf das Verhältnis der Bürger untereinander. Ähnlich äußert sich auch Ignaz Bubis: „Der eigentliche Grundwert der Toleranz für unsere demokratische Gesellschaft besteht letztlich darin, daß sie uns lehrt, vom Stadium der beiläufigen Duldung ins Stadium der selbstbewußten Bejahung des anderen, unseres Nächsten überzugehen.“

Eine noch weitergehende Deutung bietet Alois Wierlacher an: „Es gibt eine alte Wortbedeutung der Toleranz: tolerare heißt nicht nur hinnehmen und ertragen, sondern auch »unterstützen und »erträglich machen. Das Wort Toleranz bezeichnet also keinesfalls nur eine duldend-hinnehmende Gesinnung oder das bloße Zulassen abweichender Vorstellungen, sondern auch eine aktive, schöpferisch-produktive, praxisorientierte und humane Konstruktion mitmenschlicher Wirklichkeit.“

Diese Konzeption deckt sich mit dem Verständnis positiver Toleranz der UNESCO. Positive Toleranz ist mehr als die Abwesenheit von Intoleranz. Sie meint das Eintreten für die Schaffung von Bedingungen, unter denen Toleranz möglich wird In diesem Toleranzverständnis wird auch ein möglicher Übergang zur Solidarität erkennbar. Zygmunt Bauman bezeichnet die Toleranz sogar als die „schwache Version der Solidarität“

Unser kurzer Überblick zeigt uns eine Vielfalt von konkurrierenden und koexistierenden Toleranz-Konzeptionen. Keiner dieser Begriffe kann für sich beanspruchen, die ganze Realität und komplexe Praxis der Toleranz einzufangen. Toleranz „umfaßt notwendigerweise die ganze Spannweite von der durch Vernunft und Einsicht getragenen Duldung über die Anerkennung des Wertes und der Berechtigung des jeweils anderen bis zur vom gemeinsamen Zweck motivierten Zusammenarbeit“ Es kommt also nicht nur darauf an, ob jemand tolerant ist, sondern auch wie tolerant er ist.

III. Toleranz-Kompetenz und Toleranz-Kultur

Toleranz ist aber nicht der Normalfall. Toleranz ist schwierig und ihr Mangel ist das Problem. Welches sind überhaupt die Voraussetzungen dafür, daß Toleranz möglich wird? Zwei Voraussetzungen scheinen mir unverzichtbar zu sein, damit Menschen bereit und fähig sind, tolerant zu sein; die eine liegt auf der individuellen, die andere auf der sozio-kulturellen Ebene.

Toleranz wird oft als Tugend qualifiziert, als Tugend der Demokratie oder Tugend des Pluralismus Dies verweist auf die moralische Anstrengung der Toleranz: Sie muß gegen Neigungen, Wünsche und Gefühle durchgesetzt werden. Sie entspringt nicht unserer Natur, sondern ist ein Ergebnis unserer Kultur: Sie muß erlernt werden Das Zulassen des Fremden und Abweichenden erfordert einen weit größeren „kognitiv-emotionalen Bearbeitungsaufwand“ als die Abwehr und Ausgrenzung des Fremden, da es immer mit den Risiken der psychischen Destabilisierung, der kognitiven Desorientierung und der Selbstverunsicherung verbunden ist Toleranz muß man sich leisten können, und leisten kann sie sich nur derjenige, der seiner selbst sicher ist.

Die Art und Weise, wie man den Anderen wahrnimmt und beurteilt, hängt vor allem davon ab, wie man sich selbst sieht und fühlt. Je stabiler und ausgeglichener das eigene Selbstwertgefühl ist, desto weniger Bedrohungsgefühle lösen Fremde aus. Je stabiler die eigene Selbstwertschätzung oder je sicherer die eigene Identität ausfällt, desto geringer ist das Bedürfnis, sich über die Abwertung anderer selbst aufzuwerten.

Hieraus folgt auch die Umkehrung eines verbreiteten Stereotyps. Toleranz beruht nicht auf Schwäche, sondern auf Stärke. Toleranz ist eine Folge relativer Stärke und Intoleranz eine Folge relativer Schwäche. Das Geltenlassen der Anderen oder das Zulassen von Abweichungen erfordert zuallererst Selbstsicherheit und Ich-Stärke, denn es geht um ein Ztilassenkönnen, nicht um ein Hinnehmen-müssen

Toleranz ist aber nicht nur eine Folge individueller Kompetenz, sondern auch ein Ergebnis kultureller Prägung -der politischen, sozialen und religiösen Kultur einer Gesellschaft: Welche historischen Erfahrungen mit Minderheiten haben sich im kollektiven Gedächtnis niedergeschlagen? Welche Stereotype vom Fremden werden tradiert? Welche kollektiven Lernprozesse mit den sozialen Kosten von Intoleranz haben ihre Spuren im politischen Bewußtsein hinterlassen? Welche Identitätsangebote werden den Bürgern von der politischen Klasse gemacht und wieviel Raum lassen diese Angebote für Fremde? Wie fragil und unruhig ist die nationale Identität? Welches Demokratieverständnis herrscht vor und welche Akzeptanz genießen Konflikte als unverzichtbares Element demokratischen Lebens? Welche Toleranzgrenzen gehören zum gesellschaftlichen Konsens und wie sehr sind Vorstellungen einer „wehrhaften Toleranz“ verbreitet? Diese Fragen zeigen die Dimensionen auf, in denen Toleranz verwoben ist mit den soziokulturellen und politisch-kulturellen Mustern einer Gesellschaft. Wie tolerant der Einzelne sein kann, ist also nicht nur eine Frage individueller Kompetenz, sondern auch der Toleranzkultur der Gesellschaft, in der er lebt. Toleranzkultur meint hier kein Toleranzideal, sondern vielmehr die kollektiv geteilten toleranzbezogenen oder -relevanten Vorstellungen und Orientierungsmuster in einer Gesellschaft

IV. Toleranz-Schere

Welches sind nun die veränderten Bedingungen von Toleranz in Zeiten des Umbruchs? Auf drei „Schübe“ des Wandels möchte ich besonders hinweisen: auf die postsozialistische Pluralisierung, die (post) moderne Individualisierung und die internationale Migration

Nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus erfahren der Pluralismus der Demokratie, die Bewußtwerdung ethnischer Differenz und Pluralität und die Pluralisierung der Lebensweisen eine ungeahnte Ausdehnung. Das Ende realsozialistischer Aus-und Eingrenzung, das Niederreißen und Fallen politischer und kultureller Grenzen führen zu Modemisierungs-und Pluralisierungsschüben unerwarteten Ausmaßes. Hatte man noch in den siebziger Jahren aus der Perspektive der Kritik des Pluralismus auch eine Generalkritik gegenüber der Toleranz formulieren können so haben sich mittlerweile die Verhältnisse grundlegend verändert. Mit dem Zuwachs an politischer, ideologischer, kultureller und ethnischer Vielfalt wächst im Bereich der politischen Kultur auch die Nachfrage nach demokratischen Einstellungen und Kompetenzen, um mit dieser neuen Vielfalt umgehen zu können. Damit gewinnt auch die Toleranz als eine „unentbehrliche Tugend der Demokratie“ (Fetscher) an Gewicht. Nach dem Ende der großen Ideologieschlachten des Kalten Krieges weicht langsam der Schatten des Ideologieverdachtes von der Toleranz. Es wird wieder deutlich, daß Toleranz mehr sein kann als ihre ideologische Instrumentalisierung. Der Zuwachs an Freiheiten und die Schübe der Modernisierung werden jedoch oft nicht als Bereicherung und Befreiung, sondern als Verunsicherung und Entfremdung erlebt. Die Erfahrung: Mehr Vielheit war nie!, wird von dem Gefühl begleitet: Mehr Fremdheit war nie! Intolerante Reaktionen wie Nationalismus, Xenophobie und Fundamentalismus gewinnen an Gewicht.

Die rasanten und radikalen Veränderungen in den Gesellschaften des ehemaligen Staatssozialismus sollten aber nicht den Blick dafür verstellen, daß auch in den Gesellschaften der etablierten Marktwirtschaft und Demokratie tiefe Wandlungsprozesse vor sich gehen. Auch hier sind die Prozesse der Pluralisierung und Individualisierung noch lange nicht zu Ende gekommen, auch hier wachsen noch der Möglichkeitsreichtum, die Wahlfreiheiten und die Erfahrungen von Differenz und Ambivalenz. Bewahrheitet sich aber der Optimismus, daß diese Prozesse auch eine neue „postmoderne Mentalität“ freisetzen und daß die „neuen Horizonte, die heute die menschliche Imagination zu entflammen und menschliches Handeln zu inspirieren scheinen..., die der Freiheit, der Verschiedenheit und der Toleranz (sind)“ Entwickelt sich eine postmoderne Mentalität mit einer gewohnheitsmäßigen Toleranz gegenüber der Differenz und Ambivalenz?

Der Zuwachs an Wahlmöglichkeiten bleibt auch hier begleitet von einem Zuwachs an Unsicherheit. Denn wer die Wahl hat, hat die Qual. Die Qual haben meint, daß Freiheiten immer ambivalent und heute meist riskante Freiheiten sind. Deshalb bleiben die Prozesse der Modernisierung auch von einer Schattenseite begleitet: von Bestrebungen einer Gegenmoderne, die auf eine Abschließung offener Gesellschaft zielt, auf die Ausschließung des Fremden und der Fremden aus dieser Gesellschaft

Die Zeit des Umbruchs brachte auch eine Dynamisierung der Migration. Neue multi-ethnische und multi-kulturelle Profile kennzeichnen die meisten Gesellschaften Europas. Der zunehmende Umgang mit den und mit dem Fremden hat auch neue Toleranzanforderungen zur Folge. Die Toleranz einer interkulturellen Kommunikation erfordert erweiterte Kompetenzen im Vergleich mit der politischen und religiösen Toleranz, die sich auf Angehörige desselben Kulturkreises erstreckt

Der multikulturellen Veränderung der Gesellschaften entspricht jedoch noch keine ausreichende Zunahme an Toleranz. Multikulturelle Vielfalt wird vielfach nicht als Bereicherung empfunden, sondern es wird mit Abwehrstrategien des „closed mind“, mit Manifestationen der Intoleranz wie Xenophobie und Rassismus, mit Nationalismus und Fundamentalismus reagiert.

Was sich also beobachten läßt, ist als eine Toleranz-Schere zu beschreiben: Einerseits wird immer mehr Toleranz nachgefragt, andererseits scheint es immer schwieriger zu werden, tolerant zu sein. Angesichts dieses Befundes ist zu fragen, ob es denn wohl angemessen ist, daß die „Toleranz des ersten Schrittes“ die nur duldende Toleranz, eine so schlechte Presse bekommt. Können wir realistisch denn überhaupt mit einer weitergehenden Toleranz rechnen?

V. Toleranz-Schwellen

Wer von Toleranz spricht, darf von der Intoleranz nicht schweigen. Wer heute mehr Toleranz fordert, sollte die Gründe für die Intoleranz kennen. Die Erklärungsangebote der Sozialwissenschaften zu den unterschiedlichen Manifestationen der Intoleranz beginnen fast unübersichtlich zu werden, und man stellt sich die Frage: Wem gibt man den Vorzug? Liegt es an den Migranten und Minderheiten oder an der Mehrheit, daß es zu gewalttätigen Konflikten kommt? Liegt es an Forderungen und Ansprüchen der Fremden oder an der Wahrnehmung der Einheimischen, daß es zur Fremden-feindlichkeit kommt? Ist die Intoleranz eine Folge von ökonomischen und sozialen Krisen oder von autoritären Charakterstrukturen? Oder liegt in der Individualisierung und ihren Verunsicherungspotentialen der Schlüssel zur Erklärung? Wann aber kommt die sogenannte Sonnenseite und wann die Schattenseite der Individualisierung zum Tragen? Wann führt die Individualisierung zur Bereicherung und wann zur Überforderung

Einen innovativen und integrativen Beitrag zur Erklärung von Intoleranz -vor allem unter Bedingungen schnellen und vielfachen Wandels -bietet die Streß-Theorie. Bei sozialem Streß geht es um das Verhältnis von Realitätsanforderungen und den Fähigkeiten der Menschen, damit umzugehen. Oder besser: Es geht um das Mißverhältnis von Problemdruck und Problemlösungskompetenz wie um die Reaktionen auf das Erleben dieses Mißverhältnisses. Es ist sozialer Streß, der Bürger anfällig für Intoleranz macht

Wenn Belastungen der Gesellschaftsstruktur, des sozialen Wandels und/oder der nationalen Tradition bei Bürgern auf begrenzte oder fehlende Fähigkeiten ihrer Verarbeitung treffen, wenn objektiver Problemdruck auf mangelnde Kompetenz bei den Menschen trifft, mit diesem Druck umzugehen, dann wird diese Problemkonstellation von den betroffenen Bürgern als Streß wahrgenommen: Das Gefühl der Herausforderung wird durch das Gefühl der Überforderung verdrängt. Abwehr-und Fluchtreaktionen als Ersatzlösungen sind wahrscheinlich, um dem Streß zu entkommen.

Nach dieser interaktiven Streß-Konzeption gibt es keine absolute Überforderung, sondern Gefühle von Überforderung, die immer von der Einschätzung der Betroffenen abhängen. Der Streß ist weder allein das Ergebnis von objektiven Stressoren noch von fehlenden Kompetenzen, sondern er entsteht erst aus einem Prozeß der Beurteilung der Anforderungen und der eigenen Möglichkeiten, erfolgreich zu reagieren. Erst das Mißverhältnis läßt die Belastung zum Stressor werden. Erst das Zusammentreffen eines relativen Zuviel an Belastung und eines relativen Zuwenig an Möglichkeiten der Bewältigung läßt das Gefühl der Überforderung entstehen. Dieser Streß-Begriff unterscheidet sich also vom umgangssprachlichen Begriffsgebrauch, wo Streß lediglich ein Zuviel an Belastung meint!

Die Toleranzschwelle in einer Gesellschaft läßt sich somit als Streß-Schwelle konzipieren: Je größer der soziale Streß, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, daß die gestreßten Bürger sich tolerant verhalten. Nehmen wir z. B. die Zahl von Fremden, die die „Einheimischen“ bereit sind, in der Gesellschaft aufzunehmen. Es gibt keine absolute Zahl oder Quote von zu tolerierenden Migranten, sondern diese Zahlen hängen immer von der Fähigkeit und Bereitschaft der Bürger ab, Fremde in dieser Gesellschaft aufzunehmen. Diese Toleranzschwelle sagt nichts über absolute Belastungen aus, sondern etwas über die Einschätzungen der Belastungen und die Gefühle, die diese Einschätzungen hervorrufen.

Die Zuwanderung und die sich multikulturell verändernde Lebenswelt, die Gefühle der Überforderung provozieren, können zwar durchaus reale Belastungen und Konflikte hervorbringen. Hinter dem vermeintlichen Ausländer-Streß können aber auch ganz andere Arten von Streß stehen: die Folgen der Modernisierung, der Transformation oder der Vereinigungskrise. Die Fremden werden dann lediglich als der Stressor, als die Ursache der Bedrohung und Überforderung gedeutet und mit den zentralen Stressoren verwechselt. Der subjektive Gewinn einer solchen Verwechslung ist erheblich. Es ist das Gefühl, daß Streß reduziert werden kann. Für die Herausforderungen, die die Fremden darstellen, hat man viel leichter „Lösungen“ parat, als für die Zumutungen der Modernisierungsfolgen oder der Vereinigungskrise.

Die Anfälligkeit für intolerante Reaktionen und autoritäre „Antworten“ auf die Probleme der Gesellschaft und ihrer Bürger ist z. Z. in den post-kommunistischen Gesellschaften deshalb besonders groß, weil hier die Streßkonstellation besonders ungünstig und belastend ist. Einerseits hat der Umbruch die kumulative Konfrontation mit bislang unbekannten Herausforderungen gebracht: mit ökonomischer Konkurrenz, mit ideologisch-politischer Unsicherheit und mit multikultureller Unterschiedlichkeit. Andererseits sind die Bürger nicht ausreichend vorbereitet gewesen, um diese Neuerungen als Herausforderungen anzunehmen. Viele erfahren sie als Überforderung, denn es fehlen ihnen noch die Kompetenzen und Ressourcen der Streßbewältigung.

VI. Toleranz im vereinten Deutschland

Als ein „Bewährungsfeld für Toleranz“ hat Joachim Meyer das vereinte Deutschland bezeichnet: Wie wird in Deutschland mit Fremden, mit Minderheiten und mit Abweichendem umgegangen? Wie tolerant gehen Ost-und Westdeutsche miteinander um? 1. Umgang mit Fremden Über einige der Schwierigkeiten, im vereinten Deutschland tolerant zu sein, kann die oben skizzierte Streßtheorie Aufklärung verschaffen. Das Gefühl, den Herausforderungen des Umbruchs nicht gewachsen zu sein und von den Folgen der Vereinigung überfordert zu werden, senkt vielfach die Schwelle zur Intoleranz. Zum Thema der mittlerweile vieldiskutierten Fremdenfeindlichkeit sei an dieser Stelle nur folgendes unterstrichen: Die Streßtheorie weist Erklärungen zurück, die Intoleranz in Ostdeutschland als pure Altlast deuten. Vielmehr macht sie deutlich, daß das besondere Zusammentreffen von neuen, situativen Anforderungen einerseits und entwerteten alten und noch nicht ausgebildeten neuen Kompetenzen andererseits die Gefühle der Überforderung und die Suche nach Ersatzlösungen provoziert. Die Anfälligkeit für fremdenfeindliche Reaktionen und autoritäre „Antworten“ auf die Probleme der Gesellschaft und ihrer Bürger ist z. Z. in Ostdeutschland noch besonders groß, weil hier die gesellschaftliche Streßkonstellation besonders belastend ist 2. Umgang mit Fremden: Sonderfall „Wessi-Ossi“

Fremde sind für viele Deutsche aber nicht nur Ausländer, sondern fremd sind sie sich untereinander, fremd sind sich vor allem „Wessis“ und „Ossis“. Das Aufeinanderprallen von West-und Ostdeutschen gerät zum Sonderfall multikultureller Begegnung und unduldsamer Abgrenzung. Fünf Jahre nach der Vereinigung häufen sich die Kommentare des gleichen Tenors: Wiedervereint und wieder entfremdet. Eine sehr eindrucksvolle Dokumentation dieser wechselseitigen Fremdheit und der damit verknüpften Unduldsamkeit lieferte Rosemarie Beier mit ihrem Bericht zur mentalen Lage der Nation, der viele tausend Besuchermeinungen aus einer Ausstellung zur deutsch-deutschen Vergangenheit zusammentrug und auswertete Drei der im Besucherbuch festgehaltenen Meinungen seien hier wiedergegeben, um zu verdeutlichen, um was es geht: „Man sollte die Mauer wieder errichten, um uns (Wessis) vor euch (Ossis) zu schützen, da ihr (Ossis) eine Gefährdung für die Allgemeinheit darstellt.“ „Ich finde es schade, daß die Mauer wieder weg ist: Vorher gab es wenigstens Arbeit und eine gesicherte Existenz. Der Preis für die sog. Freiheit ist zu hoch!“ „Die sogenannte Wiedervereinigung verlief in vielen Bereichen sehr unklug und ohne jedes Einfühlungsvermögen für das Fremdsein und Anderssein der anderen. Diese Fehler haben tiefe Wunden bei den Ostdeutschen hinterlassen (z. B. Identitätsverlust, mangelndes Selbstwertgefühl usw.).“

Es geht in der Tat um kulturelle Differenz und um das Zulassenkönnen des Andersseins. Früh brachte der Begriff des „Besserwessi“ die Spannung zum Ausdruck. Lothar Fritze hat jüngst an selber Stelle kluge Aufklärungsarbeit über die „Irritationen im deutsch-deutschen Einigungsprozeß“ geleistet Dabei hat er einige der Perspektiven transparent gemacht, die zur Identität vieler Ostdeutscher wohl dazugehören, bei vielen Westdeutschen aber eher auf eine ignorante und intolerante Mißbilligung stoßen. Hierzu gehören vor allem die Überzeugungen, daß es trotz der Ablehnung des Systems des Realsozialismus als Ganzem in diesem System durchaus einzelne Errungenschaften gegeben hat, die bewahrenswert gewesen wären. Die Gretchenfrage an die altbundesrepublikanische Toleranz war immer gewesen: Wie hältst Du es mit dem Sozialismus Diese Frage scheint selbst nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus im internationalen Maßstab immer noch Kraft und Bedeutung zu haben. Trotz der einst als demokratische Hochleistung gepriesenen „friedlichen Revolution“ wird von den Ostdeutschen immer noch eine Haltung des Abschwörehs erwartet. Nostalgische Verteidigungshaltungen und die Bekräftigung eigener ostdeutscher Identität sind dann prompte Reaktionen, die allerdings die Spirale des Fremdwerdens nur verstärken.

Was ist aber der Grund für die westdeutsche Unduldsamkeit? Vereinigungsstreß und eine verunsicherte kollektive Identität. Im Moment, wo „wir wieder wer sind“, wissen wir kaum noch, wer wir sind. Im selben Moment, in dem die Vereinigung nicht nur die Frage nach der nationalen Identität neu aufwirft, sondern Hoffnungen auf eine „selbstbewußte Nation“ zu stärken scheint, in eben diesem Moment gilt es auch zu verarbeiten, daß die kulturelle Differenz zwischen Ost-und Westdeutschen den Prozeß einer einheitlichen Identitätsbildung auf weiteres prägt und erschwert. 3. Das Kreuz mit der Toleranz Einer verunsicherten kulturellen Identität verdanken wir wohl auch die erstaunliche Toleranzdebatte, die uns das „Kruzifix-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts beschied. Das mit einer knappen Mehrheit zustande gekommene Urteil besagt, daß das staatlich verordnete Anbringen von Kreuzen und Kruzifixen in staatlichen Pflicht-schulen Bayerns verfassungswidrig ist. Also: Die Pflicht zum Aufhängen des Kreuzes verstößt gegen das Grundgesetz. Das Urteil bekräftigt damit eine altbekannte Forderung der Aufklärung: die Toleranz des Staates gegenüber den Religionen.

Was nun überraschte, war, daß in einem dermaßen säkularisierten Land wie es das vereinte Deutschland ist, an einer klassischen Frage religiöser Toleranz eine Welle der Empörung losbrach und sich eine Kontroverse über das prinzipielle Toleranz-verständnis in der deutschen Demokratie entzünden konnte. Die Kontroverse wurde zum Ausdruck für „unser labiles Klima der Toleranz“ „Karlsruhe fördert die Intoleranz“, titelte der Rheinische Merkur. Die Entscheidung von Karlsruhe „setzt ein falsches Signal, weil sie eher zur Unduldsamkeit anstachelt als zur Toleranz“ Münchens Kardinal Friedrich Wetter nannte das Urteil ein „Intoleranzedikt“ und fühlte sich an die Zeit des Nationalsozialismus erinnert, da dort auch die Kreuze abgehängt wurden. Theo Waigel äußerte im Bayernkurier seine Sorge, daß das Urteil eine „mögliche Abkehr von den moralischen und sittlichen Wurzeln unseres Gemeinwesens“ herbeiführe

Auch wenn man berücksichtigt, daß es „um Bayern geht“ -wie vielfach von Politikern dieses Bundeslandes betont wurde -und daß damit auch regionale Besonderheiten der politischen Kultur zum Ausdruck kamen, bleibt das Ausmaß des Protestes doch irritierend. Selbst wenn man anerkennt, daß es im Text der Urteilsbegründung auch mißverständliche Passagen gibt, bleibt die Kernaussage des Urteils doch klar. Die Entscheidung zielt nicht gegen das Kreuz, sondern gegen den Zwang zum Kreuz. Es ist zu betonen, daß das Urteil nicht der Mehrheit verbietet, das Klassenzimmer auch mit religiösen Symbolen zu gestalten, wie sie es will. Es verbietet nur, dies staatlich zu verordnen. Außerdem gebietet es dem Staat, einzugreifen, wenn die Mehrheit gegen den erklärten Willen der Minderheit ihren Willen durchsetzen will. Toleranz üben, bedeutet eine Lösung zu finden, auf die sich alle freiwillig einlassen können.

Verwundert nicht die Aufgeregtheit, mit der das angebliche Recht der Mehrheit gegen die Intoleranz der Minderheit verteidigt wird? Die Sorge ums Kreuz manifestiert sicherlich mehr als nur eine Frage religiöser Toleranz. Wenn auch das Urteil selbst nicht zur sittlichen und moralischen Entwurzelung unserer Gesellschaft beitragen wird, so drückt sich gleichwohl in dieser Sorge ein echtes Gefühl aus. Aber nicht das Urteil gibt Anlaß zu dieser Sorge, sondern weil diese Sorge als ein vorherrschendes Bedrohungsgefühl dem Urteil vorausgehL kann das Urteil zum Aufhänger für die Furcht vor dem vermeintlichen Werteverfall genommen werden. Dahinter verbirgt sich eine unsichere und ungeschützt fühlende kollektive Identität einer Gesellschaft im Umbruch.

Auch wenn rational sicher zutreffend argumentiert wurde, daß sich mit der Präsenz oder dem Fehlen des Kreuzes im Klassenzimmer sicher nicht die religiöse oder kulturelle Zukunft unserer Gesellschaft entscheidet, so wird doch das Kreuz zum Symbol für Restbestände sicheren Traditionbesitzes und unverrückbarer Orientierung. Unmißverständlich drückt dies Marion Dönhoff aus: „Das Kreuz wird gebraucht in Zeiten, in denen Symbole ethischer Normen Mangelware sind.“ Ulrich Greiner bringt noch ein weiteres Argument ins Spiel. Es geht nicht nur um einen Orientierungsanker im Strudel allgemeinen Werteverfalls, sondern es geht um die kulturelle Selbstvergewisserung unserer Gesellschaft angesichts verunsichernder Begegnungen: „Diese Gesellschaft... begegnet immer häufiger und massiver anderen Kulturen, anderen Religionen. Denen kann man doch nur begegnen, indem man die eigene Kultur kenntnisreich verteidigt. Die Rede vom Multikulturalismus ist oft nur eine verschleierte Form des Kulturrelativismus und der wiederum eine Form der Bequemlichkeit. Es ist aber nicht alles egal und nicht alle Maßstäbe sind gleich. Die Auseinandersetzung mit dem Islam sollte uns lehren, die eigenen Traditionen nicht derart defensiv zu behandeln, wie es der Karlsruher Spruch verrät.“

Gerade angesichts dieser interkulturellen Perspektive plädiert Rudolph von Thadden „über das Gebot der Verfassungstreue hinaus“ dafür, auf Kreuze in den Klassenräumen zu verzichten. Die multikulturelle Zusammensetzung deutscher Klassen werde sich weiterhin erhöhen und „nur ein weltanschaulich konsequent neutraler Staat kann zu einer wirklichen Einbürgerung dieser Bevölkerungsgruppen führen“. Weiterhin lege es die Unterschiedlichkeit der Verwurzelung und Verbreitung christlicher Kultur in Ost-und Westdeutschland im Interesse des Zusammenwachsens ebenfalls nahe, auf die „bayrische Variante“ zu verzichten

VII. Perspektiven der Toleranz

Es wäre sicherlich eine abstrakte Utopie, wenn man denkt, man könnte ohne Intoleranz auskommen. Zu groß bleiben wohl die Zumutungen gesellschaftlicher Modemisierungs-und Transformationsprozesse, die auch weiterhin die Bürger belasten werden, als daß mit einem Ende von Verunsicherungen und Streß zu rechnen ist. Wie läßt sich aber wenigstens Intoleranz eindämmen und wie Toleranz befördern? Lebensrettend kann es ja schon sein, wenn zumindest die „Toleranz des ersten Schrittes“ Anerkennung findet. Und was kann Erziehung hierzu leisten?

Die pädagogischen Anstrengungen -vor allem im Rahmen der Aktivitäten der UNESCO und des Europarates -zur Förderung einer Toleranzerziehung sind durchaus beachtlich. Mangelhaft ist immer noch der Transfer in die Schulen. Unproduktiv scheinen mir die oft fehlenden Koordinierungen und Vernetzungen ähnlicher Programme und Projekte. Undeutlich bleiben meist auch deren Unterschiede und Gemeinsamkeiten wie bei der Demokratie-, Menschenrechts-, Friedens-, der interkulturellen und der Toleranzerziehung. Es ist zu befürchten, daß es hier auch zu vermeidbaren Verwirrungen kommt, wenn Lehrer mit dieser Vielfalt konfrontiert werden.

Ein gemeinsamer Nenner der Mehrzahl dieser Programme und Initiativen ist: Bürger mit einem ausgeglichenen Selbstwertgefühl entwickeln keine Bedürfnisse, andere auszugrenzen, abzuwerten oder anzugreifen. Die zentrale Aufgabe muß deshalb sein, die künftigen Bürger mit mehr Kompetenzen auszustatten. Die Vermittlung eines stabilen und ausgeglichenen Selbstwertgefühls gilt als eine der wichtigsten Kompetenzen, die wir kennen. Auf der Grundlage eines solchen Selbstbewußtseins wird es dann auch möglich, den Anderen nicht mehr als bedrohlichen Fremden wahrzunehmen und abzuwehren, sondern ihn zu tolerieren oder gar zu akzeptieren.

Ein neuer Ansatz zur Einübung in die Toleranz ist die Multiperspektivität Multiperspektivisch wird auf die Herausforderungen der multikulturellen und multiethnischen Verschiedenartigkeit reagiert. Multiperspektivität meint die Fähigkeit und Bereitschaft, sich in die Perspektiven anderer hineinzudenken und hineinzufühlen. Diese Fähigkeit sollte frühzeitig eingeübt werden, damit nicht Vorurteile und Ängste die Bereitschaft zur Perspektivenübernahme blockieren. Eine entwickelte multiperspektivische Kompetenz beinhaltet auch die Fähigkeit zu verstehen, inwieweit die Perspektive des anderen eine Reaktion auf eigenes Verhalten ist.

Multiperspektivität ist eine Strategie der Verständigung, nicht der Anpassung. Dies gilt für beide Seiten. Sowenig ein Perspektivenwechsel eine Vorbereitung auf eine Assimilation von Minderheiten sein kann, sowenig soll sie zu stereotypen Freund-bildern alles „Fremden“ führen. Xenophobie darf nicht durch Xenophilie ersetzt werden. Dies wäre nur ein Austausch der Vorurteilshaftigkeit und keine Basis für eine tragfähige Toleranz.

Eine Voraussetzung wie ein Bestandteil von Multiperspektivität ist die Vergewisserung der eigenen Perspektive. Das Bewußtwerden der eigenen Position macht durchsichtig, was beim Anderen, beim Fremden gefürchtet oder aber auch bewundert werden kann (der Fremde als anziehender Exot!).

Multiperspektivität bedeutet keinesfalls: Alle Perspektiven sind gleich richtig und alles wird gleichermaßen zugelassen: „Everything goes“. Die Toleranz hat ein menschenrechtliches Fundament! Es ist dies die wechselseitige Anerkennung des Anderen als Gleichwertigen und Gleichberechtigten. Auf der Basis dieser Anerkennung wird es dann mög-lieh, die Verschiedenartigkeit von Perspektiven zu berücksichtigen. Diese Verschiedenartigkeit darf aber selbst nie das menschenrechtliche Fundament in Frage stellen. Daraus folgt: keine Toleranz für Intoleranz.

Die Multiperspektivität prüft allerdings auch, inwieweit der zunächst unversöhnlich erscheinende Gegensatz von Toleranz und Intoleranz abzuschwächen ist und wie auch das sich daraus ergebende Diktum: „Keine Toleranz für Intoleranz“ zu differenzieren ist. Dies scheint dann möglich, wenn Intoleranz als eine Reaktion auf das -wie auch immer gedeutete oder mißdeutete -eigene Verhalten identifiziert werden kann und wenn die Intoleranz durch eine eventuelle Veränderung dieses eigenen Verhaltens auch aufgeweicht werden kann.

Die Diskussionen, die sich im Umfeld der Friedenspreisverleihung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels 1995 an der Frage entzündet haben: „Was ist der angemessene Umgang mit den unterschiedlichen Seiten des Islam?“, wie auch die Kontroversen um die Bedeutung des Kreuzes für die deutsche Kultur angesichts der Herausforderung, die die Begegnung mit dem Islam darstellt, haben nochmals verdeutlicht, wie sehr die Auseinandersetzung mit dem Islam unser Toleranzverständnis berührt. Die Fremdheit erscheint hier besonders groß. Die Neigung zur Intoleranz gegenüber muslimischen Minderheiten wird durch objektive Prozesse und Ereignisse in Teilen der „islamischen Welt“ beschleunigt. Fundamentalistische Strömungen und terroristische Aktionen von Gruppierungen, die ihre Taten fundamentalistisch begründen, geben einen fruchtbaren Boden ab, auf dem neue Feindbilder entstehen können. Oft werden diese realen Gefahren zum Anlaß generalisierender Verurteilung des Islam und der islamischen Minderheit im eigenen Lande genommen.

Folgende Aspekte der Multiperspektivität könnten die Begegnungen mit dem Islam, vor allem auch mit den zu-oder eingewanderten muslimischen Minderheiten, toleranter gestalten, ohne in die Toleranz-Falle zu geraten: 1 1. Ebensowenig wie westlicher Überlegenheitsdünkel und Fremdenfeindlichkeit strukturell mit einer multikulturellen Zivilgesellschaft verträglich sind, ist es auch islamischer Fundamentalismus mit seinen Ausgrenzungen, Selbstüberhöhungen und seiner Menschenrechtskritik. Toleranz gegenüber dem Islam ist also mit einer radikalen Kritik an seinen fundamentalistischen Varianten zu verbinden. 2. Eine Begegnung mit dem Islam kann nur eine multiperspektivische sein, wenn sie eben auch die Differenz der Perspektiven im Islam deutlich macht. Dazu gehört die Aufklärung darüber, daß Fundamentalismus nicht identisch mit dem Islam ist, sondern nur eine seiner Strömungen, und daß auch Fundamentalismus noch nicht mit Extremismus gleichgesetzt werden kann. Dies gehört ebenso zum „Blick auf die andere Seite“ wie die Wahrnehmung der Intoleranz des Fundamentalismus. 3. Eine Übernahme der Perspektive muslimischer Minderheiten kann deutlich machen, welche Orientierungsfunktion und identitätsstiftende Kraft der Islam für sie besonders in einer fremden Gesellschaft haben kann. Eine solche Perspektivenübemahme setzt allerdings voraus, daß die Bürger der Mehrheitsgesellschaft selbst über eine ausgeprägte Identität und ein gesichertes Selbstwertgefühl verfügen, um die Bereitschaft entwickeln zu können, sich auf die fremde Perspektive einzulassen. 4. Zur Perspektivenübernahme gehört auch, daß man die andere Seite nicht als etwas Statisches wahmimmt, sondern daß man das Andere begreift als etwas so Wandelbares wie sich selbst, und daß man versteht, daß der Wandel auch durch die Interaktionen mit einem selbst, mit der eigenen Seite hervorgerufen wird. Die Entwicklung und die Strömungen des Islam -vor allem in einer westlichen Gesellschaft -sind auch Ergebnis der Konfrontation der Religion und Lebensweise der Migranten mit der Aufnahmegesellschaft. Hierin liegt eine Anfälligkeit für den Fundamentalismus begründet, der auch selber von einer Art der Fremdenfurcht geprägt ist: der Furcht vor dem Fremden in der Moderne! Auch im Fundamentalismus wird aus Verunsicherung die Flucht in die Ausgrenzung der Anderen und in die Konstruktion der eigenen Überlegenheit gewählt. 5. Multiperspektivische Erziehung könnte nicht nur dazu beitragen, „dem Islam“ den Charakter von etwas Fremdem und Bedrohlichem zu nehmen, sondern sie könnte auch versuchen, daß „die Moderne“ für die muslimischen Minderheiten den Charakter von etwas Bedrohlichem verliert.

Multiperspektivität vollzieht sich natürlich nicht im politikfreien Raum, sondern ist eingebettet in die jeweilige politische Kultur und das politische Klima. Damit ist sie auch abhängig von den Konflikten, Krisen, Verunsicherungen und Identitätsproblemen einer Gesellschaft. Sie ist eingebunden in die je spezifische Toleranzkultur mit ihren Traditionen, Interpretationen und Grenzziehungen

Fussnoten

Fußnoten

  1. UNESCO, Backgrounder Year for tolerance, Paris 1995.

  2. Vgl. A. Wierlacher, Was ist Toleranz?, in: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache, Band 20, München 1994.

  3. Vgl. Tolerance: the threshold of peace. A teaching/learning guide for education for peace, human rights and democracy, UNESCO, ED 94/WS/8, Paris 1994.

  4. I. Frenzei, Das Dilemma einer Idee. Ein historischer Rückblick, in: U. Schultz (Hrsg.), Toleranz. Die Krise der demokratischen Tugend und sechzehn Vorschläge zu ihrer Überwindung, Hamburg 1974.

  5. I. Fetscher, Toleranz -Von der Unentbehrlichkeit einer kleinen Tugend für die Demokratie, Stuttgart 1990, S. 11.

  6. I. Bubis, Toleranz als Grundwert einer demokratischen politischen Gesellschaft, in: A. Klein (Hrsg.), Grundwerte in der Demokratie, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 330, Bonn 1995, S. 64.

  7. A. Wierlacher (Anm. 2), S. 112.

  8. Vgl. Anm. 3.

  9. Z. Bauman, Moderne und Ambivalenz, Frankfurt 1994, S. 312.

  10. H. J. Meyer, Zum politischen Sinn von Toleranz im vereinigten Deutschland, in: UNESCO heute, Winter 1994, S. 458.

  11. Vgl. I. Fetscher (Anm. 5); K. Sontheimer, Das Allgemeine und das Akademische, in: U. Schultz (Hrsg.) (Anm. 4).

  12. Vgl. A. Mitscherlich, Zwischen konstruktiver und verstiegener Ideologie, in: U. Schultz, ebd.

  13. Vgl. A. Thomas, Ist Toleranz ein Kulturstandard?, in: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache (Anm. 2), S. 172f.

  14. Vgl. K. P. Fritzsche, Die neue Dringlichkeit der Toleranz, in: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache, ebd.

  15. Vgl. Anm. 3.

  16. Vgl. K. P. Fritzsche (Anm. 14).

  17. Vgl. I. Frenzei (Anm. 4).

  18. Z. Bauman (Anm. 9), S. 334; vgl. auch H. -G. Vester, Soziologie der Postmodeme, München 1993.

  19. Vgl. U. Beck, Die Erfindung des Politischen, Frankfurt/M. 1993.

  20. Vgl. W. Nielke, Interkulturelle Erziehung und Bildung. Wertorientierungen im Alltag, Opladen 1995, S. 202, 215.

  21. I. Frenzei (Anm. 4), S. 21.

  22. Vgl. W. Heitmeyer u. a., Gewalt. Schattenseiten der Individualisierung bei Jugendlichen aus unterschiedlichen Milieus, Weinheim 1995.

  23. Vgl. B. Badura/H. Pfaff, Streß, ein Modemisierungsrisiko?, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie (KZSS), (1989), S. 644-668; B. Badura/H. Pfaff, Für einen subjektorientierten Ansatz in der soziologischen Streßforschung, in: KZSS, (1992), S. 354-363; J. Mansel (Hrsg.), Reaktionen Jugendlicher auf gesellschaftliche Bedrohungen. Untersuchungen zu ökologischen Krisen, internationalen Konflikten und politischen Umbrüchen als Stressoren, Wein-heim-München 1992; J. Mansel/K. Hurrelmann, Alltagsstreß bei Jugendlichen, Weinheim-München 1991.

  24. Vgl. H. J. Meyer (Anm. 10).

  25. Vgl. K P. Fritzsche, Gesellschaft im Streß. Fremden-feindlichkeit in Ostdeutschland, in: Geschichte -Erziehung -Politik, (1992) 7; K P. Fritzsche/H. Knepper, Die neue Furcht vor der Freiheit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 43/93.

  26. Vgl. R. Beier, Bericht zur (mentalen) Lage der Nation. Was die Besucher einer Berliner Ausstellung über die deutsch-deutsche Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft denken, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 27/95.

  27. Ebd., S. 14.

  28. Ebd., S. 14.

  29. Ebd., S. 15.

  30. Vgl. L. Fritze, Irritationen im deutsch-deutschen Vereinigungsprozeß, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 27/95.

  31. Vgl. M. Walser, Wie es auch paßt, in: U. Schultz (Hrsg.) (Anm. 4).

  32. A. Hölscher, Im Namen des Kreuzes, in: Frankfurter Rundschau vom 15. 8. 1995, S. 3.

  33. A. Campenhausen, Karlsruhe fördert die Intoleranz, in: Rheinischer Merkur, Nr. 35, S. 1.

  34. Th. Waigel, Unsere christlichen Wurzeln bewahren, in: Bayemkurier, Nr. 33, S. 1.

  35. M. Dönhoff, Reaktionen eines Laien auf das Urteil, in: DIE ZEIT, Nr. 35, S. 3.

  36. U. Greiner, Der Fleck an der Wand, in: DIE ZEIT, Nr. 34, S. 3.

  37. R. v. Thadden, Bloß kein neuer Kulturkampf, in: ebd., S. 3.

  38. Vgl. K. P. Fritzsche, Multiperspektivität -eine pädagogische Antwort auf die multikulturelle Gesellschaft, in: PÄDEXTRA, 11 (1992) 14; ders., Die neue Dringlichkeit der Toleranz, in: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache (Anm. 2).

Weitere Inhalte

K. Peter Fritzsche, Dr. phil. habil., geb. 1950; Professor für Politikwissenschaft an der Universität Magdeburg. Veröffentlichungen zur politischen Kultur, politischen Psychologie»und politischen Bildung.